Zu diesem Buch
Als das RuDi-Nachbarschaftszentrum, das damals noch in einem Ladenlokal am Rudolfplatz residierte und sich schlicht Kiezladen nannte, 2002 zum ersten Ostkreuz-Schreibwettbewerb aufrief, war nicht vorauszusehen, was daraus entstehen könnte. Die Resonanz der Schreibenden war dann allerdings verblüffend, so dass auch den Skeptikern aufging, dass dieser größte, aber durchaus nicht ansehnlichste Berliner Nahverkehrsknoten als literarischer Topos schier unerschöpflich zu sein scheint. So entstand die später so genannte Ostkreuz-Serie, deren vierter Band hier vorgelegt wird.
Das Ostkreuz als inspirierender Ort der Poesie? Warum nicht? Und es scheint dies um so mehr dazu zu werden, als die ersten Rodungen zur Vorbereitung der künftigen Großbaustelle Ostkreuz bereits stattgefunden haben und allen klar wird, dass es mit der rostigen Idylle bald vorbei sein wird. Kunsthochschulen und Filmakademien, sogar weiter entfernte, schicken ihre Diplomanden dort hin, als gelte es, noch rasch etwas ganz Ungewöhnliches, Besonderes, das es bald nicht mehr geben wird, fest zu halten und einer staunenden Nachwelt, die Bahnhöfe nur als fliesen- und glasblanke Einkaufszentren mit Bahnanschluss kennt, zu überliefern.
Bahnhöfe und Warten, das gehört zusammen, jeder kennt das, vor allem dieses seltsame Phänomen, dass die Zeit sich für den ungeduldig Wartenden zu dehnen scheint, während sie sich für den Eiligen, der spät dran ist, auf unerklärliche Weise verflüchtigt.
Warten ist auch ein bewährtes dramatisches Mittel in der Literatur. Es wird viel gewartet: auf Godot, auf den Wald von Dunsinon; Wellington, so will es die Anekdote, wartet darauf, dass es Nacht werde und die Preußen kämen. Und in den ersten fünfzehn Minuten von Spiel mir das Lied vom Tod wird überhaupt nur gewartet: Irgendwo in amerikanischer Einöde sitzen schwitzende Cowboys in dreckigen Klamotten in der Hitze, fangen Fliegen und lauschen dem Quietschen des verrosteten Bahnhofschildes. Ob sich das Warten gelohnt hat? Wir wissen es.
Warten kann nicht endlos gedehnt werden, irgendwann muss etwas geschehen, das das Warten beendet, irgendwann muss man "zu Potte kommen". Das Warten definiert sich überhaupt erst durch das Eintreten des Erwarteten. Ein Freund verkündete eines Tages, nachdem er Monate lang auf die Rückkehr seiner Freundin gewartet hatte, dass mit dem Warten nun Schluss sei, es habe ganz unmerklich aufgehört, sich erschöpft, aufgebraucht. Er habe sich nunmehr "überwartet", so nannte er seine Heilung vom vergeblichen Warten. Warten hieße demnach, etwas zu erhoffen oder zu befürchten, und die Erlösung davon wäre dann das Ende von Hoffnung oder Furcht.
Manche Menschen warten nicht gern. Warten betrachten sie als leere Zeit, Zwischenzeit, Zeitverschwendung oder gar Zeit zum Totschlagen. Andere sind begabte Warter, immer gelassen, auch wenn der Zug oder der Postbote oder der Messias oder der Pizzaservice Verspätung haben. Sie würden auch Godot nie langweilig finden, andere dagegen schon: ein Stück, in dem "nichts geschieht außer Warten".
Aber muss Warten verschwendete oder tote Zeit sein? Mitnichten! Die Erzählerin in Lisa Laubrichs Geschichte Warte doch mal! In diesem Band entwickelt, wartend, eine ganze Theorie des Wartens und Vorschläge wider die bloße Zeitvergeudung.
Manchmal hat der Wartende auch Glück, wie in Warten auf Maria, und trifft einen geschwätzigen, disparaten Zeitreisenden, da vergeht die Zeit buchstäblich im Fluge.
Wir wünschen diesem Bändchen viele nicht gelangweilte Leser; auf dass ihnen die Zeit dabei gerade so lang werde, wie sie soll.
Berlin, im April 2006
Organisator dieses Wettbewerbs war das Nachbarschaftszentrum RuDi. Das Projekt wurde unterstützt und gefördert durch das Förderprogramm der Europäischen Union URBAN II. Eine Jury aus Fachleuten wählte die besten Beiträge aus, prämierte sie und stellte die Preisträger in einem feierlichen Rahmen der Öffentlichkeit vor. Die Zusammenstellung dieser Anthologie geschah – unabhängig von der Preisvergabe im Wettbewerb – nach rein kompositorischen Prinzipien.
Abschließend sei all jenen Dank gesagt, die am Wettbewerb und am Zustandekommen dieser Publikation beteiligt waren. Das schließt auch diejenigen ein, die die Förderung dieses Projekts durch die Europäische Union und das Land Berlin ermöglicht haben.
Franziska Dreke
Stille
Die Münzen waren ganz warm von der langen Umklammerung ihrer Hand, als sie sie der Verkäuferin über den Tresen schob. Diese ordnete sie mürrisch in ihre Kasse ein und klebte das Papier um die Blumen noch mit zwei extra Streifen Klebeband fest, bevor sie sie ihr in die Hand gab. Obwohl die Dornen sicher entfernt worden waren, umfasste sie den Strauß lieber weit unten und verabschiedete sich, als sie sich herumdrehte. Hinter ihr kam keine Antwort. Etwas zögernd trat die alte Dame auf den unteren Bahnsteig des Bahnhofs hinaus, unter dem rechten Arm ihre sandfarbene Handtasche, mit der linken Hand den Blumenstrauß eng an den Körper gedrückt.
Sie wandte sich nach rechts, und ihre zierliche Gestalt bewegte sich langsam aber zielsicher durch die vorübereilenden Leute in Richtung Treppe. Sie war sicher schon siebzig, aber ihr Schritt war fest und ließ ihr hohes Alter nicht erkennen. Sie hatte keinen Stock und brauchte auch keinen, wie sie immer wieder selbst zu betonen pflegte, denn sie wusste: Wer einmal mit Stock lief, lief immer mit Stock. Als sie die Treppe erreichte, kamen die vielen Stufen, aber sie überwand sie, die rechte Hand fest am Geländer. Wie immer ging sie bis zum ersten Pfeiler, wo sie begann, nach einem freien Platz Ausschau zu halten. Ihre Beine schmerzten ein wenig und sie war etwas außer Atem vom Treppensteigen. Die erste Bank war besetzt – dort saß ein junges Mädchen, das gerade an einen großen Hund eine Eiswaffel verfütterte, aber die zweite war frei und sie ließ sich dankbar darauf nieder, nachdem sie die Blumen vorsichtig auf den alten Holzverstrebungen abgelegt hatte.
"Lachsfarbene Röschen", dachte sie, "genau, wie du sie magst. Weißt du noch… damals… der Rosenbusch vor unserem Haus. Aber natürlich weißt du das noch — so eine Blütenpracht — das hatten wir nur das eine Jahr. Ja, das vergisst man nicht — auch du nicht. Ich bin sicher, dass du das noch weißt… irgendwo…".
Dann dachte sie für eine lange Weile gar nichts mehr und schaute einfach nur auf die Gleise hinunter und auf die Züge, die mit Menschen gefüllt vorfuhren und zurückkamen, nachdem sie ihre Passagiere irgendwo ausgespieen hatten, nur um gleich wieder neue an Bord zu nehmen — in einem ewigen Kreislauf hin und zurück und zurück und hin. Ein Mann mit einem Fahrrad lief auf dem Bahnsteig an ihr vorbei und pausenlos eilten Menschen hin und her — Leute auf dem Weg zur Arbeit, Frauen mit Einkaufstüten, die immer wieder nervöse Blicke zur Uhr warfen, Hunde, die ihre Herrchen hinter sich herzogen und Bratwurstgeruch nachjagten, und kichernde Mädchen, die untergehakt gingen und kurze Röcke trugen. Ein Liebespaar mit umeinander gelegten Armen stand nicht weit entfernt und schien doch ganz weit weg in einer anderen Welt zu sein.
Die alte Dame saß unbemerkt auf ihrer Bank und schaute hinaus auf die Bäume hinter den Gleisen und auf den Wasserturm, dessen vertraute Silhouette, die wuchtig die Bäume überragte, ihr wie ein alter Bekannter vorkam. Sie saß gerade und hielt ihre Hände im Schoß. Der Platz auf der Bank war sonnig und warm, und sie atmete die Luft in tiefen Zügen. Es roch nach Bäumen im Sommer und warmen Croissants vom Backstand weiter unten und ein wenig nach Zigarettenrauch, aber nur ein wenig. Eine Taube ließ sich nah bei ihr auf dem Boden nieder und schaute neugierig herüber. Die alte Dame schaute durch ihre goldgeränderte Brille zurück. Ihre Augen waren dunkelblau und sahen in dem von vielen kleinen Falten durchzogenen Gesicht, das von sorgfältig gelegten grauen Löckchen umrahmt wurde, wie tiefe Bergseen aus. »Hunger?« fragte sie die Taube. Diese schaute stumm zurück.
"Ich habe heute aber kein Brot dabei. Vielleicht morgen."
Die Taube legte den Kopf schief, ihre winzigen Knopfaugen sahen aus wie schwarze glänzende Steine. Dann erhob sie sich und flog träge davon. Die alte Dame sah ihr nach und glättete dabei eine Falte in ihrer hellen Stoffhose. Die olivgrüne Leinenjacke, die sie dazu trug, war jetzt schon fast zu warm, aber sie wollte sie dennoch nicht ausziehen, weil sie wusste, dass sie sie später wieder brauchen würde.
Schließlich erhob sie sich, schob die Handtasche unter den rechten Arm und nahm den Blumenstrauß. Langsam ging sie in Richtung Treppe zurück. Sie konzentrierte sich darauf, vorsichtige Schritte zu machen und darauf zu achten, wohin sie trat. Sie kannte hier zwar jeden Zentimeter, aber man konnte schnell umknicken – nicht auszudenken! Nein, in ihrem Alter musste man sich vorsehen. Während sie sich langsam der Treppe näherte, kreisten ihre Gedanken wirr in ihrem Kopf herum, Bilder aus der Vergangenheit mischten sich mit solchen aus der Gegenwart und sie sah Willi lachend mit ausgebreiteten Armen unter sich stehen und hörte, wie er ihr zurief: "Spring doch, hab keine Angst Liebes, ich fang’ dich doch auf!" Es duftete nach Heu und für einen Moment war sie wieder jung. Dann sah sie Max mit seinem Abschlusszeugnis strahlend auf der Bühne – wie stolz waren sie auf ihn gewesen als er da oben stand und sie konnte sich erinnern, wie sie sich gleichzeitig traurig gefühlt hatte, als ihr klar wurde, dass er nun kein Kind mehr war. Jetzt war er weit weg und viel unterwegs und nach Hause zog es ihn nur noch selten. Die Bilder wechselten nun in schneller Folge, wie viele einzelne Schnappschüsse aus einem langen Leben zogen sie an ihr vorbei. Sie selbst im Brautkleid, Willi vor dem ersten Auto, Max als zahnloser Knirps mit geflickten Hosen, Bilder im Garten, im Hintergrund der Wasserturm, Weihnachten, Ostern, Max mit Gipsarm und verwackelte Urlaubsbilder der Familie am Meer. Schließlich hörte sie, als wäre es gerade gestern gewesen, die schrille Sirene des Krankenwagens und sie sah sich selbst, wie sie mit weit aufgerissenen Augen auf die Türen mit den Milchglasscheiben und dem roten Kreuz starrte, hinter denen Willi verschwunden war.
In der S-Bahn presste sie eine Hand gegen die kühle Scheibe. Graffiti und Kratzer liefen unter ihren runzligen Fingern über das Glas, dahinter glitt die Welt wie ein verschwommenes Bild aus einem sich drehenden Karussell vorbei. Grüne Bäume, graue Häuser, Himmel, Menschen, Straßen verschmolzen zu Linien, Strichen, Farbenspielen. Türen auf, Türen zu, Menschen strömten hinein und hinaus, eilende Massen, draußen Sonnenschein, Sommer, Lachen, Stimmengewirr — aber weit entfernt wie durch eine Glasglocke. Die alte Dame hielt sich an der gepolsterten Lehne ihres Sitzes fest wie eine Gestrandete auf einer Insel inmitten wilder Wogen. Für einen Moment schloss sie die Augen. Sie konnte die Stille sehen.
Das Krankenhaus war ein Gebäude aus rotem Backstein. Es war nicht nur ein Krankenhaus, es sah auch so aus. Hinter dem Haupthaus ein Park mit hohen, sehr alten Bäumen. Überall herrschte feierliche Stille. Wie in einem Dom – oder einem Friedhof –, dachte sie. Durchbrochen wurde die Stille nur von dem Knirschen der Räder der Rollstühle auf den Kieswegen. Es gab viele Rollstühle in diesem Park, manche geschoben von Familienangehörigen, manche von Freunden, viele vom Krankenhauspersonal. Während sie den gepflegten Hauptweg entlang ging, blieb der Lärm der Straße hinter ihr zurück. Vögel sangen.
Der Gang zu seinem Zimmer war lang und weiß. Gebohnerte hellgraue Linoleumböden, weiß gestrichene Wände, hohe weiße Decken, weiße Vorhänge. Einige bunte Bilder an den Wänden, mit denen sie nichts anfangen konnte. Farben eben, irgendetwas Modernes. Eine große Zimmerpflanze, deren Blätter staubig aussahen. Es roch nach Desinfektionsmitteln und Trostlosigkeit. Selbst die offenen Fenster zum Park konnten den Geruch nicht vertreiben. Ihre Schritte waren kaum zu hören, denn die Gummisohlen ihrer leichten Sommerschuhe machten kein Geräusch auf dem glatten Boden. Überhaupt war in diesem Teil des Krankenhauses selten etwas zu hören. Totenstille – schoss ihr durch den Kopf, dann schob sie den Gedanken schnell beiseite und hielt den Blumenstrauß noch etwas fester.
Das Gesicht ihres Mannes in dem weißen Bett wirkte blutleer und seine Gestalt unter der Bettdecke winzig wie die eines Kindes. Sie saß an seiner Seite auf dem einzigen Stuhl im Raum und hielt seine faltige Hand. Sie war warm aber schlaff und wirkte beinahe zerbrechlich. Eine der vielen Maschinen piepte unaufhörlich mit einem hellen, gleichmäßigen Ton. Sie schloss die Augen und dachte an ein U-Boot unter Wasser, und für einen Moment fiel ihr das Atmen schwer. Dann öffnete sie die Augen wieder und ließ sie auf dem blassen Gesicht ihres Mannes ruhen. Seine hellblauen Augen starrten ausdruckslos an die Decke, ein milchiger, sie bedeckender Film machte seltsame Farbspiele wie in einer Seifenblase. Die Maschine piepte ungerührt in die Stille hinein, weit entfernt schlug eine Tür zu, und Flüssigkeit in einem Plastiksäckchen an einer Stange neben ihr lief durch einen Plastikschlauch, der unter dem Bett verschwand.
"Willi", flüsterte sie, "ich habe dir lachsfarbene Röschen mitgebracht".
Sie drückte seine Hand und zeigte mit dem Kopf auf die Blumen in der viel zu kleinen Vase. Die milchblauen Augen starrten unverändert an die Decke.
"Weißt du noch… — aber natürlich weißt du noch…"
Der Himmel draußen war blau und der laue Wind spielte mit der Gardine. Vom Fenster ihrer gemeinsamen Wohnung konnte man den Wasserturm sehen. Hier sah man nur einen alten Schornstein hinter den Baumkronen des Parks. Der Turm wird ihm fehlen, wenn er aus dem Fenster sieht, dachte sie.
"Es ist unwahrscheinlich, dass er noch mal aufwacht", hatte der Arzt ihr gesagt, "und wenn, dann wissen wir nicht, in welchem Zustand er sein wird."
Aber sie wusste es besser. Es war nur eine Frage der Zeit.
"Er muss sich nur ausruhen, wissen Sie. Er hat doch so viel gearbeitet in seinem Leben", hatte sie dem Arzt geantwortet und der hatte sie hilflos angesehen, die kleine Frau mit den dunklen Augen und dem faltigen Mund, um den ein wissendes Lächeln spielte.
Sie saß an seinem Bett und drückte die schmale Hand ihres Mannes. Ich warte auf dich, ich warte bei uns zu Hause — nein, wir warten, der alte Wasserturm und ich. Bald wirst du ihn wieder sehen von unserem Fenster aus, dann bist du wieder daheim, dachte sie, und ihre Gedanken reisten zurück. Die Jahre flogen vorbei und schrumpften zusammen zu einem unbedeutenden Ballast, den man irgendwo stehen lässt, ohne es überhaupt zu bemerken. Willi. Seine große Gestalt war ihr sofort aufgefallen unter all den anderen auf dem Festplatz. Seine einst schwarzen Haare waren immer etwas zu lang gewesen, wie sie sich plötzlich erinnerte. Dann, im Vorbeigehen, hatte sie ihm ins Gesicht gesehen und geglaubt, in dem Blau seiner Augen ertrinken zu müssen. Wieder sah sie ihn vor sich, genau wie damals und erinnerte sich an sein lausbübisch verschmitztes Lächeln, das sie so mochte und das er selbst im Alter nie verloren hatte. Jetzt saß sie hier wie so viele Male zuvor und hielt seine Hand. Sie fühlte den Lebensstrom darin und spürte, wie ihre innere Ruhe zurückkehrte.
"Ich komme morgen wieder, Willi", flüsterte sie und führte seine schlaffe Hand an ihre Lippen. Ihr Kuss war sanft und kaum spürbar wie der Flügelschlag eines sehr kleinen Vogels. Als sie an der Tür zurückblickte, waren die blaumilchigen Augen unbewegt.
Im Park war sie zuerst geblendet, als sie ins Licht hinaustrat. Inzwischen war es sehr warm geworden, und die Sonne malte durch die Baumkronen wandernde Lichtflecken auf die Wege. Vor dem Hauptportal befand sich ein Springbrunnen mit niedrigem Rand, in dessen Mitte eine kleine plätschernde Fontäne funkelnde Wasserkaskaden in die Luft schickte. Die alte Dame blieb in der Nähe stehen und sah lächelnd zu, wie zwei kleine Jungen sich mit Wasser bespritzten und laut lachend um den Springbrunnen liefen. Ihre Mutter ermahnte sie vergeblich, sich still zu verhalten. Die alte Dame stand mitten auf dem Weg und spürte, wie die Sonne wärmend auf ihr Gesicht schien. Sie sah die Lichtspiele der Tropfen und hörte die Vögel zwitschern. Leise Stimmen kamen von den besetzten Bänken rings um den Brunnen und das Lachen der spielenden Kinder klang hell und fast wie Musik. Ein schalkhaftes Lächeln breitete sich auf ihrem alten wissenden Gesicht aus und ihre dunkelblauen Augen strahlten. Die vielen Falten in ihrem Gesicht sahen wie ein fein gesponnenes Netz aus, und sie setzte sich in Bewegung.
Die schimpfende Stimme der Mutter verstummte plötzlich als sie staunend zusah, wie die alte Dame langsam Schuhe und Strümpfe auszog, ihre Füße behutsam in das flache, kalte Wasser setze und glücklich lächelnd mitten im Brunnen stehen blieb.
Katharina Triebe
Herr Lemke
Wer eilet zum Ostkreuz mit wehenden Haaren?
Herr Lemke ist’s, will nach Hause fahren.
Nach Erkner muss er, die Zeit wird knapp,
Treppe rauf, Treppe runter, fast macht er schlapp.
Lemke schwitzt, muss am Geländer verpusten,
beim Laufen quält ihn ein trockener Husten.
Noch rasch die letzten Meter zum Bahnsteig E
da setzt die S-Bahn sich in Bewegung – oje!
"Volltrottel, Blödmann!" ruft er dem Fahrer hinterher,
der ist fast schon in Rummelsburg, hört ihn längst nicht mehr.
Enttäuscht sinkt Lemke auf die nächstbeste Bank.
Zwanzig Minuten warten, das macht ihn fast krank.
Auf dem Bahnsteig zieht’s, er wird sich erkälten,
daheim die Gattin, was wird sie schelten.
Plötzlich geht durch den müden Körper ein Ruck,
der Pulsschlag setzt aus, es steigt der Blutdruck.
Ein Duft zieht herüber von Bahnsteig C —
ofenfrische Brezeln und Milchkaffee.
Welch gute Idee, er wird etwas essen.
Fast hätt’ er vor Eile die Tasche vergessen.
Treppe rauf, Treppe runter zum Bäcker-Stand,
auf Bahnsteig C, die Schlange ist lang.
Geduld ist vonnöten, bald muss er sich sputen,
bis zur Zugabfahrt bleiben noch drei Minuten.
Endlich bezahlt – Treppe rauf und hinunter,
der Kaffee schwappt und die Brezel fällt runter.
Schnell rein in den Zug und erst einmal setzen,
Doch dann packt Lemke das blanke Entsetzen.
Der Kaffee ist leer, die Brezel voll Sand,
und die Tasche — vergaß er am Bäcker-Stand.
Er springt wieder raus und hastet zurück,
seine Tasche steht noch da — welch ein Glück.
Jetzt ist die Bahn weg, doch Lemke tut’s nicht leid,
willkommen sind ihm zwanzig Minuten Wartezeit.
Er findet eine Bank, streckt genüsslich die Beine aus,
ihm doch egal, kommt er eben später nach Haus.
Lieselotte Bergann
Gründonnerstag
Es war an einem Gründonnerstag und ich wollte Ostereier in den Hügeln der uckermärkischen Endmoränen verstecken und suchen lassen. Vom Bahnhof Lichtenberg ging ein Regionalzug ohne umzusteigen bis nach Stettin. Den hatte ich mir ausgesucht und das Abholkommando an den letzten Haltepunkt vor der Grenze bestellt. Aber bereits die S-Bahn endete am Ostkreuz, Weiterfahrt an den Bahnsteigen C und D, mit Verspätungen sei zu rechnen und man bäte die werten Fahrgäste um Verständnis. Was heißt hier verstehen? Was, wo, wie, wen und vor allem warum? Zu warten haben Sie! Punkt! Nur diese eine Eigenschaft wird verlangt, und zwar sofort, und je besser sie entwickelt ist, um so angenehmer für den Fahrgast und die Deutsche Bahn. Und als Ort dieser charakterlichen Weiterbildung hat sie, die DB, sich den Bahnhof Ostkreuz ausgesucht. Nicht gerade neu, diese Wahl!
Nun irren sie umher auf dem Treppenlabyrinth, die Probanden des nie geplanten, aber oft wiederholten Experimentes: Wie forme ich geduldige, belastbare, gutgelaunte Bürger? Neulich sah ich ein Exemplar genau dieses Typs in einer Zeitschrift. Sie kam von weit her, hieß Lucia, war dunkelhäutig, stammte aus Sambia, studierte in Tübingen, lehnte an einem Zaun, Bücher unter dem Arm, die Füße in Turnschuhen lässig gekreuzt. Sie lachte, offen, herzlich, eine Spur spöttisch vielleicht, und ich versetze mich Jahrzehnte zurück in meine Jugend und denke: "So hättest du nie an einem Zaun lehnen können, so heiter und selbstsicher vor einem Fotografen im Anschlag! Im fremden Lande obendrein! Braune Lucia, wie heißt deine Glücksformel? Ob das auch eine für mich wäre? Fürs Glück ist es nie zu spät!" Weiter unten lese ich, was sie dem Reporter in der Umfrage europaweit zum Thema Zeit, also auch Warten, gesagt hat: "Das war das Schwerste für mich, pünktlich zu sein. Jetzt kann ich es. Aber was soll ich dann in Sambia damit? Wir Afrikaner sagen: Ihr Weißen habt die Uhr, wir haben die Zeit. Und Zeit kommt immer wieder nach, für jeden, und die wird nicht alle. Wo ist also das Problem? Aber was mir noch auffällt, bei Sonne seid ihr alle viel fröhlicher. Wir haben viel Sonne, fast immer. Liegt es daran: Sonne, Zeit und fröhlich sein? Und muss man sie immer mit sich herumtragen, die Zeit, und kontrollieren, ob sie auch vergeht? In Sambia wissen wir das! Ohne dauernd nachzusehen!"
Lucia, da ist die Spur Spott, die ich dir schon angesehen hatte auf dem Bild am Zaun! Wie solltest du auch fertig werden, ohne das kleine Anheben des linken Mundwinkels, mit dieser geballten Macht an Pünktlichkeit und Zeitkontrolle um dich herum im nördlichen Lande?
Afrikanische Sonne und der Verlass auf sie ist ein starker Trumpf. Heute aber ist grauer April, Himmel, Bahnsteig, Mäntel, Gesichter, Fensterscheiben, alles grau; schwarz das alte Gestänge, das die Dächer über den Bahnsteigen trägt, die noch fast kahlen Bäume, der nasse, dunkle Putz der Häuser. Ich und die Menschen mit den Aprilgesichtern auf den S-Bahnsteigen sollen verstehen — und ganz bestimmt verzeihen; denn das ist der Sinn auch dieses mit Kreide auf schwarzer Tafel geschriebenen Spruches, zusätzlich zur Durchsage —, dass wir jetzt hier stehen, lehnen, sitzen müssen, wer weiß, wie lange. Irgendwie rührend, denke ich, dieser direkte Weg; wie in der ersten Klasse mit Kreide auf Schiefertafel! Erinnert ein bisschen an Sambia! Und tatsächlich sehe ich ab jetzt die Mitwartenden mit den Augen Lucias, wie sie mit raschem Griff den Ärmel hochschieben: Zeitkontrolle! Stimmt sie? Vergeht sie? Dazwischen wird mancher zum Käfigtiger, fünf Schritte Richtung Strausberg, Kehre, fünf Schritte Spandau. Nein, das ist nicht Sambia, das ist Ostkreuz. Selbst durch Stau auf der Autobahn Erprobte bestehen den Haltungstest nicht. Die Schuldfrage ist aber auch eine ganz andere: hier eine bezahlte, garantierte Dienstleistung, seit 150 Jahren verinnerlichte Forderung: Pünktlichkeit! Auf der Straße aber das unlösbare Naturgesetz, jedes Wochenende, vor Ferienbeginn und -ende zu erleben, zu erleiden: der Stau! Das ist Physik und Mathematik zusammen.
Der Mensch hat sich zu fügen. Mit Geduld und Einsicht! Protest sinnlos! Aber S-Bahn-Panne am Ostkreuz? Alle Anschlüsse, Abholkomitees, letzte Osterkäufe geplatzt! Und dann Verständnis? Keine Antworten auf wo, wann, warum, wie lange und wer oder was ist Schuld?
Ein Herr im offenen Mantel tigert besonders ausdrucksvoll auf und ab. Zwei große Koffer hat er auf die einzige Bank gestellt. Die steure ich an und fühle nach dem Reclam-Bändchen in der Manteltasche. Der Herr trabt weiter, es ist Platz genug für mich und Adalbert Stifter. Das ist der aus der Manteltasche! Genau der Richtige jetzt; Landschaft, Ruhe, Idyll, Pferdegetrappel, kein Fahrplan, kein Stau, aber viel Geduld! Vielleicht wie Sambia?
Der Kofferbesitzer unterbricht seine Schrittfolge, prüft die vier Schlösser und die Straffheit der beiden Riemen um die Koffer herum, vielleicht auch mich, trabt weiter. Ich aber reise 157 Jahre zurück nach Wien zu Adalbert Stifter ins Jahr 1842, als er dort in den frühen Morgenstunden des 8. Juli von der Warte des Hauses Nr. 495 die Sonnenfinsternis erlebte und sie mit einer Eindringlichkeit beschreibt, dass ich beschließe: "Das will ich auch erleben!" Und das geht! In unserem Land, in diesem Jahr 1999, am 11. August! Gegen Mittag wird im Süden Deutschlands eine totale Sonnenfinsternis zu beobachten sein und dann lange Zeit nicht wieder.
Aber es war der entscheidende Satz Adalbert Stifters:
"Nie und nie in meinem ganzen Leben war ich so erschüttert, von Schauer und Erhabenheit so erschüttert, wie in diesen zwei Minuten… !", der mich verzaubert hat auf dieser Bank, Bahnsteig D, Bahnhof Ostkreuz, an einem grauen Gründonnerstag im April 1999, und ich fühlte sofort: So etwas erlebt man nur einmal im Leben! Und ich würde Ernst machen und in die Zone der totalen Sonnenfinsternis fahren. Stuttgart, Karlsruhe, Augsburg, München, in einer der Städte würde ich die zwei Minuten "von Schauer und Erhabenheit" erleben, als 1842 in Wien " — deckend stand nun Scheibe auf Scheibe — … ein einstimmiges "Ah!" aus aller Munde und dann Totenstille…" herrschte. "Nach dem ersten Verstummen des Schrecks… Laute der Bewunderung und des Staunens: Der eine hob die Hände empor, der andere rang sie leise vor Bewegung. Andere ergriffen sich bei denselben und drückten sich — eine Frau begann heftig zu weinen, eine andere in dem Hause neben uns fiel in Ohnmacht, und ein Mann, ein ernster, fester Mann, hat mir später gesagt, dass ihm die Tränen herabgeronnen." So Stifter vor 157 Jahren!
Dieses Ereignis also würde in ein paar Monaten in unserem Lande stattfinden. Na, da muss man doch einfach hinfahren! Ich war noch nie so fest entschlossen!
Irgendwann kam die S-Bahn. In Lichtenberg war der durchgehende Zug weg. Ich musste in Angermünde umsteigen für das letzte Stück zu meinem Ziel.
Auf dem Bahnsteig stand wieder eine Bank, auf der Bank wieder zwei große Koffer mit Riemen um die Mitte, der Mann im hellen offenen Mantel daneben. Er schien auf mich zu warten, deutete auf die Koffer, mit einer Geste über die Gleise, über ein Feld zu flachen Häusern, auf sich und dann auf mich. Ehe ich ihn noch erreicht hatte, war mir mein Auftrag klar: Ich sollte seine Koffer bewachen. Ich kannte sie ja und hatte mich offensichtlich auf der Bank auf dem Bahnhof Ostkreuz bewährt. Er schien noch etwas Dringendes vor zu haben da drüben. Ich nickte. Zeit für Erklärungen war nicht, die Lok für den bereitgestellten Zug würde bald einfahren. Der Mann sprang vom Bahnsteig in die Gleise — ich war in dem Moment Komplizin bei einer Straftat — bezog aber meinen Posten auf der Bank. Stifter musste warten. Im Zug zu den Endmoränen würde ich wieder Zeit für ihn haben.
Ich nahm meine Aufgabe ernst, verfolgte rechts das Rangieren der Lok und geradeaus das Herannahen meines Auftraggebers mit wehendem Mantel und einem Beutel in jeder Hand. Seine Sprünge waren weit und hoch, ja übermütig. Er gewann das Wettrennen, lächelte mir glücklich zu und dankte mit einer tiefen Verbeugung, wortlos; denn als er auf den Bahnsteig sprang, war meine Aufgabe beendet und ich suchte mir ein leeres Abteil, um mich wieder dem "Schauer und der Erhabenheit" der Sonnenfinsternis hinzugeben. Fensterplatz in Fahrtrichtung, Lesevergnügen für etwa eine Dreiviertelstunde. Ich schloss die Tür zum Gang. Es ruckte im Zug, wir waren komplett.
Pünktliche Abfahrt, Lucia! Das hat doch was! Schön, dass du das in Tübingen gelernt hast. Es ist ja auch immer ein Stück eingelöstes Vertrauen, das wir in andere haben, das aber eben auch andere Menschen in uns haben. Und du wirst es brauchen in deinem Leben. Aber deine Gedanken über die Zeit, die werde ich auch — von Zeit zu Zeit — brauchen können; wie heute zum Beispiel, beim Warten auf Bahnsteigen. Wäre mir sonst dein Bild aus der Zeitschrift in den Sinn gekommen? Und hätte Adalbert Stifters "Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842" so eine Wirkung auf mich gehabt ohne die Sonne Sambias auf dem Bahnhof Ostkreuz, die aus deiner Antwort auf die Umfrage leuchtete?
Aber die Fahrt ist noch nicht zu Ende. Die Tür wird aufgezogen: Der Mann mit den Koffern bittet um einen Platz im Abteil für sich und sein Verpackungsproblem. Die beiden Neuerwerbungen müssen auch noch in die prallen Koffer. In Wahrheit aber ist es die Verwirklichung des Lutherwortes: Wovon das Herz voll ist, des gehet der Mund über! Ich merke es schnell. Nach der "Tschuldigung! Bitte Tschuldigung!" für sein Eindringen in mein Abteil und dem Dank für meine Kofferwache bringt er die eigentliche Begründung: "Nur ein Wort, bitte! Seit heute früh fünf Uhr kein Wort, kein einziges Wort! Ich muss sprechen! Seit heute früh in Minden kein Wort! Das sind elf Stunden! Und so viele Leute!" Ein Notfall! Ich hatte immerhin Adalbert Stifter in der Zwischenzeit und arbeitete an einem Plan für den 11. August, der mich voll beanspruchte. Aber jetzt ist Hilfe gefordert, in Wort — das zuerst — und Tat.
Die zwei voluminösen Neuerwerbungen sind Schokoladenostereier der Größe XXL, geschmückt mit starren rosa und blauen Seidenschleifen und einer Brut gelber Plüschküken, beide für eine einzige Frau, seine Frau, Libusche in Stettin, eins für den Ostersonntag auf dem Frühstückstisch, eins für den Montag. Er hält sie weit von sich, dass ich sie auch richtig bestaunen kann. Wunderschön! Die Seidenschleifen, die Küken schimmern gelbgesäumt im Gegenlicht. Seit Angermünde scheint doch tatsächlich die Sonne. Jetzt gilt es, die beiden empfindlichen Übereier in die Koffer zu packen. Das sind ja nicht einfach Schokoladen-Hohlkörper, Warenbezeichnung in der DDR für Tier- und Menschennachbildungen in Schokolade zu den Festen. Es sind Gaben der Liebe nach zehn Wochen Trennung und nun vierzehn Tagen Zusammenseins.
Die Koffer werden auf der freien Bank umgepackt, die kostbaren Gebilde in die Mitte, abgepuffert von allen Seiten mit Pullovern und Hemden, dabei keinen Hügel schaffen, damit die Deckel zugehen. Auch das gelingt. Ich drücke sanft und mehr an den Rändern. Die Schlösser rasten ein. Die Riemen sichern wie bisher. Der polnische Schiffsbauer, Pendler zwischen Stettin und Minden, auf der Heimfahrt zu seiner Liebsten, die ich nun auch kennen lerne: Libusche am Strand, auf dem Sofa, am Geländer, Libusche an einen Baumstamm gelehnt mit Katze im Arm und neckisch von unten her blickend, immer fröhlich, eine rundliche dunkelhaarige junge Frau. Der Schiffsbauer blättert die Serie noch einmal auf, ehe er sie in der Innentasche verstaut. Er dankt mir mit einem Handkuss, so unvermutet und formvollendet, dass ich ihm seine Hand kräftig drücke. Ich glaube, das ist unpassend für eine Dame bei solch edler Geste. Womöglich bin ich auch noch errötet. Ein Handkuss im Regionalzug! Wie soll man sich darauf vorbereiten?
Mein Haltepunkt naht. Man muss sich rechtzeitig bemerkbar machen, meist ist man der einzige Fahrgast. Aber heute habe ich einen Begleiter. Er springt vor mir die Stufen hinunter, reicht mir den Arm und verabschiedet sich — mit einem Handkuss! Kann es sein, dass der unter freiem Himmel nach dem Freiherrn von Knigge nur einer Königin zusteht? Nun sei’s drum! Jedenfalls ist er bei mir unvergessen. So wie alles, was sich auf dem Bahnsteig D, Ostkreuz, und vor allem seitdem ereignet hat.
Und das hat sich ereignet:
Das Abholkomitee am Haltepunkt war zur Stelle, hatte die Wartezeit mit einer Wanderung in der Endmoräne verbracht, Verstecke für Ostereier ausgespäht, ein Rudel Rehe gesichtet, war Zeuge des galanten Handkusses geworden, fragte sofort: "Oma, wer war denn das Tolles?" und imitierte ihn, den Handkuss, bei jeder Begrüßung während der Osterfeiertage, schon beim Frühstück, drinnen und draußen, ohne auch nur im Entferntesten die Eleganz meines Zugbegleiters zu erreichen. Es gibt eben Ereignisse im Leben, die sind singulär … und bleiben es auch!
Für den 11. August 1999 habe ich mir die Stadt Karlsruhe ausgesucht. Sie liegt im Totalitätsstreifen, und die Sonne würde zwei Minuten, acht Sekunden verdeckt sein, mittags so gegen halb eins. Fahrkarte, Hotel waren gebucht, Stadtplan studiert, Fachausdrücke wie Korona, Protuberanzen, Brillantring, Ekliptik beherrschte ich, hatte mir eine Schutzbrille gekauft und stand mit etwa 3000 Sonnenanbetern auf dem Schlossplatz. Die wilden Wolkenwirbel vor der Sonne gefallen niemandem. Buhrufe ertönen immer lauter, je näher der Termin der Schwarzen Sonne rückt. Wäre Stuttgart doch der bessere Ort gewesen? Man hatte ihn mir geraten: neun Sekunden längere totale Finsternis! Zu spät, jetzt stehe ich auf dem Platz in Karlsruhe und buhe mit. Aber dann pünktlich halb eins zieht der dunkle Wolkenhaufen ab. Das richtige Stück Himmel ist frei geräumt, die Sonne strahlt … noch, gedämpft schon. Durch die Brille sehe ich den Schatten, der sich rasch weiter schiebt.
Dann der herbeigesehnte Augenblick und alles genau wie 1842 bei Adalbert Stifter das "AH!" Dreitausendstimmig, dann Totenstille. Ein paar erschrockene Vogelrufe. Ein schwarzer Schwarm kreist aufgeregt im Schwirrflug, aber lautlos über dem Bundesverfassungsgericht. Die Brillen wurden abgesetzt. Wildfremde Menschen gaben sich die Hand. Die Hessenfamilie auf dem Steinsims neben mir zog Pullover an für die zwei Minuten Kühle, holten eine Flasche Sekt aus dem Rucksack und Pappbecher und alle Berliner, Sachsen und Hessen, die die Begeisterung für die Schwarze Sonne zusammengeführt hatte, prosteten einander zu. In Ohnmacht, wie damals in Wien, sah ich niemand fallen, wohl aber weiß ich von einer "ernsten, festen Frau" — Stifter wusste von einem Mann dieses Formates — "dass ihr (ihm) die Tränen herab geronnen." Sie trank zwar schon Sekt, war aber gerade "von Schauer und Erhabenheit erschüttert" worden, wie Adalbert damals; Gänsehaut den Rücken rauf und runter, und das hat, nein, das wird sie nie vergessen. Nie und nie in ihrem ganzen Leben!
Thomas Rehaag
Mouches volantes
Eins
Malte wartete. — Er stand auf der streckenweise überdachten Brücke über den Bahnsteigen. Es war Mitte September und den Himmel bedeckten weiß-graue Schäfchenwolken mit ein paar blassblauen Lücken. — Manchmal wurden daraus lethargisch hoffende Illuminationen. Manchmal fielen flimmernde Sonnenstrahlen auf die trist bemoosten Bahnhofsdächer.
Er hob den Kopf und zielte auf die erst beste Wolke. Er klickte das rechte Auge zu und konzentrierte sich auf das glockenförmige Spinnengewebe halbrechts oben. Es bestand aus… Langsam folgte er dem links ausfließenden Schwappen über die Turmspitze hinweg. Der untere Saum bestand aus einer bräunlichen Krause, die einem zerschmelzenden Hufeisen ähnelte.
In der Mitte schwebte ein unfassbarer Staubbucker rasch von rechts nach links. Ab und zu rollten halbe Glühlampen über die Orbita. Das abtauchende Blau erschien ihm seltsam klar. Heroisch wehrte sich die Geometrie mit ins Bild schneidenden Oberleitungen.
Er wechselte die Seite.
Aneinander klebende Seifenbläschen; Croissantraupe; seltsam leuchtend und verschroben, sanken mit hektisch nachdrängenden Fetttröpfchen aus der gläsernen Vertikale. Descartes flüsterte: "Es ist ja nichts…"
Vergeblich echote der reflektierte Schein des Gewebes wie ein sterbender Feenschleier über das zerbröckelnde Firmament.
Er schüttelte sich munter. Züge fuhren aus und ein und vorbei. In den Schienensträngen pfiffen klandestine Rattenhorden.
Ihm gefiel es, die Zeit vergessen zu haben. Trotzdem zwang er sich auf die Uhr zu schauen: Noch zwanzig Minuten. Nichts für ungut! Er zündete sich ein Zigarillo an. Wie sah er überhaupt aus?
Streng gescheiteltes blondiertes Haar, hinten und über den Ohren ausrasiert, mit einem Schuss Gel. Ovales Gesicht mit markant kurzer Nase und schmalen grünen Melancholikeraugen, hübsche Ohren und schmale Lippen. — Eine Spur über banal. —
Schwarzer Ledermantel, weißes Seidenhemd, roter Nylonschlips, violette Nadelcordhosen, blank gewienerte Lackschuhe…
Er exhalierte und grinste. Heute wurde er vierzig.
"Gut gewachsen mit ’ner Prise Schmalz", sagte er leise. Ein Zigarillo dauerte zehn Minuten.
Er erinnerte sich an die vorige Nacht. An Marvins schwitzende Fährte, geboren aus seiner kaltblütigen Angst. An den schmähenden Lockruf gejagter Taucher und die steigende Lerche hinter dem Horizont. An die Verworrenheit unergründlicher Öffnungen und nasskalter Münder. An den Bauchtanz schlängelnder Zungen und das Zucken ratloser Lider….
Gedankenschwer begann er auf und ab zu gehen. Sein Geist umblitzte die Perfektion schlanker Maschinenhuris. Phosphorregen fiel auf die Städte aus Tausend und einer Nacht.
Sein Blick fiel auf den Boden. Geduckt verfing sich die Klarheit im wandernden Segel gespitzter Melancholie. Von fern begann es zu zählen und seine Lippen schürzten sich verrückt.
Zwei
Marvin rannte die Treppen hoch. Der Zug fuhr in zehn Minuten. In der rechten Hand hielt er einen Strauß mit vierzig rotgelben Tulpen. Er stieß die Flügeltüren auf. Hoffentlich gefielen sie Malte! Er setzte sich auf die Bank und schlug die Beine übereinander: Zehn Minuten warten wenn alles klappte. Man wusste ja nie! Friedrichshagen-Ostkreuz. Vielleicht ne viertel Stunde. Das wurde sehr knapp. Er wippte ungeduldig mit der Stiefelspitze. Echt NVA. Betont locker spreizte er die Schenkel. Abgehangenes Fleisch sah ihn scheel an. Nicht sein Bier! Sollte es sich n paar saftige Chilischoten hinter die Kiemen schieben! – Vielleicht wurde daraus n Akt von Malevitsch.
Er sandte ihm eine Maschinengewehrgarbe giftiger Blicke. Das Wrack fiel feige grinsend zusammen. Er ließ die Stiele über seinen Schlitz gleiten und griente sich eins: Heute hatte er ganze Arbeit geleistet:
Eine Stunde Joggen, zwei Stunden Judo, dreißig Liegestütze und der Sprint hier her zum Abtrainieren. Ne Neuranidal gegen den bohrenden Schmerz über dem rechten Auge….
Frisurenpflege, Klamottenauswahl. Selbstverständlich ohne Dusche! Er kannte Maltes Vorlieben. — Nicht zu vergessen das hektische Herumgetrapse auf dem angeschickten Blumenfriedhof. Das Überangebot nervte ihn manchmal.
Kommt die blöde Bahn nun endlich! Er kramte das Handy aus der Jackentasche und linste aufs Display. — Noch vier Minuten! — Er musste lachen. Notfalls rief er eben an. Null Problemo.
Malte besaß ja jetzt sein altes Alcatel. Das Ding hatte schon fünf Jahre auf dem Buckel und der Akku war schon mächtig abgebrannt. Na ja. Schwamm drüber!
Er legte sich den Strauß über den Schoß. Seine Socken und sein Slip klebten an der feuchten Haut. Mit müßiger Noblesse kraulte er sich die Achseln.
Der Bahnsteig füllte sich mit Eis schleckendem Feierabendpublikum, betont lässige Muße vorschaukelnd unter der honigsüßen Geisel debiler Hast.
Seine Augen beschlummerten die Uhr neben dem Ausgang: Noch eine Minute!
Sie machten sich bereit. Etwas durchfuhr sie. Sie glotzen in die Gegend wie Schäferhunde auf Speed.
"Menschen sind der beste Guckkasten", flüsterte er schmunzelnd. Der Zug fuhr ein. Er stand auf, wobei er sich lasziv den schneidig schwarzen Nappalederdress zurechtzupfte. Schleichend stolzierte er zu der gegenüberliegenden Tür.
Der Tacho in der leeren Fahrerkabine zeigte auf Null. Er starrte durch das verätzte Fenster. Vertrocknete Wälder und weite gelbe Wiesen schuckelten vorüber, abgehackt von zartgrauen Gewächshäusern. Hirschgarten.
Das Abteil ruckte an. Schwermütiger Schlaf drückte auf seine Lider. Verwaiste Fabrikgebäude mit verschütteten Lumpen vor den rausgerissenen Türen und bunt besprühte Baracken mit eingeschlagenen Scheiben, zirrend vor dunkelgrünen Waldmeeren.
Er lehnte sich Wimpern klimpernd zurück, verloren in menschenleeren Labyrinthen im Progress exponentieller Furcht. — Und hinter all dem die Fratze des Angst akkumulierenden ES.
Coffeinierte Acetylsalicylsäure schubte seine Hirnaterien auf. Gelöster Krampf sank heißblütig in sein Geschlecht. Ultraviolettes Kreisen finsterte silberne Seziertische auf; erdolcht das Herz der Hure Babylon, zahnlose Wunde verblutet über melaninfleckigen Kakteen im Wüstensand.
Er riss die Augen auf. "Ostkreuz" leuchtete es grün gepixelt vom Monitor. Er schnellte hoch. In seinen Fußsohlen kribbelten tausende roter Ameisen. Er machte einige steife Schritte auf die Tür zu. Es ging einigermaßen.
Drei
Ihm fröstelte. Vierunddreißig Schritte hin: Treppe. Vierunddreißig Schritte zurück: Treppe. Vierunddreißig Schritte hin…
Er machte eine akkurate Drehung auf dem rechten Absatz und stand still. Verlegen tastete seine rechte Hand nach dem Mon Chéri. Schwarze Sumatras machten ihn immer depressiv. Das Hufeisen dröselte sich in den staubig schimmernden Brückenschlund. Genüsslich steckte er sich das Konfekt zwischen die Lippen. Plötzlich sah er Marvin von der Treppe steigen. Seine Zungenspitze bohrte sich in den zartbitteren Schmelz. Die Croissantraupe glitt über Marvins schwarzen Pagenponny.
Er trat zwei halbe Schritte auf ihn zu. Seine Zunge drückte die Piemontkirsche gegen den angerauten Gaumen. Er zwinkerte Marvin zu. Ihre auftauenden Blicke umflunkerten sich träge.
Marvin schwang lächelnd den Blumenstrauß. Seine stumpfe Nase saß wie hingehauen zwischen den weit auseinander stehenden Mandelaugen, halb grün, halb braun. Das Schwarz seines Lederdresses ähnelte einem verkorksten Kohlpechraben. Seine blassen Slawenwangen wuchsen wandelnd in die auseinanderstrebenden Flusen.
"Götze meines Geistes", dachte Malte den alkoholisierten Schokoladenbrei hinunter würgend. "Und du bist alle Mütter…."
"Herzlichen Glückwunsch, Alterchen", sagte Marvin müde.
"Na Jungchen." Malte leckte sich die Lippen. "N toller Strauß, ähm…" Marvin lehnte sich an die stählerne Umrandung. "Komm doch näher. Ich beiße nicht."
Ein leichter Windstoß fuhr in sein Haar. Er zuckelte seine Schenkel etwas auseinander.
"Du Filou", flüsterte Malte, ihn von unten nach oben musternd. Marvin neigte sich leicht vor.
"Warte." Er stellte den Strauß zwischen seine Füße. "So."
Malte wickelte rasch das Papier vom Konfekt. Marvins Gesicht floss auf ihn zu. Seine schlanke Ägyptertaille bebte sich aus der schmutzigen Leitungsaufhängung.
"Willst du ’n Stückchen Schokolade?"
Marvin schloss die Augen, legte schnurrend den Kopf zurück und öffnete den Mund. Malte schob ihm das Stück auf die Zunge und küsste ihn. Marvin legte seufzend die Arme um ihn. Sein Atem roch nach frischen Zwiebeln und mariniertem Knoblauch. Langsam, sehr langsam kamen ihre Zungen in Fahrt. Sie schlängelten sich feucht reibend umeinander.
"Danke für die Bescherung", brummelte Malte verzückt.
Marvins Nägel krallten sich in seinen Mantel. Sie schmiegten sich schwankend aneinander. Ihre Zungenspitzen kitzelten ihre Gaumen. — ZwiebelnKnoblauchSchokoladeLikörZwiebelnKnoblauchSchokoladeLikör… Aus und ein und vorbei, aus und ein und vorbei…
"Puh!" Marvin schüttelte kräftig den Kopf. Malte langte ein letztes Mal nach seinem knackigen Hintern. Ängstlich knabberte er an der rostrot verkleideten Brustwarze.
"Bist genau richtig Jungchen."
Marvin grinste dreckig und kniff ihn in die rechte Wange. "Was soll’n das heißen?!"
"Ich meine, Bodybuilder sind auf Kühlschrank getrimmte eitle Transusen… Arme, Beine. – Wozu noch?" Marvin griente schalkhaft. "War ne ziemlich trieslige Angelegenheit vorhin." Sein Silberblick tastete Maltes poröse Konsistenz ab. "Ich meine, beim Küssen… Wurde sehr finster mit dem Stundenglas — n riesiger Mund. — Halt mich… Ne Ehe mit bestrapsten Schokoladenengeln am Weihnachtsbaum, erfrischend und halbseiden…. Hab da so’n weißen Punkt in deinem rechten Auge gesehen."
"Viel zu früh, he!?" Marvin runzelte die Augenbrauen.
"Hab dich eben nicht so schnell erwartet… Versteh mich nicht falsch. — Das mit der Zeit…" Malte senkte den Blick.
"Hab’s ja selbst fast verpennt", sagte Marvin leise, so dass Malte sich traute, den Kopf zu heben. Marvin lächelte gerissen. "Was gibs’n zu futtern?"
"Angebranntes Hühnchen, Pommes kross und Grünen Veltliner."
Marvin nahm den Strauß und hakte sich bei ihm ein.
"Hmmm..."
"Und behalt die Stiefel an…" Sie stiegen die Treppe hinab.
"Oh. Oh... Mit Geschenkpapier…"
"Noch ne Piemontkirsche?"
"Was für ne Kirsche?"
"Ne Piemontkirsche…"
"Hab ich gar nicht mitgekriegt…"
"Ich auch nicht…"
"Bei Mohammed?"
"In ’ner Stunde."
Sie setzten sich auf die nächstliegende Bank.
Noch hundert Züge. "Na fein." Marvin breitete die Arme aus und verzog die wulstigen Lippen. Allmählich ebbte der Schmerz ab.
"Langweilig?"
"Warten auf Godot", erwiderte Marvin vergnatzt.
Aus und ein und vorbei. Aus und ein und vorbei…
"Und ich?"
"Das mit dem Hühnchen…"
"Manchmal ist die Haut noch zu glibbrig…"
"Und die Pommes zu lasch…"
"Man kommt nie zur rechten Zeit…"
"Aber heute hast du Geburtstag."
"Die Dinger sind von gestern Nacht."
"Sag ich ja…"
Aus und ein…
Malte kramte Buntstifte und zwei zusammengefaltete weiße DIN-A4-Blätter aus der Innentasche seines Mantels. Marvin blinkerte ihn skeptisch von der Seite an.
Aus und ein…
"Was wird’n das?" Malte entfaltete die Blätter auf dem Einwickelpapier.
"Also ich beschreib dir, was sich in meinen Augen so tut und du versuchst daraus ne Zeichnung zu machen." Marvin griff nach den Stiften. "Sachte, sachte. — Natürlich ohne dass die Tulpen was abbekommen."
"Gebongt."
Und vorbei….
Sie legten los. Schwarze Witwen verfingen sich in gazeartig mutierten Fledermausflügeln. Gläserne Rondelle wirbelten blanke Chininpanzer über den preußisch blauen Himmel. Kristallines Schneegestöber funkelte unter der ermattenden Sonne. Rote Dreiecke tanzten über schlierigen Kohlehalden…
Aus und ein…
Erschöpft lehnte sich Marvin zurück. Malte nickte wohlwollend.
"Noch’n Viertelstündchen." Er steckte die Utensilien an ihren Platz. Sie schwiegen, verbohrt auf die penetrant strahlenden Reklametafeln starrend. Dann fuhr der Zug ein.
Unterwegs salbaderten sie burschikos Unannehmlichkeiten. Jeder war mal dran.
"Ab Vierzig kann Bosheit ziemlich erfrischend sein", dachte Malte in sich lächelnd.
Er fuhr vorwärts und Marvin rückwärts. Sie lachten wie verwegene Pokerspieler mit Grand Hand. Ab und zu schlugen sie sich krakeelend auf die Schenkel.
"Es müssen die Endomorphine sein", dachte Malte. Und da waren sie schon.
Vorbei…
Barbara Blum
Wiedersehen und Abschied
Am Ostkreuz warten und stehen,
treppauf, treppab, Bahnsteige, Gleise,
alter Bahnhof, ein Kommen und Gehen,
aussteigen, oder geh’n auf die Reise.
Menschen stehen und haben Geduld,
eine Stimme Verspätung ansagt,
nehmen es hin, suchen keine Schuld,
sehen es gelassen, niemand klagt.
Da ist der Kiosk, Brötchen mit Wurst,
Blumen, Zeitung, oder für den Durst,
am Ostkreuz warten und stehen,
treppauf, treppab, viel zu sehen.
Es ist Herbst, kahler werden die Bäume,
am Zug ein Mann, in den Augen Träume,
S-Bahnen kommen und fahren vorbei,
doch für den Mann ist niemand dabei.
S-Bahnen fahren mit Lärm heran,
die Räder brüllen, Stahl auf Stahl,
ein Mädchen strahlt, für sie kommt der Mann,
der Mann ihrer Liebe und Wahl.
Am Ostkreuz warten und stehen,
Menschen aus Berlin, stehen früh auf,
gewöhnt, zeitig auf Arbeit zu gehen,
dröhnende Räder vom Ostkreuz —
ein Stück vom Tagesverlauf.
Jacqueline Meier
Ein Bahnsteig – ein Baum – der Rede wert
Ein Baum wartet worauf Zwillingsbruder der eine zeigt nach Osten der andere nach Westen doch in der Wurzel sind sie verbunden und die Krone ist eins. Bald steht Ostkreuz für ein Kreuz wie auf einem Grab dann wird es die Zwillingsbaumbrüder nicht mehr geben auch den alten Bahnhof nicht. Ihre Kinderstube und zu Hause die S-Bahn hält unter einem Dach der Baum reckt sich in die Höhe erhebt sich über den Bahnhof und trotzdem sind sie einander zugetan. All die Jahre, was dachte der Baum über die Wartenden die ein- und aussteigenden die gen Osten und die die gen Westen fuhren und ganz hinten die in Richtung Norden und Süden eine Verbindung sich erhofft. Die S-Bahn fährt ein und tagaus, Menschen steigen ein und um. Irgendwie sieht der Baum auch ein wenig melancholisch aus, der Baum hat ein Kreuz zu tragen auf einem Bahnsteig stehen und niemals abfahren. Eine Pappel steht am Bahnsteig mitten auf einem Bahnhof in Berlin und wenn Leute fahren mit der S-Bahn, sehen sie sein freundlich grün. Ach was rührt mich dieser Baum, soll nicht sterben aber nicht so finster, sein Leben hat er ja noch. Der Baum, die Brüder, ich habe ein Herz für sie.
Erika Reichelt
Mosaiksteinchen um einen Bahnhof
Fritz wartet am Lenbachplatz auf einer der wenigen Bänke, die noch etwas von der herbstlichen Oktobersonne abbekommt, auf seine Freundin. Sie wollen nachher gemeinsam zum Sea-life in die Spandauer Straße fahren. Er hat gehört, dass es dort seit drei Jahren im "Dom Aquarée" an der Karl-Liebknecht-Straße eine mit Wasser gefüllte Glasröhre, innen mit einem Fahrstuhl, gibt, von dem aus man viele bunte Zierfische beobachten kann. Er freut sich schon sehr auf diese Attraktion.
Zigaretten rauchend sieht er sich sein Umfeld an. Im Restaurant "Lykia" war er schon mit Gisela zum Brunch. Erst dachte er, es ist eine griechische Gaststätte, doch man sagte ihm, dass Lykien heute in der Türkei liegt. Seit der Öffnung vor einigen Jahren ist es gut besucht, denn es befindet sich in einem Neubau genau dem Bahnhofsausgang gegenüber. Überhaupt kommt er gern in diese Gegend, weil seit einiger Zeit viele unterschiedliche Gaststätten in frisch sanierten Häusern Gaumenfreuden anbieten. Auch kleine Lebensmittelgeschäfte haben sich in der Sonntagstraße angesiedelt. Schön ist, dass man dort noch nachts einkaufen kann.
Hundegebell unterbricht seine Gedanken. Eine Gruppe junger Leute lässt auf der großen Wiese des Lenbachplatzes ihre Lieblinge toben und spielen. Kinder lärmen auf dem nahen Spielplatz. Neben seiner Bank liegen im Abfallkorb mehrere Bier- und Weinflaschen. "Na, das ging ja heute Nacht hier wohl rund obwohl es doch nachts schon empfindlich kalt ist", denkt er so bei sich. Von weitem sieht Fritz ein rotes Jäckchen leuchten. Da kommt endlich Gisela angerannt. "Verzeih, ich hatte noch einen wichtigen Anrufer, den konnte ich nicht so rasch abfertigen, er hat Probleme mit seiner Arbeitsstelle", sagt die Sozialpädagogin zu ihrem Freund, gibt ihm einen Begrüßungskuss und schon ist ihr Zuspätkommen verziehen. Jetzt freuen sie sich auf den Besuch des Sea-life und Aquadomes, in dem man Haie und Mantas, auch Seesterne und -igel ganz nah betrachten kann. Erwartungsvoll streben sie dem nahen Bahnhof zu und fahren zum Hackeschen Markt.
Heidi steht in der Praxis einer ambulanten Chirurgie im Neubau Neue Bahnhof-, Ecke Sonntagstraße am Fenster und schaut den an- und abfahrenden Zügen im Bahnhof und den hin und her eilenden Menschen auf den Bahnsteigen zu, um sich abzulenken. Eine kleine Daumen- OP muss sie über sich ergehen lassen und sie hat Angst davor. Das Warten fällt ihr schwer. "Wenn alles doch schon vorüber wäre", denkt sie und wischt sich den Angstschweiß von der Stirn. Sie hat sich extra dafür von ihrem Chef beurlauben lassen.
Jetzt wird ihr Name aufgerufen, es ist so weit, sie ist mit ihrer OP dran. Zögernd betritt sie den Operationsraum. Der Arzt und die OP-Schwester erwarten sie in grünen Kitteln. Sie muss die Schuhe ausziehen und sich hinlegen. Die Schwester schiebt ihr ein Kissen unter die Knie, ihr Arm wird festgebunden, sie spürt den Einstich der Betäubungsspritze. Nach relativ kurzer Zeit ist alles vorbei, ihr wird aufgeholfen und nach neuer Terminabsprache kann sie gehen. Sie wird gefragt, ob sie eine Krankschreibung brauche, aber sie verneint, denn auf ihrer Arbeitsstelle will sie nicht länger fehlen als nötig. Sichtlich erleichtert kauft sie sich noch rasch beim Bäcker im Bahnhof ein Stück Obstkuchen und einen Becher Kaffee. "Es war ja gar nicht so schlimm", denkt sie und schlürft genüsslich das heiße Getränk. Danach eilt sie mit schnellen Schritten froh gestimmt die Stufen zum Bahnsteig hinunter und springt in den Zug zum Alexanderplatz. Ihr Chef wird froh sein, dass sie schon zurückkommt. Die OP hat sie fast vergessen, nur leichte Schmerzen und ein kleiner Verband am Finger erinnern sie daran.
Gerda ist schon alt und gebrechlich, doch heute hat ihre Tochter Geburtstag und sie möchte bei dieser Feier gern dabei sein. Sie steht vor den vielen Stufen, die zum Bahnsteig führen. "Ach schade, dass dieser Bahnhof noch immer keine Rolltreppen oder Fahrstühle hat. Eines Tages werde ich zu keiner Feier mehr mit der Bahn fahren können, ich werde eine Taxe nehmen müssen", stellt sie mit Erschrecken fest. Mühsam zieht sie sich am Geländer hoch und bleibt oben erst einmal eine ganze Weile stehen, um auszuruhen und zu Atem zu kommen. Allzu lange darf sie nicht verschnaufen, die Tochter wartet auf sie, doch die Bahn nach Erkner ist längst weg. Bis zur nächsten hat sie 20 Minuten Zeit. So setzt sie sich auf dem Bahnsteig E auf eine Bank, bis ihr Zug einfährt. Im Handyzeitalter hat natürlich auch sie eins und schreibt ihrer Tochter eine SMS, dass sie etwas später kommt, dann schweifen ihre Gedanken ab.
In den vielen Jahren, in denen sie am Bahnhof Ostkreuz nun schon wohnt, hat sich vieles hier verändert. Früher standen die Häuser ganz dicht am Bahnhof, doch der Krieg hat so viele zerstört. Den Lenbachplatz gab es damals noch nicht. Die Straßen bekamen 1901 bis 1905 ihre Namen. Ihr fällt ein, dass die Sonntagstraße nach einem Herrn Sonntag benannt wurde. Er war Grundbesitzer und verpachtete damals an Gärtner Gemüseparzellen. Und die Revaler Straße wurde nach der Hauptstadt Estlands benannt, die auf Estnisch Tallin heißt. Seufzend erinnert sie sich an die Zeit, als sie noch arbeiten ging und für eine Wochenkarte von Ostkreuz nach Lichtenberg nur siebzig Pfennig bezahlen musste. Gemessen an den heutigen Fahrpreisen von 2,10 Euro für zwei Stunden war das spottbillig.
Sie hat gehört, dass bald durch die Sonntagstraße eine Straßenbahn direkt bis zum Bahnhof, dann unter dem Bahngelände hindurch zur Hauptstraße und von dort Richtung Klingenberg fahren soll. "Wie wollen die das schaffen?" fragt sie sich. "Das wird ein Mammutprojekt. Das erlebe ich sicherlich nicht mehr, obwohl sie jetzt mit den Rodungen der Gartenanlagen am Markgrafendamm beginnen. Schade eigentlich, denn im neu gebauten Bahnhof gibt es dann bestimmt auch Fahrstühle und Rolltreppen. So lange plant man schon, den Bahnhof neu zu gestalten, doch die Durchführung dieser Pläne ist wohl sehr schwierig. Alles soll bei laufendem Fahrbetrieb geschehen." Ihre Gedanken werden vom einfahrenden Zug nach Erkner unterbrochen. Mit klammen Gliedern erhebt sie sich und steigt ein. Schon sind ihre Gedanken bei der Tochter und den Enkelchen und sie freut sich, dass sie sich bald umarmen können, sowie auf eine heiße Tasse Kaffee. Der Gedanke an den leckeren Käsekuchen, den ihre Tochter jedes Mal backt, lässt ihr das Wasser im Munde zusammen laufen.
Es fällt beim Lesen auf, dass alle Personen, die in dieser Geschichte am Ostkreuz warten, eines gemeinsam haben, sie fahren mit der S- Bahn von diesem Bahnhof zu ihrem Ziel.
Dieser Bahnhof machte vor Jahren traurige Schlagzeilen, als sich in seiner Nähe eine junge Frau am Mast der Hochspannungsleitung erhängte. Die Bergung des toten Körpers erwies sich als sehr schwierig, weil erst ein Wagen der Bewag angefordert wurde, um von Fachleuten die Stromzufuhr abschalten zu lassen. Erst als dieser nach längerer Wartezeit eintraf und der Strom unterbrochen war, konnte er geborgen werden. Deutsche Gründlichkeit!!! Diese Frau bekam beim Hochklettern keinen Stromschlag?!? Inzwischen waren auch Presse und Fernsehen angerückt, um dieses unschöne Schauspiel zu filmen und zu dokumentieren. Die Anwohner gegenüber den Masten bekamen alles ungewollt mit und viele Schaulustige warteten neugierig darauf, wie wohl die Leiche geborgen werde. Es war zum Schluss wenig spektakulär. Ein Feuerwehrmann stieg den Mast hinauf, band die schlanke, junge Frau los und trug sie herunter. Nach kurzer Zeit fuhren die vielen Autos ab und auch die Leute gingen wieder ihrer Beschäftigung nach, so als wäre nichts geschehen. Es ist schon viele Jahre her, aber vergessen ist es bis heute nicht.
Was mag der alte Bahnhof Ostkreuz noch alles erlebt haben? Wenn der erzählen könnte, es würde sicherlich ein spannender Roman daraus.
Doris Bewernitz
Ostkreuz, Gleis 14
ER steigt in den Zug. Auf der Stirn eine steile Falte. Nur zehn Minuten war er zu spät, und da macht sie so einen Aufstand! Sie kann einfach nicht warten, es ist immer dasselbe. Ist es seine Schuld, wenn der Chef ihm kurz vor Feierabend noch diesen Auftrag rüber schiebt? Da sitzt er nun, mit seinen Blumen in der Hand, in der Ringbahn. Draußen beißende Kälte. Sein Herz rast wie ein Tiger. Bahnhof Frankfurter Allee. Betäubt starrt er geradeaus. Und das sollte nun ihr ganz besonderer Abend werden. Angeekelt knallt er den Blumenstrauß neben sich auf den freien Platz: dreißig rote Rosen. Jetzt ist Schluss, das lässt er sich nicht länger bieten.
SIE steht wie angewurzelt. Kann denn das wahr sein? Da wartet sie sich die Beine in den Bauch, ist halb erfroren, dann kommt er endlich, und kaum sagt sie, dass sie friert, macht er auf der Stelle kehrt und springt in die S-Bahn zurück. Weg ist er. Das ist doch nicht zu fassen. Kam er etwa nicht zu spät? Und nicht zum ersten Mal. Sie verkriecht sich in ihren Mantel. Es ist so lausig kalt, sie spürt es bis in die Knochen. Ja, okay, sie war etwas heftig. Aber seine Reaktion ist doch völlig übertrieben! Sie hasst Unpünktlichkeit. Das weiß er doch.
ER könnte gerade die Scheiben einschlagen. Ihm gegenüber ein verliebtes Paar, innig in einen Langzeitkuss vertieft. Unerträglich. Er steht auf und läuft den Gang entlang. Verschränkt die Arme vor der Brust. Die Leute sehen ihn merkwürdig an. Wenn ihm jetzt einer dumm kommt, der kann was erleben. Dabei wollte er Jutta heute ausführen. So richtig nobel. Ins "Lavendel", ihr Siebenjähriges feiern. Was jetzt? Zu Udo? Verdammt, er will überhaupt niemanden sehen. Er hat einen Kloß im Hals. Er liebt Jutta doch. Oder? Wahrscheinlich bildet man sich das sowieso alles nur ein. Sie hat doch schon immer an ihm rumgenörgelt. Jetzt ist sie zu weit gegangen. Jetzt reicht es.
SIE kämpft mit den Tränen. Er hatte versprochen, heute ganz pünktlich zu sein. Sieben Jahre! Und dann kommt er wieder zu spät. Und sie hatte so etwas Besonderes vorbereitet. Im "Lavendel", wo sie sich kennen gelernt haben, hat sie einen Tisch und sein Lieblingsessen bestellt: gedünstete Forelle. Bestimmt hat er das Jubiläum vergessen. Männer vergessen so was. Einfach wieder in die Bahn zu steigen, ohne ein Wort! Es läuft ihr kalt den Rücken herunter, wenn sie an seinen Blick denkt. Soll das das Ende sein? Jetzt weint sie doch.
ER setzt sich woanders hin. Dieses Geknutsche hält er einfach nicht aus. Greifswalder Straße. Menschenmassen strömen herein. Er fühlt sich leer und unendlich müde. Ob er einfach allein ins "Lavendel" geht? Nie im Leben. Das Geld ist nun futsch. Das ist jetzt auch nicht mehr wichtig. Jetzt ist nichts mehr wichtig. Er kann sich ein Leben ohne Jutta eigentlich gar nicht vorstellen. Er kommt sich wie ein Versager vor. Aber man kann sich als Mann doch nicht alles gefallen lassen! Ist er ein dummer Junge? Na also. Sie wird schon sehen, was sie davon hat. Sieben Jahre! Und dann auf einen Schlag vorbei.
SIE tritt von einem Bein auf das andere. Eiskalter Wind beißt ihr ins Gesicht. Sie ist nicht in der Lage, hier wegzugehen. Worauf wartet sie denn? Auf nichts. Was soll sie jetzt tun? Allein ins "Lavendel"? Niemals. Ihr würde die Forelle im Halse stecken bleiben. Ein Gesicht hat er gemacht, als hätte sie ihm mitten hinein geschlagen! Man wird ja wohl noch sagen dürfen, dass man friert! Oder hätte sie heute um des lieben Friedens willen ihren Mund halten sollen? Vielleicht hatte er Ärger auf Arbeit. Und sie hat sich diesen Abend so schön vorgestellt. Eine Überraschung sollte es werden. Frank. Dieser verdammte Kerl. Sie könnte ihm gerade den Hals umdrehen. Dabei kann sie sich ein Leben ohne ihn gar nicht vorstellen.
ER könnte erst mal bei Udo unterkommen. Jedenfalls geht er nicht zu ihr zurück. Er macht sich doch nicht lächerlich. Wenigstens an einem Tag wie heute hätte sie ihr Gemecker mal lassen können. Bestimmt hat sie ihr Siebenjähriges vergessen. Frauen vergessen so was. Schönhauser Allee. Seine Beine sind unendlich schwer, an seinen Schultern scheinen Zentnergewichte zu hängen. Er fühlt sich, als wäre er gerade hundert Meter in die Tiefe gestürzt. Und er hat sogar Ringe gekauft, Idiot, der er ist. Wollte ihr heute einen Heiratsantrag machen, ganz romantisch und so. Fast zwei Monatsgehälter hat er dafür hingeblättert. Nie wieder. Keine Frau wird ihn mehr so einwickeln. Er bleibt solo. Für immer. Mit einem Ruck zieht er den Schal fester um den Hals.
SIE hat es so satt. Immer hat sie auf ihn gewartet. Immer kam er zu spät. Er würde ja selbst zu ihrer Hochzeit zu spät kommen. Bei dem Wort Hochzeit fällt ihr ein, dass er sich darauf nie einlassen wollte und ihr Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Bestimmt liebt er sie gar nicht. Jedenfalls nicht so, wie sie ihn. Sie sollte endlich aufhören, sich ein gemeinsames Leben mit ihm zu wünschen. Er ist ein verdammter Egoist. Sie sieht auf die Uhr. Die Zeiger scheinen stillzustehen. Das ist der Schock, sagt sie sich. Warum geht sie nicht?
ER fröstelt. Hier hinten zieht es. Er steht auf und schlägt das Fenster zu. Sieht sich um. Gibt es hier nur Paare? Wo soll man sich denn um Gottes Willen hinsetzen, um sie nicht sehen zu müssen? Seine Augen werden heiß, er beißt die Zähne zusammen. Nicht eine Träne wird er um sie vergießen, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Wedding. Der Bahnsteig voller Menschen im Feierabendgewühl. Sie verhalten sich, als wäre heute ein ganz normaler Tag. Er wird diesen Tag nie vergessen. Die hinuntergeschluckten Tränen schmecken bitter. Er muss eine Entscheidung fällen. Er kann nicht. Wie ein geschlagener Hund hockt er in seiner Ecke und blickt böse um sich.
SIE wirft einen Blick auf die unteren Bahnsteige. Menschen drücken sich an ihr vorbei. Schimpfen und drängeln. Sie denkt nur an Frank. Gott sei Dank ist dieser Bahnhof so marode, irgendwie tröstet sie das. Genauso fühlt sie sich jetzt: alt und kaputt. Sie betrachtet die abgeblätterte graue Farbe eines eisernen Pfeilers. Alles hier atmet Geschichte: die Mauern des alten Bahnwärterhäuschens, die Bahnsteigdächer, die Pflastersteine… selbst die Bänke. Wie viele Frauen wohl hier schon gestanden und auf ihren Liebsten gewartet haben? In ihrer Vorstellung sitzt und steht alles voller Wartender, da hocken hungrige Frauen nach dem Krieg und warten auf ihre heimkehrenden Männer, da liegen zerlumpte Soldaten auf dem Bahnsteig, Kinder, die ihre Mütter verloren haben, Mütter und Väter, die nach ihren Kindern suchen… "Na, na", sagt eine alte Frau neben ihr. "Na, na, Mädelchen, was ist denn. Liebeskummer?" Als Mädelchen hat sie auch lange keiner mehr bezeichnet. Sie quält sich ein Lächeln ab. Dabei merkt sie, dass ihr Gesicht ganz nass ist. Die Alte holt ein Taschentuch hervor, reicht es ihr, sagt: "Das wird wieder!" und streicht ihr über den Arm. Ihr sitzt ein Kloß im Hals, sie kann gar nichts sagen.
ER starrt aus dem Fenster. Ein Bahnhof nach dem anderen rast vorbei. Westhafen, Jungfernheide, Westend. Menschen, Menschen, Menschen. Jutta. Was sie wohl jetzt macht. Ob sie schon zu Hause ist? Ob sie noch am Ostkreuz steht? Nein, sie steht garantiert nicht mehr da. Sie kann ja nicht mal zehn Minuten warten. Messe Nord, Westkreuz. Wie lange fährt diese Ringbahn eigentlich, bis sie wieder am Ostkreuz ist? Wenn seine Erinnerung ihn nicht täuscht, eine Stunde. Niemals wird sie so lange warten. Er hätte vielleicht doch mit ihr reden sollen. Eigentlich war es ja der Chef, über den er sich geärgert hat.
SIE sollte nach Hause gehen, ihre Füße sind die reinsten Eisklumpen. Aber sie wird die zwanghafte Vorstellung nicht los, in dem Augenblick, in dem sie die Treppen hinuntergeht, ist es aus zwischen ihnen. Wie lange fährt eigentlich so eine Ringbahn? Nein, sie will sich nicht schon wieder Hoffnungen machen. Er ist garantiert längst ausgestiegen. Wahrscheinlich zu Udo gegangen, ihm sein Leid klagen. Männergespräche. Sie will weg. Und wenn er doch wiederkommt? Nein, dazu ist er viel zu stolz. Sie kennt ihn. Er würde sich schwach fühlen und das hasst er. Wie soll sie nur diesen Abend überstehen?
ER überlegt, ob er es versuchen soll. Entgegen aller Vernunft. Er weiß genau, dass sie nicht mehr dort stehen wird. Dazu ist sie viel zu stolz. Dieser Stolz, das ist es ja gerade so, was er an ihr mag. Er sieht ein altes Paar vor sich sitzen, beide um die siebzig. Überrascht stellt er fest, dass sie sich an den Händen halten. Die Frau zieht ein Taschentuch aus der Manteltasche, dabei fällt ein Zettel herunter. Er hebt ihn auf. Der Zettel ist Teil eines Stadtplans, ziemlich alt und verschlissen. Die Frau nimmt den Zettel, sieht ihm offen ins Gesicht und sagt: "Wir sind heute fünfzig Jahre verheiratet, stellen Sie sich das mal vor. Wir sind extra nach Berlin gefahren, weil wir uns hier kennen gelernt haben." Sie lächelt. Sieht aus wie ein glückliches kleines Mädchen am Heiligen Abend. Der alte Mann nickt und strahlt. Er hat selten ein so freudiges Paar gesehen. Bilder aus seinem Kinderbuch tauchen vor ihm auf: "Wie’s der Alte macht, ist’s immer recht", von Hans Christian Andersen. Ganz deutlich die Szene, wie die Alte ihrem Mann das Halstuch bindet und ihm einen dicken Kuss gibt. Da war die Welt noch in Ordnung. Genau so sehen die Beiden aus. "Haben Sie eine Freundin?" fragt die Frau. Er schweigt. Presst die Lippen zusammen. "Nein? Ach, das kommt noch, junger Mann. Sie sind ein guter Mensch, das sehe ich. Und Sie haben ja das Leben noch vor sich. Es gibt kein größeres Glück, als zusammen alt zu werden, glauben Sie mir." Er windet sich. "Gertrud", sagt jetzt ihr Mann, und seine Stimme ist ganz weich, "siehst du denn nicht, dass es dem jungen Menschen nicht gut geht. So lass ihn doch in Ruhe". Er ist verwirrt. Bahnhof Hermannstraße. Die beiden erheben sich. Plötzlich ist ihm, als hätte er sie noch etwas fragen müssen, aber so schnell fällt ihm nicht ein, was. Die alte Frau nickt ihm aufmunternd zu. Er springt auf, läuft den beiden hinterher, holt sie kurz vor der Treppe ein und drückt der Frau die Rosen in die Hand. "Für Ihren Hochzeitstag!" Jetzt steht er auf dem Bahnhof Herrmannstraße. Er will zu Jutta. Sie wird fort sein. Was hat ihn nur geritten, sie da so allein stehen zu lassen?
SIE zittert. Es kommt ihr vor, als steht sie schon den ganzen Tag hier. Sie wischt sich die Tränen mit dem Ärmel ab. Frank! Irgendwie wird sie ihn schon aus ihrem Herzen heraus bekommen. Aber wann? Sie hört schon diese dummen Sprüche ihrer Freundinnen: Man stirbt nicht daran. Sie versucht, sich in den Windschatten der Mauer zu stellen. Ihre Finger sind trotz der Handschuhe völlig steif gefroren. Die Stunde ist längst um. Ihr ist ganz schlecht vor Traurigkeit. Sie hätte heute nicht mit ihm schimpfen sollen. Nun hat sie alles verdorben. Kein Fünkchen Wärme ist mehr in ihr. Es ist also aus. Sie wird also gehen. Gleich. Die nächste Bahn wartet sie noch ab. Obwohl es ja sinnlos ist. Sie wird nie wieder warm werden. Nie wieder.
OSTKREUZ. Schon beim Einfahren schaut er durch die zerkratzten Scheiben. Ungläubig sieht er Jutta stehen. Die Schminke um ihre Augen ist verschmiert. Seine Knie sind schrecklich weich. Er stolpert aus der Tür. Eilt auf sie zu, als könnte sie sich im letzten Moment verflüchtigen. Zieht seine Jacke aus, hängt sie ihr um die Schultern.
"Besser?" fragt er.
"Frank", sagt sie und gibt ihm einen Kuss.
Sie gehen die Treppe hinunter. Am liebsten würde er sie tragen.
Ilse Treue
Ein ungewöhnlicher Weihnachtsabend
Zum ersten Mal war Lisa am Weihnachtsabend allein, nicht einsam, nur allein. Tochter und Schwiegersohn waren zur Familie ihres Sohnes, Lisas Enkel, nach Norwegen geflogen. Er hatte dort Arbeit gefunden und eine Familie gegründet. Nachwuchs hatte sich eingestellt. Als frische Großeltern wollten sie ihren Enkel und die junge Mutter kennen lernen. Die eigene Mutter ließen sie nur ungern zurück. Sie hätte mitfliegen können. Doch so gerne Lisa ihr Urenkelchen sehen würde, sie traute sich eine Reise im Winter einfach nicht mehr zu. Aber im Sommer, wenn dort die Sonne kaum unterging, wird sie die Familie ihres Enkels besuchen. So blieb sie in diesem Jahr allein. Ja, sie freute sich sogar, allem Trubel zu entgehen. Herrlich ruhig war es zu Hause. Ihre Einkäufe hatte sie schon Tage vorher erledigt. Heute Vormittag war sie nur noch einmal zum nahe gelegenen Ostkreuz gegangen. Sie hoffte, vor dem Bahnhof den Zeitungsverkäufer zu treffen, dem sie regelmäßig eine Zeitung abkaufte. Für ihn hatte sie ein Päckchen mit Süßigkeiten, Kaffee und guten Lebensmitteln gepackt. Das würde er bestimmt nicht verachten. Er wirkte nicht wohlhabend. Ob er alleinstehend war? Sie kannte ihn nicht näher, aber sein freundliches Lächeln gefiel ihr. Sie hätte ihm gern eine Freude bereitet. So lange sie auch am Bahnhof wartete, so sehr sie auch in alle Richtungen spähte, der Zeitungsverkäufer kam nicht. Schade! Enttäuscht war sie nach Haus gegangen.
Nun brach der Nachmittag an. Es begann zu dunkeln. Überall in den Wohnungen wurden jetzt die Kerzen angezündet. Auch in ihrer Stube strahlte ein kleines Bäumchen im Lichterglanz. Behaglich kuschelte sich Lisa in ihre Sofaecke. Jetzt konnten die Feiertage beginnen. Sie griff zum Buch, wollte sich genüsslich darin vertiefen, aber ihre Gedanken schweiften ab. Sie dachte an ihre Familie, die sich jetzt im hohen Norden unter einem großen Tannenbaum versammelte und vielleicht gerade in dieser Stunde die Geschenke verteilte. Selbstverständlich hatte Lisa für jeden etwas liebevoll Verpacktes mitgegeben. Ob sie das Richtige getroffen hatte? Fernsehaugen müsste man haben! Sie fühlte sich den Ihren ganz nah und doch so fern. In ihr Herz schlich sich leise Wehmut. Vielleicht sollte ich eine kleine Runde spazieren gehen, dachte sie. Das wird meiner Stimmung gut tun. Sie schlüpfte in ihren wattierten, roten Anorak mit dem weißen Webpelzbersatz, zog die Kapuze über den Kopf und betrat die Straße. Tief sog sie die klare, kalte Luft ein. Am hohen Himmel glitzerten Sterne. Nein, sie glitzerten nicht, sie zwinkerten ihr zu. Und augenblicklich kehrte Ruhe in ihr Gemüt.
Gemächlich schlenderte sie durch die nur mäßig erhellten Straßen. Man könnte die Gegend beinahe trist nennen, wären da nicht die Lichterketten und blinkenden Leuchtmotive hinter manchen Fensterscheiben. Nicht alles, was Lisa da erblickte, gefiel ihr. Nun ja, die Geschmäcker waren verschieden. Allmählich kam sie zum Bahnhofsvorplatz. Von dort strahlte ihr das helle Licht einer großen, mit unzähligen elektrischen Glühlampen bestückten Tanne entgegen. Lisa blieb stehen. Ob sie den Zeitungsverkäufer doch noch traf? Das Päckchen für ihn hatte sie vorsorglich bei sich. Doch wieder wartete sie vergeblich. Sie hätte zurück in ihre geheizte Wohnung gehen können. Aber sie hatte keine Lust. Unschlüssig stieg sie die Treppe zum Bahnhof hinauf. Sie wollte Menschen sehen, vielleicht sogar eine bekannte Stimme hören. Der Bahnhof war ihr seit Jahrzehnten vertraut. Er gehörte zu ihrem Leben. Auf dem Ringbahnsteig stand sie besonders gern. Von hier konnte sie weit über die Stadt sehen. Lisas Blicke schweiften hinüber zum Wasserturm. Der alte Wasserturm – ein Wahrzeichen dieser Gegend –, wenn der reden könnte! Weiter glitten ihre Augen zur Kynastbrücke, die sie während ihrer beruflichen Jahre viele Male überquert hatte. Ob die Brücke weichen muss? Sie hatte gehört, dass ein Regionalbahnsteig gebaut werden sollte. Außerdem seien mehrere Fahrstühle und viele Rolltreppen geplant. Auf die wartete sie sehnlich. Den neuen Bahnhof würde sie zu gerne noch erleben. Sicher wird er einmal hell und freundlich werden. Jetzt allerdings wirkte er dunkel, obwohl auf jedem Bahnsteig ein Weihnachtsbaum mattes Kerzenlicht verbreitete. Nur auf dem unteren Bahnsteig, dort, wo die Züge nach Strausberg fuhren, war noch ein Kiosk beleuchtet. Lisa ließ sich von dem Geruch nach Bratwurst verleiten. "Sie haben Glück, Muttchen", sagte der Verkäufer, "ich wollte gerade die Jalousie herunterlassen. Na dann, frohes Fest!" Mit diesen Wünschen reichte er Lisa die Wurst, die er reichlich mit Ketchup bestrich. Dann löschte er das Licht. Nun wurde es auch hier dunkel. Während Lisa ihre Wurst aß, stieg sie erneut die Treppen zum Ringbahnsteig hinauf.
Ihre Gedanken gingen zurück in die Vergangenheit. Erinnerungen wurden wach. Als ihre Tochter noch klein war, hatte sie mit ihr oft abends den Vater von der Arbeit abgeholt. Oben, auf dem Ringbahnsteig, warteten sie geduldig, bis er kam. Damals, mit der kleinen Ursula an der Hand, machte das Warten Spaß. Immerfort plapperte und fragte sie. Lisa erklärte dem Kind, wohin die vielen Treppen führten und las ihm die Namen der Richtungsanzeiger vor, die es später selbst lesen lernte. Der Mann mit der roten Mütze kannte sie schon. Er mochte das aufgeweckte Mädchen. Einmal setzte er Ursula seine rote Dienstmütze auf, und für einen Moment durfte sie sogar die Kelle halten. Das waren Augenblicke! Ursula war mächtig stolz. Sobald sie aber den Vater erblickte, flog sie ihm entgegen. Einträchtig traten sie zu Dritt den kurzen Heimweg an. Das war lange her.
Nun stand sie wieder hier, aber niemand kam. Lisa schaute in die Dunkelheit. Sie schaute die schmale Sichel des aufgehenden Mondes und die funkelnden Sterne an. Ergriffen fühlte sie sich als ein winziger Teil des unendlichen Kosmos. In innere Zwiesprache versunken, vergaß sie ganz die unfreundliche Atmosphäre des Bahnhofes. Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter. Sie drehte sich um: ein Weihnachtsmann! Träumte sie oder war er ganz realistisch mit der S-Bahn gekommen? Lisa kehrte abrupt vom Himmel auf die Erde zurück. Der Weihnachtsmann staunte. Was suchte ein altes Muttchen um diese Zeit allein auf dem zugigen Bahnsteig? Er beobachtete es schon ein Weilchen. Aus seinem großen Sack holte er einen Schokoladenweihnachtsmann und reichte ihn Lisa mit freundlichen Worten: "Aber Muttchen, bei der Kälte gehören Sie doch an einen warmen Ofen! Sie sehen aus, als ob zu Hause niemand auf Sie wartet."
"So ist es, Weihnachtsmann. Mir wurde es in der Stube zu eng, aber hier, unter den Sternen, wird mein Herz wieder weit."
Dem Weihnachtsmann kam plötzlich eine Idee. "Du könntest mir helfen", bat er, unvermittelt zum vertraulichen Du übergehend. "Mit deinem roten Anorak, der Kapuze und dem weißen Besatz würdest du eine perfekte Weihnachts-Omi abgeben. Eine Omi könnte ich gut gebrauchen. Das wäre doch einmal etwas Neues. Einen Engel haben schließlich viele Weihnachtsmänner, aber eine Omi… Was meinst du dazu?" Lisa sah den Weihnachtsmann misstrauisch an. Ob er es ehrlich meinte? Fremden gegenüber konnte man nicht vorsichtig genug sein. Wer weiß, wer sich hinter der Maskerade verbarg? Aber die Augen hatte sie schon einmal gesehen, die Stimme schon einmal gehört. Täuschte sie sich? Resolut forderte sie den Weihnachtsmann auf, aus dem Schatten heraus in den Schein der Lampe zu treten. Sie maßen sich gegenseitig mit großen Augen und brachen in helles Lachen aus, so dass sich die wenigen Passanten neugierig umsahen. Wirklich, in dem großen, langen Mantel mit der tief sitzenden Kapuze und hinter dem respektablen weißen Bart steckte der Zeitungsverkäufer. Dieser hatte auch Lisa in dem roten Kapuzenanorak nicht sofort erkannt. So eine Überraschung! Er war müde. Kein Wunder, seit Stunden war er zwischen Baumschulenweg und Treptow auf den Beinen, hatte viele Kinder überrascht und musste jetzt noch zwei Familien am Ostkreuz aufsuchen. Zu Zweit würde seine Müdigkeit bestimmt verfliegen. Wenigstens zu der Familie mit den drei Kindern könnte sie ihn begleiten. Obwohl die Rute längst abgeschafft war, fürchteten sich manche Kinder vor ihm. Dabei sah er doch so gern in ihre leuchtenden Augen. Eine Weihnachts-Omi könnte vielleicht besänftigend wirken. Rasch verließen sie den Bahnhof.
Unterwegs erzählte er von seiner Mission. Er gehörte zu einer Weihnachtsmanngilde, die Kinder beschenkte, deren Eltern arbeitslos waren. "Omi, du wirst sehr bescheidene Verhältnisse erleben. Wird das nicht deine Weihnachtsstimmung drücken?"
"Schon möglich", antwortete Lisa. "Als ich noch ein Schulkind war, verlor mein Vater – wie Millionen andere Väter damals – seinen Arbeitsplatz. Meine Eltern hatten vier Mäuler zu stopfen. So etwas vergisst man nicht. Nein, nein, Weihnachtsmann, sei unbesorgt, ich helfe dir gern. Wenigstens die Kinder sollen sich heute freuen." Zügig schritten sie durch die Simplonstraße und klopften schon nach wenigen Minuten an die Tür der Dreikinderfamilie. Kerstin, die Ältere, jubelte: "Mutti, sieh nur, zu uns kommt doch noch der Weihnachtsmann!" Der vierjährige Jens dagegen hielt sich in respektvoller Entfernung. Der Jüngste aber, Stefan, versteckte sich sofort hinter der Mutter. Da griff sich die Weihnachts-Omi aus dem großen Sack einen Teddy und mit leisen Worten, fast nur für sich, sprach sie: "Ah, was für ein lieber Teddy das ist. Ob den jemand haben möchte?" Halb neugierig, halb ängstlich lugte Stefan hinter der Mutter hervor. Als Lisa mit dem Teddy winkte, vergaß er seine Scheu. Schnell, ehe ihm die Geschwister zuvorkommen konnten, griff er nach dem Teddy und drückte ihn strahlend an sich. Die Mutter lachte. Nun erhielten auch die anderen ihre Geschenke. Jens bekam eine Spielzeugfeuerwehr und Kerstin eine Musik-CD mit ihren Lieblingsinterpreten. Noch einmal griff der Weihnachtsmann in seinen schier unerschöpflichen Sack. Da kamen noch Süßigkeiten und ein Gutschein für Winterkleidung zum Vorschein. Der kam gerade zur rechten Zeit, denn die Kinder waren aus allem heraus gewachsen. Die ganze Familie freute sich. Mit guten Wünschen für die Feiertage verabschiedeten sich der Weihnachtsmann und die Weihnachts-Omi. Es wurde Zeit, auch die letzte Familie zu besuchen.
Nachdem der Weihnachtsmann alle Geschenke verteilt hatte, machte er sich mit seiner Helferin auf den Heimweg. "Omi, das hast du gut gemacht", bedankte er sich bei ihr. "Hilfst du mir im nächsten Jahr wieder?"
"Warum nicht? Kinder zu erfreuen, ist etwas sehr Schönes. Ich danke dir für diesen Abend."
Sie machte eine kleine Pause, ehe sie fort fuhr: "Nach den Feiertagen werde ich wieder eine Zeitung bei dir kaufen."
Mit diesen Worten überreichte sie dem Zeitungsverkäufer/Weihnachtsmann das Weihnachtspäckchen, das nun doch noch seinen Empfänger fand. Jetzt war es an ihm, überrascht zu sein. Vor Rührung bekam er kein Wort heraus, drückte nur schweigend "seine" Weihnachts-Omi an sich. Lisa begleitete ihn bis zum Bahnhof. Wieder wartete sie. Bald kam der Zug, der den Weihnachtsmann aufnahm. Dann ging sie zufrieden nach Haus.
Ulrike Schulz
Zurückbleiben, bitte!
Mit jeder Sekunde näher am Tod. Gewillt, das zu nutzen, was vom Leben bleibt. Es gilt, durch die Welt zu rennen, um keine kostbare Sekunde zu vergeuden. Zeit bedeutet Leistung und ist finanziell von Nutzen. Warten heißt Zeit vergeuden.
Die Bahn kommt. Man sieht sie von weitem. Die Masse beginnt zu rennen. Wer es nicht eilig hatte, hat es jetzt eilig oder wird überrannt. Der Menschenstrom fließt in S-Bahneingänge und drängt auf die freiliegenden Sitzplätze. Manche besetzen mehr Plätze als sie zum Sitzen benötigen, andere müssen stehen.
"Zurückbleiben bitte!" Personen fliegen durch die Öffnung in die Bahn, bis sich die Tore schließen. Die übrigen knallen gegen verschlossene Türen und landen auf dem kargen Bahnsteig. Frustriert ärgern sie sich über die verlorene Zeit durch die verpasste Bahn. Jetzt heißt es warten, wo man doch woanders hätte viel gemütlicher warten können, wenn man zu früh zum Arbeitsplatz gekommen wäre. Dort hätte man auch etwas leisten können, hier nicht.
Berlin-Ostkreuz, die S-Bahn fährt ein. Ihre Insassen drängen auf den Bahnsteig, vorbei an jenen, die freiwillig zu neuen Bahninsassen werden. Alle hetzen zur Treppe, um nicht warten zu müssen, wenn sich die Masse staut. Die Masse staut sich, weil alle zur Treppe hetzen, um nicht warten zu müssen. Die Menschen werden in ungeordneten Reihen treppauf zur Ringbahn geschoben. Die linke Reihe überholt die mittlere, versucht es zumindest. Wenn einer zu langsam ist, wird durch Drücken oder Drängeln nachgeholfen. Schließlich befindet man sich auf der Überholspur. Zwei unterhalten sich mitten im Weg und laufen langsam nebeneinander her, wodurch das Vorbeiziehen fast unmöglich wird. Die Menge lässt sich aber nicht aufhalten, sondern überholt auf der rechten Spur, über einen kurzbeinigen Dackel und seinen Besitzer stolpernd.
Man hört ein Geräusch, eine Bahn fährt ein. Die hinteren Mitglieder der Kolonne lassen die ersten zurück, die zu langsam sind, um zu beschleunigen und die S-Bahn noch zu erwischen. Die ersten beschleunigen ebenfalls, können aber nicht auf die linke Spur ausscheren, was zu Verkehrsstockungen auf der rechten Seite führt. Endlich hat sich die Menge auf den Bahnsteig gepresst. Leider war es gar nicht die eigene Bahn, die gehört wurde, sondern die der anderen Richtung. Jetzt heißt es doch wieder warten. Man verteilt sich auf dem Bahnsteig in guter Position, um sich bei einfahrender Bahn vor die anderen Wartenden drängeln und einen guten Sitzplatz erwischen zu können. Wer den anderen dabei anschaut, hat verloren. Es gilt, nur den Platz und die eigenen Füße im Auge zu behalten. Was aber, wenn niemals mehr eine Bahn kommt? Wenn man zurückbleibt am Bahnhof unter den Wartenden, ohne eine Chance je wieder vorwärts zu kommen? Man würde auch die Bahn in eine andere Richtung nehmen, um nur nicht stehen bleiben zu müssen. Warten heißt auch Nachdenken, mit sich selbst allein sein, Produktionsstillstand, Bewegungslosigkeit. Grausige Vorstellung. Man muss vorwärts kommen und sei es nur im Kreis in der Ringbahn, Hauptsache in Fahrt. Da endlich: Die Bahn rollt ein. Alle springen gleichzeitig aneinander vorbei in das lange Gefährt. Sie verhaken sich ineinander, lösen sich wieder und besetzen blitzschnell soviel Platz wie möglich. Ein jeder Inhaber eines gültigen Fahrausweises kann sich nun wieder erholen. Nach vollendeter Reise quetscht man sich sanft aus dem Wagen und geht schnurstracks zur Arbeit. Atemlos, aber mit dem guten Gewissen, keine Zeit zu vergeuden.
Guido Woller
Ostberliner Flair
Straßenfeger oder Stütze gefällig?
Triste Schönheit
Ketwurstessen
Rostiger Stahl
Emsiges Treiben
Umsteigen bitte!
Zug um Zug
Lisa Laubrich
Warte doch mal!
Man geht die S-Bahnbrücke entlang, schaut flüchtig aus dem Fenster, sieht die in den Bahnhof kommende Bahn, die Schritte verschnellern sich – ja man rennt fast, atmet heftig, rast die Treppe hinunter – nimmt zwei Stufen auf einmal, hört die allbekannte eintönige Stimme "Zurückbleiben bitte!", kommt auf dem Gleis an, sieht das rote Warnlicht und hört das "Tut tuut tut", rennt, in der Hoffnung es doch zu schaffen, noch schneller zur Bahn…, …mit einem lauten Plopp verschließt sich die Tür – und man sieht die Bahn davon fahren! Völlig außer Atem, erschöpft und verschwitzt schaut man auf die Uhr. "Schon viel zu spät!", denkt man. Und der regelmäßige S-Bahnnutzer weiß wann die nächste brauchbare Bahn kommt. Ja – es kann sich manchmal um fünf Minuten handeln, bis eine Bahn kommt, die weiter als Warschauer Straße fährt.
Schon wird man sauer auf sich selbst und ärgert sich darüber, warum man erst so spät losgegangen ist, weil man ja noch nachgucken musste, ob der Herd aus ist oder ob auch wirklich alles in der Tasche ist und man ja nichts vergessen hat. Und natürlich hatte man nichts vergessen. Hätte man doch nur die Zeit nicht so vertrödelt oder hätte man sich noch mehr beeilt, dann müsste man hier nicht stehen und warten. Warten! Warten!
Was ist "Warten" überhaupt?
Schwierige Frage! Tja, die meisten würden wohl sagen, dass es ein Zeitraum ist, in dem man auf etwas ... wartet! Aha! Toll! Also ist es Zeitraum, in dem man nichts macht, außer die Grundtaten des Körpers, wie zum Beispiel atmen, sehen und hören.
Also ist Warten reine Zeitverschwendung?
In gewisser Weise schon! Man müsste die "Wartezeit" nur besser nutzen. Wir sind aber auch irgendwie selbst daran Schuld, dass wir sie nicht genug nutzen! Der moderne Warter hört Musik mit seinem multifunktionierenden Handy, dem MP3-Player, mit dem Discman oder er liest ein Buch oder die Tageszeitung. Seine Wartezeit wird durch die Musik oder das Lesen verschönert und somit verkürzt. Dadurch erscheint der moderne Warter zufriedener. Denn das Zeitgefühl ist bei jedem Menschen anders. Ist uns gerade langweilig, scheint die Uhr extra langsam zu ticken, weil sie uns ärgern will. Machen wir etwas, was uns gefällt, haben wir das Gefühl, dass die Zeit wie im Flug vergeht.
Wäre Musik eine Lösung, das Warten angenehmer zu machen? Wohl kaum, denn über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Klassik? HipHop? R’n B? Pop? Jazz? Country? Rock? Dance? Heavy Metal?
Es gibt den nervösen Warter. Dauernd schaut er nervös auf die Uhr, dann in die Richtung, aus der die Bahn kommen wird, dann wieder zur Uhr. Meist wird das mit einem Wippen der Beine begleitet. Ja – er wirkt richtig angespannt, verzweifelt und er schwitzt. Wahrscheinlich malt er sich schon im Kopf aus, wie der Arbeitgeber reagieren wird, wenn er zu spät kommen sollte.
Sollten vielleicht Psychologen mit Entspannungstherapien zur Verfügung gestellt werden?
Der lässige Warter geht das alles ziemlich lässig an. Ihm scheint es egal zu sein, dass er warten muss. Er ist nicht so angespannt, sondern echt cool. Er hat kein Problem damit zu warten. Das Einzige, was ihn stört, ist, dass es zu wenig Sitzmöglichkeiten gibt.
Dann gibt es den gereizten, leicht aggressiven Warter. Wie der Name schon sagt, ist dieser Typ Warter wütend, dass er (wieder mal) so lange warten muss. Er atmet heftig durch die Nase ein und aus. Außerdem wirkt er noch angespannter als der nervöse Warter. Er schwört sich, wenn die Bahn nicht spätestens in einer Minute kommt, wird er ausrasten, denn den Anblick des lässigen Warters kann er nicht mehr ertragen. Außerdem denkt er, dass sich die ganze Welt gegen ihn verschworen hat.
Sind etwa Käfige zum Wut rauslassen die Lösung?
Der gelangweilte Warter langweilt sich immer! Egal, ob die Bahn schon in einer Minute oder erst in fünf Minuten kommt. Die ganze Zeit denkt er: "Boar, ist das langweilig! …Mann, ist das aber langweilig! …Aaaah… AAAHHH… LAAAAANGWEILIG!!!"
Sollten vielleicht Abenteuer-Ecken gebaut werden, um das Warten angenehmer zu machen?
Und die Paar-Warter darf man natürlich auch nicht vergessen. Diese Warter sind in Gruppen oder zu zweit zu finden. In der Wartezeit können sich die Paar-Warter unterhalten – auch über das lästige Warten. Sie nutzen also die Wartezeit zu Gesprächen!
Wir kommen unsrem Ziel also schon näher!
Ich denke jedoch, dass in jedem von uns ein Teil von jedem Wartetyp steckt! Jeder wird nach spätestens fünf Minuten Wartens nervös. Und gereizt wird man auch, weil man sich die ganze Zeit über das S-Bahn-System aufregt. Und langweilig ist das Warten auch. Die Mischung macht’s! Einer hat von dem einen mehr, vom anderen weniger Wartetypeigenschaften!
Nun noch mal zum Nutzen der Wartezeit!
Komischer Weise habe ich mir schon vor einiger Zeit Gedanken über das Warten gemacht, als ich bei Burger King darauf wartete, endlich bedient zu werden. Ich dachte über den Zusammenhang zwischen Leben und Warten nach. Eigentlich warten wir unser ganzes Leben lang auf irgendetwas — und ehe man sich versieht, ist das ganze Leben schon vorbei und es stellt sich heraus, dass man eigentlich nur auf den Tod gewartet hat! Traurig, aber wahr?
Als ich mit meiner Mutter dann über meine Wartegedanken sprach, während wir an einer Ampel warteten, dass sie endlich Grün schaltet, sagte sie zu mir: "Warte doch mal!" WAS? Ich warte mein ganzes Leben auf irgendetwas und das einzige, was ihr dazu einfällt, ist mir zu sagen, dass ich warten soll, weil ich schon über die Straße gegangen bin :-)!
Da sie gerade eine "Positives-Denken-Phase" durchmacht, entstand eine wirklich witzige Diskussion. Eine Pessimistin gegen eine Optimistin! Der Kampf kann beginnen!
Ich solle das alles nicht so negativ sehen, war ein Kommentar meiner Mutter. "Du kannst die Zeit doch nutzen, um mit deinem "höheren Ich" zu kommunizieren!" Jaa! – Blöderweise entstanden doch meine "Wartengedanken", als ich bei Burger King mit meinem höheren Ich kommunizierend gewartet habe – schon vergessen? Aber will ich das überhaupt — das Kommunizieren mit meinem höheren Ich? Aber auf jeden Fall würde man etwas Sinnvolleres machen, als sich über das S-Bahnsystem zu ärgern oder sich selbst verrückt zu machen mit irgendwelchen Vorstellungen, den Arbeitsplatz zu verlieren.
Aber ob davon die Langeweile vergeht?
Stellen wir uns doch mal vor, jeder Wartende würde zu der neuen Wartegruppe "Der nachdenkliche Warter" mutieren! Dann würden ziemlich viele Leute ihre Gedanken aufschreiben und an Buchverlage schicken, in der Hoffnung, dass ihre Philosophien veröffentlicht werden. Aber vielleicht würden manche Texte wirklich toll sein, so dass daraus Bücher werden. Und dann würde es zu einer Überflutung von "guten Büchern" kommen.
Aber was ist denn nun die Lösung des Wartens?
Sollte Musik über das ganze Ostkreuz schallen?
Sollen Bücher verteilt werden?
Sollen Entspannungsmaßnahmen von Psychologen zur Verfügung gestellt werden? (Das wäre auch gut für die Wirtschaft – ich sage ja nur "neue Arbeitsplätze schaffen".)
Sollten weiche Sofas und Sessel überall auf dem Ostkreuz aufgestellt werden?
Sollten Box-Käfige überall stehen, damit man seine Wut rauslassen kann?
Oder sollten Abenteuerspielplätze gebaut werden, damit die endlose Langeweile vergeht?
Vielleicht sollten wir nur zu zweit zum Ostkreuz gehen?
Tolle Lösungen? Na ja! Warten wir mal ab! :-)
Warten ist also relativ.
Aber da ich der Meinung bin, dass Deutschland sowieso viel zu negativ denkt, finde ich, dass positives Denken die "richtige" Lösung ist!
Also müsste das Thema nicht "Warten am Ostkreuz" heißen, sondern "Kommunizieren mit dem höheren Ich!"
PS: Übrigens entstand dieser Text, während ich mit meinem höheren Ich am Ostkreuz kommuniziert habe!
Peter Grünwald
Warten auf Maria
Um Mitternacht am Ostkreuz! "Maria" steht auf dem Zettel, der heute Vormittag mit der Post gekommen ist. Ja, ganz recht, ich habe einen altmodischen handgeschriebenen Brief bekommen. Am bewegtesten war wohl der Briefträger, der ihn mir mit feierlicher Geste aushändigte. Selbst für einen wie ihn ist die Zustellung eines "richtigen Briefes" ein Ereignis, das einem schon mal das Wasser in die Augen treiben kann. Aber das kommt wieder in Mode, besonders bei Leuten, die auf die Sicherheit ihrer Nachrichten größeren Wert legen.
Der Bahnhof Ostkreuz ist kein Bahnhof zum Warten. Da wüsste ich bessere: Paris, Gare du Nord, zum Losheulen romantisch, oder Paddington Station, dort beginnen die verzwickten Kriminalgeschichten mit älteren britischen Damen, oder Grand Central in New York, wo sich, wie ich aus Filmen weiß, die Mafia in Zeitlupe gedehnte, erlesen choreografierte Feuergefechte liefert. Und nun stehe ich hier herum, am Ostkreuz.
Ich warte auf Maria. Maria ist, ich sag das mal so, meine Freundin. Ich zögere nicht etwa bei dem Wort, weil ich mir über meine Gefühle im Unklaren wäre, durchaus nicht. Es ist nur, dass wir uns viel zu selten sehen, um als richtiges Paar zu gelten, schon gar nicht für die Anderen, da gibt es nur mehr oder weniger bizarre Mutmaßungen. Die Wohlwollenderen unter den Gerüchtemachern argwöhnen etwas rein Geistiges oder Spirituelles dahinter. Das ist zwar lächerlich, aber — wie das beim Gerede der Leute meistens so ist — es stimmt auch, irgendwie, teilweise. Für mich ist es ganz einfach: Maria ist Maria! Fertig! Das ist eine Tautologie, ich weiß. Aber ist nicht jede Definition eine Tautologie?
Was einem bei Warten nicht alles durch den Kopf geht. Warten scheint für unser Gehirn ein unerträglicher oder unmöglicher Zustand zu sein, und deshalb versucht es alles, um dem zu entkommen.
Um Mitternacht ist hier nicht viel los. Der fliegende Blumenhändler, den vermutlich alle Achmed nennen, obwohl er sicherlich nicht so heißt, ist auch noch da, steht auf dem Bahnsteig hinter seinen Roseneimern und träumt vor sich hin. Ich kaufe ihm eine Rose ab. Die Vorstellung, Maria mit einer Rose zu begrüßen, gefällt mir, weil sie weder zu Maria noch zu mir passt. Maria wird diesen Stilbruch "schräg" oder sogar "abgefahren" finden, und mir hilft er über die ersten Sekunden der Verlegenheit hinweg. Ich habe immer mit einer Anfangsverlegenheit zu kämpfen, wenn ich Maria treffe.
"Pardon, ich suche das Ostkreuz."
Wo kommt denn der her? Neben mir ist plötzlich ein Mann aufgetaucht, so um die Sechzig, grauhaarig, in einen grauen Mantel gewickelt, eigentlich ist alles an ihm grau, durchschnittlich, normal. Und weil er weder verrückt, noch betrunken oder stoned zu sein scheint, beantworte ich seine Frage, so albern sie auch ist, mit einer alles um mich herum einschließenden Armbewegung.
Der Mann findet wohl, dass das die falsche Antwort ist. "Nein, nein, ich meine Das Ostkreuz. Sie kennen das Ostkreuz nicht? Das ist eine Kneipe, eigentlich nur ein begehbarer Kiosk, mit dem üblichen Sortiment an leichten und schärferen Getränken und dem eher ungesunden Speisenangebot. Den Namen hat die Kneipe von dem S-Bahn-Knotenpunkt, an dessen Rand sie sich vor Zeiten einmal befand. Den Bahnhof gibt es schon lange nicht mehr, nur der Kiosk ist geblieben. Wegen des Namens soll es jahrelange Prozesse mit der Bahngesellschaft gegeben haben. Aber das war lang vor meiner Zeit."
Der Mann hat sehr schnell, aber sehr deutlich gesprochen. Er rasselt die Sätze herunter, ohne nach Worten suchen zu müssen, Standard-Hochdeutsch, kein erkennbarer Akzent. Ich versuche, ihn einzuordnen, aber er passt in keine der Schubladen, die man für gewöhnlich öffnet, um Fremde darin unterzubringen. Unangenehm ist er nicht, gebildet wohl auch, aber darüber hinaus ist alles an ihm von einer geradezu aufreizenden Durchschnittlichkeit, die alle Kategorisierungsversuche vereitelt.
"Und Hanks Vater kennen Sie dann sicher auch nicht", höre ich ihn jetzt weiter reden.
"Hank?"
"Ja, Hank. Der Typ hinter der Bar im Ostkreuz. Vermutlich heißt er nicht wirklich so, aber alle nennen ihn Hank, und ihm scheint das zu gefallen, typisch für Leute nach zu vielen B-Western und zu viel Schundliteratur."
"Und dieser Hank hat einen Vater: Hanks Vater, Sie sagten es." Der Typ beginnt mir zu gefallen.
"Ja, Hanks Vater. Eine Legende. Eine verblassende Legende allerdings. Er dealte mit illegalen Chips, war eine große Nummer in der Branche. Bis sie ihn gekriegt haben. Jetzt liegt er auf einer ehemaligen Touristeninsel vor der südspanischen Küste, die seit den letzten Epidemien verödet ist und als Verbannungsort für widerwärtige oder auch nur missliebige Zeitgenossen dient, in der Sonne und langweilt sich zu Tode. Schnitzt aus gestrandeten Plastikabfällen, die er hochtrabend Objets trouvés nennt, heimische Folklore. Ein Jammer!"
Wie kann man nur solchen Quatsch erzählen und dabei völlig normal aussehen! Bin ich im Fernsehen? Um ihm höflich zu demonstrieren, dass ich ihn durchschaut habe, sage ich möglichst lässig: "Ja ja, das Ostkreuz war schon immer ein Ort für Träume, es inspiriert ungemein, regt die Fantasie an, macht geradezu high."
Er ist nicht im Mindesten irritiert, lächelt vor sich hin und meint: "Aber die Träume unterscheiden sich sehr voneinander, je nachdem, wer gerade mit dem Träumen dran ist. Ich habe mir da zum Beispiel ein paar längst vergessene Internetseiten aufgehoben. Dort träumte jemand mit heute etwas betulich anmutenden computergenerierten Ansichten vom Ostkreuz als quirligen Knotenpunkt öffentlichen Verkehrs. Und das vor Leuten, die ihren Autos Kosenamen geben und Autobahnen für die einzig notwendigen Verkehrsbauten halten. Das muss man sich einmal vorstellen!"
Ich werde neugierig. "Und was ist dann aus dem Bahnhof geworden?"
"Hat die SEBPU gekauft."
"Wer ist denn das nun wieder?"
"S E B P U", er spricht mir die Buchstaben überdeutlich vor, jeden einzeln, "das ist die Société Européenne des Biotopes Post-urbaines, also Posturbane Biotope, so etwas. Ein Club von vermutlich sehr reichen spleenigen Typen, deren Mission es ist, an spektakulären Orten, so vorzugsweise an ehemaligen Verkehrsknotenpunkten, Grundstücke zu kaufen, sie martialisch einzuzäunen und der Natur ihren Lauf zu lassen. So wie alte Mayasiedlungen unter dem Dschungel verschwinden, Sie verstehen. Das ganze Ostkreuz ist ein Biotop," und jetzt grinst er dämonisch, "das ganze? Nein! Da gibt es einen Wasserturm, der von einem störrischen alten Mann besetzt ist. Aber das ist eine Geschichte für sich."
Unwillkürlich blicke ich zu dem Wasserturm hinüber. Von hier aus kann ich nur dessen schwärzlichen Rumpf sehen. Der Mann folgt meinem Blick. Und dann geht durch ihn ein Ruck. In seinen Augen blinkt so etwas wie ein ungerufener, unliebsamer, nachgerade entsetzlicher Verdacht auf. Er hält inne, blickt mich ernst, beinahe verstört an und fragt: "Welches Datum haben wir heute?"
Ich sage es ihm. Meine Auskunft scheint ihm nicht zu gefallen, besonders die Jahreszahl, die ich pedantisch-ironisch hinzugefügt habe. Er murmelt Unverständliches, etwas mit "Großergott!" und "Achduliebescheiße!" dazwischen, und entfernt sich, die Treppen zur Ringbahn hinauf stolpernd.
So lästig mir der Typ auch war, jetzt fehlt er mir. Er hat mich zerstreut, mir das Warten verkürzt mit seinen Lügengeschichten. Von nun an wird das Warten wieder lang.
Am Ende des Bahnsteigs steht noch ein Wartender, man sieht es an der ungeduldigen Art, mit der er die zehn Schritte hin und zurück, die er für sich als eine Art Wartekäfig definiert hat, durchmisst. In seiner Hand hält er, etwas linkisch, so wie ich jetzt, eine Rose. Peinlich berührt wie immer, wenn ich jemand begegne, der das gleiche trägt oder tut wie ich, sehe ich weg und versuche, ihn aus dem Kopf zu bekommen. Vergeblich. Hat der Mann nicht auch sonst so ausgesehen wie ich, die Statur, die Silhouette, die Art sich zu bewegen? Ich riskiere einen kurzen Seitenblick. Und tatsächlich: der Mann dort ist irgendwie ich. Seltsam. Aber warum nicht? Seit ich hier bin, habe ich nur Seltsames erlebt, das muss an dieser Örtlichkeit liegen. Ostkreuz um Mitternacht! Noch Fragen?
Weil ich übermütig genug bin und um mir die Zeit zu verkürzen, greife ich die Idee auf und spinne den Plot zu einer Alptraumvision weiter: Ich stehe auf dem Bahnhof Ostkreuz und warte auf Maria. Währenddessen tauchen auf dem Bahnsteig hier und da Männer auf, die ebenfalls eine Rose in der Hand halten und auf den nächsten Zug warten. Es werden immer mehr. Vor Achmeds fliegendem Blumenladen (jetzt nenne ich ihn auch schon Achmed!) bildet sich eine Schlange aus Männern, die irgendwie aussehen wie ich und unbedingt eine Rose kaufen wollen. Achmed hat alle Hände voll zu tun, kann es nicht fassen. Als schwante ihm, dass irgendetwas nicht stimmt, blickt er zwischendurch zu mir herüber und macht eine Geste des Bedauerns, als wollte er sagen: "Tut mir leid, Alter, ich weiß, dass hier eine ganz schräge Geschichte abgeht. Aber Geschäft ist Geschäft."
Der Bahnsteig füllt sich, fast könnte man von einem Gedränge sprechen. Mir wird klar, sie alle hier warten auf Maria, meine Maria! Mir wird Angst. Ich wende mich brüsk zum Gehen, die Rose unterwegs in einen Papierkorb werfend…
"Pardon, wartest du auf mich?"
"Aber ja. Hallo, Maria."
"Und für wen war dann die Rose, die du gerade eben in die Tonne geworfen hast?"
Inka Engman
Wo der Fuchs die Zeitung liest
Wie immer bin ich der einzige, der hier wartet. Auf diesem Bahnsteig hält nur alle zwanzig Minuten die S-Bahn, die von Schönefeld in die Stadt fährt. Gras wächst zwischen den Pflastersteinen, im Mai leuchtet gelb der Löwenzahn aus allen Ritzen hervor. Jenseits des Bahnsteigs wuchert dichtes Gestrüpp den Bahndamm hinunter.
Ich warte auf meinen Kumpel. Kennen gelernt habe ich ihn vor einem Jahr, als ich zufällig hier ausgestiegen bin. Auch damals war ich allein auf dem Bahnsteig. Ich schlenderte los Richtung Treppe, guckte dahin und dorthin — und da sah ich ihn. Ich blieb stehen. Schade, dass ich keinen Fotoapparat dabei habe, dachte ich. Mitten in die Büsche hatte es eine Zeitung hinein geweht. Davor saß ein Fuchs und steckte seine lange spitze Nase in das Papier, als ob er es eifrig studieren würde.
Ich blieb eine Weile stehen und guckte. Schließlich hob der Fuchs seine Nase und sah auch mich. Aber nicht, dass er weggelaufen wäre.
"Hätten Sie vielleicht eine etwas anspruchsvollere Zeitung für mich?" fragte er, "diese hier besteht nur aus bunten Bildern, großen Überschriften und einem Haufen Druckfehlern. Ich jedoch würde gern ein wenig lesen."
Ich starrte ihn mit weit aufgerissenem Mund an, fasste automatisch in meine Tasche und reichte ihm das Buch, das ich gerade las. Der Fuchs setzte tatsächlich zum Sprung an, und schon saß er vor mir und steckte seine lange spitze Nase in mein Buch. "Hm… sehr schön!" sagte er, "ich bevorzuge es jedoch, mich über die Neuigkeiten in der Welt zu informieren". "Ich… ich kann dir morgen eine Zeitung bringen!" schlug ich vor.
"Ja, das wäre sehr nett von Ihnen!" sagte der Fuchs und wackelte vor Freude mit den Ohren. Dann war er mit einem eleganten Sprung im Gebüsch verschwunden.
Auf dem Heimweg zweifelte ich an meinem Verstand. Doch am nächsten Tag kaufte ich tatsächlich eine Zeitung, eine mit weniger Bildern und mehr Schrift, und lief zum alten Bahnsteig. Ich spähte ins Gebüsch, aber dort war niemand. Allerdings hatte auch eben die S-Bahn gehalten. Ich breitete die Zeitung vor mir aus und las ein bisschen. Da stupste mich was am Knie. "Wenn Sie die Güte hätten, mir ein wenig vorzulesen, wäre ich Ihnen sehr verbunden", sagte der Fuchs und hielt mir seine spitze Nase entgegen. Ich guckte ihn eine Weile an. "Warum nicht", sprach ich dann und begann zu lesen.
Von nun an besuchte ich den Fuchs fast jeden Tag. Wir lasen uns gegenseitig aus der Zeitung vor und diskutierten über das Tagesgeschehen. Der Fuchs war ein angenehmer Gesprächspartner und sehr intelligent. Nur wenn die S-Bahn hielt, sprang er mit einem Satz ins Gebüsch. Die aussteigenden Leute guckten mich manchmal komisch an, wie ich da so allein auf dem Bahnsteig saß, aber das machte mir nichts aus.
Doch jetzt wird alles anders. Ich bin heute ohne Zeitung gekommen. Der Fuchs stupst seine spitze Nase in mein Knie, wie immer zur Begrüßung. Aber wir sind beide ein bisschen schwermütig heute. "Dein Gebüsch ist als erstes dran, wenn sie mit dem Umbau beginnen!" sage ich. Der Fuchs nickt. "Ziehst du nun endlich in den Wald?" versuche ich ihn zu necken, doch er bleibt ernst. "Du weißt doch, dass ich ein alter Stadtfuchs bin!" sagt er, "und im Wald gibt es nur selten Zeitungen". Ich nicke. Ich bin selbst ein bisschen traurig. Irgendwie habe ich den alten Bahnsteig am Ostkreuz lieb gewonnen.
Aber wir kennen aus der Zeitung noch ein paar andere Orte in Berlin, der Fuchs und ich. In die Hasenheide will er nicht ziehen, die ist ihm zu weit weg. Erst einmal wollen wir uns die Rummelsburger Bucht ansehen, später vielleicht den Treptower Park. Wir finden schon einen Ort, an dem wir in Ruhe zusammen Zeitung lesen können.
Carsten Schulze
Paranoia Ungeheuer auf Stralau
Die Angst war ein dunkler reißender Fluss, der durch eine verlassene Kathedrale strömt. Das Gefühl irrwitziger Leere unter ihrer Kuppel sprengte sämtliche Dimensionen seines Körpers.
Verschwommen erreichten ihn die ersten Konturen echter Materie. Das war kein Traum mehr.
Umrisse, Farben, viel Blau, ehemaliges Weiß, verschlissen, hinter pulsierender grellroter Schrift, Gestank, Kälte, Übelkeit, Gedankenlosigkeit und echte Fülle, berührbar, greifbar. Die schamlosen Wände des völlig versifften Raums, in dem er sich befand, reflektierten die namenlose diffuse Angst, die ihn, nachdem er aus seinem Alptraum erwacht war, überschwemmte und jeden klaren Gedanken im Keim erstickte. Er zitterte völlig unkontrolliert. Unfähig, auch nur die Hände aus seinem Schoss zu bewegen, sich ein wenig aus der embryonalen Haltung zu lösen, die sein Körper eingenommen hatte, verharrte er im Schutt des zerschlagenen Kachelofens neben der Tür. An die Wände gesprühte Obszönitäten pulsierten wie lebendige Körper, schienen ihn anzuschreien, hinein in die unheilvolle Stille tief in ihm. Der Boden war mit Müll übersät. Ratten hatten zahllose Plastiktüten zerbissen, den Inhalt im Zimmer verstreut, zerbissene Fastfoodschalen, Geflügelknochen, Alupapierschnipsel, Pappteller mit Essensresten, Kot, darüber und in ihm — ihn überflutend — ein ekelerregender Gestank. Stoßweise ging sein Atem und spülte diesen Gestank in seinen Körper und wieder und wieder aus ihm heraus. Irgendwo in seinen Eingeweiden breitete sich, kaum wahrnehmbar stetig, eine furchterregende Übelkeit immer schneller aus. Sein Körper begann zu zucken, verdichtete sich zu einer immer schneller krampfenden, zuckenden Masse. Mit ihm völlig unbekannter Urgewalt erbrach er in einen gurgelnden Schrei. In Materie verwandelte Angst, der Inhalt seines Magens schien mit ihr identisch zu sein. Vielleicht lag in der chemischen Zusammensetzung all der vergorenen Substanzen — der körperfremden, die er sich zugeführt hatte und der körpereigenen, die mit jenen in Reaktion gegangen waren — das Geheimnis der Angst verborgen. Nach Luft ringend versuchte er die Kontrolle über seinen Körper wiederzugewinnen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er in die Hose gepinkelt hatte — rein statistisch gesehen katapultierte ihn diese unleugbare Tatsache in die verlassene Schar zweifellos Verlorener, die Orte wie diesen produzierten. Mühsam richtete er sich auf und saß nach einer unbeholfenen Drehung mit dem Rücken zur Wand. Da war ein sicherer Halt. Feste unverrückbare Materie, die Schutz bot. Sein Kopf begann in unbarmherzigem Rhythmus zu pochen, aber der akute Angstzustand ließ nach. Die Wand im Rücken teilte die Leere und schuf einen Raum, der wieder körperlich erfahrbar für ihn wurde. Dann kamen die Bilder.
Er hatte eine sehr diffuse Erinnerung an diesen Zustand der vollkommenen Überflutung. Das war lange her, eine seiner ersten Drogenerfahrungen massiver Überdosierung. Zahllose Facetten gespeicherter Bilder, Fetzen von Ereignissen, Personen, Zuständen - eigener wie medial vermittelter - wirbelten wild durcheinander, verwundernd, schockierend, zweifelhaft oder unglaublich. Und diese, mit seinem eigenen rotierenden Gedächtnis schwangere Kugel, die ihn umschloss und die er gleichzeitig als sich selbst identifizierte, barg alle Schrecken, die er eben noch aus sich heraus gespieen zu haben hoffte. Er wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, diesen Zustand auszuhalten: zu warten, dass er abebbte, vorüber zog wie ein Unwetter in seinem Gehirn, diese selten benutzte Verschaltung der Synapsen - die Hoffnung nicht aufzugeben, dass es ihn wieder loslassen würde und die Erinnerung an das Gefühl von Hoffnung nicht zu verlieren, wenn es unerträglich lang zu dauern begänne.
Er besaß kein Zeitgefühl mehr und — er hatte eine unüberbrückbare Distanz zu seiner Person aufgebaut. Er sah sich agieren in diesem schrillen Kaleidoskop, tauchte auf in Szenen, mit Freunden, Kollegen Konkurrenten, Fremden, immer wieder verwoben mit Wunschbildern, alptraumhaften Szenen in dimensionslosen Räumen, die keine Blöße einer Identifikationsmöglichkeit preisgaben. War er die Summe dessen, was seine Umwelt von ihm wahrnahm, zusammen mit dem Rest an Selbstwahrnehmung, die er in nüchternen Momenten noch besaß? Und wenn die Paranoia ihn zerfraß, seine Persönlichkeit zersiebte und Selbstzweifel in die Löcher säte, die hungernd in ihn hinein wucherten, bis er nichts mehr war als Angst und Elend? Er hasste sich, und er hasste jede Erinnerung an seine Person. Sein arrogantes Auftreten, seine rechthaberische Art, anderen über den Mund zu fahren, sein unstillbarer Drang nach Anerkennung und die ständige Gier nach materieller Befriedigung, die permanente Missachtung fremder Interessen hatten ihn einsam gemacht. Aber er hatte nur um so heftiger auf Zurückweisungen oder Angebote für ein klärendes Gespräch reagiert. Am Ende war er allein gewesen. So was schafft falsche Freunde. War er wirklich wie er sich jetzt sah? Wie konnte sein Lebensplan, ja sein über Jahre gelebtes Leben sich so absolut gegen jeden inneren Widerstand — sei er auch unbewusst — behaupten und in völlige Isolation auch von sich selber führen? Vielleicht würde es vorbeigehen, vorüberziehen wie ein Schatten, der sich manchmal auf die Seele legte. Er musste nur warten. Warten, dass er sich wiedergewann.
Jetzt erst bemerkte er, dass er in Socken hier saß. Er sah sich um, konnte seine Schuhe jedoch nirgends entdecken. Seine Hose war dreckverschmiert, sein Hemd hatte er vollgekotzt. Auch sein Sakko war verschwunden. Ihm war hundeelend. Gegenüber schien sich jemand ein Lager eingerichtet zu haben. Da war ein fleckiger, zerrissener Schlafsack. Ein Pulli, Unterwäsche, leere Flaschen, ein aufgeschlagenes Buch und zwei Tüten, aus denen Habseligkeiten heraushingen, lagen verstreut herum. Unmöglich, die paar Meter zu überwinden, um wenigstens den Pulli überzustreifen. In einer Ecke des Raums war der Müll zu einem Haufen aufgetürmt. Durch die Fenster sah er auf die graue Rückwand eines Vorderhauses, das offensichtlich noch bewohnt war. Es regnete. Von der Kastanie im Hof riss ein Sturm das welke Laub. Er hielt den Atem an, horchte angestrengt — jede bewusste Handlung kostete ihn Kraft — hörte Schritte weit unten, entferntes Stimmengewirr, das näher zu kommen schien. Panik stieg in ihm auf. Wer konnte sich hier her verirren? Kamen sie zu ihm? Wie war er überhaupt hier her gelangt? Bestimmt mit fremder Hilfe. Er unterschied jetzt mehrere Stimmen, lachende Männerstimmen. Sie kamen langsam die Treppe herauf. Gedanken rasten durch seinen Kopf. Er konnte sich unmöglich bemerkbar machen, verstecken, nur vom Fleck kommen war nicht drin. Er stellte sich vor, wie sie um ihn herum stehen würden, ihn auslachten und sich anstachelten, was sie mit ihm anstellen könnten. Er war wehrlos, körperlich wie mental. Wie war er nur in diese gottverdammte Scheiße geraten?
Verfluchte Paranoia! Ein paar Jungs vielleicht, die das Haus durchstreiften, von hinten durch ein offen stehendes Fenster, um die Wände zu besprühen. Der Penner womöglich und seine Kumpels, die zum Saufen herkamen, weil draußen der Sturm tobte. Der Klang der Stimmen kam ihm vertraut vor. Ein geschäftsmäßiger Tonfall, höflich, sachlich, mit witzigen Einlagen gespickt, die dreckiges Lachen hervorriefen. Einer schien älter, er führte jetzt das Wort. Angestrengt horchte er von seinem Platz.
"Man glaubt erst, wenn man es selber sieht, welchen Auswurf dieses Land beherbergt, gerade in einer Stadt wie Berlin. Vor 15 Jahren haben wir begonnen im Osten Inseln zu errichten, heute lassen wir die Inseln schleifen, die übrig geblieben sind. Sie wissen, dass Potential in dieser Gegend steckt, wenn wir die Rahmenbedingungen ändern. Wir könnten auf einen Schlag alles erledigen. Die Logistik, die Finanzierung, alles steht. Die Pläne liegen seit Jahren in der Schublade. Der große Wurf, Sie nehmen das Gelände, seine Ressourcen, ergänzen sinnvoll, schaffen Strukturen, verdienen Millionen. Und die Möglichkeiten! Sie wissen doch, je weiter das Feld, desto größer die Möglichkeiten. In meiner Position kann ich einiges bewegen. Der lange Atem ist das Wichtigste. Sie brauchen Ressourcen, immer am Ball bleiben, breit aufgestellt, aber schön schlank. Jeder trägt seinen Teil bei und kriegt sein Stück vom Kuchen, auch Sie und ihre Leute."
Ein Mann um die 60, Hut über Glatze, Goldbrille, beigefarbener Trenchcoat über feinem Tuch, die Schuhe nicht unter 500 Euro, da kannte er sich aus, im Schuh steckte der Mann, trat mit einem großen Schritt ins Zimmer. Grotesker hätte der Gegensatz zwischen Mann und Zimmer nicht sein können.
"So sehen heute die Penner aus, Herr Vogt, das müssen Sie sich anschauen. Und öffnen Sie bitte die Fenster, das ertrage ich nicht." Vogt stürzte über den Müll hinweg zum Fenster.
Der Alte fasste ihn am Kinn und bewegte seinen Kopf hin und her.
"Tss, Tss, Tss Helms. Wie ich mich freue, sie in diesem Aufzug zu treffen. Sie los zu werden, ist das Sahnehäubchen auf diesem kleinen Geschäft. Es ist wie nach einem Boxkampf. Der Verlierer muss sich dem Publikum stellen, bevor er den Ring verlässt. Alle wollen ihn anschauen. Den Kampf haben sie lustvoll angesehen. War der Verlierer ein Feigling, muss er den Spott dafür entgegennehmen, dass er seinen Mut überschätzt hat."
Küpper, diese immer grinsende Visage. Sein Zahnarzt hatte ein Monster aus ihm gemacht, aber er fand das wohl schick. Irgendwas stimmte da mit der Farbe nicht und die Schneidezähne waren alle zu groß geraten. Er sah wirklich wie ein Wolf aus, der Kreide gefressen hatte, schneeweiß zwischen den Lippen. Wieder stürmten Gedanken auf ihn ein. Küpper inspizierte die Wohnung. Langsam dämmerte ihm der gestrige Abend entgegen, Gefühle, Gesichter, Szenen kehrten zurück, die ganze elende Scheißsituation, in die er geraten war, ein abgekartetes Spiel von Anfang an. Man wird unvorsichtig, wenn man zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Wer bewundernd neben sich selber steht, verliert den Instinkt, und das kann einem das Genick brechen in diesem Geschäft. Zahlen lügen, aber Menschen brüten sie aus. Warum sollte man ihnen vertrauen? Gefallen beruhen auf Gegenseitigkeit, Sympathie kann geheuchelt sein, alte Freundschaften, Familienbande. Es funktioniert natürlich immer noch nach archaischen Mustern. Was ist archaischer als das Ego?
Es waren Küppers Jungs in der Bar gewesen. Sie hatten ihm geschmeichelt mit dem Stralaudeal, den er gemanagt hatte. Als Hellmann und Schulz rausgeflogen waren nach dem Urteil. Sie waren noch im Gericht, als der Schlosser die Türen aufbrach. Stundenlang standen sie später mit ihrem Kram im Regen. Die hatten ja niemanden. Blitzkrieg, das war unnötig aber gut für den Ruf. Er erinnerte sich, dass sie ihn untergehakt nach draußen geschleppt hatten, an die grinsenden Herumstehenden, und dass Koks im Spiel war. Ein Scheißladen! Wahrscheinlich hatten sie Surrogat eingepfiffen und ihm MDF verpasst. Das Paranoia Ungeheuer, ein Tanz auf dem Vulkan bei falscher Dosierung, und es war pures MDF gewesen, da war er sicher.
"Helms, alle warten auf sie. Sie hatten ihre letzte kleine Chance, heute im Universal, erinnern Sie sich? Die Frist ist abgelaufen, seit genau", Küpper sah auf die Uhr, "32 Minuten. Die Herren essen jetzt, das wird noch dauern und sie warten natürlich auf Sie. Wir nehmen Sie jetzt mit. Vogt, legen Sie dem Penner den Schlafsack um und bringen Sie ihn nach unten. Nach mir, und kommen Sie zu Fuß, sonst verpestet er den ganzen Wagen."
Die beiden Jungs hatten draußen rumgelungert. Sie hoben ihn grinsend auf und schliffen ihn Stockwerk für Stockwerk runter. Spekulanten aller Länder vereinigt euch! stand an der Wand im Hofgang. Marx? Nein, der ging anders, so’n Spruch über Kommunismus. Der Hof stand zentimetertief unter Wasser. Brennholz war an der Wand gestapelt. Gegenüber, neben dem Eingang ins Vorderhaus lag wieder ein Müllhaufen. Kühlschränke, Einkaufswagen, Badewannen, Fernseher, modernd, schimmelnd, wer konnte so leben, dachte Helms? Auf der Straße herrschte eine Tristesse, die sich wunderbar mit seiner Stimmung vertrug. Er war jetzt barfuß, der nasse Asphalt vermittelte ihm ein unbekanntes aber nicht unangenehmes neues Körpergefühl. Wenn sie gingen, hatte er noch 15 Minuten. Wie sollte er reagieren? Küpper hatte ihn ausgebootet, sie würden ihn fallen lassen, soviel war sicher. Er spürte unbändige Wut in sich aufsteigen, dieses ekelhafte Spiel, die Fressen, die er jetzt hasste, seine eigene Fresse, zum Kotzen, — spürte, wie er sich in ein unkontrollierbares Bündel Energie verwandelte, Schritt für Schritt an der langen Mauer entlang. Postindustrielle Verwahrlosung dahinter, geduckt verharrende Verhandlungsmasse, alt, graue Geschichte trotzig jedem entgegenschleudernd, der sich zurückwandte, darin, — Statistinnen, Praktikantinnen auf dem Weg zu den Kulissenschiebern dieses Theaters der Stadtentwicklung. Junge Reiher schwebten ein vom Fluss, die mit den Anglern um Fische buhlten. Schließlich das Universal. Er musste pissen. Limousinen standen in Reihe, im Glanz der Leuchtreklamen, das Geräusch des Regens verstärkte den Druck seiner Blase. Ein Mann in Livree verstellte ihm den Weg.
"Helms, stehe ganz oben auf der Liste!" stammelte er und schob den Portier nachdrücklich bei Seite. Durch den schweren roten Vorhang drang gedämpftes Stimmengewirr und der Duft von Cohibas. Er teilte den Stoff und trat ein. Mondäne Kulisse, altehrwürdiges Mauerwerk, erhabene Fenster zum Fluss, davor die Herren in Laune. Er legte den nassen Schlafsack, der ihn vor dem Regen geschützt hatte vor sich auf den Fußboden und schritt darüber hinweg in den Dreiviertelkreis der Tische. Er war jetzt die Ruhe vor dem Sturm. Alle waren da. Ehrenpräsi wie immer vor Kopf, daneben die Patenonkel, außen Küpper und die anderen Grobholzschnitzer, die den Hals nie vollkriegten, die Lügenbarone, denen die Interessenkonflikte nach und nach das Gesicht zerfraßen. Langsam verstummten die Gespräche.
"Helms, Sie kommen spät, zu spät fürchte ich. Ihr Offenbarungseid läuft schon durch die Druckmaschinen. Die Herren Redakteure haben nur die aktuellen Prämissen notiert und sind gleich wieder verschwunden. Jetzt sind Sie da, wo Sie immer hinwollten. Ganz oben, Seite eins! Man wird ihnen den Arsch aufreißen!"
Er hatte Küpper fest im Blick, die ganze Zeit. Seine Blase musste gleich platzen.
"Ich möchte, dass Sie alle mit mir anstoßen, Sie zuerst Küpper, nehmen Sie ihr Glas, ich schenke ein." Helms öffnete seine Hose, lief die paar Schritte zum Tisch und pinkelte Küpper auf den halbvollen Teller, die Pisse spritzte Küpper auf die Brust, ins Gesicht und auf die Brille.
"Nehmen Sie schon Ihr Glas, geht ja alles daneben", sagte Helms mit angsterregender Ruhe.
Ehrenpräsi schnellte hoch. Backen und Kinnlade bebten, als er brüllte: "Sie Schwein!"
"Dich piss ich an!" grölte Helms zurück und stürzte über den Tisch auf ihn. In Zeitlupe kippte Ehrenpräsi auf seinem Stuhl rücklings, überwand den Schwerpunkt wild mit den Armen nach Halt rudernd und fiel wie eine fette Schildkröte krachend zu Boden. Holz splitterte, Helms war gleich über ihm, einer Quelle gleich, pisste über Hemd und Weste, Schal und Gesicht, Ehrenpräsis Mund formte einen grellen spitzen Schrei. Dann rissen Hände Helms zurück.
"Ich piss euch alle an! Stellt euch auf ihr Penner, einer neben den anderen, ich bin voll wie ein Eimer, das reicht für jeden von euch!" Er entspannte alle Muskeln, die Griffe der anderen wurden weicher, dann war er im Krieg.
Fast mühelos schuf er einen leeren Kreis um sich, drei Armlängen weit. Beschwichtigend senkte die Schar vor ihm die Hände und öffnete ihm eine Gasse.
"Einer wird dich heimsuchen", flüsterte er Küpper zu, der ihn völlig entsetzt anstarrte.
"Vergiss das niemals."
Die Altherrenrunde war ein wenig lädiert, einer blutete am Ohr, ein anderer fingerte nervös an seinem E-Rolli. Allgemein herrschte betretenes Schweigen. Küpper konnte sich auf einiges gefasst machen. Sein Claim stand schon auf der Kippe, als die Bank ihm den Kredit kündigte.
Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Er winkte einem Taxi.
Alles lag jetzt hinter ihm. Es interessierte ihn auch nicht mehr. Die Angst war von ihm abgefallen aber die Leere existierte immer noch. Sie zu füllen mit neuen Dingen, anderen Menschen, die Fülle um ihn herum neugieriger, befreiter anzuschauen, dagegen hatte er sich mit aller Kraft gewehrt. Es gab nur noch einen Weg für ihn, raus über die Felder zu Carlo. Er würde am Feuer sitzen. Oder das Feuer würde brennen, während er das Abendessen aus der Erde klaubte. Die warmen Hände würden nach Erde riechen. Schweigen würde herrschen. Das Radio dudelte "I hate the asshole I become!".
Christa Block
Ostkreuz-Visionen
Warten auf den nächsten Zug.
Umgeben von Rost, bröckelndem Putz, defekten
Stufen, Zugwind und maroden Dächern
überkommt mich eine Vision.
Ich sehe eine Großbaustelle, Kräne schwanken im
Wind, Arbeiter wuseln wie Ameisen, überall
lagern Baumaterialien.
Was ich nicht sehe, sind Züge, keine S-Bahnen.
Wo sind sie? Wohin
wurden sie umgeleitet?
Wo sind die vielen Menschen, die täglich auf
dem Bahnhof Ostkreuz
ankommen oder abfahren?
Ich blicke weiter in die Ferne und stehe plötzlich
im Jahre 2036 auf einem
modernen Bahnhof Ostkreuz. Er hat Ähnlichkeit
mit anderen Hauptbahnhöfen. Hohe gläserne
Dächer, die das Sonnenlicht durchlassen,
elektronische Anzeigen und schnelle
S-Bahnzüge, die ein- und ausfahren. Menschen,
die über Laufstege, Rolltreppen und Aufzüge zu
ihren Bahnsteigen oder zum Ausgang
befördert werden.
In den Eingangsbereichen kleine Geschäfte und
Kioske.
Und es gibt jede Menge Personal in hübschen
Uniformen, das die Züge
abfertigt, Auskünfte erteilt und für Ordnung
sorgt.
Das Jahr 2036 - da wäre ich 100 Jahre alt.
So alt kann ich gar nicht werden, um bei allem
Optimismus einen neuen
Bahnhof Ostkreuz zu erleben.
Zu diesem Buch
Diese Anthologie ist der Ertrag eines Literaturwettbewerbs, den die Nachbarschaftseinrichtung RuDi, gemeinsam mit ihren Partnern, nun schon zum dritten Mal ausgerufen und — dank der schreibenden Mitbürgerinnen und –bürger — zu einem glücklichen Ende gebracht hat. Von einer Tradition zu sprechen, wäre übertrieben, aber wer auf Knalliges versessen ist, könnte das vorliegende Buch als dritten Band einer Ostkreuz-Trilogie ansehen. Und zumindest die eine skeptische Frage, ob dieser wohl größte, aber sicherlich nicht ansehnlichste Nahverkehrsknotenpunkt Berlins literarisierbar ist, als literarischer Topos überhaupt in Frage kommt und "etwas hergibt", dürfte sich nunmehr hinreichend beantwortet haben.
Nach dem Alltag von Ostkreuz, zweimal täglich (2002), den hoffnungsvollen oder bangen Blicken zurück in die Zukunft von Ostkreuz 2020 (2003) kommt nun mit Liebe am Ostkreuz das Sehnen und Suchen und wieder Verlieren und weiter Suchen, das Ein und Alles, kurz: die Magie zum Wort.
Über die Liebe schreiben, also sich erinnernd davon erzählen, heißt für den Schreiber, die Schreiberin, sich mit der Sprache auf ein Terrain zu begeben, das letztlich nicht verbalisierbar ist, es aber dennoch versuchen zu müssen. Und da das Erzählen von der unerklärlichen Liebe nicht selten ein Erzählen vom unerklärlichen Scheitern der Liebe ist, verdoppeln sich die Schwierigkeiten, dieses doch so allbekannte und dabei so unergründliche Phänomen in eine bündige Sprache und mitteilbare Bilder zu bringen.
Einschlägige Fachleute halten Verliebtheit für eine milde Form des Irrsinns. Verliebte sind Irre. Aber jeder, der einstmals zu diesen Irren gehört hat, wird bestätigen, dass das kryptische Gestammel und Geraune, mit dem Verliebte miteinander kommunizieren, die selbstverständlichste und beredteste Form des Austauschs ist. Der Satz "Ich liebe dich!" ist, semantisch gesehen, essentiell dürftig und für einen Nichtverliebten eher Unsinn. Aber jeder von uns erinnert sich an Momente, in denen eben dieser Satz das einzig Adäquate war und gesagt wurde, einfach heraus musste, ohne sich dabei im Mindesten unverstanden oder gar lächerlich vorzukommen.
Literatur und Liebe, das ist demnach eine vertrackte, komplizierte Sache. Manche behaupten, es gäbe in der gesamten Weltliteratur ohne dies nur etwa ein Dutzend echter Liebesgeschichten und damit hätte es sich; alles weitere wären nur die Variationen und Perpetuierungen des ewig Gleichen einschließlich der unsäglichen Abteilungen Triviales und Vulgäres, leider. Mit dem Aufkommen der Massenliteratur ist der "Liebesroman" zu einem Synonym für Kitsch geworden.
Und dennoch: trotz — oder gerade wegen? — all dieser Unwägbarkeiten, die sich dem Schreiben von Liebesgeschichten in den Weg stellen, ist der Reiz, es dennoch zu versuchen, groß. Woher käme es sonst, dass dieses Buch weitaus dicker geworden ist als seine beiden Vorgänger?
Das Gute an der Liebe ist: jeder kennt sie. Und jeder, auch wenn er nicht schreibt, erinnert sich an seine Liebesgeschichten, an Augenblicke mit Menschen, die von bedenkenloser Zuwendung erfüllt waren, die unanfechtbar bleibt, und von der gesagt werden darf: ja, das war es, da war ich nicht allein, da sind wir zusammengerückt, da habe ich etwas Großes erlebt, das Wunder, wie ich so vollkommen außer mir und zugleich so ganz und gar bei mir sein konnte. In einer einzigen so gelungenen Geste steckt schon mehr Glück, als wir verkraften können.
Um über die Liebe zu schreiben, etwas zu sagen, das über das interne Stammeln hinaus geht, bietet sich der Vergleich, die Metapher, die Allegorie an. Seit du bist wie eine Blume ist das so, und auch in den hier versammelten Texten ist das nicht anders. Jedes Mal muss das Erzählen von der Liebe neu erfunden werden, und selbst die bizarrsten Bilder können letztlich doch nur annähernd ausdrücken, was wir eigentlich meinen. Da ist jemand "gemalt wie von Picasso" oder Toulouse-Lautrec, da wird das Verspeisen von Früchten zum Bild für etwas ganz anderes, und ein Getreidemilchkaffee (den, soviel ich weiß, nicht nur Kellnerinnen hassen) zum Geheimcode.
Der Dichter, sagt Paul Valéry, produziert das, wonach es ihn verlangte. Er stellt etwas her, das imstande ist, ihm die Energie, die es ihn gekostet hat, zurückzugeben oder sogar noch mehr. Analoges gilt auch für die Rezeption von Kunst. Bleibt nur noch, diesem Buch viele vergnügte, nachdenkliche und angeregte Leserinnen und Leser zu wünschen.
Berlin, im März 2005
Organisator dieses Wettbewerbs war das Nachbarschaftszentrum RuDi in Kooperation mit dem Online-Magazin KultStral. Das Projekt wurde unterstützt und gefördert durch das Förderprogramm der Europäischen Union URBAN II. Eine Jury, deren Vorsitz vom früheren Bürgermeister des Bezirkes Friedrichshain, Helios Mendiburu, übernommen wurde, wählte die besten Beiträge aus, prämiierte sie und stellte die Preisträger in einem feierlichen Rahmen der Öffentlichkeit vor. Auf die Zusammenstellung dieser Anthologie hatte die Preisvergabe keinen Einfluss. Sie folgte den kompositorischen Prinzipien.
Über das Taschenbuch hinaus werden alle Beiträge im Online-Stadtteilmagazin KultStral (www.kultstral.de) veröffentlicht und so noch einem weiteren Kreis von Interessenten zugänglich gemacht werden.
Abschließend sei allen Dank gesagt, die am Wettbewerb und am Zustandekommen dieser Anthologie beteiligt waren. Das schließt auch diejenigen ein, die die Förderung dieses Projekts durch die Europäische Union und das Land Berlin ermöglicht haben.
Rosa Meir
Eine Liebe am Ostkreuz
Dies ist die Geschichte einer Liebe, die nur einen Winter dauerte. Sie begann im Gleisbett einer Berliner S-Bahn-Station. Christa fuhr mit der Ringbahn zum Bahnhof Ostkreuz. Es war kurz vor Betriebsschluss, die letzte Bahn auf dem Ring. Am Ostkreuz stieg sie aus, wartete bis der Zug abgefahren war, dann sprang sie. Sie fiel ins Gleisbett und verlor das Bewusstsein.
Zwei Tage später wachte sie wieder auf, ihre Wunden waren noch nicht verheilt, aber ihre Erinnerungen größtenteils verschwunden. Sie hatte geträumt von einem Raum, der komplett weiß war. Ein weißer, luftiger, traumhafter Raum. Im Traum lag sie in einem großen Himmelbett. In der Mitte des Raumes stand ein runder, niedriger Tisch aus Plaste. Es gab zwei kugelförmige Schalensessel mit roten Sitzflächen und eine Stehlampe mit weißem Stiel, oben gebogen wie eine Straßenlaterne. Der Lampenschirm war aus rotem Glas. Der Fußboden war aus Marmor. Neben ihrem Bett stand ein messingfarbener kleiner Beistelltisch, darauf eine Schale mit Früchten und ein Brief in einem weißen Umschlag.
Christa musste auf die Toilette. Sie öffnete die Tür und kam in einen Flur aus rauem Beton, die Elektroleitungen lagen über Putz, Kabelschlingen hingen herunter, es war kalt. Der Flur verlief kreisrund, in der Mitte war eine metallene Treppe. Da sich auf dieser Etage keine Toilette zu befinden schien, stieg sie ein Stockwerk höher. Dort fand sie eine kleine Tür, die so aussah als ob, und dahinter war tatsächlich, was sie suchte. Sie trug keine Schuhe oder Strümpfe und so empfand sie es als sehr angenehm, dass hier der Boden geheizt war, denn außerhalb des weißen Raumes überkam sie die Kälte. In der Toilette war selbst die Toilettenbrille warm. Es gab ein muschelförmiges Waschbecken, einen kleinen goldenen Wasserhahn mit porzellanenem Steuerrad zum Aufdrehen. Auf dem Toilettenpapier stand servus. Christa machte sich nichts weiter daraus, verrichtete ihr Geschäft und lief zurück in das Zimmer mit dem Himmelbett.
Drei kleine Fenster, längliche, querformatige Fenster gab es, durch Jalousien verhüllt, die von außen angebracht waren. Christa stellte sich auf den messingfarbenen Beistelltisch, um ihre Neugierde zu stillen. Sie schaute also hinaus und sah in einiger Entfernung einen kleinen See glitzern, sie sah Bäume, Hochspannungsmasten und sie konnte auch eine Straße sehen, die über eine Brücke führte.
In diesem Moment öffnete sich die Tür, jemand trat ein ohne geklopft zu haben.
"He, hallo, du bist wach! Wie jeht's dir? Komm lieber da runter, der Tisch ist nich besonders stabil. Wer weeß, sonst liegste gleich wieda im Koma. Ick hab dir wat zu essen mitjebracht, 'n Hühnchen von de Imbissstube, keene Ahnung, schmeckt dir so wat? Ick weeß ooch nich, ob dit jut is, von wegen Krankenkost, aber Hühnchen is, gloob ick, in Ordnung. Mein Jeld hat nicht für zwee jereicht, wenn de mir die Flügel überlässt…
Ach so, ick bin übrigens der Heiko. Ick bin hier der Hausmeester. Der Chef is grade in Hamburg und kommt erst in drei Monate wieda. So lange kiek ick hier nach dem Rechten und, na ja, meene Bude is nicht so schick. Ofenheizung und so und der Boiler is kaputt, keen warmet Wasser also und ick hab ooch nur een ollet Bett und uff de Couch da schläft imma dit Frollein, wat meen Hund is. Naja, du wirst ja hier nüscht kaputt machen, wa? Ick kriege dann nämlich mordsmäßigen Ärger, weeßte. Aba nun sag doch ooch mal wat."
Christa war in der Zwischenzeit vom kleinen Messingtisch runter gesprungen und hatte sich am Kopfende des Bettes hingesetzt, mit angezogenen Beinen und die Decke bis zum Kinn.
"Ick weeß ja nich, wo ick hier bin", sagte Christa als erstes, wobei sie auf die Imbisstüte starrte und mit dem Brechreiz kämpfte, obwohl sie Hunger verspürte. Beim Herunternehmen der Früchte vom Messingtisch hatte sie bemerkt, dass diese unecht waren. Eine Banane oder einen Apfel hätte sie vielleicht essen können. "Wo de bist? Na, dit is hier der Turm. Dit jehört eenem reichen Typ, der is son Beraterfritze, weeß ick, wat der jenau macht, aba Kohle hat der, da träumste von. Dit is für den hier ooch nur son Spaß, der hat noch 'ne Dachjeschossbude irgendwo, naja und in Hamburg, da hat er een Haus. Aba willste denn jar nich essen? Also ick hab janz schön Kohldampf in de Rippen."
"Was für'n Turm denn?"
Christa versuchte, sich an etwas zu erinnern, aber sie bekam nur Kopfschmerzen. Sie rutschte runter ins Bett und drehte sich zur Seite. "Ich will kein Hühnchen", sagte sie noch, dann schlief sie wieder ein.
Heiko war gut aussehend, gutmütig und auf der Suche nach einer treuen Seele.
Christa, 35 Jahre alt, schulterlanges, dickes, kastanienbraunes Haar, grüne Augen und zierliche Figur, wollte sich das Leben nehmen. Sie war von zu Hause geflohen, vor dem ewig gleichen Alltag mit ihrem 16-jährigen Sohn, der den ganzen Tag vor dem Fernseher oder dem Computer hockte, nicht mit ihr redete und nur zum Essen aus seinem Zimmer kam. Zur Schule ging er zwar, aber er kam dort meistens nicht an bzw. blieb nicht lange. Dann trieb er sich rum oder er kam nach Hause und verkroch sich in sein Zimmer. Christa wollte nicht mehr ihre Zeit, ihre Energie und ihre Liebe verschwenden. Sie hatte keine Kraft, gegen diese Übermacht zu kämpfen, die von morgens bis abends aus dem Fernsehapparat flutete, um sich schoss und die Gehirnzellen zersetzte. Auch wollte sie nicht mehr die Geräusche von den in der Spielkonsole rumorenden Gewaltexzessen hören, das alles fraß an ihrem Gemüt und an ihren Hoffnungen. Sie selbst interessierte sich für so viele Dinge, dass sie manchmal das Gefühl hatte, ihr Leben würde nicht ausreichen für das, was sie machen und erleben wollte. Aber ihr Sohn war das Gegenteil von ihr, er war ihr fremd geworden. Er war mehr Teil dieser medialen Welt und es war keine Phantasiewelt, sondern eine Sucht erzeugende Manipulation durch Dealer, die in großen Konzernen saßen und ihr Geld damit verdienten, solche Dinge auf den Markt zu bringen und sie als Spiele zu bezeichnen, um zu vertuschen, worum es sich eigentlich handelte: um Gehirnzellen fressende Killerviren, handlich verpackt in Plastehüllen.
Christa hatte Angst vor der Zukunft und sie wollte nicht von der Gesellschaft verantwortlich gemacht werden für etwas, das die Leute schlechte Erziehung nennen würden. Christa hatte ihren Sohn allein groß gezogen und so war da eine große Schwachstelle in dem Organismus, den sie mit ihrem Sohn bildete. Durch diese Schwachstelle, durch diesen blinden Fleck, den sie nicht ausfüllen konnte, drang die Außenwelt an ihren Sohn, eine Außenwelt, die sie sich nicht ausgesucht hatte und der sie sich selbst weitestgehend zu entziehen versuchte. Sie hatte nicht ein Kind auf die Welt gebracht, um ihr Leben damit zu verbringen, wie eine Torhüterin im Eishockeytor zu stehen und dick geschützt mit einem Holzstiel die schwarzen Scheiben abzuwehren. Sie war bereit, ihr Kind zu fördern, ihm Liebe zu geben, die Phantasie anzuregen. Aber sie hatte nicht mit diesen hartnäckigen Feinden gerechnet, die für ihr Kind bunter und verlockender oder einfach nur bequemer waren. Sie musste einsehen, dass sie immer mehr an Einfluss verlor, je mehr die anderen gewannen. Und so stieg sie in die Ringbahn am Bahnhof Ostkreuz, fuhr einmal bis zum Ende, wartete auf die nächste Bahn, um den Ring zu vollenden und dann sprang sie von der Brücke auf die Gleise. Sie verlor das Bewusstsein, hatte aber Glück im Unglück, denn sie wurde gefunden, noch bevor der Intercity durch die Nacht rauschte. Sie wurde gefunden von einem Schlosser der Deutschen Bahn, der die Gleise inspizierte. Sein Name war Heiko und Heiko war Ersthelfer. Er leitete die erforderlichen ersten Schritte ein und rief über sein Mobiltelefon die Notrufnummer. Christa wurde ins Krankenhaus Friedrichshain gebracht, wo sie drei Wochen bleiben musste. Drei Wochen, in denen Heiko jeden Tag kam, um sie zu besuchen. Drei Wochen, in denen sie über ihr Leben nachdachte, drei Wochen, in denen sich der Vater ihres Sohnes kümmern musste, ob er wollte oder nicht. Christa freute sich, wenn Heiko kam. Er war ein ruhiger, sensibler und besonnener Mann und er las ihr Geschichten vor, wenn er an ihrem Bett saß. Nach drei Wochen wurde Christa entlassen und sie hatte sich entschlossen, zu Heiko zu ziehen. Heiko hatte sich im Wasserturm eine Wohnung ausgebaut und er hatte auch einen von den kleinen Gärten zwischen Gleisanlage und Markgrafendamm.
Wenn Heiko zur Arbeit ging, joggte Christa am Paul-und-Paula-Ufer. Sie hatte vorher nicht gejoggt, aber sie wollte es schon immer mal machen. Sie lief bis zur Haftanstalt und wieder zurück, sie pausierte am Geländer vor dem italienischen Café und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Sie beobachtete die Schwäne und dann lief sie zurück. Sie begann zu malen: sie malte den Wasserturm von allen möglichen Seiten, am schönsten erschien er ihr von der Bucht aus, eingerahmt von den Ästen der Bäume, den Blättern und Ranken der Sträucher und ohne die Bahnanlagen.
Heiko war glücklich, nicht mehr alleine leben zu müssen, er hatte sich so lange danach gesehnt, wieder für eine Frau zu sorgen. Seine Frau hatte sich vor fünf Jahren von ihm scheiden lassen und er konnte es lange nicht verwinden. Heiko hatte eine Tochter. Maria besuchte ihn alle vierzehn Tage von Donnerstag bis Sonntag. Sie lernte an der freien Schule. Maria war zu langsam für den Stundenplan an der Regelschule aber dafür spielte sie Flöte und sie fotografierte, am liebsten Menschen, die sie kannte. Maria hatte Talent und wollte Fotografin werden. Christa und Maria verstanden sich und Christa begann, öfter mit ihrem Sohn zu telefonieren. Die Gespräche waren jedoch immer einsilbig und danach kämpfte Christa mit einer großen Traurigkeit und dem Gefühl versagt zu haben. Dann joggte sie umso mehr, sie lenkte sich ab, sie lief inzwischen bis zur Insel der Jugend und manchmal noch weiter bis zum Eierhäuschen.
Christa mochte Heiko, aber sie konnte nicht sagen, dass sie verliebt war. Sie genoss es, umsorgt zu werden, aber etwas bohrte in ihr. Eine innere Unruhe befiel sie und es wurde von Tag zu Tag mehr. Den ganzen Dezember und Januar war sie nun schon bei Heiko im Wasserturm und im März wollte er mit ihr für eine Woche verreisen. Sie freute sich zwar, aber eine unbestimmte Sehnsucht bemächtigte sich ihrer. Sie träumte von Vietnam oder von den Indianern in Mexiko, seit sie eine Reportage gesehen hatte. Sie wollte etwas erfahren, von dem sie nicht wusste, was es war. Sie suchte. Heiko hatte Angst, sie zu verlieren und er begann, sie zu verwöhnen. Es war Anfang Februar, Christa kam von einem Wochenendworkshop in Aktmalerei zurück, den Heiko ihr geschenkt hatte. Es war Sonntagabend. Sie schloss die Tür zum Wasserturm auf und stieg die Treppe nach oben. Aus der großen Küche drang Musik und Stimmen waren zu hören. Heiko hatte gekocht, der Tisch war festlich gedeckt mit Kerzen und Servietten, Maria und Chris, ihr Sohn, schälten Obst für den Nachtisch und Heiko begrüßte sie mit einem Lächeln auf den Lippen und in den Augenwinkeln, im Hosenbund steckte das Küchenhandtuch. Maria und Chris hatten ihm aus Krepppapier eine Kochmütze gebastelt. Die Überraschung verschlug Christa die Sprache und außerdem traute sie ihren Augen und Ohren nicht.
Es gab Schweinebraten mit Rotkohl und Klößen, dazu Malzbier, zum Nachtisch kleine Obststückchen mit Schlagsahne und für sie und Heiko einen Espresso. Heiko hatte Kinokarten besorgt für Maria und Chris, und als sie den Wasserturm verlassen hatten, legte er eine alte Queen-Platte auf und zu "We are the champions" tanzten sie. Heiko zog Christa eng an sich und er war glücklich, das konnte man sehen. Christa wusste nicht, was sie fühlen sollte. Sie hatte beim Aktmalkurs Jim kennen gelernt, der den Kurs leitete. Jim war 52, sah aber aus wie 41, wirkte auch in seiner Art jugendlich. Jim kam ursprünglich aus Los Angeles, war aber schon seit fünfzehn Jahren in Deutschland. Jim und Christa kamen sich in der sehr kurzen Zeit sehr nah und Christa spürte eine enorme Anziehungskraft. Jim weckte in ihr Gefühle und Wünsche, für die sie sonst kein Verständnis hatte. Sie war aufgewühlt und in diesem Moment wollte sie Heiko auch nicht verletzen. Sie begannen sich zu küssen und Christa stellte sich Jim dabei vor. Später fragte sie Heiko, wie er es angestellt hatte, Chris in den Wasserturm zu locken. Heiko lachte und erzählte ihr, dass es ganz einfach gewesen wäre, als er ihm sagte, es würde Schweinebraten zu essen geben. Christa schlief wenig später vor Verwirrung ein, Heiko wartete in der Küche auf Chris und seine Tochter. Es war ein Uhr nachts, als Heiko endlich den Schlüssel im Schloss hörte und nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles in Ordnung war, die beiden sich untereinander und ihm eine gute Nacht gewünscht hatten, legte er sich zu Christa ins Bett, kuschelte sich an sie, seine Hand gefüllt mit ihrer Brust. Sein Schlaf war kurz, denn um sechs Uhr klingelte schon der Wecker. Um sieben weckte er Maria, um sie zur Schule zu fahren. Christa wurde von Chris geweckt um zehn vor acht, als er fragte, ob sie ihm Geld geben könne für einen Fahrschein. Sie rieb sich die Augen, stand auf, gab ihm das Geld, sah ihm in die Augen und wollte gerne noch mit ihm reden. Chris aber hatte es eilig, er wollte zur Schule. Er rief "Tschö" und war schon verschwunden. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel von Heiko. "Mach dir einen schönen Tag, ich liebe dich." Christa fuhr in Jims Atelier. Sie konnte es kaum erwarten, aber als sie ankam, war Jim nicht da. Sie verstand das nicht, denn sie waren doch verabredet. Sie suchte sich ein kleines Café in der Nähe und wollte warten. Sie las die Zeitung, trank einen Kaffee, aß ein Laugenbrötchen und versuchte es eine Stunde später noch einmal. Sie drückte gerade auf den Klingelknopf, als sie jemand auf den Hals küsste. Es war Heiko. Er sah erst auf den Namen am Klingelschild und dann sie an. "Ja, hallo?", hörte sie Jims Stimme aus der Sprechanlage, Heiko hörte sie auch. Er sagte: "Werbung, bitte", und die Tür begann zu summen. Christa verschwand im Hausflur.
Lisa Brückner
Die Liebe für ihn war spielerisch,
denn ist die Liebe nicht ein Spiel?
Sein Aussehen scheint abstrakt, wie gemalt von Picassos Hand, genauso unlogisch zusammengefasst in einer Flut von Farben, die das Auge kaum wahrnehmen kann, sprich unlogisch zusammengefasst in Form und Farbe, aber Picasso und unlogisch?
In unlogischer Logik logisch, aber genial ist er irgendwie schon, aber der wahre Phantast ist Malewitsch. Aber sein Aussehen zeigt, entzückt, denn es ist ein Farbenspiel der Sinne.
Die Haare hoch getürmt, blondiert und grün, ausgefranst am oberen Ende, feines Gesicht, hellblaue Augen, so tief wie ein tiefer Ozean, so blau wie ein blauer Ozean.
Kleidung vermag auch nicht zusammenzupassen, aber er sagt es ja selbst, "Punk’s not dead", ist für Anarchismus, lebt für die Sex Pistols, Vivien Westwoods Modekreation und liebt die Geschichten über Hausbesetzung und so steht er da in Lederjacke, mit Gerümpel behangen, den halben Eisenwarenladen im Gesicht, karierte Hosen, wie die Schotten Röcke tragen und die Springerstiefel zurecht geknotet mit roten Senkeln.
Er behauptet, Alter und Name vergessen zu haben, aber sein Personalausweis zeigt Name und Alter an, steht da für jemand, wenn er jemand seinen Ausweis zeigen würde, aber wer ist schon jemand? Jemand kann jedermann sein.
Die Schönheit ist ihm ins Gesicht geschrieben, aber ob’s ihm nützt, weiß er selber nicht. Er sitzt oft da, wo er oft sitzt, warten am Ostkreuz, aber warten tut er nicht auf Züge, die ein- und ausfahren, sondern auf das, was früher mal war. Aber was früher war, kann jetzt nicht mehr sein, aber er will es nicht wahr haben, will es nicht oder kann es nicht, eins von beiden.
Und wenn er da so da sitzt, wartend am Ostkreuz, tausend Gedanken schweben an ihm vorbei und Züge fahren ein, Ansagen, einsteigen und zurückbleiben, hin oder her, ihm ist es egal. Auch kann der Tod nicht rückgängig gemacht werden, in der Literatur wäre es wirklich und möglich, da ist alles möglich, im Inbegriff der Literatur stehen die Dinge anders, nichts erscheint ihm so reell wie damals.
"Ich liebe dich", hatte sie oft gesagt, immer hieß, ich liebe dich, sie liebten sich, nicht nur körperlich. Ob sie schön aussah, weiß er nicht, aber die Gedanken zu ihr sind umso schöner. Oft hatten sie genau dort gesessen, wo er jetzt sitzt, manchmal küssend, manchmal stillschweigend, manchmal auch nur ab und an ein zärtlicher Streichler.
Und so saßen sie dann immer da, um die Leute zu beobachten, die zu den einfahrenden Zügen hetzten und wetzten und immer johlte die schier nervige Durchsagenormalität:
"Einsteigen— bitte! Zurückbleiben— bitte!" Wenigstens ein bitte über die sonst so müden, kalten Lippen. Er saß da, sie in seinen Armen. Lachen taten sie beide über fettige, massige Körper, über schleifende Gangarten, besoffene, schizophrene Monster und Gestalten, die man noch nicht mal bei Nacht hätte rauslassen dürfen.
Wurde es dann zu kalt, glitten beide davon, zurück ins Nirgendwo, in seine Behausung, die sich sein Heim nennt und dort nach regelrechten Kochorgien, mal indisches Curryhühnchen, dann mal deutsches Hühnchen oder einfach nur Eis, aber meistens Hühnchen, denn sie liebte Hühnchen. Nach Kochorgien der Leidenschaft, gestehe, denn Liebe geht bekanntlich durch den Magen, wurden Kleider vom Leibe gerupft und das körperliche Liebesspiel begann.
Leidenschaftlicher denn je war es, wenn gefeiert wurde, wie etwa, wenn man ein Jahr zusammen war, dann zwei und schließlich drei, und nach diesem dritten und für ihn doch eigentlich schönsten Jahr, sollte dann Schluss sein.
Er sitzt so da, Züge übers Ostkreuz fahrend, und er wartend, wartend auf sie, aber kommen wird sie nicht mehr. Wie von Picassos Hand gemalt, getaucht in einen unlogischen Reim der Farben, quasi Magie. Was ist Magie und Bernward Vesper?
Schwört auf keine Politik, denn jede Politik ist der reinste Mist, wenn es nur der Anarchismus wäre, denn das ist die wahre Politik und gegen Nazis ist er auch. Aufnäher auf seinem Armeerucksack umschreiben es, da heißt es "Nazis raus" und dazu durchgestrichen, fett und offensichtlich das Hakenkreuz.
Sie konnte so schön seinen Namen sagen, mit ihrer rauchigen Stimme, in etwa wie die von Zarah Leander. Sie konnte so toll stricken, häkeln, sticken, gelernt hatte sie von der Oma mütterlicherseits, ihrerseits Flüchtling aus Pommern.
Sie konnte so schön zärtlich sein, mit Finger und Spitze den Rücken streicheln, mit etwas Druck die Wirbelsäule entlang fahren und vor allem war die Sache, dass er sie geliebt hatte. Kriegsähnliche Zustände gab es oft, denn allein die Frage nach welcher Seite hin wer schlafen soll, sie außen und er innen oder er außen und sie innen, endete damit, dass er die Decke packte, die als Überwurf diente, und sich verkroch, liegend auf dem Teppich von Ikea, eingeklemmt zwischen Kühlschrank und Herd.
Denn er sagte immer, besser schläft sich’s in der Küche. Der Essensgeruch stillt auch im Schlaf den Hunger. Essensgeruch sättigt.
Später schlich sie dann immer zu ihm, fasste seine Hand, kroch zu ihm unter die Decke, später erwachte er und spürte ihre so vertraute Wärme und ein leichtes Lächeln und er dachte an Kindskopf und so weiter, summte noch ein Lied von Pantera und besann sich dann wieder in den Schlaf zurück.
Kennen gelernt hatte er sie am Ostkreuz, genau dort, wo er jetzt sitzt. Sie hatte dagesessen, auf der Bank, zutiefst betrübt und sah aus wie von Toulouse-Lautrec gezeichnet/ gemalt, so perfekt umspielt waren ihre Formen des Körpers und Gesichts. Haare einfach locker im Nacken zusammengebunden, wirr, vielleicht nachlässig durchgekämmt, nicht beachtet, dass es eigentlich hundert Bürstenstriche sein müssen.
Er fand sie so liebreizend, so rosenfreudig, so krass genial eigentlich schon.
Obwohl sie gerade Rotz und Wasser flennte, ging er zu ihr, fragte nach dem Problem, was sei, und sie erzählte ihm, dass sie im Leben kein Leben sah und alles grausig dumm finden würde, und aus diesem Satz ergriff sich ein dreistündiges Gespräch, schon beinah eine ganze Lebensphilosophie und aus diesem einen doch so banalen, belanglosen Satz, den sie von sich gegeben hatte, war am Ende schon der erste zurückhaltende Kuss, aber überaus zärtliche Kuss. Sie sah in ihm einen Adonis in punkrevolutionärer Gestalt, hielt ihn für intelligent, intellektuell und sonst auch so rasend hübsch und auch das Gefühl, dass er bei ihr saß, machte sie rasend. Drei Jahre ging alles gut und dann so weiter.
Beide ergänzten sich wie Hell und Dunkel, Feuer und Wasser, Leben und Tod, dazwischen diese Angst, die er hatte, sie zu verlieren.
Aber nach drei Jahren der Leidenschaft, des Unendlichen im Unendlichen, verstand er erst jetzt den Doppelsinn. Es ging alles wirklich ganz schnell. Innerhalb von nur drei Wochen stürzte sie in eine Depression, aus der sie nicht mehr herauskam und auch er hatte alles schier Unmögliche versucht, sie da wieder herauszuholen, aber es gelang ihm einfach nicht.
Drei Wochen kein leidenschaftlicher Kuss und er erblickte in dem Anfang ein Ende. Das Bye an sie, denn er wollte sie so nicht haben, aber sie verstand nicht.
Zwei gezielte Pulsaderschnitte und sie schied aus dem Leben.
Und er sitzt da, alles im Gedankenrausch, rauschender Rausch im Rausch der rauschenden Gefühle der fühligen Gefühle in seiner gefühlvollen, vollfühlenden Gefühlswelt. Aufgerüttelt, fertig, seelisch abgeleitet.
In Beobachtung, die Ostkreuzbahngänger. Bahnhof Ostkreuz war für ihn Ort und Treffpunkt der Liebe gewesen. Aber wo der Tod, da kein Leben mehr. Aber er kann einfach nicht vergessen, kann sie nicht vergessen. In Gedanken zu ihr spürt er es immer noch, das Gefühl der Liebe. So oft er drüber nachgedacht, ein Ort, ein Bahnhof, den im Jahr Dutzende von tausend Menschen passieren, überqueren, an so einem stets überfüllten Ort hatte er sie getroffen. Die Sache mit ihr ist schon so lang her. Bald sind es fünf Jahre, wenn er richtig zählt, aber vergessen kann er sie nicht, sie bleibt für ihn stets unvergessen.
Er sagt von sich, dass Name und Alter unwichtig seien, so hat er angeblich Name und Alter vergessen, aber würde man ihn nach dem Personalausweis fragen, vorgezeigt, und dort steht für irgend jemand Name und Alter, aber wer ist schon irgend jemand?
Zur Musik von den Sex Pistols, wie sie immer sagte "Chill-out-Musik", haben sie Curry-Hühnchen gegessen und sie niedlich piksend mit der Gabel nach den fein klein geschnittenen Hühnchen sichten. Er hatte ihr immer das Hühnchen geschnitten, wie bei einem kleinen Kind. Ein wankelmütiges Lächeln über ihren Lippen.
Sie und er, laufend über S-Bahnschienen, die zum Ostkreuz führen, mitten in der Nacht, hörend nach den Geräuschen der kommenden Bahn.
Er und sie, in Zweisamkeit bis hin in absolute Einsamkeit. Sie hielt nichts von Büchern, denn wie sie immer sagte, das sei Verschwenderei, denn Worte und Papier, was bringen sie dir. Erinnerungen hin und her, Gedanken sind Phrasen, Gedanken sind phrasenhaft und er spielt mit Gedanken, all das zu vergessen, hinab zu gleiten in das unbewusste Sein, sein Abscheiden der Gesellschaft, sein Herabschreiten in alles oder nichts, denn es ging um alles oder nichts.
Vermag zu keinem Entschluss zu kommen, aber wieder hört er einen einfahrenden Zug, wieder die Lispelstimme, die sagte:
"Einsteigen— bitte! Zurückbleiben— bitte!"
Stürmende, hetzende, wetzende Menschenmassen, behangen mit Taschen, Körben, Kindern, Partnern und Hunden. Täglich sitzt er hier, gemalt wie von Picassos Hand, wie ein Gemälde, sitzend auf dem Bahnhof, Name: Ostkreuz und immer hundertmal täglich: Einsteigen— bitte. Zurückbleiben— bitte.
Die Liebe am Ostkreuz hatte er getroffen, aber auch dort gelassen. Erinnerungen und Gedanken an sie. Die Liebe für ihn war spielerisch, denn ist die Liebe nicht ein Spiel?
Juliane Jeske
Bahnhofsmission
Wir möchten die Geschichte von Oleg erzählen. Eine Geschichte, die gewöhnlich und ungewöhnlich zugleich ist. Sonntagstraße 17 — so die Adresse dieses eigenartigen, manchmal hektisch wirkenden Mannes, dessen lockig raues, schwarzes Haar das offensichtliche Leiden an schuppiger Kopfhaut kaum zu verbergen vermag. Hinter zwei Gläsern gegen die Kurzsicht blinzeln unentwegt und völlig nervös zwei dunkelbraune Augen. Diese periodischen Zuckungen der Augenlider sind vermutlich ein Ergebnis des netzhautmissbrauchenden, täglichen Gestarres auf den PC-Bildschirm. Wie er mit dieser offensichtlichen Überstrapazierung seines Sehnervs noch lesen kann, ist ein Rätsel. Und Oleg liest viel — Stendhal, Molière oder die GEO, seine Wohnzimmerschrankwand gleicht in Größe und Fülle einem Bibliotheksregal.
Der 31-jährige war bisher nie mit einer Liebe beseelt und seine sozialen Kontakte beschränkten sich auf das Schrippen Kaufen beim Bäcker und das monatliche Kaufen der ABC-Monatskarte immer am Ersten, immer am Ostkreuzschen Fahrkartenschalter. Von da aus auch fährt er jeden Tag pünktlich zur Arbeit; und wenn er nach Feierabend mit der letzten Bahn am Gleis 14 hält, macht er es sich manchmal auf einem der Stühle der letzten Sitzgruppe bequem und schweigt vor sich hin und versucht in der Stille Geräusche wahrzunehmen. Wenn er ein Papiertaschentuch in der Jackentasche hat, reißt er unentwegt kleine Stücke davon ab und rollt sie zu Kügelchen und versucht sie auf die Schienen zu schnipsen. Da der Bahnhof nachts trotz eingestellten Zugverkehrs nicht abgeschlossen wird, vergeht die Zeit, ohne dass es ihn kümmert. Warum er da sitzt, fragt er sich dennoch jedes Mal und warum er nicht nach Hause geht. Vielleicht ist es das nun menschenleere Gleis, das am Tage so gut besucht ist, das ihn aus unerfindlichen Gründen fesselt. In einsamer Wichtigkeit schaut er dann zum Wasserturm hinüber. Oleg ist auch jemand, der immer noch mal nachfragt, wenn er etwas längst verstanden hat, um auf diese Weise ein noch so bedeutungsloses Gespräch bedeutend zu machen. Auf seiner Arbeit hingegen ist er eher der wortkarge Typ, der sich trotzdem großer Beliebtheit erfreut, da die Redakteure, die für seinen Arbeitgeber schreiben, ihn um sein computertechnisches Fachwissen und seine augenscheinlich quadratische Art zu denken beneiden, die ihnen so manches mal den Anus gerettet hat, weil Oleg spurlos verschwundene Artikel aufspüren kann. Privat hat jedoch keiner seiner Kollegen weiter mit ihm zu tun, denn man nimmt an, der Laptop belege seine eine Doppelbettseite.
An einem kalten Dezembermorgen stand er wie üblich auf dem Bahnsteig und wartete auf seine Bahn Richtung Schönefeld. Er biss in einen fast aufgegessenen, giftgrünen Apfel und verharrte einen Moment, als er eine Frau mit orangeroten Haaren erblickte. Er dachte an etwas Schönes. Ihr war kalt und deshalb tippelte sie mit den Füßen hin und her. Sie studierte den Abfahrtsplan und er sah darin die Begründung dafür, sich in ihre Nähe begeben zu können. Er dachte auch, dass er, bevor er dies täte, den Apfel mal von seinem Mund entfernen müsste, der, wie ihm schien, durchaus schon sehr lange mit ins Fruchtfleisch gebohrten Zähnen an den Lippen hing, da die Gier, nach einem Weibe zu starren, alle anderen Tätigkeiten leicht in den Hintergrund rücken lässt. Den Griebsch also schmiss er vorschriftsmäßig in den entsprechenden Mülleimer. Mit übertriebener Gelassenheit begab er sich zu der Rothaarigen, die sein plötzliches Erscheinen mit einem flüchtigen Blick quittierte. Während er so tat, als suchte er seine Abfahrtszeit, träumte er davon, wie er sie ansprechen und spontan den Tag Tag sein lassen würde und vielleicht um den Müggelsee spazieren würde. Einen Strauß Blumen würde er ihr pflücken, weil in seiner Fantasie Sommer ist.
"…Nee. Ich muss zur Arbeit und Gott weiß, wohin die jetzt muss und überhaupt, war ja auch nur so 'ne Idee." Als er nun zwischen der vermeintlichen Möglichkeit des Ansprechens und der, es zu lassen, abwägte, kribbelte seine Nase und er spürte die Kraft eines heranwallenden Niesens und widersetzte sich ihr nicht, sondern sah sich in Anwesenheit dieser fremden Dame gezwungen, die Hand zum Munde zu führen, durch deren Fingerlücken ein paar Schleimtröpfchen entwischten, die auf der Fahrplanscheibe ein Ziel gefunden hatten und im Licht der einfallenden Wintersonne glitzerten. Oleg verzog das Gesicht, die Rothaarige stiefelte angewidert davon. Glücklicherweise wusste sie bereits, welche Bahn sie heute Abend zu nehmen hatte, damit sie rechtzeitig zur Orchesterprobe erscheinen würde. Genuives ist Kontrabassspielerin. Am gleichen Abend kam sie mit einem der letzten S-Bahnzüge am Ostkreuz an und wünschte sich nichts mehr, als die Füße hoch zu legen. Eine nicht ganz auskurierte Angina quälte sie seit nunmehr zwei Wochen und ab und zu wurde ihr heute schon schwarz vor Augen. Das Umherschleppen ihres neben ihr doch sehr groß — geradezu bombastisch wirkenden Kontrabasskoffers, erleichterte ihr Vorankommen nicht unbedingt. Beim Aussteigen schon merkte sie, dass ihr schlecht wurde und alle Zeichen deuteten auf eine sich anbahnende Ohnmacht hin. Sie hatte nur noch die letzte Sitzgruppe des Bahnsteiges vor Augen, zu der sie sich vorkämpfen wollte, um nicht einfach umzufallen. Den Koffer lehnte sie an die Scheibe des Wartehäuschens, um dann letztendlich doch selbst innerhalb weniger Sekunden einfach nur weggetreten dazuliegen. Ein Sicherheitsservicemitarbeiter sah wenig später den leblosen Frauenkörper und eilte mit Besorgnis zu diesem hin. "Schaffhäuser hier. Einen Krankenwagen!", funkte er die Kollegen in der Zentrale an, denn alle Versuche das blasse, zierliche Persönchen in die Realität zurückzuholen, schlugen fehl. Auch beim Eintreffen des Krankenwagens war Genuives Zustand unverändert. Man fuhr sie in die Poliklinik und legte ihr sofort eine Infusion. Ihr Arbeitseifer und Ehrgeiz verboten es ihr, in der nahe liegenden Vergangenheit an ihre Gesundheit zu denken und so musste sie sich mit 39 Grad Fieber und wiedergewonnenem Bewusstsein den lehrerhaften Vortrag eines Assistenzarztes in der Notaufnahme anhören. Als die Fieber senkenden Arzneien ihre Wirkung zeigten, empfahl man ihr, ein Taxi für den Nachhauseweg zu wählen. Als die Straßenlichter der Petersburger wie ein Schleier an ihr vorüber zogen, schrie sie plötzlich schüchtern auf: "Mein Kontrabass! Äh, S-Bahnhof Ostkreuz bitte!", befahl sie dem Taxifahrer regelrecht, der nur ein schwaches "Ja" brummte und verständnislos mit dem Kopf schüttelte. "Ein Uhr 45, mein Kontrabass! Verstehen Sie? Ich hab ihn auf dem Bahnsteig vergessen, beziehungsweise… ach egal. Beeilen Sie sich bitte einfach, ja?" Die Hitzewallungen, die sie nun aufgrund ihrer Erregung über den erst jetzt bemerkten Verlust überfielen, waren ihrer Verfassung nicht gerade zuträglich. Es dauerte nicht lange und Genuives stand wie versteinert vor der einsamen Sitzgruppe und blickte mit leeren Augen hinüber zum Wasserturm.
Circa eine Stunde zuvor fuhr die letzte Bahn aus Schönefeld ein, aus der Oleg stieg um seinem "Gleis-14-Hobby" zu frönen. Er ließ sich wie immer auf der letzten Sitzgruppe nieder und bemerkte erst nach einer Weile den Kontrabasskoffer. Verwundert durchsuchte er die nähere Umgebung nach besitzanzeigenden Personen. Niemand da, außer ihm und dem Koffer. Einen Moment lang beobachtete er ihn, schaute dann wieder rüber nach Rummelsburg. Im Stillen hatte er längst beschlossen, den ominösen Koffer beim Losgehen einfach mitzunehmen.
In der Sonntagstraße angekommen lagen nun nur noch fünf Etagen zwischen seinem Fundstück und dessen neuem Zuhause. Oleg schloss die Tür auf und linste noch mal kurz zum Spion der Nachbarstür, als würde dieser seinen neuen Besitz sofort als Diebesgut enttarnen. Zunächst stellte er das Objekt neben die Ritterrüstung im Flur. Die hatte er sich vor Jahren als Dekorationsaccessoire zugelegt, weil sie ihn an seinen Traum aus Kindertagen erinnert, ein ehrenwerter Ritter zu werden — nicht irgendein Konjunkturritter, nein, Oleg selbst, ja er höchstpersönlich würde im Alleingang, keine Gefahr scheuend, den Drachen besiegen und die Prinzessin befreien — so oder so ähnlich jedenfalls. Als er dann älter wurde, musste er mit großem Bedauern feststellen, dass heutzutage niemand mehr einen solchen Ritter braucht. Lediglich der Traum und die Eigenwilligkeit, die auch der Rest seines Wohnungsinterieurs ausstrahlt, sind ihm geblieben. Nachdem er Jacke, Schal und Mütze abgelegt hatte, konnte er seine Aufmerksamkeit voll und ganz dem Instrumentenkoffer widmen. Schlitzohren gleich öffnete er diesen, als würde er den Aktenkoffer nach einem Juwelenraub öffnen und auf das Strahlen der sich darin befindenden Diamanten warten. Stattdessen lag wie schlafend ein wunderschönes Instrument vor ihm gebettet auf tannengrünem Satin. Behutsam nahm er es heraus und zupfte könnerhaft an den Saiten, als ihm ein kleiner, gefalteter Zettel ins Auge fiel. Darauf geschrieben stand in Blockschrift: "GENUIVES PRIMAVERA, LENBACHSTRASSE 6, 10245 BERLIN". Oleg sprach den Namen noch mal laut aus: "Genuives Primavera", und wendete verdutzt den Zettel, um nach weiteren Informationen zu fahnden. Nichts.
Genuives derweil lag unruhig und wach, wie sie es oft bei Vollmondnächten tut, und betrachtete ihren Kunstdruck von Dalí, "Die Madonna von Port Lligat", und wartete auf irgendein Zeichen, dass ihr den Verbleib ihres ach so geliebten Kontrabasses verrät. Um sich abzulenken, wusch sie Wäsche. Teilnahmslos starrte sie in die Scheibe der Waschtrommel und dachte: "Ein neues Instrument. Das muss erst eingespielt werden. Jeder wird hören, dass es neu ist." Und während sie sich fragte, woher sie überhaupt das Geld dafür nehmen sollte, klingelte es an der Tür. "Fünf Uhr morgens?", erschrak sie kurz und schlich zur Sprechanlage. "Ja?"
Ihr Besuch ließ sich mit seiner Antwort Zeit: "Entschuldigen Sie die späte Störung. Mein Name ist Oleg, … Oleg Losow", seine Stimme klang sympathisch, "ich hab ihre Adresse gefunden — in dem Kontrabasskoffer meine ich. Ich wollte ihn zurückgeben." Genuives durchfuhr ein wohliges Gefühl, vergleichbar mit dem Gefühl, das man hat, wenn die Sonne einem das Gesicht wärmt, nachdem der Himmel wochenlang bewölkt und grau die ohnehin schon enge Stadt zerdrückte. Wortlos betätigte sie den Summer und eilte in das Treppenhaus hinaus dem ehrlichen Finder entgegen. Oleg traute seinen Augen kaum: "Die Rothaarige!", konnte er seine Feststellung grade noch für sich behalten. "Warten Sie, ich trag es Ihnen hoch", winkte er ihr Angebot zu helfen ab. Oben angekommen versuchte Genuives ihre Freude zu zügeln. "Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Also es ist ja prinzipiell schon Frühstückszeit. Sie… ach, tun Sie mir doch den Gefallen und lassen Sie sich auf einen Kaffee einladen." Aus einem Kaffee wurden zwei.
Horst-M. Müller
Am Ostkreuz
’ne Fete wie’s sie öfter gibt:
ich sehne mich nach Frauenhaut
und – haar, nach ihren Körpersäften
will spüren, schmecken, riechen.
Wir reden, lachen
und du rauchst
du trinkst
(ach würdest du das lassen,
statt dessen mit mir … ?)
Wir gehen zum Ostkreuz,
du sagst mir Namen
und dein Telefon
Abschied ohne Zärtlichkeit
gut gebremste Emotion
darüber Stahl, Beton und alte Bretter.
Die Bahn rast durch die Winternacht
— wär’s Sommer
begänn es jetzt zu dämmern—.
Erinnerung an dein Gesicht
das Mal auf deiner Stirn.
Und deine Seele?
wie verletzlich
ist wohl
deine
Seele?
Doris Bewernitz
Amors Durchbruch
Ein Schicksalsstück in sechs Akten
I. Akt
"Verstanden?!", fragt das Schicksal streng. Amor nickt. "Dann wiederhole die Namen. Nicht dass du wieder alles verdirbst. Im Übrigen sind die Sechs morgen in Berlin."
Amor beißt sich auf die Lippen und schluckt seinen Ärger herunter. Er zählt auf: "Irina Konstantin mit Pjotr Andrejowitsch, Astrid Valmi mit Yasim Puti, Andrea Züllow mit Fred Vollmer."
"Die Fotos liegen im Archiv für dich bereit."
"Ich weiß." Diesen Kommentar kann er sich nun doch nicht verkneifen. Wieso behandelt ihn das Schicksal eigentlich immer wie den letzten Deppen? Schließlich hat er oft genug erfolgreich gearbeitet. Wenn es auch einige Male, zugegebenermaßen, gründlich schief gelaufen ist. Aber lag das einzig und allein an ihm? Diese Menschen heutzutage wollten sich doch gar nicht mehr verlieben! Und selbst wenn er es geschafft hatte, waren die meisten nicht nach ein paar Wochen wieder auseinander gerannt? Was für eine schöne Zeit hatte er vor zweihundert, dreihundert Jahren! Da wurde sich noch anständig verliebt, geschmachtet, irgendwann verlobt und schließlich geheiratet. Ach ja!
"Träum nicht schon wieder! Wie willst du jemals anständig arbeiten, wenn du nie bei der Sache bist!"
"Ich bin bei der Sache."
"Hoffentlich. Und vergiss die Bilder nicht!"
Die sechs Pfeile, die ihm das Schicksal reicht, drei rote für die Frauen und drei blaue für die Männer, steckt Amor trotz seines Ärgers behutsam in den Köcher. Optimistisch schwingt er den Bogen über die Schulter. Er hat schon einen Plan. Diesmal wird es glücken. Er will sich nicht wieder anhören, dass er für seinen Job unfähig sei. Nur weil er selbst noch keine Frau gefunden hat, wie böse Zungen behaupten. Er wird es ihnen zeigen. Es gibt da in Berlin so einen belebten S-Bahnhof, da wird er sie aufeinander treffen lassen. Dann kann er alles auf einmal erledigen und hat noch Zeit für einen Stadtbummel.
Der Archivar erwartet ihn schon.
"Na Kleiner, hab gehört, du hast in Berlin zu tun? Das wird ja bestimmt nicht einfach."
"Fängst du auch schon an auf mir rumzuhacken?"
"Sei doch nicht immer so empfindlich. Schließlich hast du dich in letzter Zeit nicht mit Ruhm bekleckert."
"Ich kann es schon bald nicht mehr hören. Ihr habt ja keine Ahnung, wie es da unten zugeht. Du sitzt hier in deinem Archiv — na prima. Hier ist es wie immer…"
"Komm schon, nichts für ungut. Hier sind die Bilder. Mein Gott, was für eine Menge Alleinstehende es in dieser Stadt gibt. Da habt ihr noch Arbeit für Jahre, du und deine Kollegen!"
"Das heißt Singles."
"Was?"
"Man sagt nicht mehr Alleinstehende, das heißt jetzt Singles."
"Merkwürdig. Naja. Sehen ja nicht schlecht aus, die sechs Einsamen, aber hier guck mal, die beiden sind schon ganz schön alt, findest du nicht?"
"Zum Verlieben ist man nie zu alt – und ab morgen gibt’s sechs Singles weniger in Berlin."
"Na wollen wir es hoffen", murmelt der Archivar, was Amor so ärgert, dass er grußlos aus der Tür rauscht. Warum traut ihm eigentlich keiner etwas zu? Ihm, der auf eine Familientradition von sechs Generationen zurückblicken kann und sogar noch den Bogen seines Urgroßvaters benutzt? Er wird es ihnen allen zeigen.
II. Akt
Irina steht auf dem oberen Bahnsteig Richtung Grünau. Sie friert, obwohl sie in einen dicken schwarzen Wollmantel mit Pelzkragen gehüllt ist, aus dem ihr zartes Gesicht wie ein verfrorenes Mausekind herauslugt. Vom Schicksal ist sie also Pjotr zugedacht, doch das weiß sie nicht. Ja, sie kennt ihn noch nicht einmal.
Pjotr steht auf dem unteren Bahnsteig Richtung Spandau und kauft sich zwei Navelorangen am Obststand. Er stampft mit den Füßen auf die kalten Steine. Nicht vor Kälte. Und nicht etwa vor Wut. Pjotr ist ein friedlicher Mensch. Er stampft aus Sehnsucht. Sehnsucht ist sein einziges Problem, und zwar Sehnsucht erstens nach einer Frau und zweitens nach seiner Heimat. Gerade jetzt, in dieser vorweihnachtlichen Zeit, wird die erste Sehnsucht wieder richtig quälend. Und deshalb kauft er zwei Apfelsinen. "Vielleicht", denkt Pjotr, "treffe ich sie ja heute. Ich habe so ein Gefühl. Und dann kann ich ihr eine Apfelsine schenken." Wie wir sehen ist Pjotr sehr romantisch veranlagt.
Irina und Pjotr stehen nur knappe fünfzig Meter Luftlinie voneinander entfernt. Amor, der sich mehr schlecht als recht zwischen ihnen auf dem Dach eines Bäckerstandes postiert hat, flucht leise vor sich hin. Das mit den verschiedenen Bahnsteighöhen ist sehr unangenehm. Das glaubt ihm nachher wieder keiner. Als wolle er sich selbst verhöhnen, fällt ihm jetzt auch noch der passende Satz aus dem Lehrbuch für Engel ein: "…eine vorherige Ortsbegehung ist anzuraten."
Die Menschenmassen auf diesem Bahnhof bringen ihn völlig durcheinander.
"Konzentriere dich!", sagt er zu sich selbst, "geh an die Arbeit!"
Schon seit Jahrzehnten beschäftigt ihn die Frage, wie es möglich wäre, die Pfeile in Richtung Mann und Frau gleichzeitig abzuschießen. Die durch das Nacheinander entstehende Zeitverzögerung senkt die Erfolgsquote ganz erheblich, davon ist Amor überzeugt. Am Anfang des vorigen Jahrhunderts organisierte er sogar eine Konferenz der weltweit tätigen Liebesengel zu diesem Thema, die außer einigen akrobatischen Übungen (gleichzeitiges Schießen mit zwei Armbrüsten, was nur wenigen gelang) leider nicht sehr erfolgreich war. Amor seufzt tief auf.
Er legt seinen Bogen in Richtung Irina an. Zieht, zielt, schießt. Und trifft. Irritiert greift sie sich mit dieser unnachahmlichen Geste ans Herz, wie nur frisch getroffene Frauen sie zustande bringen. Trotz seiner langen Berufserfahrung steigen Amor auch diesmal wieder Tränen der Rührung in die Augen. Rasch wendet er sich Pjotr zu, aber sei es die Taube, die just in diesem Moment über das leicht schräge Dach läuft, sei es seine tränenbedingte Sichteinschränkung — der blaue Pfeil landet nicht in Pjotrs Herz sondern in einer der beiden Apfelsinen, die er immer noch sehnsuchtsversunken in den Händen hält. Pjotr erwacht aus seinen Träumereien und schaut verwundert nach oben. In diesem Moment fährt der Zug nach Grünau ein und Irina betritt ihn. Verzweifelt muss Amor mit ansehen, wie sich die Blicke der beiden genau in dem Moment begegnen, als sich Irinas S-Bahn in Bewegung setzt.
"Was für ein schöner Mann da unten", denkt Irina. (Sie denkt es natürlich auf Russisch). Pjotr denkt gar nichts. Er steht lange Zeit wie angewurzelt auf dem Bahnsteig.
Dann zieht er den kleinen blauen Pfeil aus der Apfelsine und steckt ihn sich an den Jackenkragen.
III. Akt
Amor ist Kerl genug, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, statt lange über das Missgeschick zu lamentieren. Obwohl sein Stresspegel schon deutlich gestiegen ist. Mit Erleichterung stellt er fest, dass seine nächsten Klienten beide auf einem Bahnsteig angekommen sind.
Astrid kauft sich einen Kaffee am Ditsch-Stand. Sie hat es eilig. Sie ist unterwegs zu einem Bewerbungsgespräch und sehr darauf bedacht, sich den Kaffee nicht über den roten Wollrock zu schütten. Hinter ihr steht Yasim, der heute den ersten Tag in Berlin ist, untergekommen bei einer Tante seines Cousins, die ihm sogar etwas Geld vorgestreckt hat. In ihrer Wohnung erstickte er allerdings vor lauter Plüsch und Spitzendeckchen und flüchtete in die riesige fremde Stadt. Nun weiß er nicht, wo er eigentlich hin will. Die Frau, die da vor ihm steht, gefällt ihm ausnehmend gut. Er würde sie gerne ansprechen. Aber leider mangelt es ihm an den nötigen Deutschkenntnissen.
"Einen Kaffee bitte", hört er sie sagen.
Als Astrid zur Seite tritt, rutscht sie auf einem Stück gefrorener Pizza aus und Yasim greift ihr instinktiv unter den Arm, um sie am Fallen zu hindern. Dabei schwappt ihr Kaffee und ergießt sich über ihren Rock. Yasim versteht nicht, warum die Frau mit weit geöffnetem Mund erst zu fluchen und dann zu weinen anfängt, als wäre ein großes Unglück geschehen. Er findet eher, dass ein Glück geschehen ist, denn er hat jetzt ihren Arm in seiner Hand und diesen Zustand würde er gerne beibehalten.
Die Frau scheint völlig verzweifelt zu sein. Doch als sie einmal kurz hoch schaut und Yasim ins Gesicht blickt, durchfährt es sie wie der Blitz. Wir ahnen schon, dass Amor genau in diesem Augeblick seinen roten Pfeil abschoss.
Astrid trocknet ihr Gesicht mit einem Taschentuch ab, während sie hervorstößt: "Ich habe ein Bewerbungsgespräch. Was mache ich denn jetzt bloß?"
"Würden Sie mal zur Seite gehen!", sagt ein dicker Mann mit Hund hinter Yasim, "man kommt ja hier gar nicht ran!"
Yasim hat Astrids Arm inzwischen doch losgelassen. Er ist irritiert. Er wüsste gern, was die schöne Frau da eben zu ihm gesagt hat. Es klang sehr emotional. Vielleicht galt es ihm? Sie weint jetzt auch nicht mehr. Ihren halbvollen Kaffeebecher hält sie ratlos in der Hand wie einen unbekannten Gegenstand. Sie blickt dem schwarzhaarigen Mann geradezu hypnotisiert in die Augen. "Na bitte", sagt Amor auf seinem Dach zu sich selbst, während er den blauen Pfeil aus dem Köcher zieht, "sie unterhalten sich schon."
"Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?", fragt Astrid. Aber Yasim versteht sie nicht, obwohl ihn in diesem Moment der Pfeil erreicht, exakt in der Herzmitte. Er spürt es wie einen leichten elektrischen Schlag.
"Ich Yasim", sagt er und schaut ihr in die grauen Augen, die ihn mehr als alles faszinieren. Eine Weile stehen sie schweigend da. Er merkt, dass die Frau ihm etwas sagen will. Sie merkt, dass dieser Mann sie magisch anzieht. Das Bewerbungsgespräch tritt in den Hintergrund ihres Bewusstseins. Der Kaffeefleck auf dem Rock breitet sich langsam aus. Astrid lächelt verlegen und Yasim findet sie noch schöner.
Amor genießt diesen Anblick. Er freut sich. Er ist also doch kein Versager.
"Ich bin Astrid", sagt sie, "dieses Bewerbungsgespräch — so kann ich doch da nicht hin." Sie deutet auf ihren Rock. Yasim missversteht diese Geste und schüttelt beschämt den Kopf. Nein, denkt er verwirrt, so hatte sein Vater doch recht? Es stimmt also, dass alle Frauen in Deutschland verdorben sind, sündig, mit jedem ins Bett wollen, auf der Stelle… das ist ja furchtbar! Erschrocken dreht er sich um und rennt die breite Treppe zum oberen Bahnsteig hinauf als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Auf der Treppe zögert er kurz. Diese Frau hatte etwas… nein, aber so geht das doch nicht! Oben springt er sofort in die einfahrende S-Bahn, um nicht die schöne Frau mit den grauen Augen zu sehen, die immer noch dort unten steht, wie verloren.
Wenig später läuft Astrid auf den oberen Bahnsteig. Aber da ist Yasim schon fort.
Amor versteht die Welt nicht mehr.
IV. Akt
Andrea ist aufgeregt. Ob es heute klappt? Es ist ihr drittes Annoncentreffen. Diesmal hat sie ein gutes Gefühl. Ein wirklich interessanter Gesprächspartner war das gestern am Telefon. Er machte einen geistreichen Eindruck und war so offen. Aber sie ist alt genug um zu wissen, dass ein Telefongespräch noch nichts heißen muss. Wie er wohl aussieht? Es ist nicht einfach, wenn man fast fünfzig ist.
Mit klopfendem Herzen begibt sie sich zum Fahrkartenschalter, Ausgang Sonntagstraße.
Fred zupft noch immer an seinem Schlips herum. Allzu oft trägt er keinen und es bereitet ihm Mühe, sich die Knotentechnik zu merken. Er hat das erste Mal auf so eine Annonce geantwortet und ist immer noch ganz beeindruckt von dem gestrigen Gespräch. Die Ansichten der Frau gefielen ihm. Auch ihre Stimme. So weich.
Als er aus der S-Bahn steigt, amüsiert ihn der Gedanke, dass sämtliche Menschen, die er hier sieht, den Bahnhof nur aufgesucht haben, um sich mit jemandem zu treffen. Fred genießt die Vorstellung, dass sie nachher alle Hand in Hand den Bahnhof verlassen und die umliegenden Cafés aufsuchen. Er fragt sich, wie viele Singles es wohl in Berlin gibt. Er läuft die Treppen zur überdachten Fußgängerbrücke hinauf und begibt sich hoffnungsfroh zur Schalterhalle.
Auch Amor landet nach dem erfolglosen Absuchen aller acht Bahnsteige dort. Er erkennt die beiden sofort. Eine klassische Situation. Sie gehen in dem Moment aufeinander zu, als er die Halle erreicht. Amor beginnt zu schwitzen. Er darf sich jetzt keinen Fehler mehr erlauben. Warum zittern denn seine Finger? Warum sind seine Hände so feucht? In höchster Konzentration legt er den Bogen an und zielt auf das Herz von Fred…
Plötzlich gibt es einen lauten Knall.
Fred bleibt erschrocken stehen und auch Andrea blickt in Amors Richtung. Zu erkennen ist allerdings nur eine Staubwolke. Niemand sieht den weinenden kleinen Engel in ihr, der auf dem Boden sitzt, in jeder Hand eine Bogenhälfte. Der gute, alte, liebe Bogen seines Urgroßvaters ist zerbrochen. Amor ist vor Schreck erstarrt. Nun ist es aus mit ihm. Und wieder kommt ihm der passende Satz aus dem Lehrbuch für Engel in den Sinn: "Immer Ersatzwerkzeug dabei haben…"
Durch Tränen und Staub nimmt er undeutlich wahr, wie Andrea und Fred sich höflich, aber sehr kurz unterhalten, um dann in verschiedenen Richtungen davonzugehen. Nun weiß er, dass er versagt hat. Dass sie recht haben, das Schicksal, der Archivar und die anderen himmlischen Kollegen. Dass er unfähig ist.
Völlig kraftlos bleibt er auf den kalten Steinen sitzen.
V. Akt
"He du!", wispert eine feine Stimme neben ihm.
Was ist das? Wird er jetzt zu allem Übel auch noch seiner Unsichtbarkeit beraubt?
"Sei nicht traurig!"
Amor starrt in Richtung Stimme, kann aber vor lauter Staub nichts entdecken.
"So was passiert eben, ich kenne das."
Langsam lichtet sich die Staubwolke. Amor glaubt seinen Augen nicht zu trauen. Vor ihm steht ein ganz und gar liebreizender männlicher Engel, so groß wie er selbst, mit frecher Stupsnase und strohblonden Locken, und lächelt ihn an.
"Wer bist du?"
"Dein Kollege. Na komm schon. Ich hab gesehen, wie dir heute alles schief gelaufen ist. Lass uns einen Kaffee trinken gehen." Dieser Satz kommt Amor irgendwie bekannt vor. Noch ganz benommen steht er auf und klopft sich den Staub von seinem Gewand. "Nicht nur heute," sagt er dann fast trotzig, "es ist schon lange so. Ich tauge zu nichts mehr."
"Na, na", entgegnet der andere auf eine so liebevolle Art, dass es Amor ganz warm ums Herz wird. Und plötzlich bricht all sein Unglück aus ihm heraus: dass er sich als Versager fühlt, dass er zu alt ist, dass er die Welt nicht mehr versteht, dass er heute nicht ein einziges Paar zusammengebracht hat… Seine Tränen laufen jetzt hemmungslos und es tut ihm so gut, so unendlich gut, das alles mal erzählen zu können, in seinem Schmerz nicht immer nur alleine zu sein. Nach einer Weile holt sein Gegenüber mit einer rührenden Geste ein kleines rosa Taschentuch aus dem Engelsgewand, fasst zärtlich Amors Kopf und wischt ihm die Tränen ab. Dieser weiß nicht, wie ihm geschieht. Immer muss er in die taubenblauen Augen schauen. Was ist nur plötzlich mit ihm?
Bis in die späte Nacht ziehen zwei Engel durch Berlins Straßen und haben sich viel zu erzählen. Und nicht nur das.
VI. Akt
"Und?", fragt das Schicksal, "warst du erfolgreich?"
Es sitzt an seinem großen Schreibtisch und blättert konzentriert in riesigen verstaubten Aktenbergen.
"Sehr."
In diesem einen Wort liegt soviel Selbstbewusstsein, Stolz und Freude, dass das Schicksal unwillkürlich aufblickt. Mit allem hat es gerechnet, aber nicht damit, zwei Engel vor sich zu sehen, eindeutig bis über die Ohren verliebt, Händchen haltend wie zwei Teenager.
"Was ist denn das…"
"Ich war in doppelter Hinsicht erfolgreich", beginnt Amor, "erstens habe ich den Mann meines Lebens gefunden und zweitens habe ich das Problem der zeitverzögerten Pfeile gelöst. Wir möchten in Zukunft als Team arbeiten. Einer kümmert sich um die blauen Pfeile, einer um die roten…" — "…unter Umständen auch jeder um einen blauen…", ergänzt sein Freund grinsend.
"…oder jeder um einen roten, je nach dem", meint Amor, "jedenfalls können wir so sicherstellen, dass die Menschen, auf die es ankommt, sich zeitgleich verlieben…" — "…was ja wichtig wäre", fügt sein Freund hinzu und lächelt wieder sein unglaubliches Engelslächeln.
Das Schicksal starrt die beiden eine Weile ungläubig an. Und dann geschieht etwas höchst Seltenes. Etwas, das nur alle eintausendzweihundertdreiundsiebzig Jahre vorkommt, immer dann, wenn das Schicksal etwas Neues begreift. Beginnend mit kleinen Glucksern, als hätte es sich verschluckt, fängt es an zu lachen. Erst ganz leise. Es klingt ein bisschen eingerostet, was ja nach so langer Zeit kein Wunder ist. Das Schicksal klopft sich auf die Schenkel und lacht aus vollem Herzen. Zwischendurch schnappt es nach Luft und ruft: "Einverstanden! Ein – ver – stan – den!! Das ist genial!"
Sein Lachen scheint den ganzen Himmel anzustecken. Es poltert immer lauter und gewaltiger aus ihm heraus, bis ihm schließlich die Tränen aus den Augen springen, im Zickzack an den alten verschrumpelten Wangen herunter laufen und im Bart versickern.
Brigitte Apel
Die Bahnhofsbank
Sie ging einfach rüber, wie fast jeden Tag. Damals gab es zwar Sektorengrenzen, aber keine Mauern. Sie ging zum S-Bahnhof Treptower Park, erstens, weil es der nächste war, und zweitens natürlich, weil sie für 40 Pfennig Ost hin und zurück fahren konnte, wohin immer sie wollte. Heute war Sonntag, und sie wollte nicht zum Zoo fahren, wie sonst immer zur Arbeit, nein, heute fuhr sie erst mal bis zum Bahnhof Ostkreuz. Dort hatte sie ein Rendezvous mit ihrem Freund. Weiß der Kuckuck, warum gerade am Ostkreuz — aber anscheinend war es an der richtigen Linie für beide, sie wollten nämlich raus fahren zum Baden. Die Badetasche flott über die Schulter gehängt, ging sie den lang vertrauten Weg, vorbei an ihrer alten Grundschule, wo sie eingeschult worden war, und die sie drei Jahre besuchte, bis es eine neue Schule im Westsektor gab. Vorbei an der geliebten Buchhandlung Plesser- Ecke Elsenstraße, wo sie immer Reclambändchen für die tägliche S-Bahnfahrt kaufte, heute war keine Zeit für schmachtende, sehnsuchtsvolle Blicke ins Schaufenster. Vorbei auch an der alten roten Backsteinkirche, wo sie vor Tag und Tau mit ihrer Schwester den Kindergottesdienst besucht hatte. Nicht dass man bei ihr zu Hause besonders gläubig war, aber die Mutter meinte: da wüsste sie wenigstens einmal, wo sie sich herumtreiben. Ja, das konnte man verstehen, sie ging immer arbeiten und hatte keinen großen Überblick. Natürlich spielten alle Kinder damals in den Trümmern, das war das Größte überhaupt, und natürlich hatten die Eltern es streng verboten. Sie trieben sich in großen Gruppen auf den Straßen, Höfen und Plätzen herum, bauten sich ganze Wohnungen auf dem Fahrdamm, mit Decken und Puppenmöbeln, Stube, Küche, Schlafzimmer. Autos gab’s ja kaum. Und kam mal eines vorbei, dann war immer noch genügend Zeit, den Kram ein bisschen zusammenzuräumen, so schnell waren die damals nicht. Weit kamen sie sowieso nicht, nur bis zur Kontrollstelle ein bisschen weiter die Straße runter.
Sie kannte die Gegend ihr Leben lang, es war ihre unmittelbare Heimat. Durch einen kuriosen Zufall bei der Grenzziehung nach dem Kriege war ihre Straße geteilt in Ost und West, die eine Seite gehörte mit Vorgarten zum amerikanischen Sektor und die gegenüber liegende Seite, samt Kohlenplatz und schönen alten Häusern, gehörte zum Osten. Aber das interessierte die Kinder überhaupt nicht, Ost oder West, sie nahmen alles in Besitz.
Inzwischen war sie am Bahnhof angekommen, hatte die Fahrkarten gelöst, hin und zurück, was sonst, und wartete auf den Zug. Für sie war es das ganz normale Leben, hier zu stehen und sie blickte wie immer auf das riesige Gebäude der Elektro-Apparate-Werke Treptow, das zwischendurch, oder immer noch, Josef Stalin geheißen hatte, Elektro-Apparate-Werk-Josef-Stalin. Was für ein erstaunlich langer Name, mehr dachte sie dabei nicht. Die Empörung der Westler gegen den ganzen Osten konnte sie nie teilen, zu viel Gutes hatte sie erlebt, alltäglich Gutes. Natürlich waren sie immer im Osten einkaufen gegangen, das bisschen Geld, das da war, wurde umgetauscht, sonst hätten sie noch ärmlicher leben müssen. Zum Beispiel hatte sie als Kind ihr Taschengeld für "Blankes putzen", 40 Pfennig im Monat, bei ihrem Vater umgetauscht und damit mindestens vervierfacht, das bedeutete Kino, Badeanstalt, Eis essen, mehrfach. Das war doch was! Später, etwas älter, als Jugendliche, war es das schönste Spiel, über die Grenze zu gehen in der Hoffnung, die jungen Vopos würden sie nach dem Ausweis fragen …, dabei bekam man den doch erst mit sechzehn!!! Na, und die Losungen und Schriftbänder an den Häusern, die wurden nur milde belächelt, mit Politik beschäftigten die jungen Mädchen sich nicht, die hatten ganz andere Sorgen. So richtig konnte sie den ätzenden Spott und die hämischen Bemerkungen der Erwachsenen sowieso nicht verstehen, was war denn einzuwenden gegen: "Deutsche an einen Tisch" oder "Frieden und Völkerfreundschaft" — fand sie gut eigentlich, aber darüber redete man besser nicht, gab nur Streit. Nun wurde es aber langsam Zeit, die Bahn kam und sie fuhr die eine Station über die riesige alte Eisenbrücke, guckte runter auf die Spree, auf die Weiße Flotte, dachte kurz an die Ausflüge als Kind mit Vater, Mutter und Schwester nach Schmetterlingshorst, die einzigen Reisen, die die Familie je zusammen unternommen hatte, ach, schön war das! Heute aber wollten sie zum Wannsee raus fahren, ins Strandbad, wenn er nur schon da war und alles klappte.
Am Ostkreuz stieg sie vergnügt aus dem Zug und wandte sich freudig erregt der Treppe zu, um hinunter zu gehen, aber aus irgendeinem Grunde stolperte sie ein wenig und zerriss ihre Sandale. So ein Mist aber auch. Wie nur weitergehen? Diese Sandale wurde nämlich nur von einem Zehenriemen am Fuß gehalten und hing jetzt lose um ihren Knöchel herum. Mühsam und vorsichtig humpelte sie also die Treppe hinunter, und da war er schon und legte seine langen Arme um sie. So standen sie eine kleine Weile traumverloren im Menschengewühl, gingen dann zu einer Bank, das Schuhproblem musste ja irgendwie gelöst werden. "Weißt Du noch, als wir uns das erste Mal trafen, hatte ich auch ein Schuhproblem", sagte sie und er schmunzelte bei der Erinnerung daran.
Eigentlich war er der Freund ihrer liebsten Freundin, die sie gebeten hatte, sich mal mit ihm zu treffen, damit er nicht auf dumme Gedanken kam, während sie verreist war. Und ohne Arg oder Hintergedanken war sie natürlich auch bereit dazu. Es wurde ein Treffen ausgemacht, ganz unkompliziert, denn sie kannten sich ja schon, wenn auch flüchtig. Sie wusste also, dass er sehr groß und schlank und blond war, ein Student, sonst in Westdeutschland beheimatet. Um so groß wie nur möglich zu sein, wollte sie zu dem Treffen ihre einzigen hochhackigen Pumps anziehen, rot waren sie, und vom ersten Lehrlingsgeld gekauft. Leider waren die Absätze so abgelaufen, die konnte sie unmöglich anziehen, dann müssen es eben die Ballerinenschuhe auch tun, ganz, ganz flache, ärgerlich, aber nicht zu ändern. Der erste Treffpunkt war irgendwo an der Endhaltestelle der U-Bahn und da sie etwas zu früh da war, ging sie in eine Telefonzelle, um ein wenig mit einer Freundin zu plaudern. In Wirklichkeit aber, um nicht so offensichtlich auf jemanden zu warten…
Als sie ihn kommen sah, beendete sie ihr Gespräch, wollte aus der Zelle hinausgehen, stolperte über eine Kante und flog in seine Arme — "Das war aber nicht eingeplant, dass ich dir gleich an den Hals fliege", sagte sie — und er hielt sie gleich fest und sie lachten und lachten und verliebten sich auf der Stelle ineinander, es war einfach unaufhaltsam. Ach, du liebe Zeit, das war ja nun nicht vorgesehen, so richtig frei waren sie eigentlich beide nicht.
Inzwischen war die Sandale mit Hilfe einer Sicherheitsnadel notdürftig repariert und sie konnten ihren Ausflug starten, aber noch saßen sie umschlungen und ineinander versunken auf ihrer Bahnhofsbank. "Wenn es doch nur immer so bleiben könnte", dachte sie.
Eine bittere Aufgabe hatte sie noch vor sich, die ihr selbst völlig contre cœur ging. Sie musste ihm sagen, dass sie sich heute für längere Zeit zum letzten Mal sehen können, denn morgen würde ihr so genannter Verlobter nach Berlin kommen, eine Quatsch-Verlobung, natürlich würde sie nie im Ernst etwas so Spießiges tun, aber das war schon so lange geplant und verabredet, es gab einfach kein Zurück, so sehr sie das auch wünschte. Sie hatte überhaupt keine Lust mehr auf den anderen Kerl, natürlich nicht, wusste aber keinen anderen Rat, als alles zu erzählen. Wahrscheinlich war es das Ende dieser so beglückenden und locker begonnenen Beziehung. Er würde ohnehin in den Semesterferien nach Hause fahren müssen und erst zum Wintersemester wiederkommen. Einfach alles zu beenden war die einzige Lösung, die ihr eingefallen war — und sie war sehr erfindungsreich. Schließlich konnte sie dann auch ihrer zurückgekehrten Freundin wieder in die Augen sehen, erzählen konnte sie ihr die ganze Chose sowieso nicht. Unmöglich! Im Winter würde man dann weiter sehen.
Im Laufe des herrlichen Sommertages, beim Baden und Sonnen vergaß sie aber erst mal ihre Sorgen. Zu schön war es, gemeinsam mit ihm auf der Decke zu liegen, ganz nah beieinander, bisschen schmusen, reden, die mitgebrachten Vorräte aufessen, umschlungen an der Strandpromenade auf und ab gehen und Popcorn kaufen. Sie hatte einen nagelneuen Badeanzug an aus einem ganz super modernen Material, irgendein Kunststoff, der eng am Körper lag und schnell trocknete. Er schwärmte von ihrer schönen Rückenlinie — na, und natürlich von dem ganzen Rest.
"Kommst du nachher noch mit zu mir?" fragte er sie in diesen glücklichen Momenten, nein, musste sie sagen, heute geht es nicht, aber er war nicht verstimmt, ein andermal eben, für ihn war der Sommer noch lang.
Er hatte sie schon einmal in sein möbliertes Zimmer geschmuggelt, Damenbesuche waren natürlich streng verpönt, aber wie sie schon von ihrer Freundin wusste, hatte er einige Übung darin. Sie hatten auf dem Bett gelegen, denn Sitzen war nirgends möglich, bisschen Musik gehört, Wodka getrunken und hingerissen von ihrer Lebendigkeit und ihrer Neuköllner Schlagfertigkeit hatte er ihr übermütig Komplimente gemacht: er sprach von ihren schönen lachenden Augen und na ja, von der schon erwähnten berückenden Rückenlinie, das hörte sie natürlich gern, insgeheim war sie nicht seiner Meinung. Aber dann sagte er noch: "Du bist wie dieser Wodka hier und deine Freundin ist dagegen eher wie schales Bier". Entsetzt wies sie das zurück, so etwas wollte sie auf keinen Fall hören. "Warum bist du mit ihr zusammen?", fragte sie, und er antwortete, sie sei eben ein lieber Mensch und er hätte sonst niemanden. Das schien ihr akzeptabel zu sein und sie kuschelte sich wieder in seine Arme und ließ sich drücken und küssen und streicheln. Sie hatten es so gut miteinander. Was sie für den verheißungsvollen Vorfilm hielt, war für ihn aber schon die Hauptvorstellung. Na klar, jetzt fiel es ihr wieder ein, das hatte ihre Freundin auch mal berichtet und es wohl ganz in Ordnung gefunden, sie hatte es aber nicht recht glauben können. Als er ihr aber diese Liebesvariante auch noch als sicheres Verhütungsmittel anpries, lachte sie ihn aus und sagte, er sei einfach ein alter Egoist und maulte aus Spaß ein bisschen herum, wie sehr sie doch zu kurz gekommen sei. Aber nun war es doch spät geworden und sie musste unbedingt die letzte U-Bahn kriegen und weg war sie.
Heute also nicht, es ging nicht, ihre Eltern warteten, es gab jedenfalls überzeugende Gründe. Am späten Nachmittag fuhren sie gemeinsam zurück, er brachte sie wieder bis zum Ostkreuz und sie wollte und wollte ihn nicht gehen lassen, die Minuten dehnen, den bitteren Abschied hinaus schieben. So saßen sie wieder auf ihrer Bank und hielten sich fest. Als er dann fragte: "Sehen wir uns die Woche?", da erzählte sie die ganze vertrackte Geschichte ohne alle Ausflüchte. Aber sie spürte schon, wie er sich in ihren Armen ganz versteifte und als sie ihm ins Gesicht blickte, sah er aus, als hätte sie ihn geschlagen. Das war das Ende ihrer Geschichte — obwohl, noch nicht ganz.
Zum Semesterbeginn war er wieder in der Stadt und wollte sie treffen. Vielleicht doch ein Neubeginn, der so genannte Verlobte war längst weggeschickt, sie war frei. Ach, war sie froh, wieder von ihm zu hören, sie hatte es so sehr gehofft.
Sie trafen sich gleich bei ihm in seinem engen Zimmer, an der neugierigen Wirtin vorbei, und stürzten sich auf- und ineinander, hungrig und gierig und voller Leidenschaft, alle Missstimmung, Schmerz und Sorgen waren vergessen. Jedenfalls erlebte sie das so und war glücklich und erleichtert. Aber seine Wirklichkeit muss eine andere gewesen sein, denn bei ihrer nächsten Verabredung erschien er nicht und meldete sich auch nie wieder. Erst war sie verwundert, dann enttäuscht, sie kam sich benutzt vor. Ein bisschen feige und auch ein bisschen mies, fand sie es, sich so davonzustehlen. Sie begann die Nacht in einem etwas anderen Licht zu sehen: hatte er etwas beweisen wollen oder müssen, ihr oder sich selbst? Eine Retourkutsche auf ihr leises Gespöttel wegen der sicheren Verhütungsmethode? Oder weil sie ihn so sehr verletzt hatte, dort auf der Bank am Ostkreuz, wollte er ihr nun auch Schmerz zufügen. Es war bitter, das nie wirklich erfahren zu können. Telefonisch erreichte sie ihn nicht und auf ihren Brief bekam sie keine Antwort.
Merkwürdigerweise traf sie ihn manchmal wieder in der großen Stadt. Im Frühsommer des folgenden Jahres sah sie ihn mit einer deutlich schwangeren Frau den Kudamm entlanggehen, aber nicht so wie sie immer gegangen sind, eng umschlungen, sondern mit einer gewissen Distanz, sie gehörten zusammen, das schon. Das wäre eine Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten und sie dachte spöttisch und mit einer kleinen Schadenfreude: "Hoffentlich habe ich ihm das nicht eingebrockt, auf seine sichere Methode hat er da anscheinend verzichtet."
Einige Jahre später, selbst glücklich verheiratet und Mutter zweier kleiner Töchter, traf sie ihn in der Nähe der Akademie der Künste, ebenfalls mit zwei Kindern, etwas älter als ihre beiden. Aber es gab kein Erkennen, zu schnell waren sie aneinander vorbei und sie erschrak im Nachhinein darüber, dass das möglich war.
Einmal noch hörte sie von ihm. Jahrzehnte später traf sie in der Klinik, in der sie tätig war, unverhofft eine seiner erwachsenen Töchter, der Name war unverkennbar. Sie überlegte lange, aber dann traute sie sich doch, nach dem Vater zu fragen, wollte nur wissen, ob es ihm gut ginge. Sie stellte sich als eine alte Bekannte aus seiner Studienzeit vor, Freundin einer Freundin, die ihn und seinen Bruder damals, 1958, sogar in seinem Heimatort besucht hätten. Ja, es ginge ihm prima, erzählte die Tochter, ihre Eltern lebten beide in Berlin, seien aber geschieden und ihr Vater hätte gerade zum dritten Mal geheiratet. Nun, sein Leben schien auch nicht so ganz einfach verlaufen zu sein. Sie trug also der Tochter einen Gruß aus ferner Jugendzeit auf, vielleicht würde er sich ja erinnern. Sie selbst war sich da aber ziemlich sicher, nicht so sehr der verpassten Liebeschance wegen, die gab es, wenn man Glück hatte im Leben ja öfter, sondern wegen seiner kleinen Schäbigkeit damals, das haftet im Gedächtnis.
Wenn sie in den letzten fünfzehn Jahren mal mit der S-Bahn über Ostkreuz fuhr, musste sie immer an ihre kaputte Sandale denken, jedes Mal, nach all den Jahren. Aber es kam selten vor, sie lebte schon lange nicht mehr in Neukölln.
Mikis Wesensbitter
Himmelstor: Ostkreuz
Die S-Bahn hatte sich im Schritttempo bis zum Ostkreuz geschleppt und dort mussten alle aussteigen. Der Zugverkehr war wegen des Blitzeises eingestellt worden, sollte aber jeden Moment wieder aufgenommen werden. Ich hatte beschlossen zu warten, was sollte ich auch sonst tun? Andere Verkehrsmittel fuhren ja erst recht nicht bei dieser Witterung und nach Hause laufen war unmöglich. Inzwischen war eine Stunde vergangen und jetzt würde ich hier wohl sterben. Meine Hände waren als erstes taub geworden, inzwischen spürte ich meinen ganzen Körper nicht mehr. Am Anfang hatte mich noch der Alkohol gewärmt, aber inzwischen war diese Energie längst verbrannt. Ich war im Sitzen eingeschlafen und nun konnte ich mich nicht mehr bewegen. Ich war starr, es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis mein Blut gefroren und ich tödlich unterkühlt wäre. Erfroren mitten in Berlin! Natürlich würden die Zeitungen schreiben, dass der Alkohol Schuld wäre, dabei hatte ich gar nicht so viel getrunken. Ich vertrug halt einfach keine Feuerzangenbowle. Wer würde weinen um mich? Und wem würde Mutter meine Tagebücher vererben? Egal, Hauptsache, sie würde sie nicht selber lesen. Denn wenigstens sie sollte mich als guten Menschen in Erinnerung behalten.
"Hey, komm hoch, steh auf, du erfrierst sonst", hörte ich eine sanfte Stimme. "Mein Engel, der gekommen war, um meine Seele in den Himmel zu begleiten, konnte also ironisch sein", dachte ich. Na, das war doch die erste positive Überraschung in meinem neuen Leben. Aber mein Engel konnte auch handgreiflich werden. Er zerrte an mir, er stieß mich und er schlug mich. Wenn ich mich bloß bewegen könnte, dann würde ich ihn kitzeln. Ich wollte so gern sein Lachen hören. Ich schlug die Augen auf. Na hallo, das war bestimmt kein Engel! Engel mit Rastazöpfen und Pudelmütze gibt es nämlich nicht.
"Mann, Alter, jetzt streng dich endlich an. Stell dich hin. Komm, ich helf dir!"
Schwankend richtete ich mich auf und legte meinen Arm um ihre Schulter.
"So ist es gut. Und jetzt ganz langsam vorwärts. Ein Bein vor das andere."
Meine Gelenke waren steif und ich hatte das Gefühl, jeden Moment in mich zusammenzusinken, aber mit jedem Schritt wurde ich sicherer. Sie dirigierte mich geschickt und bestimmt. Irgendwann liefen meine Füße wie von selbst.
"Okay, jetzt sind wir gleich da."
Sie schob mich in ihre Wohnung und gleich weiter ins Bad. Dort zog sie mich aus, bevor sie mich unter die Dusche stellte. Das heiße Wasser lief an mir herab und wärmte mich ganz langsam auf. Es war, als wenn Millionen Nadeln gleichzeitig in meine Haut stechen würden. Von der Hitze des Wassers war mein Körper krebsrot, aber es schien noch alles intakt zu sein. Ich konnte meine Hände wieder bewegen. Und selbst in meinen heiligen Eiszapfen kehrte Leben zurück, auch wenn dies nicht der Moment für sichtbare Zeichen zu sein schien. Zumal sie gerade wieder ins Bad kam. Sie betrachte mich skeptisch und sagte: "Typisch Kerle. Vor fünf Minuten noch fast verreckt und nun schon wieder rumprahlen!" Aber sie grinste dabei.
Später saß ich, in einen flauschigen Bademantel gehüllt, mit einer dicken Daunendecke umwickelt, am Küchentisch und sie servierte dampfenden Glühwein.
"Wie heißt du eigentlich?", fragte ich sie.
"Miranda. Und das hat nichts mit der blöden Limo zu tun. Die heißt nämlich Mirinda! Und wie heißt du?"
"Thorstein. Danke Miranda. Ohne dich wäre ich jetzt schon ganz woanders."
"Na darauf kannst du Gift nehmen! Wie kann man auch so blöd sein, sich bei minus 15 Grad besoffen auf eine Bank zu setzen! Hat dir dein Vater so was nicht beigebracht? Das ist ja wohl die erste Regel, die man lernt, wenn man mit dem Saufen anfängt!"
"Mein Vater war bei der Stasi, der hat mir sowieso alles verboten."
"Haha, wenn das eine Ausrede sein sollte, dann war es eine miese!"
"Ist aber keine. Und so was passiert mir sonst nie. Daran ist nur dieser verschissene Bahnhof schuld. Jedes Mal wenn ich da aussteige, gibt es ein Unglück!"
Ich sah ein Blitzen in ihren Augen.
"Ehrlich? Erzähl!"
"Eigentlich rede ich nicht darüber, weil immer alle denken, ich hab einen Knall. Dann werd ich kräftig ausgelacht und krieg 'nen Therapeuten empfohlen."
"Ich lache nicht. Versprochen!"
"Keine Ahnung warum, aber das geht schon immer so. Als kleines Kind, wir waren gerade auf dem Weg zum Pionierpark, kam eine Ratte über den Bahnsteig gehuscht und hat mir den kleinen Zeh fast abgebissen. Seit dem trage ich übrigens keine Sandalen mehr. Mit fünf hat sich ein depressiver Bahnpolizist das Hirn weggepustet und mir dabei das linke Ohr halb abgeschossen. Mit acht hat mir auf der Treppe eine Oma ihren Rollkoffer in die Kniekehle gerammt, und mich zum freien Fall gebracht. Ich weiß noch, dass ich kurz vor dem Aufprall ihr Gesicht erblickte. Sie fixierte mich hasserfüllt und streckte mir ihre vergilbte, runzlige Zunge heraus. Dann durchfuhr meinen Körper eine gleißende Welle des Schmerzes und ich tauchte in tiefe Dunkelheit ab. Das Schlimme ist, dass ich ständig daran erinnert werde, denn sie sah aus wie Angela Merkel. Mit zehn wurde ich von Lok-Leipzig-Hooligans verprügelt, mit vierzehn… Immer nur Ostkreuz. Immer nur da. In der Charité kannten sie mich schon und nannten mich 'Das wilde Ostkreuzkind'."
"Scheiße, mir ging das so mit der Schönhauser Allee. Auch das komplette Programm. Armbruch, Beinbruch, Puppe überrollt, Bierflasche auf dem Kopf zerschlagen… Ein Wunder, dass wir uns nie in der Charité begegnet sind oder uns vorgestellt wurden. Aber irgendwann hab ich das geknackt!"
"Echt? Wie?"
"Okay, aber diesmal darfst du nicht lachen. Rational ist das nämlich nicht zu fassen. Also, auf den Bahnhöfen wohnen Geister. Die wohnen ja eigentlich überall, aber auf den Bahnhöfen wohnen besonders bösartige. Ruhelose eben, ist ja klar, weil ein Bahnhof ja auch kein gemütliches Zuhause ist. Na ja, und die suchen sich dann Opfer, an denen sie ihre Wut auslassen können. Dafür sind Kinder natürlich bestens geeignet. Und wenn sie dich einmal gezeichnet haben, dann erkennen sie dich immer wieder. Noch einen Glühwein?"
Ich nickte und drehte mir eine Zigarette. Geister? Welche Drogen hatte sie genommen? Welche würde sie mir geben? Wenn sie jetzt mit Bachblüten und dem ganzen Esokram anfangen würde, dann würde ich gehen. Gehen müssen!
"Ist der Glühwein eigentlich Öko?", fragte ich und biss mir sofort auf die Lippen.
"Klar, und die Wohnung ist vom Feng-Shui-Meister abgenommen. Zum Frühstück ess ich Reikibrezeln und meine Achselhaare rasiere ich nur bei Vollmond."
"Sorry, war nicht so gemeint, ich weiß nicht, na ja, wie soll ich das erklären, aber bei diesem Esoterikzeug, da wird mir immer komisch. Tut mir leid, ich wollte dich nicht…"
"Das hat gar nichts mit Esoterik zu tun. Nur weil irgendwelche dahergelaufenen Birtes, Fraukes und Wilfrieds sich den Arsch vergolden, indem sie alles Spirituelle in Seminare packen und dir für viel Geld verraten, in welche Ecke des Zimmers du dein Bett stellen darfst, gehört ihnen plötzlich alles was mystisch und unerklärlich ist auf dieser Welt? Weil der hyperaktive Frank in seiner lila Latzhose meint, Kurse geben zu müssen, ist die ganze Yogalehre gleich komplette Scheiße?", sagte sie mit wütender Stimme.
Und sie hatte recht! Diese Erkenntnis traf mich unerwartet.
"Stimmt! Ich hab immer Steine gesammelt, bis mir so eine dicke Kuh erklärt hat, dass die Steine, für die ich mich interessiere, ja wohl eindeutig nur für Frauen geeignet sind. Da solle ich doch mal drüber nachdenken. Seit dem fand ich Steine immer komisch. Aber wie war denn nun deine Lösung?"
"Ganz einfach. Ich hab mit Birte, Frauke und Frank im Mauerpark eine gemeinsame Meditation gemacht. Dann hat noch eine dicke Kuh auf die Klangschalen gehauen und alles war gut. Bei dir ja hoffentlich auch, denn heut hat ja keiner über deine Geschichten gelacht, dann kannst du ja getrost andere verarschen!" Sie hatte Tränen in den Augen.
"Mann, Miranda, ich hab mich doch schon entschuldigt. Das war wirklich nicht böse gemeint!"
Ich stand auf, umarmte sie und küsste vorsichtig ihre Tränen weg. Waren die ökosalzig? Ihre Zunge war es nicht, und unsere Umarmung wurde inniger.
"Ich hatte Sex auf dem Bahnhof. Das können Geister nämlich gar nicht leiden, weil es ihre Macht bricht. Und seit dem kann ich da Skateboard fahren, Handstand machen, ohne Ticket fahren und den Kontrolleuren den Finger zeigen. Der Fluch ist nicht nur gebrochen, sondern scheinbar sogar umgekehrt!", flüsterte sie in mein Ohr.
"Echt? Würdest du mit mir, vielleicht, ich meine, na ja…"
"Gerne, nur nicht jetzt. Das ist viel zu kalt. In meinem Bett ist es viel wärmer. Wenn Frühling wird, dann können wir das gerne versuchen. Aber wir müssen vorsichtig sein!"
"Wegen der Geister?"
"Nee, die können uns ja nichts anhaben. Aber guck mal da." Sie zog die Gardine zur Seite und zeigte mit ihrem Finger auf ein diffuses violettneongrünes Lichtgebilde, das am Himmel, in einiger Höhe über dem Bahnhof schwebte.
"Was ist das denn?"
"Keine Ahnung! Aliens vielleicht? Das kreist da schon ein paar Monate. Seit dem verschwinden wohl immer wieder Liebespaare am Ostkreuz. War mir bis jetzt ziemlich egal, aber nun ist ja alles anders."
Während wir uns in ihrem Bett aneinander kuschelten und ich ihren warmen, festen Körper spürte, fragte ich mich, was es wohl noch alles für seltsame Dinge um mich herum gab, von denen ich nicht einmal den blassesten Schimmer hatte. Aber ich war mir sicher, Miranda würde sie mir zeigen.
Axel Barth-Nawrath
Erkenntnis
Und ich bestieg dich
morgens und abends
sieben Jahre lang
mit Gleichgültigkeit
und mit Scham. Bis
ich erkannte: DU BIST
MEIN BAHNSTEIG!
Ingrid Benada
Liebe überwindet nicht alles
Es war Ende der sechziger Jahre an einem kalten, diesigen Herbsttag. Ich saß in einem Café am Ostkreuz und wartete auf einen guten Freund, der sich wie immer verspätete. Ich war ärgerlich. Aber er war nun mal so.
Mir gegenüber saß ein Mann. Ich schätzte ihn so auf vierzig Jahre. Er war stämmig, hatte einen kurzen dunklen Vollbart und schüttere schwarze Haare. Er bestellte eine Tasse Kaffee nach der anderen, die er langsam und bedächtig trank.
Nur selten hob er seinen Blick und dann starrte er irgendwo ins Leere. Meist aber schaute er angestrengt auf seinen schwarzen Kaffee.
Ich war neugierig geworden und überlegte, was er wohl für ein Problem haben könnte. Nach einiger Zeit überwand ich meine Zurückhaltung und sprach ihn an: "Heute ist ein ungemütliches Wetter. Wenn doch bloß mal die Sonne scheinen würde!"
Er hob den Kopf und schaute mich erstaunt an.
"Ja, Sie haben Recht", sagte er.
Das war der Anfang eines langen Gesprächs, in dessen Verlauf er mir folgende Geschichte erzählte:
"Mir ist heute etwas sehr Unangenehmes und mit großen Folgen geschehen", begann er mit zögerlicher Stimme. "Ich bin arbeitslos geworden. Und das Schlimme daran ist, dass ich selbst schuld bin. Ich bin betrunken in den Betrieb gegangen. So etwas ist mir noch nie passiert. Ich muss von allen guten Geistern verlassen gewesen sein. Zum Glück ist es dem Betriebsschutz schon am Eingang aufgefallen. Wissen Sie, ich arbeite in einem Chemiebetrieb, da kann so etwas sehr gefährlich sein. Der Betriebsschutz hat mich bis zu meinem Chef begleitet. Der hat natürlich getobt. Obwohl es das erste Mal war, ist er gleich zur Personalabteilung gelaufen und hat meine Papiere geholt. Er ließ keine Entschuldigung gelten. Unterdessen habe ich wie ein armer Sünder auf einem Stuhl gesessen, vom Betriebsschutz bewacht. Der Schock hat mich natürlich sofort nüchtern gemacht. Sie werden fragen, wie konnte das geschehen? Ich will es Ihnen sagen.
Ich hatte vor gar nicht langer Zeit oft im Osten, besonders hier in Ostberlin, zu tun. Sie verstehen, beruflich. Dort habe ich einmal so wie heute in einem Café gesessen. Ich aß Kuchen, trank Kaffee. Wissen Sie, ich esse sehr gern Süßes. Das ist natürlich nicht gut für meine Figur. Aber was soll’s."
Er machte eine Pause. Offensichtlich fiel es ihm schwer, zum Eigentlichen zu kommen. Geistesabwesend stierte er wieder an mir vorbei in den Raum. Ich wartete.
Dann fuhr er fort: "Plötzlich stand eine junge Frau an meinem Tisch und fragte: 'Ist hier noch frei?' Ich bejahte, und sie setzte sich mir gegenüber. Sie war sehr zierlich, hatte graue fragende Augen und aschblonde Haare. Wir kamen gleich ins Gespräch. Sie war mir sofort sympathisch, denn sie konnte so wunderbar lachen. Dabei lag ein Leuchten in ihren Augen und auf ihrem Gesicht. Das hat mir so gut gefallen, dass ich sie immer wieder zum Lachen animiert habe. Ich war an dem Tag aber auch besonders gut drauf. Ich gab eine Anekdote nach der anderen zum Besten. Sie amüsierte sich köstlich. Ich bin ein fröhlicher und optimistischer Mensch. Sie verstehen, aber heute … Na ja, an jenem Tag musste ich bald wieder nach Westberlin zurück. Wir verabredeten, dass wir uns in vierzehn Tagen, wenn ich wieder in Ostberlin sei, im selben Café treffen würden. Ungeduldig erwartete ich den Tag. Ich glaube, es war Liebe auf den ersten Blick. Zu unserem Rendezvous nahm ich sogar Rosen mit. Ich wunderte mich selbst darüber. Bisher war es mir immer peinlich gewesen, mit einem Blumenstrauß irgendwohin zu gehen. Männer sind da manchmal komisch. Ich sah ihr an, wie sehr sie sich über die Rosen freute. Ich war ganz verlegen. An dem Tag erfuhr ich auch mehr aus ihrem Leben. Sie war allein, Lehrerin, unterrichtete in der Unterstufe und hatte noch ein Fernstudium angefangen, um in die Oberstufe wechseln zu können. Merkwürdig, ich hatte mir Lehrerinnen ganz anders vorgestellt, ernster und langweiliger. Was man manchmal für Klischees im Kopf hat! Sie war das ganze Gegenteil.
Es kam wie es kommen musste. Wir trafen uns einige Monate regelmäßig. Und eines Tages, als ich mal mehr Zeit hatte, ging ich dann mit in ihre Wohnung. Sie wohnte in einem Neubauviertel.
Es begann für uns eine schöne Zeit. Ihre Liebe war so natürlich und spontan, so selbstverständlich. Ich fühlte mich bei ihr rundum wohl. Mein Chef wunderte sich, dass ich plötzlich gern nach drüben fuhr und es gar nicht erwarten konnte, bis es soweit war. Aber ich sagte ihm anfangs nichts, hatte ich doch Angst, er könnte befürchten, dass ich meinen Aufgaben nicht so gewissenhaft wie bisher nachkommen würde. Allerdings sah er mich manchmal forschend und misstrauisch an. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein. Es wurde eine große Liebe. Und das Bedürfnis nach Zusammensein wuchs von Mal zu Mal. Eines Tages sprachen wir auch darüber, wie schön es wäre, wenn wir ein gemeinsames Leben führen könnten, uns nicht nur alle vierzehn Tage mal für kurze Zeit sehen würden. Aber wie sollten wir das machen? Schließlich sprach ich doch mit meinem Chef. Er war an dem Tag besonders aufgeschlossen und sagte: 'Alles kein Problem. Sie holen sie herüber. Arbeit werden wir auch für sie finden. Übrigens, ich habe mir so etwas schon gedacht. Sie waren in letzter Zeit anders als sonst. Es konnte doch nur eine Frau dahinter stecken.'
Aber das Herüberholen war doch nicht so einfach. Wie sollte sie denn rüber kommen? Illegal? Einen Ausreiseantrag stellen? Verwandtenbesuch anmelden? Letzteres konnte nicht funktionieren, dazu war sie doch zu jung. Außerdem hatte sie auch keine Verwandten in Westdeutschland oder Westberlin. Beruflich hatte sie auch keine Chance, nach dem Westen zu fahren. Illegal getraute sie sich nicht. Was ich auch verstand. Es war zu gefährlich.
Also blieb nur, einen Ausreiseantrag zu stellen und zu warten.
Eine Variante gab es für sie allerdings noch. Ich sollte nach drüben kommen. Eines Tages sprach sie es aus. Ich war sehr erstaunt. Diese Möglichkeit wäre mir nie eingefallen. Es war absurd. Sollte ich meine Arbeit, meine Existenz aufgeben und nach dem Osten gehen, in eine ungewisse Zukunft? Sicher hätte ich Arbeit gefunden. Aber ich hätte ein vollkommen anderes Leben führen müssen, ohne Reisen ins westliche Ausland und so. Wie konnte sie nur auf so eine Idee kommen! Ich war aufgebracht.
Sie erzählte mir Beispiele von Leuten, die das gemacht hatten. Ich wollte es nicht glauben. Bisher kannte ich nur Leute, die vom Osten in den Westen gegangen waren. Inzwischen weiß ich, dass es so etwas wirklich gegeben hat.
Sie war enttäuscht, dass ich es nicht in Erwägung zog, wo es doch für sie das Einfachste war. Sie glaubte, aus Liebe zu ihr müsse ich das tun. Es gab die erste Missstimmung zwischen uns. Wir litten darunter.
Sie stellte keinen Ausreiseantrag. Ich kann nicht sagen warum. Fühlte sie sich ihren Schulkindern verpflichtet, ihrem Land? Hatte sie Angst vor einer unbekannten Zukunft? Wenn ich sie fragte, wich sie mir aus. Ich glaube, es war von allem etwas. Vielleicht nahm sie auch an, dass ich in Westberlin ein anderer sei, ihr etwas verschweige, dass ich eine Illusion zerstören könnte, dass unsere Liebe diesen Abstand brauche. Erstaunlich, sie war ein so fröhlicher und aufgeschlossener Mensch. Aber sobald ich unsere gemeinsame Zukunft ansprach, wurde sie ernst, zurückhaltend. Frauen sind wohl oft unergründlich. Einmal erzählte sie mir aber von einer Kollegin, die einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Sie musste den Schuldienst quittieren, arbeitete dann bis zur Genehmigung ihres Antrages als Reinigungskraft. Ob es das war? Sie sagte auch, dass ihre Prüfungen im Westen nicht anerkannt würden. Sie müsste dort noch mal von vorn beginnen. Dazu hätte sie keine Lust. Ich kann gar nicht sagen, wie enttäuscht ich war. Ich zweifelte an ihrer Liebe. Wie hätten Sie denn gehandelt?"
Ich bemerkte, dass man so etwas nur sagen kann, wenn man in der gleichen Situation steckt.
"Sie haben Recht", fuhr er fort.
"Wir führten also erst einmal unsere Beziehung weiter. Aber irgendwie hatten wir beide das Gefühl, dass es so nicht weitergehen konnte.
Wir quälten uns viele Monate. Unsere Liebe wurde auf eine harte Probe gestellt. Alles Leichte und Fröhliche verschwand aus ihr. Wir konnten uns nicht mehr auf unser Treffen freuen, uns nicht mehr so hemmungslos wie früher lieben. Ich wurde eifersüchtig, glaubte, da müsste noch ein anderer Mann sein. Ich sagte es ihr auch, habe ihr sicher damit sehr wehgetan. Aber warum wollte sie auch keinen Ausreiseantrag stellen? Hätte ich wirklich rüber gehen sollen, alles im Westen aufgeben? Das hätte die größte Liebe nicht ausgehalten. Diese ungelösten Fragen standen also zwischen uns. Aber eine Entscheidung musste gefällt werden.
Und so trennten wir uns schließlich. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Sie können mir glauben, es ist mir nicht leicht gefallen. Ich habe sie sehr geliebt. Ich konnte mit unserer Trennung lange nicht fertig werden. Ich hätte mir ein gemeinsames Leben gut vorstellen können, aber eben nur im Westen."
Wieder schwieg er. Ich glaubte schon, dass er nicht weiterreden würde, da sagte er: "Gestern Abend habe ich einen Anruf von ihrer besten Freundin bekommen. Ich habe sie mal bei einem Besuch in ihrer Wohnung kennen gelernt. Ich denke, sie hat mit ihr über alles gesprochen."
Er stockte. Es fiel ihm sichtlich schwer weiter zu sprechen. Wieder wartete ich.
"Ihre Freundin", fuhr er mit heiserer Stimme fort, "erzählte mir am Telefon, dass meine Geliebte in letzter Zeit Schwierigkeiten mit ihren Augen bekommen hatte. Die Ärzte prophezeiten ihr, dass sie eventuell erblinden könnte. Da hat sie sich vorgestern das Leben genommen.
Die Freundin meinte aber auch, dass es nicht nur deswegen war. Sie konnte unsere Trennung nicht verwinden. Das war sicher der Hauptgrund.
Da habe ich mich das erste Mal in meinem Leben betrunken. Bloß, es ändert nichts an der Tatsache. Ich muss damit fertig werden. Leider bin ich kein cooler Typ. Nun habe ich sogar noch ein zusätzliches Problem: Arbeitslosigkeit.
Wissen Sie, ich war so unglücklich nach dem Anruf. Ansonsten wäre mir das nicht passiert. Wieso hatte mein Chef kein Verständnis dafür? Er wusste doch von unserer Trennung. Ich erzählte ihm, ehe er in die Personalabteilung ging, von ihrem Tod. Aber er ist so ein Genauer, Selbstgerechter. Ihm würde so etwas natürlich nicht passieren. Er würde sich nicht betrinken, meint er. Ich bin enttäuscht von ihm. Wir haben uns doch immer gut verstanden." Wieder machte er eine Pause.
"Nun bin ich noch mal rüber gekommen."
Er schaute auf die Uhr. "In wenigen Minuten bin ich mit ihrer Freundin verabredet. Sie will mit mir sprechen. Vielleicht erfahre ich den wahren Grund, warum sie nicht in den Westen wollte."
Dann schwieg er. Er wollte wohl auch nichts mehr sagen.
Ich getraute mich nicht, ihn noch einmal anzusprechen. Er war ganz in sich zusammengesunken und starrte wieder in seine Tasse.
Da sah ich meinen Freund kommen. Ich gab ihm durch Zeichen zu verstehen, vor der Tür zu warten, bezahlte und ging hinaus.
Als ich an der Tür noch einmal zurückschaute, saß er noch immer mit gesenktem Kopf da.
Sabine Franzke
Radsalat
"Verdammt", knurrt Alex, das Ostkreuz in Richtung Sonntagstraße verlassend. Irgendein Dussel hat seinen dämlichen rostbraunen Drahtesel an Alex’ himbeerfarbenes Rad angekettet. Auf dem fremden Rahmen klebt ein freundlicher Regenbogen. Wutentbrannt tritt Alex gegen den Rahmen, wartet und linst scheel zum Ausgang vom Ostkreuz. Niemand in Sicht, nur der türkische Obstverkäufer.
Alex stapft über die Pfützen zu dem bunten Stand, kauft sich eine Tüte Kirschen und stopft sie sich gierig in den Mund. Genüsslich schmatzend überlegt Alex nach Hause zu gehen. Bis zur Böcklinstraße ist es nur ein Katzensprung, maximal fünfzehn Kirschen. Hmmmh! Alex schaut nach oben und beschließt angesichts der Abwesenheit tückischer Regenwolken, doch zu warten. Obwohl Ende Oktober, ist es noch nicht so kalt; und glücklicherweise hat Alex eine der "Stadtgeschichten" von Armistead Maupin dabei. Seine lichtgestrickten, unterhaltsamen Geschichten sind überaus witzig. Zudem kann man sich schnell im Geschehen von San Francisco verlieren.
Alex liest konzentriert, auf der rechten Hand das abgegriffene Buch, die linke suchend in der Kirschtüte auf dem Sattel, zuweilen auflachend und sich drei bis fünf Kirschen in den Mund schiebend. Um das Rad häufen sich die Kerne, bis jemand in den Radius des Radständers tritt. Alex will gerade zu einem markigen Spruch ansetzen, hat aber den Mund voll und erstarrt, verschluckt versehentlich ein paar Kirschkerne, öffnet Mund wie Augen und starrt fasziniert auf das sich entfaltende Lächeln um ein paar wunderschöne Mundwinkel. Der Blick wandert höher, dann tief in die gleichfalls lächelnden Augen des Gegenübers. "Solche Augen möcht’ ich haben", denkt Alex, langsam aus der Starre erwachend, winkt großzügig ab und hört sich wie von weitem krächzen: "Gar kein Problem, das. Dann habe ich wohl einen Kaffee fürs Warten gut, was?"
"Warum nicht, ich wollte sowieso ins Übereck", schnellt Chris die Antwort wie einen Pingpongball auf Alex’ nicht ganz ernst gemeinte Frage zurück. "Tut mir leid, dass ich aus Versehen dein Rad mit angeschlossen habe und du deswegen warten musstest. – Ich bin übrigens Chris", sagt Chris, zeigt lachend ein perfektes Gebiss, klopft sich mit dem Zeigefinger gegen die Vorderzähne und macht ein fröhliches "Bing!".
"Ein kesses Lächeln das", denkt Alex. "Kess: draufgängerisch, frech, flott, schick, gescheit, chaotisch", erscheint plötzlich die Erläuterung des Herkunftswörterbuches in einer Comicblase vor dem inneren Auge. Alex wedelt sie fort, schüttelt verwirrt den Kopf, sagt knapp "Alex" und nickt dabei. "Hände schütteln ist jetzt wohl nicht angebracht… Oh, das Buch." Alex lässt es in den offenen Rucksack fallen. Dieser neigt sich zur Seite und schüttet seinen Inhalt zwischen die ausgespuckten Kirschkerne; das Buch, ein Schweizer Taschenmesser, zwei Überraschungseier und einen Dietrich. Alex sammelt leicht verlegen die Sachen auf, während Chris dezent eine Augenbraue hochzieht.
Danach winden sie ihre Räder auseinander und schieben sie schweigend zum Übereck Lenbachstraße/Sonntagstraße. Ein paar Besucher des ersten Cafés hier im Kiez sitzen noch draußen. Alex und Chris setzen sich seitwärts auf eine unbesetzte Bank daneben und beobachten die Leute auf dem kleinen, aber grünen Lenbachplatz. Ein Junge stelzt in den Absatzstiefeln seiner träumenden Schwester zu einem irischen Wolfshund und streichelt ihn hingerissen. Der Hund wedelt wild mit dem Schwanz eine Thermoskanne von der Bank hinter ihm. Ein wenig erinnert die Szenerie an Zille und Sonntag. Letzterer verpachtete hier im 18. Jahrhundert Gemüseparzellen an die Berliner. Das war damals "janz weit draußen" und eine Ewigkeit von der unfreiwilligen Schönheit bröckliger Fassaden zu Ostzeiten entfernt. Heute sind die umstehenden Häuser farbenfroh sauber renoviert. Nur das gräuliche Ostkreuz mit seinen verlassenen Gleisen, verschachtelten Holztreppen und pittoresken Aufgängen könnte weiterhin als Kulisse für melancholische Schwarzweißfilme im Großstadtmilieu fungieren.
Nach einigen Minuten spannungsloser Stille zu Phrancs Lied "Dress Code", das aus dem Café herüberwütet, nimmt eine schnoddrige Bedienung Alex’ und Chris’ Bestellung in der schwächelnden Sonne entgegen. "Yogitee ham wa hier nich", sagt sie maulig.
"Gut, dann nehme ich einen Getreidemilchkaffee", sagt Chris und registriert schadenfroh die heruntergezogenen Mundwinkel der Bedienung. Eine gute Freundin hat einmal erzählt, dass Kellner Getreidemilchkaffees grundsätzlich hassten, was sich nun durchaus zu bewahrheiten scheint.
Die Bedienung indes bewegt sich im Schildkrötentempo hinter den Tresen und legt eine CD von Melendiz ein. Ein merkwürdiges Lächeln weitet die vorherig zusammengekniffenen Lippen, während Alex und Chris einträchtig ihre beschlagenen Brillen putzen; Alex mit einem T-Shirt-Zipfel, Chris mit einem Brillentuch.
"Danke auch für den Kaffee. Ist mir übrigens noch nie passiert, das", meint Alex.
Chris erwidert Alex’ anhaltenden Blick, lächelt noch einmal breit und sagt ohne zu blinzeln: "Mir schon. Mir passieren dauernd komische Sachen. Erst neulich habe ich mein Rad vor der Unibuchhandlung abgestellt. Als ich wieder herauskam, klemmte ein Zettel mit einer Telefonnummer an der Handbremse. Komisch, dass die Leute einen nicht direkt ansprechen. Das ist vielleicht dröge."
"Ach ja?", sagt Alex betreten und denkt bei sich: "Wie überheblich… Jetzt könnten wir auch mal etwas Vernünftiges reden." Doch das Fach für originelle Entgegnungen im Gehirn ist leer. Beruflich ist Alex fit im Smalltalk, doch privat ungewollt sprachlos, ein Zeichen maßloser Arroganz für manche.
Wenig später bringt die Bedienung Alex und Chris die Kaffees. Sie warten bis die Getränke abgestellt sind, schauen sich auf die Fingerkuppen und mustern einander verstohlen. Chris trägt Kaurimuscheln um den Hals. Dunkle, zurück gekämmte Haare. Braune Augen hinter einer Küblböckbrille. Mehr als sieben Sommersprossen. Die Hose ist braun-gelb gestreift. Auf dem hellen T-Shirt unter der Kordjacke leuchtet ein knallrotes Verbotsschild. In der Mitte rot durchgestrichen, steht BUSH und darunter in fetten Lettern "Befreit Amerika von Bush!"
Alex’ abgewetzte Lederjacke ist schwarz wie die Hüfthose. Das T-Shirt über dem lachsfarbenen Pullover leuchtet grün wie Alex’ Augen hinter einer randlosen Brille. Über das T-Shirt hangeln sich drei bösäugige Spinnen. Alex’ Haare sind nur einmal am Morgen gekämmt worden. Selbstständig und unaufhörlich umwickelt der rechte Zeigefinger eine Locke und zieht sie lang.
"Einer Freundin von mir ist das mal passiert", sagt Alex in die Pause, lockenwickelnd. "Auf einer Disko. Sie meinte, sie hatte viel getanzt, weil so gute Musik lief. Einmal hat sie sich kurz hingesetzt. Da hat ihr jemand einen Zettel mit Kaffeetasse und Telefonnummer drauf in die Hand geschoben. Sie war derart überrascht, dass sie nicht mal richtig mitbekommen hat, wer ihr den Zettel überhaupt zugesteckt hat."
Chris zeigt mäßiges Interesse: "Und, hat sie dort angerufen?"
"Schon. Sie hat den ganzen AB voll gesprochen, dass sie sich super gefreut hätte und so, aber sie könnte sich nicht treffen, weil sie in einer Beziehung wäre. Aber ein bisschen wollte sie sich doch treffen, hat sie mir erzählt. — Mich interessieren Kennlerngeschichten ungemein. Ich frage oft Leute, wo sie sich kennen gelernt haben. Die sind auch immer froh, wenn sie darüber reden können, besonders, wenn sie frisch verliebt…"
"…wie beginnt eigentlich deine Kennlerngeschichte?", kommt Chris vorausschauend Alex’ Frage zuvor.
"Auf einem Segelboot."
"Wie das?"
"Bevor ich dir das erzähle, bestelle ich mir aber ein Bananeneis. Das gibt’s hier neuerdings. Willst du auch noch was; die charmante Bedienung ist gerade hier?"
"Ein Bananeneis, und für mich ein Wasser ohne Gas", sagt Chris zur Bedienung, und als diese zur Cafétür geschlurft ist, "Mensch, der muss echt aufpassen, dass er nicht seine schicken Khakihosen verliert. Sieht aus wie eingek… Oh, 'tschuldige. … Wie war das noch mit dem Segelboot?"
"Nicht er."
"Was?"
"Das ist kein er, das ist eine sie. Die Bedienung, meine ich. Das sieht man doch", trumpft Alex auf, legt die Lederjacke achtlos auf die Bank, dreht sanft das Eis aus seinem silbrigen Papierkleid und leckt hingebungsvoll den Schokoladenschmelz vom Bananencorpus.
"Ach, ich habe mich schon über die Musik gewundert", sagt Chris etwas lahm, den Blick unverwandt auf die Zunge gerichtet, und bohrt dann hartnäckig weiter: "Und wie geht nun deine Geschichte?"
"Hmmmmh, es hat mal im Herbst eine Regatta gegeben mit extrem viel Wind und so. Unser Boot ist fast gekentert. Auf dem Rettungsboot sind wir enger zusammengerückt. Hinterher sind wir ein bisschen ins Gespräch gekommen. Dann haben wir uns erst viel später zufällig bei einem Schachturnier wieder gesehen und uns verabredet; zu einer Disko für Behinderte… Und dann hat es halt begonnen hmmmh… Hat immerhin zwei tolle Jahre gehalten. Zum Schluss ist es zu einer Fernbeziehung geworden und hat einfach nicht mehr funktioniert", sagt Alex, die Zunge gedankenverloren weiter um die langsam schmelzende Schokolade windend.
Aus dem Café hinter ihnen schleicht sich jetzt die herausragende Rasiermesserstimme von Marla Glen mit "The Cost of Freedom" heraus.
"Ja, das ist schwierig, hat aber auch seine Reize. Ich kenne das. Bei mir hat es ganz schnöde mit E-Mails nach Südafrika begonnen. Dann bin ich richtig neugierig geworden und einfach hingeflogen. Tolle Erfahrung. Klar sieht man zuerst nur die Sonnenseiten. Erst später ergibt sich, ob man auch mit den dunklen Seiten leben kann. Und mit den Schattenseiten bin ich nicht klargekommen, als Leslie für eine Weile nach Berlin kam."
Alex blinzelt und trägt selbstvergessen Schicht um Schicht des Eises mit ungepiercter Zunge ab. Auch sonst hat Alex keinerlei Tätowierungen oder Durchbohrungen; nur eine Kreole im Ohrläppchen. Den Freunden erzählt Alex meist, Tattoos sollte man innen tragen wie dieser Typ in dem neuseeländischen Streifen "Once were Warriors", "Die letzte Kriegerin".
Chris starrt intensiv auf die kirschfarbene Zunge und das Eis, sieht dann ruckartig fort und auf die Bahnhofsgleise, die in der Sonne einer dürren Spree gleichen. Im Café wird nun "Constant Craving" von K. D. Lang gespielt.
Alex schaut Chris tiefgründig in die Augen, kneift sie zu Schlitzen zusammen und fragt hinterhältig lächelnd: "Du möchtest wohl das Eis sein, was?"
"Nein, dann lieber dein T-Shirt."
Die Pupillen, die eben noch groß und schwarz waren, verengen sich zu finsteren Stechpunkten. Das Gesicht wird puterrot. "Tja, wenn’s am schönsten ist, soll man aufhören", ruft Alex brüsk aufspringend, presst Kirschtüte und Lederjacke an sich und schnippt das zerbröselte Eispapier zum leeren Aschenbecher. Alex dreht sich um, stiert auf das verfehlte Ziel und sagt: "War nett. Also dann. Man sieht sich."
Chris nickt, bemerkt die Kirschflecken auf Alex’ ex-grünem T-Shirt und murmelt halblaut: "Ich kann helle Sachen auch immer nur einmal anziehen. Da haben wir ja schon mal was gemeinsam… Schade… Erst erzählen wir uns hier Geschichten wie in 'Claire of the Moon', 'Claire vom Mond', und dann tänzeln wir genauso um uns herum wie die beiden Hauptfiguren." Doch da ist Alex schon davongestakt und hat sich entgegen Chris’ heimlicher Wette nicht noch einmal umgedreht.
Chris trinkt den lauwarmen Kaffee aus, geht aufrechten Ganges ins Café, nimmt sich an der Eingangstür eine Siegessäule aus dem Zeitungsständer und zahlt am Tresen.
Während "Closer to fine" von den Indigo Girls zu spielen beginnt, sortiert die Bedienung belustigt Chris’ genau abgezählte Münzen in ihr Portemonnaie.
***
In den nächsten Tagen radelt Chris immer wieder von der Wohnung in der Pfarrstraße zum Ostkreuz und macht morgens und nachmittags extra den Umweg über die melancholischen Überführungen, um am Ausgang Sonntagstraße vergeblich Ausschau nach einem himbeerfarbenen Rad zu halten. "Würde mich nicht wundern, wenn Alex das Fahrrad umgespritzt hat", murmelt Chris und gibt die Suche auf.
Am darauf folgenden Montag ist Chris’ Auto repariert, das Rad im Keller und Ostkreuz links liegen geblieben. Durch das Abendstudium an der Uni vergisst Chris über die Winter- und Frühlingsmonate die Begegnung mit Alex beinahe, wenn da nicht die Musik wäre. Denn hin und wieder, wenn im Autoradio ein Lied von Rosenstolz gespielt wird, werfen sich Alex’ kirschfarbene Zunge und T-Shirt über die tristen Werbeposter auf der Stadtautobahn.
Für Alex verschwinden Traurigkeiten effektiv durch einen vollen Terminkalender in Büro und Freizeit. Im Winter sammeln sich im Büro viele Überstunden an. Nachmittags gibt Alex Deutschunterricht, töpfert freitags öfters mit Axel und Ute, tippt Reiseeindrücke von Australien und Neuseeland, lernt Französisch, geht mit Matt regelmäßig in den Fitnessclub am Ostkreuz und sonnabends in den "Sonntagsklub" oder ins Kino und gelegentlich sonntags wandern mit Martinas Gruppe.
Zum Vergessen ist zudem Musik essenziell. Von vielen, manchmal schwülstigen, Texten fühlt sich Alex gut verstanden. Jedoch erinnern ein paar Sprachbilder anfangs noch an Chris’ Sommersprossenlächeln. Mit Judith, Johnnie, Jeannie, Pauli und Frank feiert Alex ausgelassene Karaokeparties bis in die Morgenstunden, wobei die unmusikalische Nachbarin im fünften Stock einmal die Polizei ruft.
Im Frühling bummelt Alex an mehreren Wochenenden Überstunden ab und erforscht dank Billigfliegern ein wenig Europa. Barcelona und Neapel allein, letzteres aus Schussligkeit geldlos, und Poznan mit einer Kollegin.
Mitte Juni hat Alex’ Chef einen kleinen Auffahrunfall mit seinem Mercedes. Alex soll das Auto aus der Werkstatt holen. Die Rezeptionistin in der Werkstatt sagt zu Alex: "Erich ist leider heute verhindert, der Arme. Ein Kunde hat ihm versehentlich die Autotür gegen das Knie geschlagen. Aber Schmittchen, Erichs kompetente Vertretung, ist dafür sofort bei Ihnen. Kann ich Sie derweil zu einem Kaffee einladen?" Alex lehnt dankend ab und wartet auf Erichs Vertretung. Deren aufrechter Gang erinnert Alex vage an jemanden. Erst als das sommersprossige Gesicht nur wenige Schritte entfernt zögert, erkennen sich Alex und Chris. Beide lächeln unentschlossen und reichen sich die Hände zu einem kräftigen Händedruck.
Chris sagt glatt: "Der Wagen steht vor der Tür. Wir könnten sofort eine Testfahrt machen."
Alex nickt zustimmend und folgt Chris auf den Parkplatz. Alex geht mehrmals um das Auto herum, fährt mit den Fingern über die perfekte Lackierung, wirft einen Blick auf den Auspuff, tritt sacht gegen die Reifen und öffnet die Motorhaube. "Äußerlich scheint alles in Ordnung zu sein", sagt Alex und sorgfältig das Du oder Sie vermeidend, "wir können losfahren."
Alex nickt Chris zu, öffnet die Beifahrertür und fläzt sich auf den Sitz. Souverän steigt Chris ein und schaltet Motor wie Radio ein. Sie verlassen das Betriebsgelände, biegen auf die Frankfurter Allee; und Chris dreht den Motor richtig auf. Zügig fahren sie am Ringcenter vorbei. Alex weiß, dass sie das Ostkreuz passieren werden, lächelnd Chris ungewollt an und denkt: "Ich kann’s nicht ändern, Chris ist so was von sexy. Ich wünschte, diese Fahrt geht nie zu Ende."
Im Radio wird Ani di Francos Sprechgesang "Pulse" gespielt, als Chris gelassen den Gang hinunter schaltet und das Auto die Gürtelstraße entlang gleiten lässt. Doch der Schein trügt, der Puls ist hoch und die ausgestrahlte Ruhe scheinheilig. Die Augen unverwandt auf der Straße denkt Chris "Wie stell ich’s an, dass ich es nicht wieder vermassele…" und fragt laut "Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?"
"Nein, das geht nicht. Ich muss sofort wieder zurück ins Büro."
Pause. Chris zieht scharf die Luft ein, während sie die Neue Bahnhofstraße entlangfahren.
"Aber ich habe um vier Schluss. Hast du Lust, dich gegen fünf hier am Ostkreuz zu treffen?" fragt Alex bedeutsam.
"Gut, dann machen wir das", sagt Chris erleichtert, wendet geschmeidig und fährt zurück zur Werkstatt.
Am späten Nachmittag treffen sich Chris und Alex am Obststand vom Ostkreuz.
Alex schlägt vor: "Was hältst du davon, wenn wir bis zur Endstation fahren? Komm, du musst sagen, welche. Mach die Augen zu." Alex nimmt hastig Chris’ Finger. "Hier ist die Berlinkarte. Zeig jetzt auf irgendeine Stelle. Da fahren wir dann hin."
Chris tippt mit dem Finger auf Alex’ Brust und sagt lachend: "Gute Idee, sieht aber nach Regen aus. Wollen wir nicht lieber was trinken gehen? Im Geronimo vielleicht, das ist plüschig und hat um die 70 Cocktails zu bieten, oder im Zebrano gibt’s auch leckere Cocktails, habe ich gehört. Ich probiere gern mal was Neues aus. Und du?"
"Ehrlich gesagt, trinke ich keinen Alkohol, und das Übereck wär’ mir lieber."
"Gut, dann bleiben wir beim Übereck."
Als sie in das Café hineinkommen, fängt "Es könnt’ ein Anfang sein" von Rosenstolz an zu spielen.
***
Die erste Nacht zusammen, das erste Frühstück am Morgen, der erste Ausflug, das erste gemeinsame Wochenende, die erste Zeitung zusammen gekauft — seit einigen Tagen sehen sich Chris und Alex, durch die rosa Brille. Da kommt der erste Krach.
Chris schlägt beim Frühstück die Zeitung auf und ruft empört: "Da hat schon wieder ein Türke seine Frau aus Eifersucht erstochen. Diese Kanaken müsste man doch alle abschieben. Und die wollen auch noch in die EU."
Alex hält sofort dagegen: "Du bist ja wohl voll ausländerfeindlich. Und die Zeitung auch, die nennt immer die Nationalität, so dass die Leute denken, alle Verbrechen werden nur von Ausländern begangen."
"Statistisch gesehen ist das auch so."
"Quatsch, du weißt ganz genau, dass man Statistiken immer so drehen kann, wie man will."
"Jedenfalls bringen die ihre mittelalterlichen Traditionen und fanatischen Ehregeschichten mit." Chris schmeißt dramatisch die Zeitung hin.
"Mensch, hierher kommen die aus den ärmsten Schichten, ohne großartige Bildung und Qualifikation. Und dann leben die hier wie in Ghettos. Überhaupt wurden Gastarbeiter in den Siebzigern ins Land gerufen, um hier die Schmutzarbeiten zu machen", sagt Alex, als sie aus der Wohnungstür kommen.
"Pffffffffff. Trotzdem könnten die sich anständig benehmen. Wenn ich die jungschen Piepels schon sehe mit ihren fetten Goldketten, wie sie großkotzig den ganzen Tag nichts tun und in Papis BMW durch die Stadt wummern…", sagt Chris zerknirscht und schließt den Drahtesel vorm Haus los.
"Der Großteil von den Leuten arbeitet hier und bezahlt Steuern. Es ist nicht alles schwarzweiß. Kennst du überhaupt einen Ausländer? Kennst du überhaupt einen, der einen Ausländer kennt?", fragt Alex Chris, als sie gemeinsam zum Ostkreuz radeln.
Chris sagt trotzig: "Dann suche dir doch jemand anders".
Beide schweigen missgestimmt, schließen ihre Räder am Ostkreuz an und gehen wortlos die Treppe zum Bahnsteig der Ringbahn hinauf.
Die Bahn gleitet fast geräuschlos heran, und Alex steigt ein ohne sich umzudrehen.
Chris steht wütend da und macht eine dramatische Geste, die Alex aber nicht sieht. Ganz langsam verraucht der Zorn. Ein Gedanke lässt Chris eilig die Treppe wieder hinunter und zu den Rädern laufen. Ein Grinsen macht sich auf dem schmalen Gesicht breit, als Chris das Schloss von dem braunen Drahtesel losmacht und um Alex’ himbeerfarbenes Rad windet.
Ilse Treue
Auch wegen der Ladys vom Rudolfplatz…
Es war ein sonniger Spätsommertag. Unter Schatten spendenden Bäumen saßen wir auf einer Bank am Ufer der Spree und schauten dem munteren Treiben auf dem Wasser zu. Fröhlich lachend zog eine Familie mit drei Kindern in einem Leih-Ruderkahn vorbei, gefolgt von einem Tretboot, in dem sich junge Leute vergnügten. Von der Oberbaumbrücke her kam ein Ruder-Achter, schnittig, sportlich, gleichmäßiger Schlag. Er steuerte in Richtung Köpenick. Wohin mochte die Fahrt gehen? Das zügige Tempo ließ ahnen, dass noch eine längere Strecke zu bewältigen war. Während wir uns in Vermutungen ergingen, kam ein vollbesetztes Schiff der Stern- und Kreisschifffahrt vorbei, für uns immer noch die Weiße Flotte. Spree aufwärts fahrend brachte es die Passagiere zu einem der beliebten Ausflugsziele, vielleicht zum Müggelsee, vielleicht nach Woltersdorf oder sogar bis nach Grünheide. Heute war starker Betrieb auf dem Wasser. Viele in beide Richtungen fahrende große Privat-Motorboote, die seit der Wende die Spree bevölkern, kündeten von der diesjährigen Urlaubssaison. "Wenn ich die Boote sehe, denke ich sofort an unsere Jugendjahre. Weißt du noch …?", begann ich. Ja, wir wissen noch. Gern erinnern wir uns an die Zeit des Wasserwanderns, in der wir uns kennen lernten. Später paddelten wir mit zwei Kindern im kleinen Faltboot, bepackt mit Zelt und dem Nötigsten für die Familie, ins Wochenende. Damals wurde jeden Sonnabend bis Mittag gearbeitet. Nach Feierabend brachte uns die S-Bahn vom Bahnhof Ostkreuz in den Südosten Berlins. Wir denken an das Treppauf und Treppab mit Gepäck und Kinderwagen. Es war eine Plackerei, doch wir packten es. Als die Kinder flügge waren, genossen wir unbeschwerte Jahre auf dem Wasser – Erinnerungen, bei denen wir wieder jung werden. "Lass uns noch ein Stück gehen. Die Luft ist so angenehm frisch." Nach dieser freundlichen Aufforderung meines Mannes setzten wir unseren Spaziergang fort. Zu gern pilgerten wir über die Stralauer Halbinsel. "Wie viel sich hier verändert hat." Diesmal war er es, der das Gespräch aufnahm. Die neu gestalteten Grünanlagen und der Uferwanderweg waren übersichtlich beschildert. Wir lasen: Tübbecke-Ufer, Regatta-Ufer, Wendenwiese, Am Schwanenberg. Bei dem Namen Tübbecke dachte ich an einen Roman Theodor Fontanes. In Irrungen, Wirrungen erzählt er die Liebesgeschichte von Botho und Lene, die im ehemaligen Lokal Tübbecke hoffnungsvoll begann und doch nur eine Sommerliebe blieb. Unser Weg führte vorbei an der 540 Jahre alten Stralauer Dorfkirche. Ihr Glockenklang tönt oft bis an unser Fenster. "Die Halbinsel ist so schön geworden, aber ein kleines Café hier an der Spitze fehlt immer noch", stellten wir mit Bedauern fest. Sich bei einem Kaffee ausruhen zu können mit Blick auf das Wasser, das wünschten wir uns. Ob wir das noch erleben werden? Schlendernd traten wir den Rückweg an.
Wir leben gern im Stralauer Kiez, von dem man kaum glauben kann, dass er Teil der Hauptstadt ist. Keine Sparkasse, keine Post, kein Einkaufstempel – Wahrzeichen großstädtischen Flairs – stehen den hier wohnenden Bürgern zur Verfügung. Die Verkehrsanbindung an die Innenstadt ist dürftig. Abends kommen wir nicht einmal ins Friedrichshainer Kulturhaus Alte Feuerwache, so dass wir sehenswerte Kulturveranstaltungen entbehren. Trotzdem bleiben wir hier. Unsere Söhne versuchten vergeblich, uns den Umzug in eine andere Gegend schmackhaft zu machen. Sie würden selbstverständlich helfen. Wir lehnten ab. Der Stralauer Kiez gibt seine Schönheit nicht auf den ersten Blick preis. Man muss sich schon der Mühe eines zweiten Blickes unterziehen, um seine inneren Werte zu erkennen. Wir, die vom Wasser nicht loskommen, obwohl wir selber nicht mehr aktiv sein können, wollen auf die Spree nicht verzichten. Es sind nicht nur die Spaziergänge zur Halbinsel oder zur Rummelsburger Bucht oder zum nahe gelegenen Treptower Park, die uns für manchen Mangel entschädigen. Es ist auch die abwechselungsreiche Sicht aus dem Fenster unserer Parterrewohnung. Vor unseren Augen flutet dichter Verkehr. Brummis transportieren Güter aus ganz Europa durch die Stadt. Reisebusse bringen erwartungsfrohe Touristen zu unbekannten Orten, Menschen fahren zur Arbeit oder nach Haus, fahren ins Theater oder ins Wochenende. Manchmal fahren unsere Gedanken mit. Wir fühlen uns mit dem Leben verbunden. Vom Fenster aus verfolgen wir den Wandel des Osthafens, der stillgelegt und einer anderen Nutzung zugeführt wird. Wir erleben die Sanierung der denkmalgeschützten Gebäude sowie das Werden einer Medienmeile. Und der Wandel geht weiter. Werden wir auch eine spaziergängerfreundliche Uferpromenade erleben? Die jüngste Neuigkeit vollzog sich am jenseitigen Ufer der Spree, auf der Kreuzberger Seite, genau uns gegenüber. Ein großes, in die Spree eingelassenes Bassin mit sauberem, vorgewärmtem Wasser ermöglicht den sonnen- und wasserhungrigen Berlinern und ihren Gästen riesigen Badespaß bis in die Nacht hinein. Das fröhliche Treiben aus der Ferne mit zu erleben, ist auch ein Vergnügen.
Das alles wäre schon Grund genug, die Gegend nicht zu verlassen. Doch das beste Bonbon des Stralauer Kiezes ist das RuDi-Nachbarschaftszentrum, auch unter dem Namen "RuDi — Der Stralauer Kiezladen" bekannt. Sein vielseitiges Angebot lockt Menschen aller Altersklassen weit über den Kiez hinaus an. Verständlich, dass wir zu den Stammgästen gehören. Hier wird das Miteinander ganz groß geschrieben. Interessante Menschen begegnen sich. Wir lernten Lieschen kennen, die leider nicht mehr lebt. Als Bootsmann auf einem Lastkahn half sie nach 1945, Berlin vom Wasser her wieder aufzubauen. Da ist Johanna, die erste Kranführerin Berlins, die am Neubau von Wohnblöcken in Berlin, auch in unserem Kiez, mitwirkte. Da ist Hella, die einst als Schaffnerin auf der Straßenbahn fuhr und Erika, die Eisenbahnerin – Frauen mit nicht ganz alltäglichen Berufen. Da sind all die anderen Frauen, die zahlreichen RuDi-Aktivitäten den Stempel aufdrücken. Besonders beliebt sind ihre interessanten, kulinarisch begleiteten Vorträge und Gesprächsrunden. Beim diesjährigen Kiezfest belegten einige Frauen einen Info-Stand. Mit dunkler Brille und Schirmmütze vor sengender Sonne geschützt sahen sie so lustig und lebensfroh aus, dass der RuDi-Fotograf sie sogleich im Bild festhielt und sie "Die Ladys vom Rudolfplatz" nannte. Fortan hatten sie ihren Namen weg. Bald darauf sah man sie sogar als Fotomodels beim Rundgang auf dem Platz. Es sind Frauen — oft auf sich allein gestellt — die allen Schwierigkeiten zum Trotz das Leben täglich neu meistern, prächtige Frauen, eben Ladys. Auch wegen der Ladys vom Rudolfplatz bleiben wir hier.
Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Ein dunkler Punkt unseres Wohngebietes ist der altehrwürdige S-Bahnhof Ostkreuz, den böse Zungen "Rostkreuz" nennen und der den Ansprüchen des modernen Großstadtverkehrs nicht mehr gerecht wird. "Wenn es wenigstens Rolltreppen gäbe", seufze ich manchmal. Trotzdem ist er uns lieb geworden, der Bahnhof Ostkreuz, in dessen Umfeld wir seit 56 Jahren leben.
Inka Engmann
Auf Reisen gehen
"Heute pinkel ich dich zum letzten Mal an! Ich will nun auf Reisen gehen!", sagte der kleine Hund zu dem großen alten Wasserturm am Ostkreuz.
"Gott sei Dank!", brummte der. "Geh endlich weg und komm nie wieder!"
Der kleine Hund warf den Kopf nach hinten, scharrte mit den Füßen und lief los. Er trippelte über die Straße und in den Bahnhof hinein. Er stieg in eine S-Bahn und fuhr Richtung Süden davon.
Der alte Wasserturm blickte der S-Bahn lange nach. "Hoffentlich kommt er nie wieder!", brummte er noch einmal und atmete tief durch. Wie behaglich war es, nicht mehr angepinkelt zu werden! Wie ruhig war es, wenn keiner bellend um einen herum tanzte! Zufrieden schloss der Turm alle Fenster und begann zu schnarchen.
Er erwachte frisch und ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Drüben am Ostkreuz pulsierte das Leben. S-Bahnen hielten, spuckten Leute aus, nahmen andere Leute auf und fuhren wieder ab. Diesem Treiben konnte der Turm stundenlang zusehen, bis er wieder einschlief.
So vergingen die Tage des alten Wasserturms — entweder schlief er, oder er betrachtete das Leben am Ostkreuz, das niemals schlief. Doch mit der Zeit wich die Zufriedenheit, irgendetwas fehlte ihm. Dieses Gefühl wurde immer stärker, so dass der Turm nicht mehr schlafen konnte und ganz verdrießlich wurde.
Eines Tages sah er eine junge Frau am Ostkreuz, die auf der Fußgängerbrücke nervös hin und her lief. Eine S-Bahn hielt. Das Gesicht der Frau verklärte sich, sie lief die Treppen zum Bahnsteig hinunter und flog einem jungen Mann um den Hals, der aus der S-Bahn gestiegen war. Solche Szenen hatte der alte Wasserturm schon oft gesehen. Aber heute musste er dabei merkwürdigerweise an den kleinen Hund denken. Er sah ihn fröhlich bellend um sich herum tanzen. Er barg ihn schützend des nachts in seinem Mauerwerk. Er behielt ihn argwöhnisch im Auge, wenn der kleine Hund über den Bahnhof streunte und nach Essensresten suchte und war jedes Mal froh, wenn er unversehrt zurückkehrte.
"Ach was!", grummelte der Turm ärgerlich. "Bin froh, dass er endlich weg ist!"
Aber er war nicht mehr froh. Er starrte auf das Ostkreuz, und bei jedem kleinen Hund, den er sah, klopfte sein Herz schneller. Doch hatten diese Hunde alle ein Frauchen oder Herrchen, keiner von ihnen verschwendete einen Blick an den alten Turm.
Ein Falke setzte sich auf sein Dach. "Hast du den kleinen Hund gesehen?", fragte der Turm, doch der Falke schüttelte den Kopf und flog weiter. Es kamen noch andere Vögel, aber niemand hatte den kleinen Hund gesehen. Der Winter brach herein, und es kamen nur noch Tauben und Krähen. Der Turm fragte immer noch alle nach dem kleinen Hund. "Der ist sicher längst tot!", krächzte eine Krähe. "Vielleicht ist er auch im Tierheim!", fügte eine Taube tröstend hinzu. Aber der alte Wasserturm war ganz hoffnungslos und traurig. Er starrte zwar immer noch auf das Ostkreuz, doch der Trubel zog gleichgültig an ihm vorbei.
Dann kam der Frühling. Die Rummelsburger Bucht wurde grün und auch das Ostkreuz sah wieder freundlicher aus mit all den bunt gekleideten Menschen. Doch im Herzen des alten Wasserturms war immer noch Winter. Er sah sie kommen und gehen, S-Bahnen, Menschen und Hunde, doch niemand kam zu ihm. Aber halt! Schnüffelte da nicht ein kleiner Hund in einem der Bahnhofsmülleimer herum? Und kein Frauchen oder Herrchen war da um ihn zu rügen! Ein starker Frühlingsregen prasselte los, doch dem alten Wasserturm war, als hätte die Sonne nie schöner geschienen.
Der kleine Hund trippelte aus dem Bahnhof hinaus, über die Straße und auf den alten Wasserturm zu. Dann stand er vor ihm, den Kopf geduckt, den Schwanz zwischen den Beinen und sah ihn aus treuen Hundeaugen an. "Ich will dich nie wieder anpinkeln!", gelobte er kleinlaut. "Du bist ja ganz durchnässt!", brummte der alte Wasserturm und ließ seine Tür aufspringen.
Thomas Rehaag
Flammenengel
"Jetzt kommen bald die Abrissbirnen", sagte Schulzi und spülte den Brocken Pizza Funghi mit einen Schluck Becks runter. Er begann zu husten. Balder klopfte ihm den Rücken ab. "Geht schon!", rief Schulzi. Seine geröteten Augen hefteten sich tränend an Balders Gesicht. "Lass ab!" Balder ließ. Schulzi brach sich das nächste Stück ab.
"Stopf, stopf, stopf! — Versuch wenigstens einmal, dein Leben zu genießen!"
"He, he! Pass auf, was du sagst!" Schulzi ballte die Linke zur Faust.
"Hast ganz schön abgebaut!", konterte Balder verlegen.
Schulzi beugte sich vor und streichelte Balders linke Wange. "Mach uns noch zwei Biere auf." Schulzi lehnte sich an die speckige Raufasertapete und gähnte. Seine Wampe stülpte sich selbstverliebt über seine mickrige Männlichkeit.
Balder öffnete die Flaschen. Schwälle von Schaum ergossen sich über den ausgebleichten graublau-karierten Teppich. Sie tranken.
Beide waren Männer in den "besten Jahren" und Loser und seit der Lehre Freunde. Sie machten sich keine Illusionen mehr. — Wenn sie träumten, dann nur noch nachts. Sie gruppierten ihre Lebensgeister um Stütze und Schwarzarbeit.
Balder schrieb Dramen und Kurzgeschichten, um nicht abzudrehen, wie er jedem erklärte, der ihn nötigen wollte, sein Geschriebsel irgendeinem Verlag zu schicken.
Schulzi wäre in der DDR fast Juniorenbezirksmeister im Boxen geworden. Heute schlug er einmal die Woche auf Ledersäcke.
"Was grübelst’n?", fragte Schulzi, die Flasche ausspritzend.
"Ob die es schaffen, unsere Anträge rechtzeitig zu bearbeiten, ich meine, die Sparkasse hat meinen Dispokredit storniert, ehm gesperrt."
"Lahme Zicke!" Schulzi kniff ihn in den rechten Oberschenkel.
"Aua! Brutaler Kerl!"
Schulzi tätschelte ihm beide Wangen.
"Pranken wie Schmirgelleinen."
"Na, na!" Schulzi schob ihm den Rest der Pizza hin. Balder aß, um Spannungen abzubauen.
"Ich pump dir was!" Schulzi nickte ihm gönnerhaft zu.
"Werd auf dich zurückkommen, Schulzi", sagte Balder kauend. Züge ratterten in der Nähe vorüber. Hundegebell stieg aus dem Hinterhofloch.
"Kriegen die nicht in Griff mit dem Umbau. Nicht die korrupten rot-grünen Brüder… In zehn Jahren sieht der Bahnhof genauso Scheiße aus."
"Aber die Häuser werden sie killen — Alteigentümer und so…", erwiderte Balder und drehte sich eine Zigarette.
"Sag ich ja… Soll ich nicht lieber?"
"Schaff ich alleine, Schulzi." Balder leckte am Klebestreifen. Schulzi gab ihn Feuer.
"Hab noch ’n bisschen Dope da für nachher."
"Dafür sind wir nicht 'klien' genug." Balder deutete auf die Kiste Bier.
"Warten wir’s ab", sagte Schulzi und schaute zum Fenster.
"Woran denkst du?" Balder versuchte, Schulzis Gesichtsausdruck zu entziffern. Es gelang ihn nicht.
"Die da draußen wuseln herum… Du und Tute seid meine einzigen Freunde. Ein Freund geht mit dir durch Dick und Dünn… Ein Kamerad…"
"Danke Schulzi. Kannst auf mich zählen."
Schulzi riss sich vom blasser werdenden Lichtschein los. "’n Pfeffi?"
"Hab nichts dagegen, Schulzi."
Schulzi watschelte zur Küche. Die Türangel quietschte laut. Flugzeugsummen schwoll an. Balder eilte dem Brummen entgegen. Ihn wurde schwarz vor den Augen.
"Haste Hummeln im Arsch?" Schulzi schaukelte die Pfeffiflasche in den Armen. "Mein Baby!" Er gackerte infantil. Balder gab es auf.
Sie setzten sich wieder an die Wand. Schulzi schenkte die Gläser voll. "Prost!" — "Prost!" — "Au, der flutscht!" Schulzi fuhr sich mit dem Handrücken über seine Lippen. Er schnaufte. Balder würgte. Es rutschte. Die nackte Glühlampe an der Decke blendete ihn. "Wie steht’s mit der Liebe?"
"Hm?" Schulzi sah ihn ungläubig an. Balder trank aus.
"Na gut! – Was macht Fraucke?" Schulzi winkte ab. "Der Grätsche hab ich den Laufpass gegeben. Machte dauernd mit anderen Kerlen rum. Noch einen?" Balder bejahte.
"Und sonst?"
"Nutten kann ich mir nicht mehr leisten, Balder." Schulzi formte die rechte Hand zum Ring und schwenkte den Unterarm.
"Armer Kerl!" Balder grübelte. "Vielleicht… Ach lass es…"
"Was’n los, Kleiner? Hast’n Moralischen?"
Balder dachte an seine Geschichte. Er lächelte.
"Hast schon vorher was genommen?", sagte Schulzi.
Balder dachte an Propellermaschinen.
"Nee. Ziemlich funktionell dein Verhältnis zur Liebe."
Schulzi goss die Gläser voll und öffnete das Bier. "Denkste, ich fange an zu joggen oder mach 'ne Diät?!" Schulzi zeigte ihm einen Vogel und rekelte sich. "Ich will leben, verdammt noch mal!" Er schmetterte sein Glas gegen die Wand.
"Schulzi!" Balder deutete auf das herablaufende Grün.
"Muss im Frühling eh renovieren." Schulzi setzte die Schnapsflasche an. "Denkste, ich mach hier auf Kultur? Scheiß drauf!" Er starrte auf den Boden.
Balder wollte ihm etwas Ermutigendes sagen. Ermutigend ohne pathetisch zu klingen. Sein Rausch verhinderte die klare Ausformulierung seiner fliehenden Gedanken. Er streichelte Schulzis Glatze und küsste ihn auf die Stirn.
"Biste meine Alte? Igitt, igitt!" Schulzi schüttelte sich.
"So Schulzi! — Ist hier nicht wie bei schlechten Eltern." Er stand auf und holte ein neues Glas aus dem Getränkefach der verzogenen Schrankwand. Danach knipste er die lila Leuchtstoffröhre an. "Barlicht", murmelte Balder und löschte den Russenmond.
"Bist ’n guter Junge, Balder." Schulzi streckte die Beine aus. "Vielleicht kommt meine Alte wieder. Hat mir zum Abschied die Lippe zertreten." Schulzi kaute auf seiner Oberlippe. "Richtig gnubblig die Narbe."
"Bist ’n Held, Schulzi."
Schulzi wies auf seine rechte Seite. "Komm."
Balder ließ sich an der Wand herunter gleiten. Sie schauten in das lila Licht. Ein Hauch von Friedlichkeit kehrte ein. Schulzi legte den Arm um ihn. "Ich erzähl dir 'ne Geschichte." — "Tu dir keinen Zwang an, Kleiner."
"Also gestern Abend steh ich auf den Bahnhof Ostkreuz, beobachte ’n bisschen die Leute. Feierabend, ziemliche Hektik. Gar nicht so meine Zeit."
"Machste doch immer."
"Wen könnte ich lieben, wer würde mir gefallen. Und vor allem, wen würde es nicht stören, wenn ich ihm Komplimente mache."
Schulzi kramte das Cannabisdöschen aus dem Brustbeutel. "Weiter geht’s…"
Balder atmete tief ein und breitete theatralisch die Arme aus. — "Nichts! Keine Nadel im Heuhaufen!" Er faltete die Hände im Schoß. "Jo machte prima Sprüche. Die Frauen flogen auf ihn. — Kaffeehausdamen." Balder seufzte. "Warf sich voriges Jahr vor die U-Bahn, gerade Mitte Vierzig." Schulzi legte mehrere Blättchen aneinander. "Und? Die Geschichte?"
"Geduld. — Na ja, die haben keine Zeit für Galanterien. Ihre treusten Kameraden sind Freund Handy, Freund Zeitung, Freund Atomino und Freund Roman. Die merken nichts mehr. Völlig ausgedörrt." Balder saugte sich an der Flasche fest. – "Äh. Jedenfalls wurde mir der Trubel zu viel, besser gesagt, er ging mir auf den Geist. Ich richtete meinen Blick in die Ferne, vagabundierte über den Himmel…"
Schulzi entzündete die Dopekugel. Balder schwieg eine Weile. Schulzi bröselte Tabakreste auf den Blätterteppich.
"Ich hörte Motorengeräusche von rechts. Kamen mir bekannt vor. — Positionslichter — Rosinenbomber. 'ne DC-3. Die kurvte mit solcher Akkuratesse über dieser ganzen Hektik, mit soviel Schwung und Anlauf… Manchmal möcht ich religiös sein." Balder hielt die Flasche vor das Licht. Schulzi gab ihn die qualmende Tüte. "Wirste gleich." Balder inhalierte und hielt die Luft an. "Ha. Schien nicht von dieser Welt zu sein, die Maschine."
Schulzi schob die CD ins Laufwerk. Keltische Musikklänge untermalten dumpf wallend eine hohe Frauenstimme. Schulzi nahm den Joint an sich und zog durch die ineinander greifenden Hände. "Wirkt schneller, Balder."
Balder legte sich auf den Rücken.
"Der nächste Zug fuhr ein und… Finito." Er pfiff zwei Mal, die rechte Hand in der Luft bewegend. "Von vorn und von hinten Stöße. Machte mich die Treppe hinunter… Wollte am Imbisswagen 'ne Bockwurst essen und…"
"Rauch mal."
Balder öffnete die Lippen."'Ey!' rief es plötzlich. Ich dreh und wende mich, ohne was zu sehen. 'Hier bin ich!' Und ich sah."
"Lass mir auch noch was stehen", sagte Schulzi vorwurfsvoll. Balder öffnete die Lippen.
"Aus der Finsternis hinterm Zaun, Quatsch, auf dem Zaun saß so 'ne Gestalt, ich zwickte mich in den Hintern, aber sie saß immer noch da. Die DC-3 flog noch 'ne Runde. 'Ist dir nicht kalt?' fragte ich. — Grüne Kniehosen, rotes Nicki, rote Socken in schwarzen Knöchelturnschuhen. 'Willste mich adoptieren?' fragte die Erscheinung und schwupps, sprang sie mir vor die Füße. 'Hier bin ich!'
'Nett von dir. Bist ja ganz schön gewachsen. Sah da oben gar nicht so riesig aus.'
'Nenn mich einfach Key. Was machst’n heute noch so?'
'Also Karin, ehm, Key, bist ja ganz schön frech', sagte ich. Wir gingen ein Stück Richtung Ausgang. Key hing sich bei mir ein. Unter der nächsten Laterne lachte mir Key in die Augen. Und ich sage dir, Schulzi, nie hab ich solch rotes Haar und solche grünen Augen gesehen! — Machte 'n etwas finnischen Eindruck. Nase und Wangen voller Kakaofleckchen… Na ja, es blieb mir nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen."
Schulzi streckte sich neben ihn aus.
"'Willste 'ne Bockwurst essen?', fragte ich sie. Ich führte sie zum Wagen. Aber sie grub ihre spitzen Fingernägel in meinen Oberarm. 'Mit Döner kannste mich mästen', sagte sie. Also ab zum Dönerladen.
'Für uns 'n Riesendöner mit extra Soße und zwei Cola.' Bekleckerte mir wie immer Jacke und Schuhe. Sie entwickelte einen gesunden Appetit. Hörste mir überhaupt noch zu?"
"Sag mal, unter Stoff standste gestern nicht?" fragte Schulzi und rülpste. "'tschuldige…"
"Die CD ist durch…"
"Schaltet sich automatisch um, Balder, immer die selbe Leier. Genau das Richtige für Kifferigel."
"Hatte gestern nur zwei halbe Liter intus. Glaub mir, Schulzi." Schulzi gähnte. Balder begann es egal zu werden. Zunge und Gaumen wurden pelzig. Seine Stimme schien nicht mehr ihm zu gehören. Wie fortfahren?
"Der erste Bulle, dem wir begegneten, musterte uns misstrauisch. Key und ich ähnelten uns wirklich nicht. Er ging weiter. 'Bin ich müde', sagte Key. 'Wo wohnst’n überhaupt?', tastete ich mich vor. 'Bei meiner Großmutter, der alten Hexe.' Sie verzog die Lippen und schmiegte sich an mich.
Wir schlenderten am Park entlang und bogen in die Straße ein. 'Die Kuh ist heute nicht da. Sie bleibt die ganze Nacht fort. - Gut für uns, nicht?' Ihre Augen zwinkerten mich spitzbübisch an und sie steckte mir die Zungenspitze ins rechte Ohr."
"Bist auf die Nutte reingefallen", flüsterte Schulzi. Balder ließ sich nicht mehr stören. Er hob leicht ab.
"Ich sah nach oben. 'Soll nicht regnen heute', sagte Key. 'Propellermaschinen klingen so vergeblich', sagte ich… — 'Du hast einen sitzen, alter Mann.' Sie biss mir ins Ohrläppchen. 'Ich sammle Geräusche.' — 'So was wie’n Geräuschemuseum?', fragte ich sie. 'Manchmal werden sie Musik.' Sie schloss die Haustür auf.
Sie griff meine rechte Hand und zog mich die Treppe rauf. Der Aufgang roch nach Katzenpisse und altem Frittenfett. Ich machte mich auf was gefasst.
'Unterm Dach', flüsterte sie, 'Feuergeister'. Sie drückte den Zeigefinger auf die Lippen. 'Pscht!' Sie führte den gusseisernen Schlüssel ins Schloss und lehnte sich gegen die Tür.
'Warte. Ich mache Licht.' 'Die rote Laterne', entfuhr es mir verwundert. Sie schlüpfte aus den Turnschuhen. 'Du auch…' Ich nestelte an meinen Schnürsenkeln. 'Die vielen Hunde…' — 'Ja, ja'. Sie winkte mich in das Zimmer am Ende des Flurs. Am Boden lagen weinrote Felle lose aneinander. Die Wände waren schwarz gestrichen, die Decke blendend weiß. In der Mitte des Raumes stand ein großes Kanapee aus blau-grünem Leder. In den Ecken standen unterschiedliche Tonbandtypen. 'Hab ich einen Durst', sagte ich.
Key betätigte den Lichtschalter. UV-Licht kroch aus der nackten Fensternische. Sie füllte blaue Kristallgläser mit einer himbeerroten Flüssigkeit. Ich trank und legte mich aufs Kanapee. Sie sprang von Gerät zu Gerät. Das Gebräu schmeckte nach Sangria und Amaretto.
'So.' Sie nahm Anlauf und plumpste auf mich. Sie knuffte mich ins durchwachsene Lendenfleisch. Dann umarmte sie meinen Brustkorb und vergrub ihren breiten Mund in meinem aufgeschlitzten Hemd."
Schulzi griff sich an die Hose.
"Uhren klingelten, schlugen oder piepten. Elstern stotterten krächzend gegen Amselgesang, Lokomotiven pfiffen, Fahrstuhlmusik legte sich auf die Ohren… Key stützte das Kinn auf beide Handflächen und klinkerte mit den Augenlidern. Ihre Schenkel umklammerten meine Beine. Ich versuchte mich zu befreien. — Es gelang mir nicht. Ich zappelte wie ein Brummer im Spinnennetz. Key, dieser Satansbraten, grinste nur. Sie legte den Kopf auf meine Schulter und säuselte mich an.
'Fährste mit mir Riesenrad?' — 'Vielleicht.' — 'Hm?'
Rollendes Brummen kreuzte sich; abpfeifende Luftzüge…
'DC-4, Tante Conny…', sagte ich leise.
Rummelklingklang, Pferdegetrappel und Spielautomatengesänge fielen von den Seiten in die Spuren…"
"Denk an Aktentaschen", stöhnte Schulzi.
"'Bist netter als mein Vater.' — 'Bin’n Wrack, Key.' — 'Und ziemlich gut gebaut.' Sie ruckelte auf mir herum.
'Key, woll’n wir nicht…'
Sie bearbeitete meine Lippen mit Mund und Zunge. Ich wollte nicht zerreden!"
Balder drehte den Kopf zu Schulzi. "Wie ’ne Tiefseekrabbe, seltsam…"
Er wandte sich ab und betrachtete den Wasserfleck an der Decke. Er kicherte irre. "Alaska…"
"War auch so’n Schlüsselkind, Kleiner…" Schulzi nieste. Balder versuchte auf der Fährte zu bleiben.
"Jedenfalls verzauberte sie mich und ich wagte auch nicht nach ihrem Alter zu fragen." Er grübelte. "Kam mir wie ’n Bruder vor. — Kaum Brust, blühende Formen…"
"Der Stoff, Balder."
"Lass mal, Schulzi."
"Bachchoräle, Bebop, Cool Jazz, Joy Division… 'Bin unten glatt wie ’n Kinderpo. Willste mal sehen?'
'Glaub ich dir, Key.'
'Bist zu feige, oder?'
'Nee, aber ich hab grad ’ne Geschichte im Kopf. Sublimationsarbeit, verstehste?'
'Schreibste auch über mich?'
Ihre Zunge spielte mit meinen Wimpern.
'Weißt du, wenn die das Riesenrad in Kreuzberg hinkriegen, lad ich dich zu ’ner Fahrt ein. Und dann gehen wir in den Plänterwald und treten Boote, inklusive Döneressen ohne Ende…'
'Biste so reich?'
Sie steckte den Zeigefinger in meinen Bauchnabel und ließ ihn langsam kreisen.
'Nee, Key, bin ich nicht. Bin vollkommen pleite.'
'Armer Kerl.'
'Werd mich morgen für Ein-Euro-Jobs anmelden.'
'Spinner. Hmmm…'
'Key…'
'Ich geh ’n bisschen… Mm?'
'Mmmm… hach…'"
Als Balder schwieg, fing Schulzi an zu heulen.
"War nur 'ne Geschichte, Schulzi… Hab wahrscheinlich den Faden verloren."
Wie es mit Balder und Key weitergeht, steht in den Sternen. Er interessiert sich für alte Flugzeuge, wie gesagt.
Britta Koth
Kreuz und Quer
Die Anfänge vieler Romane versinken im Regen. In diesem Fall regnete es wirklich. Es regnete so sehr, dass man nicht sehen konnte, wohin man lief. Weil der Schirm so tief vor den Kopf gehalten werden musste, damit die rasenden Böen zusammen mit dem nassen Geschleuder einen nicht durchnässten, sofort wie mit einer Lawine wegschwemmten. Es war acht Uhr am Morgen und jedermann musste die Bahn kriegen, jedermann hetzte zwischen den Baustellen, den aufgeschlagenen Gehwegen, den Stangen der Gerüste, dem ab und zu zwischen dem Jagen der Tropfen auftauchenden leuchtenden Orange der Bauarbeiter, den Papierfetzen am Boden, den Beilagen, die aus der Berliner Zeitung oder Morgenpost einfach herausgeschlagen wurden, bevor jedermann in die U-Bahn-Tunnel abtauchte, in die wasserfreie Zone. In wetterfreies Areal. Wo jedermann Schirme schüttelte, Frisuren betastete und wahrscheinlich bis zur Friedrichstraße wieder getrocknet wäre.
Der Kunde heute ist kein Freigeist. Ein Mensch, der aufs Äußere achtet, eitel, selbstgefällig – einer von denen, die auch jetzt noch fragen: "Wie bitte – Sie wohnen im Osten? Sie machen Witze…", denen man das also am besten gar nicht erst erzählt; aber in Berlin muss man erzählen, wo man lebt – ohne dass man erzählt, wo man lebt, fängt die Kommunikation gar nicht erst an, weil man vorher ja nicht weiß, über wen man lästern kann – über die Doofen aus Dahlem, die Kiffer aus Kreuzberg, die Spießer aus Spandau. Aber Werbemenschen wie ich genießen ein wenig Narrenfreiheit, die suchen noch nach kreativen Impulsen – und die müssen sie auch da suchen, wo andere lieber gar nicht erst hingucken, in die hundeverschissenen Ecken in Friedrichshain oder die fiesen, immer noch grau verputzten Mietruinen im Prenzlauer Berg.
Ostkreuz. Feuchtigkeit sitzt im Tweedkostüm, auf meinem rechten Stiefel bildet sich ein weißer Rand von der Nässe. Zwischen den Massen, die sich durch die Schwärze der Metalltrassen schieben, versuche ich auszuscheren und auf den Fruchtstand zuzusteuern. Diesen Fruchtstand, der das Schönste ist, was ich in den ersten Monaten in Berlin zu sehen bekommen habe. Nicht das Brandenburger Tor, nicht der Kurfürstendamm, nicht das Rote Rathaus, die Museumsinsel usw., nein, diese von Menschenschlieren umflossene, von der vollkommenen Düsterkeit der Schienen umschlossene, wundervoll leuchtende Pyramide aus Mandarinen-Orange, Bananen-Gelb, Elstar-Rot, den saftigen Sonnentönen der Grapefruits, Melonen und Zitronen, den weinbrandfarbenen Birnen, den überfrosteten Blau-Trauben. Wie ein sonnenbeschienenes Atoll schwebt diese Fruchtinsel im steinfarbenen Meer des Ostkreuz-Betriebs. Immer muss ich dahin treiben, kurz anlegen, eine Tüte Obst, manchmal nur eine einzige Frucht kaufen, aber mich kurz mit dem mürrischen Verkäufer mit seiner sauberen, grünen Schürze verständigen: "Diese Grapefruits – weiß oder rot?" "Rosa sind die Pampelmusen", sagt er, "und frisch sind se alle, meene Dame!" Bevor ich sie verstaut habe, ist die Bahn weg. Die nächste, meldet die Tafel, kommt aufgrund von Bauarbeiten erst in zirka 30 bis 45 Minuten. Das ist ganz schlecht, schlecht für mich, für den Kunden, schlechter geht es gar nicht, ich greife zum Handy, alle greifen zum Handy, reden durcheinander in die Telefone, gestikulieren, einer brüllt und rennt auf und ab; mein Akku ist leer. Durch den Menschenwirbel rudere ich zu einer Telefonzelle, es ist kein Hörer drin, an der Wand steht: "Wessi, halt’s Maul!" und von der Blumenbude her ruft eine Frau: "Tja, Fräuleinchen, det wa wo nix!" und lacht. Es fängt wieder an zu regnen, ich taste in der Tasche nach den dicken Rundungen der Grapefruits, der Pampelmusen, und jetzt fange ich an zu heulen, weil mir weiter einfach nichts mehr einfällt. Da ist keine Bank mehr, wenn man das Ostkreuz verlässt, da gibt’s einerseits Würstchen und Hotdogs und andererseits einen Maschendrahtzaun, und da kann man ganz gut heulen.
Der Junge, der sich neben mich stellt, ist durch all das Wasser kaum zu sehen, eine Kapuze hängt über das Gesicht, schwarz, er zieht die Nase hoch, wie Kinder das tun, laut und schnoddrig, und ich trete einen Schritt zur Seite, weil ich ahne, was gleich kommt. "So ist’s recht, pass schön auf deine Stiefel auf", grinst er und geht in die Telefonzelle. Da angelt er hinter dem Telefonkasten nach dem silbernen Rohr der Leitung, an dem schwarz und blind der Hörer hängt, steckt irgendwas zusammen, wählt und ich denke: "Ich sollte da jetzt drin stehen." Da kommt er schon wieder raus und sagt zu den nassen Pflastersteinen: "Geht nicht", und ich frage: "Ich muss auch telefonieren, wo kann ich das hier?" Er sieht mich grinsend an und sagt: "Kein Handy?" "Leer". "Und es ist wichtig", stellt er fest. "Sehr", heule ich, "und eilig, ich habe einen Termin und die Scheiß-Bahn fährt nicht, also wo kann…" und er sagt: "Bei mir – ich wohn hier", er deutet nach hinten, "Simplonstraße, gleich um die Ecke" – er tritt einen Schritt näher und ich sehe sein Gesicht, schmal unter der Kapuze und er flüstert: "Ist auch völlig ungefährlich!" Warum ist der so braun, muss ich denken, sage: "Okay, danke", der ist braun, wie ich nicht bin nach drei Wochen Dachterrasse oder Thailand oder den Azoren letzten September mit Andreas, aber ich bin auch blond, aber er ja vielleicht auch; ich laufe ihm hinterher, der schneller ist als ich, über Pfützen springt, um die Hundescheiße herum, durch die wechselnden Vorhänge des Regens sehe ich ihn rennen, schnell, geschickt, wegen Wind und Regen nach vorne gebeugt – er hat keinen Schirm – bei dem Wetter … und dann stehen wir vor einem Haus, groß, grau, verwitterte Fassade, er stemmt sich gegen den Flügel einer schweren Tür, blinde Spiegel zeigen zwei Besucher: einen in Kapuze, eine mit den schwarzen Trauerspuren der Mascara, die dann ja doch nie wasserfest ist, und – "Peter heiß ich" – Peter reißt sich die nasse Kapuze vom Kopf, der kahl ist, nicht einfach kurz geschoren, kahl und formschön, und Peter also zieht sich gleich den ganzen Pullover aus und darunter hat er nur ein T-Shirt, weiß, und er ist dunkelbraun und es ist November, so dass ich, während er die Treppe hochgeht, frage: "Du warst im Urlaub?" und er antwortet: "So kann man es nennen…" und kramt in seiner ausgebeulten Jeans nach einem Schlüssel. "Das dauert jetzt", lächelt er, "ist nicht meine Wohnung – ich hab’ sie nur im Winter, ich merk mir nicht, mit welchem Schlüssel…", und dann geht die Tür doch auf und wir stehen in einem riesigen Flur voller Fahrräder und bunter Bälle. "Das Telefon… ich lass dir klar den Vortritt" zeigt er und verschwindet in einem Zimmer. Ich heule nicht mehr. Dabei geht es um das Wichtigste: Geld. Ich muss Geld verdienen – und dieser Kunde ist Geld, ja Gold wert. Ich wähle seine Nummer, und als ich das Freizeichen höre, sehe ich, wie Peter den langen Flur entlang läuft, über honigfarbene Dielen; er hat die Jeans tief auf den Hüften sitzen, ein Frotteehandtuch um seine Schultern und irgendein Gelenk knackt leise beim Gehen.
"Radbruch!", schnarrt die Stimme und ich entschuldige mich – die Bahn…, sehe, wie Peter langsam das Handtuch über seinen Nacken zieht, in die Küche geht, ich höre das Klappern von Geschirr – und ich frage: "Wann, sagten Sie?" "Ja, hören Sie mich denn nicht?" fragt Radbruch und ich sage: "Schlecht." Und Peter kommt aus der Küche und hält fragend eine Tasse Tee hoch und ich nicke und wische an den Trauerspuren und dann fragt Radbruch: "Ich frage mich, ob Sie wirklich engagiert sind… ob Sie wissen, was davon abhängt; wir haben hier ein enges, ein extrem enges Timing, da ist kaum Luft und allein das Briefing ist…, wir haben ein wahres Brikett hier liegen. Also: es ist wichtig, ich sage es noch einmal …wich — tig, dass …" "Jetzt höre ich Sie gar nicht mehr", sage ich und lege auf. "Alles klar?" fragt Peter aus der Küche und ich sage: "Alles klar." "Zeit für einen Tee?" und er schenkt schon ein. "Was schulde ich dir?", frage ich und er lacht: "’n Euro? Mir fehlt ein Euro für Tabak und Tobias hat mal wieder mein Portemonnaie, das ist es." "Tobias wohnt hier?" "Tobias wohnt hier, ich wohne hier, hier wohnt der eine und der andere – aber: keine Frauen!" "Er sollte Mädchen sagen", denke ich und dabei denke ich an mein Alter und dieser Junge hier, der ist maximal Anfang 20, und wenn ich in Meetings sitze, dann sind die Grafiker, die Kontakter, die Fotografen, dann sind sie alle meistens jünger als ich, denn mit Mitte dreißig ist man alt in meinem Job. "Bist du aus Berlin?", will ich wissen und ich setze mich an den großen weißen Tisch, auf dem ein Durcheinander aus gebrauchtem Geschirr, Postkarten, einem Stadtplan, Zigarettenpapier und Figuren aus Überraschungseiern liegt. "Adlershof", sagt er. "Warum keine Frauen?", will ich hören, und er sagt, nach vorne über den Tisch gebeugt, mir entgegen: "Weil wir alle mit Männern schlafen." Und ich werde rot. "Ist dir das peinlich?" Er grinst. "Nein, nur überraschend, wie du das sagst…" "Das sage ich, wie man es sagt", er rührt in seinem Tee. "Wenn du Geld hast und Zeit, könntest du mich zum Essen einladen. Ich habe seit zwei Tagen nichts mehr Richtiges gegessen." Ein Sonnenstrahl fällt plötzlich auf den Boden und in der Küche wird es Sommer. "Ich habe Geld", sage ich und er strahlt, "und Zeit". "Cool. Ich zieh mir mal was an", und er geht, schlendert, wiegt den Flur entlang. "Schade", denke ich. Wir fahren nach Treptow, Peter kauft Tabak, wir gehen an der Spree entlang, er hat Bälle mit. Und ich denke: "Das ist peinlich. Jonglieren. Diese abgelatschte Metapher von Freiheit. Wie Straßentheater. Das Leben ist ein Spiel…". Wir setzen uns dennoch auf die Liebesinsel, vom Regen keine Spur, er erklärt mir die Reihenfolge, das Werfen, das Wechselspiel von Hochwerfen, Fangen, Weitergeben, wie lange man trainieren müsse, wenn denn das klappen soll, ohne dass ein Stocken, eine Pause, ein Moment des Bremsens darin liege, wie einwandfrei die Hirnhälften miteinander korrespondieren müssten, dass sich neue Verbindungen zwischen rechtem und linkem Gehirn ausbildeten, neuronale Netze, bei Jongleuren, Artisten, und auch bei jedem, der beide Hälften miteinander in Kommunikation bringe, aber eben nur, wenn man ständig in Übung bliebe, sich immer neu bemühen würde, und er stand vor mir, jetzt nicht mehr gebeugt, sondern aufrecht, groß, gerade, braun, mit einer ganz ebenmäßigen Haut, korallenfarbenen Lippen, schmalen, großen, kräftigen Händen. Er legt einen Finger an meine Stirn, kommt dicht heran und fragt: "Hast du die auch, diese Vernetzungen?" und gibt mir die Bälle. Und ich erzähle ihm, dass ich nicht Ball spielen könne, nie richtig Fangen und Werfen gekonnt habe und nicht diese verschiedenen Bewegungen rechts und links, also oben auf dem Kopf mit einer Hand kreisen und gleichzeitig auf den Bauch schlagen – so, wie man das als Kind versucht hatte. Und er sagt: "Schade, da entgeht dir viel". Dann schlägt er sich auf den Bauch und sagt: "Ich hab Hunger – gehen wir?" Ich hätte zum Essen bei Andreas sein müssen, hatte aber "vielleicht" gesagt, es war schon Mittag, er würde alleine essen und mir keine Vorwürfe machen, aber natürlich verärgert sein, weil er Unzuverlässigkeit hasst und auch gerne Reden hält, in denen er meine Neigung anprangert, auszuschlafen oder auch mal morgens zum Beispiel, wenn es regnet, das Joggen wegzulassen. Zurück gehen ich und Peter, gehen Peter und ich, den schönen Weg bis zu dem alten Ausflugslokal am Fluss. Er dreht sich eine Zigarette und raucht im Gehen. Beim Essen erzählt er, er arbeite und lebe in einem Wanderzirkus – aber nur im Sommer. Dieses Jahr seien sie in Italien gewesen, Toskana, heiß sei es gewesen, nachts in den Wagen, tagsüber im Zelt, aber er vertrage die Hitze besser als dieses Klima, obwohl Berlin die einzige Stadt in Deutschland sei, in der man es aushalten könne, im Osten, er fahre selten nach Westdeutschland, selten über die Friedrichstraße, da sei eine Art Grenze, immer noch. Dabei isst er gratinierten Schafskäse mit Thai-Gemüse, die Bälle liegen neben ihm auf dem Tisch. "Ich kenne nur Florenz", sage ich, "weil ich dort mal bei einem Texter-Seminar war, das ein Kunde bezahlt hat. Wunderschön, wir wohnten in einem Palazzo mit Blick über die ganze Stadt, alles Werbeleute." "Ich hab’s mir gedacht", lacht Peter, "Werbung. Ich kenne euch", und er beugt sich über den Tisch, mir entgegen, "ihr macht die Welt, wie es euch gefällt." "Mir würde es jetzt gefallen, nicht zu reden". "Wir schweigen", sagt Peter und isst noch drei Portionen Reis.
Dann erzählt er von Tobias, der mit Lars verreist sei – mit Lars und seinem Portemonnaie – und der vermutlich erst am Anfang der nächsten Woche zurück sei und er sich um die Katzen kümmern müsse und er Katzen gar nicht möge und diese Garfields insbesondere hasse, die sich, kaum sei er weg, in sein Bett legten und dort schmuddelige Abdrücke aus Haaren und Pfotendreck hinterließen und er auch gar nicht recht wisse, wie die füttern, da müsse er mal seine Ex-Freundin anrufen, um das herauszufinden – und dabei isst er sich durch die Käseplatte. Ich bin erleichtert. Nach den Abendessen mit Freunden, die jede Kalorie zählen, nicht nur die, die sie selber, auch die, die ich esse – oder besser noch: gern gegessen hätte, denn in ihrer Gegenwart traute ich mich kaum, etwas anderes als Tomatensalat zu essen, wobei Andreas auch darauf achtet, dass Art und Menge des Öls stimmen, die daran sind. Und darauf, dass immer genügend Vitamine im Haus und auf dem Teller sind. Besonders jetzt, im Winter. Ihm habe ich es zu verdanken, und auch dem morgendlichen Joggen, dass ich für mein Alter noch nicht hoffnungslos adipös bin, denn ich esse gern. Und nun sitzt da Peter, und isst und schwatzt und lacht, und es fällt ihm nicht mal ein, über die Kalorien nachzudenken und er sagt, als er eigentlich schon fast platzen müsste: "Das war so geil – diese Einladung kam total gut!" und ich frage mich schon, was er wohl morgen essen wird, wo doch Tobias… und als ich ihn das frage, sagt er: "Heute bin ich satt", und ich bezahle.
Es wurde dunkel, es begann zu regnen und Peter und ich, ich und Peter, liefen zum Treptower Park unter das S-Bahn-Dach. Andreas wartete bestimmt auf mich. Wartete ungeduldig, weil er wissen wollte, wie mein Meeting ausgegangen war. Ob ich den Kunden an der Angel hätte. Was dabei rüber käme. Ob es ein längerfristiger Deal sei – oder ob ich weiter baggern müsse. Wir sprangen in die Bahn und Peter blieb stehen, lehnte den Kopf an die Stange und sah mich an. Und ich dachte: "Schade." Ich dachte an die honigfarbenen Dielen, den langen Tunnel des Flurs, hörte das Gelenk, das beim Gehen leise geknackt hatte – und wir waren schon am Ostkreuz. Auf dem Bahnsteig war es finster wie immer, das Trappeln Tausender von Schuhen auf den Steinstufen der Überführung, der Geruch nach Bratwurst, das knallende Heranschlagen der Bahnen, das von Böen getragene Rauschen der Regenwellen – das alles war genauso scheußlich wie vertraut, und ich sah die magere, breite Schulter von Peter, der geschmeidig neben mir ging, langsam, raumgreifend und jetzt schweigend. Wir gingen den Bahnsteig entlang, bis er zu Ende war. Und hier müssen wir uns jetzt verabschieden – aber was sagen? Soll ich sagen: Das war ein netter Tag und… ja… und was dann? Bis bald? Oder: Sehen wir uns wieder? Wozu? Wir kennen uns nicht, haben Tee zusammen getrunken, ein wenig geplaudert, zusammen gegessen, wie auf einer Reise, ein paar zufällig zusammen Reisende, und jetzt fährt jeder in seine Richtung weiter, da muss man nicht mehr sagen als: "Schöne Fahrt noch weiterhin!" und wir standen am Rand des Gleises und Peter sagte: "Ein schönes Leben noch weiterhin" und stand vor mir, die Kapuze wieder auf, der Kopf darunter schon fast verschwunden und ich musste lachen. "Was ist so komisch?", fragte er und zog fröstelnd die Schultern hoch und ich, ich umarmte ihn, und er kam mir entgegen, halb, indem er den Kopf beugte, dann aber nach meiner Taille griff und ich sagte: "Sie kennt sich also mit Katzen aus, deine Ex-Freundin?" und er sagte: "Ich schlafe auch mit Frauen." "Auch, wenn sie über dreißig sind?" Er sagte: "Wenn sie mir das Essen bezahlen…" und das mochte sogar stimmen.
Mein Schirm stand noch in der Simplonstraße, und auf dem Weg dorthin plauderte Peter von der Misere von Tobias, der in drei Semesterferien zehntausend Euro verdient hat, "sich erkellnert hat", und nun – das Geld immer hübsch in einer Porzellandose gehortet – zusammen mit den Teedosen im Regal, ist die Wohnung abgebrannt. Die Wohnung, in der Tobias vorher gewohnt hat. Die alte Dame nebenan hatte einen Kabelbrand und kam nicht aus dem Bett, beide Beine waren amputiert, und da hat sie wohl die Prothesen nicht so schnell angekriegt. Die alte Dame ist erstickt, die Türen wurden versiegelt, das Haus blieb stehen, aber die Küche von Tobias Wohnung, die Küche zusammen mit dem Teeregal und den zehntausend Euro – die war abgefackelt – und jetzt war Tobias hier eingezogen. Und pleite. "Willst du ein Handtuch?", fragt Peter und ich setze mich an den Küchentisch, freue mich, wieder an dem weißen Tisch zu sitzen und Peter kommt mit einem Handtuch und einer Flasche Rotwein "Von Tobias – aber der hat ja auch mein Portemonnaie" und entkorkt die Flasche, dabei erzählt er von dem anderen, der hier wohnt, Richard, der davon lebt, dass er eine Garage gemietet hat, um zusammen mit seiner Freundin Autos winterfest zu machen. Ich muss lachen, schenke mir Rotwein ein, trockne mein Haar mit dem Handtuch und frage: "Und davon kann man leben?" "Auf keinen Fall", sagt Peter und wir stoßen an und er erzählt schon die nächste Geschichte. Über den Flur tapst eine schwarze Katze. Draußen reißt ein Sturm Äste von den Hinterhofbäumen und ich denke noch kurz daran, dass ich jetzt Andreas anrufen muss, der sicherlich schon halb verrückt ist vor Aufregung, schon überall angerufen hat, vielleicht sogar bei Radbruch, bei der Polizei, in der Notaufnahme… "Musst du vorher noch irgendwo anrufen?" fragt Peter und ich frage: "Vorher?" und er zieht mich vom Stuhl hoch und ich, ich mit meinen 38 Jahren, mit meiner Lebenserfahrung und so weiter, weiß nicht, was ich sagen soll, aber Peter will gar nicht hören, ob ich was zu sagen habe.
Wie schrecklich sind all diese verschämten Schnitte in der Literatur, im Film, wenn es heißt: "Am nächsten Morgen", eine Nacht weg geschnitten, nach dem ersten Kuss, und wenn man dann als nächstes Bild das Paar am Morgen sieht, zerzaust und plötzlich vertraut, wo sie sich vorher vielleicht sogar gesiezt haben. Aber so war es: Die Zeit ist in den Sturm geraten, der Regen hat alles durchnässt, der Wind ist gejagt. Peter konnte nichts zerzausen; er sah wunderschön aus. Gleichmäßig, die Haut ganz glatt und als er an diesem grauen Morgen ins Bad ging, knackte wieder das Gelenk beim Gehen.
Er rief von der Küche: "Willst du einen Tee?" und brachte mir eine Tasse ans Bett. Während ich ihn trank, jonglierte er mit fünf Bällen, einer, zwei, drei fielen herunter, er küsste meine Schulter und ich berührte seine dunkle Wange, er streckte sich, verschränkte die Arme hinter dem kahlen Kopf und sagte grinsend: "Pärchen-Märchen" und ich sagte: "Ich muss los." "Ich bringe dich zum Ostkreuz", sagte er, sprang auf und zog sich an. Mit seiner hängenden Jeans und dem Pullover mit der schwarzen Kapuze erschien er in der Tür, hatte meinen Schirm zusammengefaltet. Und wir liefen durch den Regen zum Gleis. Zum Gleis in Richtung Westkreuz, wo Andreas auf mich wartete. Die nächste Bahn kam in vier Minuten.
Es regnete immer noch oder schon wieder, es gab keinen Anfang, gab kein Ende; aber endlich ging die Tür auf, der Junge mit der Kapuze über der Stirn trat raus, hielt mir die Tür auf, grinste und sagte: "Ganz sachte mit’m Hörer, dann können Se telefonieren — is noch Restgeld drin." Ich faltete den Schirm zusammen, wählte die Nummer von Herrn Radbruch und entschuldigte mich für die Verspätung. Durch das Glas der Telefonzelle sah ich, wie der Junge die Kapuze abnahm, silberne Tropfen aus langen schwarzen Locken schüttelte und unter dem S-Bahn-Dach verschwand.
raif
Züge fahren – Lichter blitzen
Trübes Wolkengrau
Treppen rauf, Treppen runter
flüchtige Blicke
Menschen strömen
Züge fahren, Lichter blitzen, Genussgerüche
gehetzte Liebe
Abschiedskuss muss reichen
bis zum Wiedersehen
"Einsteigen bitte"
Umarmung – Kuss
"Zurückbleiben bitte"
nicht loslassen wollen
Zärtlichkeit durch Glas
Winken
schmachtende Augen
sehnsüchtige Blicke
schwere Herzen
immer wieder und wieder…
Züge fahren, Lichter blitzen
wann ist er wieder hier?
Züge rattern
Menschen hetzen
Hunde bellen
"Zurückbleiben bitte"
noch 5 Minuten
nächster Zug
eilige Schatten
noch 3 Minuten
Leute schieben im Pulk
kein Blick von ihm
wo steckt er bloß?
ungewisse Minuten
Züge fahren, Lichter blitzen
Hetzblicke
"Einsteigen…"
Sehnsucht nach ihm –
was ist ihm passiert?
Klingel-Vibrationen!
Unfall? Zugverspätung? Zeitverschwörung?
"was? 10 Minuten später?"
"Gut, ich warte!"
ungeduldiger Blick
Fenster rasen vorüber
Türen schwenken
Züge fahren, Lichter blitzen
schnelle Augen
Da!
Schritte treiben
Arme öffnen
Lippen schmelzen
Zungen zittern
Arme klammern
Geräusche verstummen
dem 7. Himmel nahe
Umgebung in grau:
Leute, Wände, Züge
Treppe rauf – umsteigen
"Zurückbleiben bitte"
Züge fahren, Lichter blitzen
Jan Peter
Eine andere Sonne
Weit oben hingen dünne Zirrusschleier über der Stadt – vereinzelt und reglos. Felio sah verblüfft in das runde, faltige Gesicht der Blumenverkäuferin, dann auf die Rose in seiner Hand und wieder zur Verkäuferin. "Bitte!", hatte sie ihm die halb geöffnete Blüte unters Kinn gehalten. Jetzt lächelte sie ihn an – gerade so, als wüsste sie von einem Geheimnis, das auch ihm bald zuteil werden würde. Als er noch immer nicht verstand, wünschte sie ihm "Alles Gute!" und drehte sich zur Seite.
Vor ihrem Kiosk am Bahnhofseingang, zwischen stummen Passanten und Lautsprecheransagen, die von den Bahnsteigen herüberwehten, wunderte er sich, nicht nur über das unverhoffte Geschenk. Sein Tag hatte schon merkwürdig begonnen. "Feind neben meinem Bett – dieses Mal hast du mich verlassen", hatte er murmeln müssen, nachdem ihn die Augustsonne schwitzend geweckt hatte, viel zu spät. Und verschlafen war er im Flur erstarrt: in Unterhosen hatte er unverhofft ins Treppenhaus geblickt. Die Wohnungstür – seine Wohnungstür – hatte offen gestanden. "Was?!" Damit hatte er sich den Restschlaf aus den Augen gerieben und auf Schrank und Schreibtisch gestürzt. Doch CDs, Geld, Bücher, T-Shirts, Notebook – alles war noch da gewesen. Beruhigend, doch was war mit der Tür geschehen? Felio hatte stutzend nur eines folgern können: Er hatte sie im Schlaf geöffnet, blind und verletzlich.
Er zog die trockene Luft ein — sie roch vor allem anderen nach Wärme, lauschte dem Großstadtgrummeln — hin und wieder hörte er ein Hupen heraus, Taubengurren oder den Ruf eines Hundebesitzers nach seinem Tier. Ohne zu wissen, warum er das tat, sah Felio sich um. Heute saß niemand vor dem Lykia bei Latte Macchiato und Anatolischem Frühstück. Ringsum alles unverdächtig. Was würde noch kommen? Felio legte die Stirn in Falten und sagte "Danke!" Dann lief er mit weiten Schritten an den grauen Baracken vorüber, dem Eingangsbogen zur Ringbahn entgegen.
Unter den alten Ziegeln wurde es kühler, ein paar Stufen höher, auf dem Bahnsteig, wieder warm. Genau richtig. Felio stellte sich neben der Treppe auf. Sein Zug würde ihn gleich in südlicher Richtung ins Institut bringen. Er hielt sich die Blüte an die Nase. Kein Duft, der ihm zwischen den unangenehmen Bahnhofsgerüchen entgegen zirbelte. Rauch, Schweiß, Gummi. Er lächelte. Auch ohne Duft war es ein lebendiges Geschenk: weiße Blütenblätter, dunkelrot gesprenkelt. Noch lächelnd anfangs, glitt er ab in Gedanken an die folgenden Stunden. Tagungsbeiträge, E-Mails, Telefonate, Recherchen zischten ihm durch den Kopf. "Verflixte Diplomarbeit!", sprang es unversehens hervor. Hinter ihm polterte eine Bahn ein. Hier oben polterten sie stets, unten, in Ost-West-Richtung, sirrten sie eher. Trappende Füße und Handymelodien. Kaum jemand sprach. Der Gummigeruch wurde noch stärker und legte sich Felio bitter auf die Zunge.
Die Sonne sah er gerade über dem düsteren Wasserturm hinter dem Südende des Bahnsteigs aufziehen. Von dort her schien sie jetzt über das Gleis dem Zug entgegen, auf den Felio wartete. Ihm hatten sich aber verwirrend einzelne Rosenblätter und eine offene Tür in die Überlegung gemischt, an der er jetzt fest hing. Abwesend übersah er die Bahn. Erst das trötende Warnsignal brachte ihn zurück. "Grobe Disharmonie", konnte er noch denken, bevor er begriff: Dieser Zug war passé. Doch in den drei Sekunden zwischen seinem Begreifen und dem fahrenden Zug entstand ein gedankenleerer Raum, von dem er widerstandslos überwältigt wurde. Er hatte keine Zeit, sich zu wehren: Helles Sommerkleid, lange brünette Haare und Lippen — transzendent lächelnd und fordernd zugleich. Funken sprühten ihm aus allen Kanälen. Felio staunte, durch eine zerkratzte Scheibe hindurch, in große, offene, weibliche Augen. Zwischen zwei Sitzbänken stehend, hatte sie ihre Blicke an ihn geheftet. Ihre Lippen wurden ernst. Ohne sich von ihm zu wenden, sprang sie zur Tür. Zu spät. Der Zug verschwand und mit ihm — sie.
Die Funken vergingen und Tautropfen tänzelten ihm durch die Seele. Wo sie auftrafen, begann in ihm ein warmes, schlingerndes Fließen. Seine Füße indes wurzelten fest und ruhig im Boden und über den Gussbetonplatten auf Bahnsteig A verloren ihn Zeit und Schwerkraft. Weich und weit schwebte er über den Gleisen, überall zugleich war er einfach — da, beständig ihr Lächeln vor Augen. Der Wasserturm begann zu leuchten, wies in den Himmel zu den Schleiern.
Sekunden oder Jahre – das erste, was er bemerkte, war sein Atem, dann die Hände, die Füße, dann seine Gedanken. Sein Leben setzte wieder ein. Tatsächlich glänzte der Turm. Diese Begegnung, diese eine Begegnung — auf sie hatte er zäh gewartet und war sich sicher gewesen, er könne sie nicht machen. Jetzt hatte sie ihn gefunden. Im ersten Augenblick würde er sie erkennen — das war ihm seit jeher klar gewesen. Alle Frauen, denen er jemals nachgesehen und nachgestellt hatte, waren nun egal. Jetzt ergaben alles Gestolper und Gefluche, alle Trauer und Schmach einen Sinn und waren ihm mit einem Mal aus der Seele gewischt. Er war gefunden. Und so, wie er stets gewusst hatte, er würde sie im ersten Augenblick erkennen, so wusste er jetzt, sie würde umkehren. Am nächsten Bahnhof würde sie aussteigen und den Zug zurück nehmen.
Felio wehte über den Bahnsteig nach einem Schaffner, blieb vor einem Schnauzbärtigen stehen. Die nächste Bahn zurück — wo käme die an? Der Schaffner stierte auf einen fixen Punkt in der Ferne. "S9. Bahnsteig A", gab er monoton zurück. Das war der Geisterbahnsteig gegenüber, der mit der Kurve. "So", sagte Felio.
Ein Zug kam von Süden angefahren, ging in die Linkskurve und steuerte eben diesen Bahnsteig an. Ein Prickeln im Bauch segelte Felio die Stufen hinunter, überquerte mit leichten Füßen die hundert Meter gelblichen Bodens auf Bahnsteig E und flog an dessen Ende die Treppe wieder hinauf. Verheißung. Die letzte Stufe. Im selben Moment wie der Zug erreichte Felio, einen Eichenhain passierend, den ersten Pfeiler des Bahnsteigdachs. Er keuchte. Sekunden später tröpfelten die Leute aus den Türen, liefen ihm entgegen, an ihm vorbei, die Treppe hinunter. Felio sah sie nicht, nahm nur den Luftzug einzelner Menschen wahr und hörte Sandalen klappen. Er hielt die Augen geschlossen und wartete, dass wieder Stille einzöge, wollte sie erst öffnen, wenn er ihren Atem vor sich spürte. Alles würde so kommen, wie er es sich immer gewünscht hatte. Er wusste es sicher und floss über vor Glück. Wieder stand er schwer und fest und war bereit, sich auszubreiten, als es ihm heiß im Unterbauch stichelte. Nun war es still geworden. Und in dieser Stille hörte er ein Atmen sich nähern. Felio zitterte. Die fremde Atemluft strich ihm übers Gesicht. Wenn er jetzt die Augen öffnete, begänne eine neue Zeit für ihn. Langsam zog er die Lider nach oben. Gegen die Sonne sah er einen Körper. Er öffnete die Augen weiter und – wich zurück. Salmiakgeist schoss ihm durch die Eingeweide. Ein dürrer Typ in grauen Jeans und schwarzem T-Shirt musterte ihn mit schrägem Mund, hielt ihm fragend eine Zigarette hin: "Feuer?"
Felio war fassungslos. Es blitzte ihm unbehaglich in Kopf und Bauch. War er Mensch? War das wirklich? Hatte er schon einmal größeres Vertrauen in den Lauf der Dinge gesetzt und war er schon einmal schlimmer enttäuscht worden? Impulse durchzuckten ihn: Sich schreiend auf den Boden werfen; über seine Einfalt lachen, sie schien nicht zu überbieten zu sein; Glasscheiben zerschmettern; sich apathisch an einen Pfosten lehnen; "Kein Problem, kein Problem!" hyperventilieren. Felio stand auf einem leeren Bahnsteig, war ratlos. Zeit und Schwerkraft hatten ihn vollends wieder. War die Welt eben noch schimmerndes Glück gewesen — grenzenlos und voller Möglichkeiten, so war sie jetzt ein Betonklotz — trist, massiv und undurchdringlich. Dann ein Gedanke: "Sie hat es nicht geschafft, klar, sie hat es nicht geschafft. Sie hat von einem Bahnsteig auf einen anderen wechseln müssen und es nicht geschafft." Sie würde mit der nächsten Bahn kommen. Felio schwirrte zurück zum Ringbahnsteig, erwischte einen einfahrenden Zug. Leute stiegen aus und zerstreuten sich, andere stiegen ein. Die beige-roten Waggons zogen davon. Keine langen Haare, keine Lippen, kein Sommerkleid. Sie kam auch dieses Mal nicht.
Er hängte die Schultern tief und sah zum Wasserturm hinüber. Der glänzte nun nicht mehr, war ganz der alte – schmutziges Braun und bedrohlich. Felio schien, als machte die Sonne an diesem Tag ihren Bogen schneller als an allen bisherigen. Eben noch hatte sie über dem Turm gestanden, jetzt stand sie schon rechts von ihm. Ob Jeans und Schnurrbart, ob Glatze und Stiefel, ob Hüfthosen und Glitzerstring — eben noch hätte er jeden auf dem Bahnsteig umarmen können. Eben noch hätte er das Institut in Frieden belassen können, wo und wie es war und ihm für immer den Rücken kehren. Eben noch hätte er närrisch kreischend das Dach des Bahnsteigs D besprungen und seine Hände in die Teerpappe gekrallt, hätte er sich hingeworfen und Purzelbäume geschlagen. Eben noch wäre er zur Blumenverkäuferin hinübergefegt, um ihr einen Kuss auf die faltige Stirn zu drücken. Doch jetzt war er wieder in seine gewohnten Grenzen hineingeschrumpft. Langsam, langsam kroch die Trägheit in ihm aus einem dunklen Loch hervor, kaum bemerkbar und doch unaufhaltsam. Zertrümmert hätte er sie am liebsten, erwürgt und zertreten. Doch er konnte ihr nicht beikommen.
Er atmete tief und drückte sich die Nägel in die Handballen, dass es schmerzte. Dann klopfte er an die Tür des Backsteinhäuschens in der Mitte des Bahnsteigs. Der Schnauzbärtige trat heraus und glotzte ihn an. Es lagen 27 Stationen auf dem Ring. Mit einer Ausnahme berührten ihn alle anderen Bahnlinien der Stadt. Wie viele Möglichkeiten, umzusteigen und hierher zurückzukehren, gäbe es und welche? Wenn jemand in Neukölln umstiege, in Hermannstraße… Wie wäre er schneller, Bus, U-Bahn, S-Bahn? Ungeduldig fragte Felio nach allen Kombinationen aus Bahnen und Bussen, die sich auf dem Ring ergeben konnten. Der Schaffner ließ die Stirnmuskeln spielen und den Mund offen stehen. Dann schien er etwas Unfreundliches sagen zu wollen. Doch Felio zeigte sich todernst. Schließlich sagte der Bärtige zögerlich, "Ja, Moment dann mal bitte" und schloss die Tür hinter sich. Kurz darauf kam er wieder. Ein Kollege würde die Verbindungen heraussuchen — eine große Ausnahme. Felio wippte mit den Füßen.
Die Zirruswolken hingen unverändert. Nur dunkler waren sie geworden. Die Sonne zog unaufhaltsam weiter, war noch deutlicher vom Wasserturm abgerückt. Nach endlosen Minuten brachte ihm ein kleiner Mann einen Computerausdruck: fünf Blätter, doppelseitig, in Achtpunktschrift. "Na denn mal viel Vergnügen", schnarzte er. Ihm schien die Sache nicht geheuer. "Is für 'ne Schnitzeljagd, ja?" Felio antwortete nicht. Hastig blätterte er den Ausdruck durch. Fotografisch prägte er sich mehrere Dutzend Verbindungen ein. Schon in der Schule hatte er Lehrer und Mitschüler beeindruckt, indem er ganze Balladen nebenher in den Unterrichtsstunden lernte. Konzentriert stieg Felio zum Bahnsteig E hinab. Sie hätte durchaus, wenn sie in Herrmannstraße die U8 bestiegen hätte, am Kottbuser Tor die U1 und in der Warschauer Straße die S3 …
Wieder stieg sie nicht aus. Für den nächsten Zug musste Felio sich beeilen. Über Treppen und den westlichen Brückenaufgang rüber zum Bahnsteig D. Schweiß rann ihm übers Gesicht und unter den Armen hervor. Der Zug fuhr gerade ein. In der einen Hand die Rose, in der anderen den Fahrplan, stolperte Felio die letzten Stufen hinunter. Rastlos schlängelte er sich zwischen den Aussteigenden hindurch. Eine Handvoll Kioske machte die Lage unübersichtlich. Er konnte die Frau nicht entdecken. Wieder hoch zum Ringbahnsteig. Ebenfalls erfolglos. Westkreuz! Dort konnte sie in die Regionalbahn gestiegen sein, dann bis Ostbahnhof, dann in die S 75 — Bahnsteig D. Auch dort kein Glück. Bratwurstgeruch fuhr ihm in die Nase und gleichzeitig durchfuhr ihn Schrecken. Natürlich, sie hätte ein Taxi nehmen können. Das hätte es ihr wert sein müssen. Und was, wenn sie an der nächsten Station ausgestiegen war und dort auf ihn gewartet hatte? Sie hätte ihn ausrufen lassen können. "Heiliger Adrenalinkatarakt!", griff er sich an die Stirn. Auch er selbst hätte sie ausrufen lassen können. Nun nicht mehr. Er hämmerte unablässig mit fatalen Gedanken auf sich ein und stand kurz davor, seinen Kopf verzweifelt an eine der schnörkeligen Dachsäulen zu schlagen. Er tat es nicht. Er wippte mit den Füßen, tippte mit den Fingern an die Beine, biss die Zähne zusammen und atmete flach. Ein letztes Mal blätterte er im Ausdruck.
Es waren zu viele Möglichkeiten, sich zu begegnen und sich zu verfehlen. Eine Unzahl von Wegen, auf denen sie ihn hätte erreichen können. Wollte sie, dann käme sie auch über stinkende Sümpfe hierher – Ostkreuz, Bahnsteig A. Sie war aber bislang nicht gekommen. Und wollte sie, dann würde sie ihn auch finden. Schwer und ruhig schritt Felio die Treppe zum Ringbahnsteig hinauf, er wusste nicht, das wievielte Mal an diesem Tag, und lehnte sich ans Treppengeländer. Eine Stunde und drei Minuten brauchte die Bahn, um den Ring zu schließen. Erwartungslos würde er verharren, bis diese eine Bahn wieder käme. Gleichmütig würde er hinnehmen, was sie ihm brachte. Felio grübelte wieder über seine Arbeit: Protokolle, Recherchen, Telefonate, E-Mails …
Die Sonne stand bereits knapp über dem Plattenbau westlich des Wasserturms und Felio bemerkte lange Schatten auf dem Bahnsteig, dessen Ränder noch vor einer Stunde in helles Licht getaucht waren. Er wunderte sich nicht. Dann ging heute die Zeit eben schneller. Ohnehin schien es ihm Jahre her, seit er und sie sich in die Augen gesehen hatten. Sein Glück hatte er berechnen wollen, hatte nach einem Moment der Schwerelosigkeit geglaubt, sie wieder erlangen zu können, indem er ihr auflauerte und sie abfing. Zur bleiernen Kugel hatte er sich gemacht und mit Schwung in den Trichter abgründiger Mechanismen geworfen. Doch jetzt war er aufgestanden, hatte die Mechanik von sich gestreift. Genug. Felio schloss die Augen. Protokolle und E-Mails zogen wieder ein.
Ein Schienentransport rumpelte heran. Offenbar enthielt er radioaktive Fracht, denn Felio wurde am ganzen Körper von brenzligem Knistern heimgesucht. Als Felio die Augen öffnete, war es nur die S-Bahn. Doch es war die S-Bahn. Keine Spur mehr von Tautropfen. Es krampfte und zerrte in ihm. Kopflos suchte er nach Worten. Er konnte sich nicht vom Geländer lösen. Die Bahn war zu einem Drittel eingefahren, als er sie sah. Die Frau saß in der Bahn und schaute nach vorn. Sie lächelte nicht. Sie schien auch niemanden zu suchen. Starr blickte sie vor sich hin. Er sah ihr geradewegs ins Profil. Kleine Ohren, feine Nase, hohe Wangenknochen, das leichte Kleid. Begehren stieg in ihm auf und das jammervolle Gefühl, es nicht befriedigen zu können. Eine halbe Sekunde später war sie an ihm vorüber geglitten und Felio erkannte den Punkt, auf den sie starrte. Ein Mann saß ihr gegenüber und erzählte weit gestikulierend. Sie hörte gebannt zu. Die Bahn hielt und erschreckt sprangen beide auf, stiegen aus. Der Mann trug kurze Hosen und einen umfangreichen Rucksack. "Natürlich", fuhr es Felio durch den Kopf "zwei Touristen, die im Hostel kampierten und im Lonely Planet von der Ringbahn gelesen hatten". Im Vorrübergehen bemerkte die Frau Felio, der sich ans Geländer drückte. "Ah, it’s still you?" Überrascht hob sie die Augenbrauen. "Keep smiling!", sagte sie lauwarm und ohne stehen zu bleiben. "Sicher doch. Danke." Felio wurde bitter, nur einen Moment. Veilchenduft säuselte ihm in die Nüstern. "Who’s that guy?", fragte der Mann, schon Schritte entfernt. Die beiden nahmen den nördlichen Ausgang. Zuletzt wippte ihr Kopf über der obersten Stufe. Dann waren sie weg.
Vom Augenblick hatte sie sich übermannen lassen und war wenig später in ihren Alltag zurück gekehrt. "Nicht viel anders als ich selbst", dachte Felio, sah im Abenddämmern den Fernsehturm blinken. Unter ihm sirrten die Bahnen ein und aus. Die Venus war aufgezogen. Frisch und fest standen die Blütenblätter seiner Rose. Hinter dem Spreeufer war seine Sonne für heute untergegangen. Morgen würde eine andere aufgehen.
Karlheinz Rost
Liebe zu Ostkreuz
Ja, ich habe als Junge den Bahnhof kennen gelernt. Mutter ist nach dem Tod von Vater, wir wohnten in der Kopernikusstraße, in die Persiusstraße, Ecke Bödiker, gezogen.
Als Junge wollte ich nun meine neue Umgegend kennen lernen und entdeckte natürlich auch den Bahnhof Ostkreuz, staunte, wie viele Bahnsteige er hat und wie viele Züge fuhren, auch Dampfloks waren noch zu sehen. Später, als ich am Bahnhof Friedrichstraße arbeitete, musste ich den Bahnhof ja benutzen.
Der Eingang Markgrafendamm hatte zwei Eingänge, in der Zeit wurde die Fahrkartenhalle mit zwei Fahrkartenschaltern zugemauert und eine Werkstatt für Fahrkartenautomaten kam rein. Auch waren dann die Knipser-Wannen weg. Es gab ja einen Übergang über den Bahnhof, gleich hinter der Brücke nach Treptow war der Weg, die Fundamente von den Brücken sind noch zu sehen, eine Holzbrücke am Bahnsteig A, weil darunter der Durchgang war zu dem Übergang, den es heute noch gibt. Auf der anderen Seite ging es zur Sonntagstraße.
Ja, im Kriege hatten wir immer Angst, dass der Bahnhof bombardiert wird und wir auch was ab bekommen. Einmal geschah es, dass wir auf unserem Boden ein zirka 60 Zentimeter langes Schienenstück fanden, es soll vom Bahnsteig B gewesen sein.
Eines Abends, ich guckte noch aus dem Fenster bei Alarm, da sah ich, wie die Bomber Lichter abließen über den Bahnhof. Natürlich war ich in Windeseile die Treppen runter. Der Bombenteppich ging dann aber zum Rummelsburger See, Ostkreuz blieb verschont.
Nach dem Kriege wurde der Trümmerschutt von der Frankfurter Allee mit der Trümmerbahn über Hohenlohebrücke, heute Modersohnbrücke, durch die Persiusstraße zum Rummelsburger See gefahren, um das Ufer wieder aufzufüllen. Die Bahnsteige B und C wurden dann abgerissen.
Im Kriege wurden dann der Übergang vom Bahnsteig A, ein Verwaltungsgebäude und ein Teil des Ausgangs Markgrafendamm durch Bomben zerstört. Wenn man heute vom Bahnsteig A die Treppe runter kommt, so etwa drei Meter, ist wohl ein Kabeleinlass, auf dem Deckel ist noch die Krone, zu sehen.
Nun soll Ostkreuz wieder umgebaut werden, das ist dann der dritte Anlauf. Denn vor dem Kriege hörte ich, dass im Dritten Reich der Bahnhof umgebaut werden sollte. Man wollte vom Bahnhof Warschauer Straße den Zug nach Treptow unterirdisch verlegen, in den Häusern Laskerstraße, Ecke Markgrafendamm, sprach man schon von Kündigung. Der Krieg kam und der Bahnhof blieb wie er war. Der zweite Versuch war zur DDR-Zeit, Bahnsteig F sollte eine Halle bekommen, weil es immer so zugig ist, auch daraus wurde nichts. Nun will ich hoffen, dass diesmal was draus wird, Pläne habe ich schon gesehen, die haben sich ja allerhand vorgenommen.
Gelacht habe ich zur DDR-Zeit: ich bin auch Eisenbahnfreund und in einem Modellbahn-Verein Mitglied. Also eines Tages kam zu uns in den Club ein Eisenbahner aus Bernau, Wagenmeister, der erzählte mir, dass aus Hennigsdorf der neue S-Bahnzug nach Schöneweide gebracht wird, also muss er erst zum Ostbahnhof, weil die Nordkurve nicht benutzt wird am Bahnhof Ostkreuz; also ich mit Filmkamera und Fotoapparat nach Ostkreuz, Kynaststraße, ich warte und warte, der Zug kam nicht, habe ich auch anderes auf der Bahn fotografiert, mit einem Mal kommt ein Trabi angefahren, hält bei mir, was ich mache, dies sei verboten usw. Ich zeigte ihnen meine Ausweise und ein Gesetzblatt vom Verband, wo ich von dieser Stelle ruhig Fotos machen kann. Nun wollten sie mir erklären, wie wichtig der Bahnhof sei von wegen geheim, ich habe sie nur ausgelacht und gefragt, woher die Amis im Kriege wussten, das da ein wichtiger Bahnhof ist, erzählte von dem Bombenteppich und wie alt der Bahnhof ist und die Pläne davon schon in so vielen Büchern sind. Nun durfte ich wieder abziehen.
Ja, so kann es auch gehen. Denn der Bahnhof ist am 7. Februar 1882 eröffnet worden, der Bahnsteig E hieß »Stralauer-Rummelsburg«. Der Fußgängerüberweg ist 1926 gebaut worden.
Weiß nicht, ob Sie wissen, dass es ein Buch über Ostkreuz gibt, es heißt »Berlin Ostkreuz«, von Gerda Mond.
Der Bahnhof hat ja auch den Namen "Rostkreuz". Ja, leider ist es mir nicht mehr möglich, den Bahnhof zu betreten, meine Füße wollen nicht mehr die Treppen, und die Puste wird auch knapp, nun muss ich eben nur mit den Bussen fahren oder wo Rolltreppen oder Fahrstühle sind. Es freut mich, dass der Bahnhof Rummelsburg einen Fahrstuhl bekommt.
Nadine Richter
Der Ostkreuzer
Wie ein Schiff segelte die S-Bahn am Ostkreuz ein.
Der Ostkreuzer. Schwer und melancholisch. Die alten Eisen quietschten.
Das Häusermeer hindurch schaukelnd.
Vom anderen Ufer fuhr der Westkreuzer ein. Sie steuerten aufeinander zu.
Was für ein Treffen, was für ein Wiedersehen. Gleich einer gewaltigen Explosion der Leidenschaft.
Der alte Rost, die schwere Melancholie schlugen wie große Steine ins Wellenmeer. Für immer ruhend am dunklen Grund.
Ein neues, starkes Glück erblühte in liebestollen Tönen und Farben.
Ließ tief atmen, in die Lüfte emporsteigen.
Ja, wir ließen uns dahin treiben. Vergessend das einsame Gestern. Liebend das ungebändigte Morgen.
Ließen uns von den Wellen schaukeln, umschmeicheln, liebkosen.
Wir waren einfach wir. Bestehend aus Gefühl.
Christina Schneider
Der Barde vom Ostkreuz
Mit geröteten Wangen kam Lena die Straße herunter. Das grünweiße Wappen ihrer Burg leuchtete ihr schon von Weitem entgegen. Endlich stand sie vor dem Tor. Mit klopfendem Herzen trat sie durch die gemauerten Pfeiler. Sie schlug die schwarze Kapuze zurück und ihr schulterlanges Haar leuchtete tizianrot auf dem dunklen Stoff auf. Der geschützte Platz unter dem Bogen war verlassen. Sie ließ den Blick hoffnungsvoll über den holprigen kurzen Weg, der zu den Gleisen führte, schweifen. Der Musiker war nicht da.
Die hämische Stimme ihres Bruders drängte sich aus ihrem Gedächtnis hervor. "Seht nur, jetzt eilt unsere Prinzessin wieder in ihre heiligen Gemächer am Dreckskreuz."
"Nein, nicht Prinzessin", hatte sie ruhig über das Lachen ihrer Familie geantwortet, "dort bin ich Königin."
Graues trübes Novemberwetter kroch ihr zusammen mit der Enttäuschung klamm und kalt die Beine hinauf. Sie wollte schon gehen, als oben am Ringbahngleis plötzlich die Gestalt eines schlanken jungen Mannes hervortrat. Lässig rauchend, mit seiner Gitarre über der Schulter, stand er dort. Ehe sie sich versah, rannte Lena über den Hindernisparcours der sich mit Wasser füllenden Schlaglöcher zum Bahnsteig. Sie stürmte die Stufen hinauf und ihr sommersprossiges Gesicht bekam rosige Wangen, als sie keuchend oben ankam. Er nahm sie kaum wahr und blickte weiter gelassen in die Ferne. Erst als kurz darauf die S-Bahn einfuhr, schnippte er seine Zigarette vor den Zug, schlenderte cool zur nächsten Tür hinüber und stieg ein. Atemlos hatte Lena das Schauspiel beobachtet. Als das Warnsignal bereits über den Türen aufleuchtete, sprang sie kurz entschlossen, ohne Fahrschein, Geld oder einen Plan, durch die sich bereits schließenden Türen hinterher.
Mit klopfendem Herzen ließ sie sich auf den Platz neben ihm fallen. Sie schob die Kapuze aus dem Gesicht und beobachtete ihn vorsichtig aus den Augenwinkeln.
Das dunkle Haar hing nass oder vielleicht auch fettig über seine Ohren. Er trug braune abgetretene Kordhosen und trotz des Novemberwetters nur einen weinroten dicken Pullover mit dunklen Regenflecken auf den Schultern. Die Gitarre ließ er zwischen seinen Beinen hin und her wippen, während sein Blick der vorbeiziehenden Stadt folgte. Einfach alles an ihm gefiel ihr. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss, dass sich ihre Oberschenkel bei dem Geruckel der Bahn zufällig berührten.
Sie mussten schon ein ganzes Stück gefahren sein, denn als sie die Augen wieder öffnete, dämmerte es bereits und die unzähligen Lichter färbten den wolkigen Himmel rot. Die Bahn bremste erneut unruhig ab, als sich die Muskeln neben ihr anspannten und der junge Mann sich langsam erhob. Sie richtete sich abrupt auf und sah sich um. Suchend blinzelte sie in die aufkommende Nacht hinaus. Als die Türen sich öffneten und er ausstieg, sprang sie ihm ein zweites Mal kurz entschlossen hinterher.
Der Musiker stand noch auf dem Bahnsteig, er hatte sich lediglich unter die Überdachung zurückgezogen. Während sie auf ihn zu ging, las sie auf dem Schild über ihm die Haltestelle: Westkreuz.
"Wir sind also noch auf dem Ring", stellte sie erleichtert fest. Sie hatte eigentlich zu sich gesprochen, doch eine Stimme neben ihr antwortete. Sie zuckte überrascht zusammen und sah ihm dann geradewegs ins Gesicht.
"Was dachtest du denn?", fragte er nicht gerade nett.
"Ich weiß doch nicht, wohin du willst", antwortete sie. Sie starrte in seine blauen Augen, die ihr kühl entgegenblitzten.
"Du spinnst doch", sagte er.
"Ja…, das sagt mein Bruder auch immer."
Einen Moment runzelte er die Stirn, dann wandte er sich ab und steckte sich eine Zigarette an. Er hielt sein Gesicht dem Himmel entgegen und blies den Rauch hoch in die Luft. Eine gespenstische Ruhe war inzwischen über Lena gekommen, während sie abwartend sein Ritual verfolgte.
"Ich will doch nirgendwohin. Der nächste Zug bringt mich immer wieder zurück", sagte er plötzlich.
Das klang auch ganz schön verrückt, fand Lena.
"Ich bin Lena", antwortete sie aber nur.
"Blasses Mädchen mit den glänzenden roten Haaren, dass täglich an mir vorübergeht, — ich bin Nero", sagte er nun freundlicher.
"Ein Kaiser…", dachte sie.
"Willst du auch deine Stadt anzünden?", fragte sie lachend. Und bereute es gleich wieder, als er völlig ernst antwortete.
"Manchmal will ich die ganze Welt anzünden." Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Die Glut leuchtete auf und fraß sich langsam durch das Papier. Weiße Rauchschwaden begleiteten seine nächsten Worte.
"Doch sie gehört mir nicht, auch die Stadt ist nicht mein."
"Aber sieh nur", rief sie und zeigte auf das Lichtermeer vor ihnen und dann auf den glühenden Nachthimmel darüber, "sie brennt doch längst."
Er überlegte kurz und dann lächelte er das erste Mal. In diesem Moment war kein Spott mehr in seinem Gesicht. Er nickte langsam und sagte ernst:
"Ja, sie brennt noch immer im Feuer der Industrialisierung."
Lena war sich nicht sicher, was er damit meinte. Doch auch sie mochte die Stadt nicht sonderlich. Erst im Sommer war sie mit ihrer Familie hierher gezogen.
"Warum treibst du dich jeden Tag am Bahnhof herum? Hast du keine Freunde?" Er hatte wieder seinen bissigen Tonfall angenommen. "Natürlich hab ich Freunde, nur eben nicht hier", antwortete sie trotzig. Sie machte einen großen Schritt nach vorn, so dass sie an der Kante des Daches stand und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die große Stadt.
"Manchmal hasse ich diese Stadt. Nirgendwo hat man freien Blick, da sind überall Wände, die mir die Sicht versperren. Und sehe ich hoch, erdrückt mich dieser unglaublich tief hängende Herbsthimmel."
"Berlin", flüsterte er da leise.
"Ich wollte nur noch weg", fuhr sie fort, "und traf dann völlig unerwartet auf die Gelassenheit vom Ostkreuz."
Sie sah alles wieder vor sich. "Imagine" tönte laut aus einer Bar und überall saßen lachende Menschen. Ja, in diesem Moment hatte sie sich das erste Mal wohl in dieser Stadt gefühlt. John Lennon war noch immer bei ihr, als sie schließlich vor dem grüngelben S-Bahn-Symbol gestanden hatte. Sie war seinem Rat gefolgt: Imagine.
Das Symbol wurde ihr Wappen und das Ostkreuz ihre Burg. Unter der Überführung hatte sie Nero und seine Lieder getroffen. Er wurde ihr Barde. Der Ringbahndamm, wo sie endlich wieder ungehindert in die Ferne blicken konnte, zu der einen Außenmauer und die Gleisüberführung gegenüber zu der anderen.
"Die fröhlichen Leute sind mit der Sonne verschwunden", sagte sie wieder laut, "die Musik spielt jetzt hinter verschlossenen Türen. Aber du und deine Gitarre, ihr seid geblieben."
"So durchstreifst du jeden Tag den einzigen Ort, an dem du dich frei fühlst", sagte Nero und ging ein paar Schritte auf die Gleise zu.
"Ja…, genau. Woher…"
Mit einem Ruck riss er sich die Zigarette aus dem Mund und warf sie auf die Schienen. Dann drehte er sich um und musterte sie.
"Man kann nur staunen", rief er.
Lenas Herz klopfte laut, als Nero geradewegs auf sie zu kam. Und dann, als sich ihre Gesichter fast berührten und Lena bereits seinen warmen Atem an ihrer Wange spürte, schob er ihre Haare in den Nacken und beugte sich noch etwas weiter vor. Ein Schauer lief Lena durch den Körper, als sie schließlich seine Stimme hörte. Seine Lippen strichen bei jedem Wort sanft über ihr Ohr und sie zuckte Silbe für Silbe erneut zusammen.
Mit rauer Stimme flüsterte er: "Die ganze Welt ist meine Stadt — und Berlin ist mein Ostkreuz!"
Aus der Ferne rauschte die S-Bahn heran. Er verharrte noch einen Moment an ihrem Ohr, dann löste er sich. Ihre Augen trafen sich kurz, bevor er sich abwandte und das erste Mal zum Zug eilte.
Lenas Gedanken überschlugen sich. Mit zitternden Lippen stand sie noch da, als der Zug einrollte.
"Lena?" riss sie schließlich Neros Stimme aus ihrer Benommenheit. Mit glänzenden Augen stand er in der Tür. "Deine Burg wartet auf dich."
"Nicht meine Burg", murmelte Lena.
Ralph Roloff
Frank und Sabine
Liebe Sabine!
Heute Morgen kam ich kaum aus dem Bett. Schon durch das Fensterlaken sah es draußen kalt und grau aus. Ich bin dann aufgestanden, weil ich denke, dass du heute diesen Brief bekommen sollst. Ich muss ihn heute abschicken. Ich liebe dich.
Mein Name ist Frank Brotkrott. Ich wohne hier in der Simplonstraße und sehe dich nie, weil ich nachtblind bin. Sonst kann ich sehr gut gucken und sehe auch nicht schlecht aus.
Ich habe nichts zu tun, deshalb schreibe ich dir. Und weil ich dich liebe. Vom Fernsehen werden meine Augen immer schlechter. Und ich glaube, auch mein Gehirn. Vor ein paar Monaten stand ich mal auf dem Bahnhof Ostkreuz neben einem älteren Mann. Anzug, Krawatte, Aktenkoffer in der linken Hand, in der rechten Hand eine halbvolle Flasche Sternburg. Da erst fiel mir auf, dass ich nicht der Einzige bin mit einer halbvollen Flasche Sternburg in der Hand. So laufe ich nämlich immer rum. Warum, weiß ich nicht. Bierdurst habe ich selten, schon gar nicht bei einem solchen Wetter wie jetzt. Da reicht die Flasche manchmal zwei oder drei Tage.
Immer habe ich die leere Flasche an die Mauer gestellt, wo das Poster mit dem Kind drauf angeklebt ist, wo Profisammler draufsteht. Eigentlich kann ich auf das Pfandgeld nicht verzichten, aber wenn DU die Flaschen einsammelst, tu ich das gerne. Heute steck ich zum ersten Mal einen Brief in die Flasche. Ich hoffe, du findest ihn.
Habt all ihr Flaschensammler ein festes Revier? Manchmal seh ich dieses junge Pärchen mit den Rucksäcken. Das ist aber mehr zur Neuen Bahnhofstraße rüber. Früher standen ja oft leere Flaschen auf der Straße rum, oder so. Die Zeiten sind wohl vorbei? Kannst Du davon leben? Ich habe ja mein Geld vom Amt.
Auf den Mauern der Häuser hier herum sehe ich immer Sabine geschrieben. Deshalb weiß ich, wie du heißt, und ich liebe dich. Auf den Bahnhof Ostkreuz gehe ich nur, wenn ich Fernweh habe. Zum Amt laufe ich immer. Kommt man mal unter Leute. Ich liebe dich auch, weil du dich bestimmt traust, schwarz zu fahren. Wenn du nachts Flaschen sammelst, traust du dich das bestimmt.
Mich haben sie einmal erwischt. Da bin ich zwei Monate mit derselben leeren Flasche herumgelaufen. Manchmal hab ich sie mit Wasser halbvoll gefüllt.
Ich weiß nicht, wie du mich erkennen sollst, wenn du mich siehst. Hier haben ja alle eine Flasche Sternburg in der Hand. Wahrscheinlich tragen sie sie meistens rechts, weil fast alle Rechtshänder sind. Neunzig Prozent oder so habe ich im Wochenblatt gelesen. Da stand auch drin, dass 90 Prozent der miteinander Verheirateten nicht mehr als 30 Kilometer voneinander entfernt geboren wurden.
Ich wurde hier im Oskar-Ziethen-Krankenhaus geboren. Wurdest du auch hier geboren? Oder irgendwo in Berlin? Friedrichshain liegt ja ziemlich in der Mitte. Da rechne ich mir gute Chancen aus, dass du mich auch liebst. Oder bist du aus dem Umland oder nicht so weit weg?
Meistens hab ich eine braune Trainingsjacke an mit gelben und roten Streifen. Die habe ich heimlich mitgenommen, als sie mich von der Armee entlassen haben. Das war noch im Osten. Vielleicht erkennst du mich daran. Wenn du mir antworten willst, geh einfach schräg über die Straße bei dem Poster und steck einen Zettel in den Kasten wo Brotkrott drauf steht. Ins Haus kommst du ganz leicht, das Türschloss ist immer kaputt.
Ich roll jetzt mal den Brief zusammen und steck ihn in die leere Bierflasche. Die bring ich dann schnell runter, bevor ich mich nicht mehr traue. Ich liebe dich.
Dein Frank
Madeleine Engels
Faszination Ostkreuz
Es zieht ein Strom der Bewegung
über den Stillstand deiner Steine.
Taubengeflüster, Kindergelächter und die Verlorenen,
die auf dir weinen.
Dein stummer Ruf an den Morgen,
verkündet die erdrückende Last alltäglicher Sorgen.
In deiner Umgebung bettet sich die Ruh,
fast unsichtbar für den menschlich eilenden Schuh.
Von unten nach oben,
erblickt man den Himmel, seine Wolken und Träume.
Von oben nach unten,
erreicht man die Erde, ein Leben aus Bauten und Bäumen.
In deiner Mitte,
versinkt man in eine natürlich - künstliche Vielfalt.
In ein faszinierendes Schauspiel,
von warm und kalt.
Katharina Triebe
Hildchen
"So ruhe denn in Frieden." Der Pfarrer trat einen Schritt zurück und nickte den Trauergästen auffordernd zu. Einer nach dem anderen stellte sich an das Grab und warf eine Handvoll Erde in die Tiefe. Manfred murmelte mit erstickter Stimme: "Ach Hildchen, du gute Seele, wie soll es nur weitergehen?" Dann schnüffelte er, fand kein Taschentuch im Mantel und nahm mit tränenumflorten Augen die Beileidsbekundungen der Verwandtschaft entgegen.
Bereits wenige Stunden später hatte der "untröstliche" Witwer den Schmerz schon überwunden. Kaum zu Hause, ging er schnurstracks zum Hängeboden und fischte von ganz hinten eine zerbeulte Hose und eine abgewetzte Jacke hervor. Er liebte diese Sachen, besonders den dehnbaren Gummizug der Hose und die großen Taschen der Jacke. Hilde jedoch hatte die von ihm so heiß geliebte Freizeitkleidung gehasst. Regelrecht verboten hatte sie ihm, in einer solchen Schlamperbekleidung umherzulaufen, nicht einmal zu Hause. Sie würde schließlich auch nicht im Morgenrock den ganzen Tag vor ihm herumwuseln. Stattdessen hatte jeden Morgen ein frisches Hemd und eine gebügelte Hose mit Gürtel für ihn bereit gelegen. Er verabscheute Hosen mit Gürtel, die kniffen in den Bauch und erinnerten ihn unangenehm daran, dass er zu dick wurde. Auch andere Prinzipien von Hilde warf Manfred jetzt über Bord. Bisher durfte er nicht in die Eckkneipe auf ein Bierchen ausgehen. Dieses Verbot setzte er noch am gleichen Tag außer Kraft. Nicht ein kleines, sondern gleich zwei kühle Blonde und zwei Kurze dazu bestellte er sich an der Ecke im Lämpchen. Gut gelaunt schlenderte er anschließend wieder heim, fand im Kühlschrank allerdings kaum noch etwas Essbares vor. So begnügte er sich also mit den Resten, einem Eckchen Schmelzkäse und einem Zipfel Salami. Statt eines Tellers legte er sich eine alte Zeitung unter, das sparte den Abwasch. Jetzt kam das Schönste — das Fernsehen. Bei Hildchen war fernsehen während des Essens nicht üblich. "Wozu mache ich mir so viel Arbeit beim Kochen, wenn du dann in die Glotze starrst und gar nicht merkst, was du isst?", hatte sie argumentiert. Genüsslich räkelte sich Manfred im Ohrensessel. War das ein Leben plötzlich! Tun und lassen zu können, was man wollte und ohne dass einer rummault. Phantastisch. So ganz gesättigt fühlte er sich allerdings nicht, aber egal, würde er eben einfach ein Bierchen mehr trinken. Auch das Rasieren reduzierte er nun auf das Nötigste. Ja, einige Wochen fühlte sich der frisch gebackene Witwer wie neu geboren — nur eines störte ihn. So schön die wieder gewonnene Junggesellenzeit auch war, das Einkaufen und Saubermachen blieben dummerweise an ihm hängen. Zwar bestellte er abends im Lämpchen zum Bier gleich noch eine Knacker mit Kartoffelsalat, aber morgens brach er mit leerem Magen auf zur Arbeit. Verdammt leer, genauer gesagt. Hildchen vermisste er zwar nicht, umso mehr aber ihren starken Kaffee und die Pausenbrote, die sie ihm immer zusammen mit einem Apfel oder einer Banane in die Aktentasche gepackt hatte. Meist knurrte ihm vormittags im Büro derart der Magen, dass die Kollegen ihn merkwürdig ansahen. Fast war er ein wenig wütend auf Hildchen, dass sie ihn so ohne Essen sitzen ließ. Auch um die verflixte Wäschewascherei musste er sich nun selbst kümmern. Kein einziges sauberes Hemd lag mehr im Schrank, selbst die Pullover hatten inzwischen speckige Halsausschnitte bekommen. Und in allen Socken waren Löcher. Das war nicht in Ordnung von Hildchen, sich so einfach davonzustehlen und ihn in dem Schlamassel zurückzulassen. So gestand er schließlich Zähne knirschend seinem Kumpel Ede aus dem Lämpchen: "Ich muss mir wohl doch wieder eine Frau suchen. Natürlich nicht sofort, und auf keinen Fall wieder eine wie Hilde, aber mal umsehen kann ich mich ja demnächst."
Eines Abends nach der Arbeit stieg er wie immer am S-Bahnhof Jungfernheide in die Ringbahn Richtung Hermannstraße. Zielgerichtet steuerte er auf einen freien Fensterplatz zu und ließ sich nieder. Ein junges Mädchen saß ihm gegenüber und las. Wohlgefällig betrachtete Manfred ihre langen Beine. Sie schaute kurz auf von ihrem Buch und errötete bei seinem Blick. Hut ab, die war nicht übel. Als ihr plötzlich das Buch aus der Hand rutschte und zu Boden fiel, hob Manfred es eilends auf und reichte ihr das gute Stück mit einer kleinen Verbeugung wieder zurück. Ihr Lächeln trieb ihm die Hitze ins Gesicht. Alle Wetter, so eine Frau wäre doch etwas für ihn. Sie mochte vielleicht 18 Jahre alt sein, gut, er könnte vom Alter her ihr Vater sein, andererseits hörte und las man ja andauernd von Prominenten, die wesentlich jüngere Frauen erwählten. Warum nicht auch Manfred? Automatisch nahm er eine aufrechtere Haltung an und zog den Bauch ein. Wie gut, dass die Beleuchtung in der S-Bahn so schummrig war, da sah man die Fettflecke auf seiner Hose nicht. Auf der Anzeigentafel in der S-Bahn erschien die nächste Station — Ostkreuz. Das junge Mädchen packte ihr Buch ein und erhob sich. Wie schade. Manfred warf ihr noch einen letzten interessierten Blick nach. Sie nickte ihm freundlich zu, sagte: "Schönen Tag noch!" und stieg aus. Diese Stimme! So ganz anders als Hildchens schrille Tonlage. Als der Zug wieder abfuhr, bemerkte Manfred auf dem Sitzplatz gegenüber eine kleine Tasche. Die musste sie wohl vergessen haben. Niemand nahm Notiz davon, als er sie an sich nahm. Am S-Bahnhof Hermannstraße stieg er aus und machte sich auf den Heimweg. Nein, diesmal gönnte er sich keinen Abstecher ins Lämpchen, die Neugier plagte ihn zu sehr. Erst wollte er unbeobachtet nachschauen, was sich in dem Täschchen verbarg. Er schloss die Haustür hinter sich und befühlte von außen den Inhalt. Vielleicht ein Handy? Er schaute hinein. Das vermeintliche Handy entpuppte sich als Brillenetui. Ansonsten war die Tasche leer bis auf ein paar alte Fahrscheine, ein Rezept und ein Adressenheftchen. Immerhin. Letzteres ließ sein Herz schneller klopfen. Und wirklich, Manfred fand auf Anhieb, worauf er hoffte. Im Innenband des Adressheftchens stand eine Adresse mit Telefonnummer. Jaqueline Möbius, Böcklinstraße 6. Böcklinstraße, wo war das nur gleich? Rasch blätterte er in seinem Berlin-Atlas. Ach ja, unweit vom Bahnhof Ostkreuz. Kurz nach dem Mauerfall hatte er sich diese Gegend einmal angeschaut, konnte sich aber nur noch an alte Häuser und dunkle Straßen erinnern. Am besten, er rief gleich mal die Telefonnummer an, um die Rückgabe des Täschchens anzukündigen. Und wer weiß, vielleicht war sie ihm ja so dankbar, dass sich noch mehr ergab. Manfred leckte sich voller Vorfreude die Lippen. Auf einmal übermannte ihn ein drängender Durst. Jetzt ein Bierchen… Aber nein, erst der Anruf. Was aber, wenn die Adresse gar nicht zu dem Mädchen gehörte? Den Gedanken schob er energisch von sich. Nicht auszudenken. Er wählte die Nummer mit klopfendem Herzen und lauschte gespannt dem Rufzeichen. Auf der anderen Seite wurde abgenommen. "Ja, bitte, hier Jaqueline Möbius?" Manfreds Herz machte einen Hüpfer. Das war die Stimme, ganz unverkennbar. "Hallo!", rief sie ungeduldig. "Ja, ehm, hier ist Krause, Manfred." Herrgott, wieso krächzte er plötzlich wie ein alter Rabe? Nach kurzem Räuspern ging es besser. "Spreche ich mit der jungen Dame, die heute Abend mir gegenüber in der Ringbahn saß und am Ostkreuz ausstieg? Ich habe Ihr Täschchen gefunden!" "Oh!", auf der anderen Seite klang Erleichterung in der Stimme. "Ich dachte schon, ich hätte sie verloren. Wollen Sie sie mir mit der Post schicken?" Mit der Post? Das kam ja gar nicht in Frage. "Ich bitte Sie, Verehrteste. Wie wäre es, wenn ich mal vorbei komme? Vielleicht am Sonntag?" Sie kicherte zwar etwas über die altmodische Anrede "Verehrteste", vereinbarte aber mit ihm, dass sie um 15 Uhr am Sonntag zu Hause auf ihn warten würde. Manfred verabschiedete sich und legte auf. Nun legte er einen Freudentanz aufs Parkett. Was sollte er anziehen? Ob er Blumen mitnahm? Alpenveilchen vielleicht, die hatte Hildchen so gemocht. Erst einmal würde er seine Schmutzwäsche in die Reinigung bringen und ein Friseurbesuch konnte auch nichts schaden. Am heutigen Abend wartete das Lämpchen vergeblich auf Manfred. Er saß in der Badewanne und malte sich im Traum bereits eine Zukunft mit Jaqueline aus. Und Ede würde staunen, wenn er ihm von seiner tollen Biene erzählte. Ihm war heiß, sein Herz klopfte wie bei einem Jungverliebten und er fühlte sich zurückversetzt in seine Teenagerzeit. Meine Güte, wie viele Jahre hatte er mit Hildchen verschwendet, wo ihm doch ein soviel jüngeres Schicksal zugedacht war.
Am Sonntag fuhr er zum Ostkreuz. Eine Zeitlang irrte er an den verschiedenen Ausgängen umher. Wo genau musste er eigentlich raus? Hier im Osten war alles so kompliziert. Vier Ausgänge gab es, Hauptstraße, Markgrafendamm, Sonntagstraße und Neue Bahnhofstraße. Der Bahnhof Ostkreuz war ganz schön verrostet. In den Ecken roch es durchdringend nach Urin. Überall hingen Plakate in Fetzen, Grafitti-Schmierereien zierten die schmutzigen Wände. Manfred schüttelte ungläubig den Kopf. War hier die Zeit stehen geblieben? Ihm war, als hätte er schon öfter von der Rekonstruktion dieses Bahnhofs gelesen. Nötig hätte er es. Aber hübsche Mädchen gab es am Ostkreuz trotzdem. Leute überholten ihn mit schweren Koffern und schimpften, dass es hier immer noch keine Fahrstühle gab. Ein junger Kerl rief ihm zu: "Eh, haste mal 'ne Zigarette?" und ein alter Mann in einem viel zu großen Mantel wühlte in einem Papierkorb nach Essbarem. Ein Rollstuhlfahrer kurvte auf die Treppe zu.
Suchend schaute Manfred sich um. Wie wollte der eigentlich runterkommen? Der Fahrer hievte sich mühsam aus seinem Gefährt, klemmte sich die beiden Krücken, die an der Rückenlehne befestigt waren, unter die Arme und blickte Manfred fragend an. Na klar, der verstand, schnappte sich den leeren Rollstuhl und trug ihn hinter ihm die Treppe hinunter. Unten angekommen, half er ihm wieder in sein Gefährt. "Sagen Sie mal, zur Böcklinstraße, wo muss ich da raus?" "Ausgang Sonntagstraße!", lautete die kurze Antwort.
Manfred machte sich mit seinem Alpenveilchen auf den Weg. Ein Hauch Patschuli, den er bei seiner Hilde in der Kommode gefunden hatte, umgab ihn wie eine Wolke. Die frische Wäsche aus der Reinigung und eine gründliche Rasur gaben ihm ein sicheres Gefühl. Nun stand er vor der Haustür mit dem Schildchen Möbius. Er klingelte. Die Tür wurde geöffnet und Jaqueline stand davor. Sie strahlte ihn an und bat ihn hinein. "Haben Sie einen Moment Zeit?" Na klar hatte er Zeit, so viel sie wollte. Er verbeugte sich jovial und trat mit Schwung ein. Das Alpenveilchen drückte er Jaqueline mit einem Lächeln in die Hand. Plötzlich öffnete sich die Wohnzimmertür und eine füllige Mittvierzigerin erscheint im Türrahmen. "Hildchen, was machst du denn hier!", hätte Manfred fast gerufen. Die Frau sah seiner verstorbenen Gattin auf den ersten Blick verdammt ähnlich. Sie hatte zwar die gleiche Frisur, war aber etwas kleiner und besaß ein Doppelkinn. Jaqueline wies auf Manfred und erklärte ihr: "Mama, das ist Herr Krause, der meine Tasche gefunden hat und so nett war, sie vorbeizubringen. Bitte entschuldigen Sie mich jetzt, mein Freund wartet schon auf mich." Die Mutter strahlte und rief mit einem Blick auf das Alpenveilchen: "Och, das ist ja reizend, Alpenveilchen liebe ich! Treten Sie doch ein in die gute Stube. Es gibt Kaffee und Marzipanstriezel." Wohlgefällig sah sie auf sein Äußeres hinab. Welch eine gepflegte Erscheinung. Bügelfalten in der Hose, strahlend weißer Hemdkragen… "Übrigens, sagen Sie doch einfach Roswitha zu mir!" Benommen folgte er ihr ins Wohnzimmer. So eine Enttäuschung aber auch. Eine Stinkwut auf die Frauen erfasste ihn. Egal, jetzt war er einmal hier und Hunger hatte er auch. Außerdem hatte er sich als ehrlicher Finder ja Kaffee und Kuchen als kleine Entschädigung verdient…
Ein Jahr später. Manfred hatte Roswitha vor dem Traualtar das Jawort gegeben. Er trug von nun an wieder Hosen mit Gürtel, gestopfte Socken, rasierte sich täglich und sah gefälligst beim Essen nicht fern. Sein Kumpel Ede aus dem Lämpchen gab irgendwann die Hoffnung auf, ihn wieder zu sehen.
Marcus Becker
Kreuzung
SOLVEIG
Wenn man den Namen Solveig auf eine deutsche Zunge legt, dann kann es passieren, dass seine kraftvoll skandinavische Bedeutung schmilzt und schließlich zerfällt in zwei unglückliche Silben. "Sol - veig". Klingt irgendwie wie: "Soll weg!" So eine Entdeckung hinterlässt Spuren. Ich persönlich kenne Solveig länger als ihren Namen. Als ich ihn beiläufig erfuhr und noch mal nachfragte, machte sie ein Gesicht, als hätte ich ihre Unterwäsche geklaut. Und dann hat sie es preisgegeben: Ihre Mutter sei eine Verbrecherin. Nicht nur wegen des Namens. Solveig soll beinahe ins Klo geplumpst sein bei ihrer Geburt. Die Mutter hielt nämlich die einsetzenden Wehen für Blähungen, Solveig kam völlig überraschend: fast eineinhalb Monate zu früh strebte sie gen Licht der Welt und das, was sie erblickte, als sie sich das erste Mal an irdischer Atemluft verschluckte und anfangen wollte zu schreien, war ein reinweißer Fliesenfußboden. Sie ist prompt ohnmächtig geworden. Aber Solveig hielt durch! Heute steht sie auf einem Bahnsteig und raucht Zigarette. Aber diese Angewohnheit soll weg. Bald jedenfalls. Vieles soll weg. Solveig ist drauf und dran, ihren Namen in ein Lebenswerk zu verwandeln. Mit den Spiegeln in ihrer Wohnung hat sie angefangen, allesamt hat sie abgehängt, es waren nur zwei, aber alle sollten weg. Sie weiß nun nicht mehr, wie sie aussieht. Sie trägt Kapuze und sie mag es nicht, sich in den Scheiben der Öffentlichkeit zu spiegeln, überhaupt dieses Glaszeitalter! Beobachtet man Menschen, vor allem in der S-Bahn, benehmen sie sich wie eitle Affen, eine Locke hier, eine Locke da! Sie bleibt bei ihrer Kapuze, die ist wie Scheuklappen. Hauptsache ein Blick nach vorn. Getunnelt. Sie hat also Hoffnung. Ihr schönes junges Leben setzt sie fort mit dem Abschied von ihren Haaren. Ich fand sie schon immer mutig: Ihr Kopf ist rasiert. Ich vermute, dass überhaupt alles rasiert ist an ihr, ich glaube sie hasst Haare, ich will sagen, nicht im Allgemeinen, sondern nur an ihr selbst. Als ich ihr einmal über ihre rot schimmernden Stoppeln gefahren bin, habe ich ihre Wimpern und Augenbrauen gelobt, weil sie viel dunkler sind und sie hat gelächelt, als hätte ich eines ihrer blühenden weiblichen Geheimnisse gelüftet.
DANIELO
Danielo ist ein italienischer Name. Kommt aber von Daniel, dem Propheten, und dieser Name ist so alt wie die Babylonier oder das Alte Testament. Daniel in der Löwengrube zum Beispiel. Danielo ist Italiener. Aber genau genommen ist er Weltbürger, seine mehrfache Staatsbürgerschaft ist mir bis heute unklar, es gibt kaum ein Land auf der Erde, in dem er noch nicht gewesen ist, was daran liegt, dass er im Flugzeug geboren worden ist, also in der Luft und weshalb er jetzt — Gott sei Dank und Lufthansa — sein Leben lang kostenlos mit dieser Airline fliegen darf. So ist das, wenn man im Flugzeug geboren wird! Nur einmal wollten sie ihm seine Geburtsgarantie doch streitig machen. Lufthansa schrieb ihm, dass er mit Vollendung seines fünfundzwanzigsten Lebensjahres nicht mehr einfach so fliegen dürfe. Doch Danielo ist nicht nur Kind seiner italienischen Eltern, sondern auch Kind des Glücks und sein Leben ist so abhängig von der Fliegerei wie ein Zuhälter von seinen Frauen. Danielo, der notorische Mitflieger, teilte den Damen und Herren von Lufthansa postwendend mit, dass er freier Journalist und Fotograf mit globalen Aufträgen geworden wäre (was wirklich stimmt) und dass seine jetzige Existenz voll und ganz Ergebnis seiner Flugzeuggeburt sei und dass er nur dann Flugkosten akzeptieren könne, wenn Lufthansa eine Insolvenz nicht überstehen sollte. Danielo und Berlin. Das passt nicht, man sieht es ihm irgendwie an: Er ist auf der Durchreise. Was er aber genießt: Die öffentlichen Verkehrsmittel dieser Welt. Die deutsche Bahn ist sehr komfortabel findet er, sehr bodenständig und ohne Luftlöcher. Danielo wird in vier oder fünf Tagen wieder fliegen. Deutschland ist kalt, Afrika nicht. Er denkt gerade an Impfung, weil die Tropen nur so gurgeln und triefen vor abscheulichen Krankheiten — er nimmt’s gelassen, denn wenn man die Welt so kennt wie Danielo, dann ist fast alles in der Welt eine Impfung wert. Aber gleich gibt es dänisches Essen bei Berliner Bekannten in Schöneberg, wo er auch seit ein paar Tagen schon wohnt; er sieht sich um und gähnt wie eine Hyäne. Mit der kondensierenden Luft dazu doch eher wie ein Drache. Es ist schon dunkel. Seine Nüstern flattern. Nach Afrika eine Pause. Eine lange Pause! Und jetzt vielleicht doch ein Foto. Drei Bahnsteige hat dieser Bahnhof und vom dritten aus kann man die Dächer der ersten beiden gut überblicken. Dachpappe spreizt sich auseinander, wie Rennbahnen. Oder die Landebahn für den Weihnachtsmann. Aus dem eisigen Himmel wird er stürzen mit Extraschleife und Goldregen, Schlitten und rotnasigen Rentieren. Alle barbarisch betrunken, versteht sich. Und eine Plastiktüte voll Coca-Cola um den Fusel zu verdünnen, denn der Weihnachtsmann will ja den vielen Kindern seine Fahne nicht zumuten. Es hilft nichts, Danielo mag Weihnachten nördlich der Alpen nicht, statt Weihnachtsmännern will er lieber Gorillas im Regenwald sehen.
FEE
Eigentlich Felicitas, die Glückliche, was so nobel und lateinisch klingt — aber Fee, finde ich, klingt wie Märchen. Und Feen haben Zauberkräfte! Wir hatten nur wirklich zweimal Zeit füreinander. Das erste Mal: Beim Dankesbankett, das ich veranstaltete für die nicht wenigen Menschen, denen ich etwas sehr Wichtiges zu verdanken habe (und von denen nur die drei bis jetzt genannten Personen erschienen sind. Solveig, Danielo und eben die schöne Fee.) Das zweite Mal in ihrem Bett. Fee liebt Sex, sie ist ein Vulkan! Eine Frau, die meine jetzige Idealfrau ist: Ihre Augen sind kostbare dunkelbraune Klunkern, denen nichts entgeht, das einzige, das sie nie bemerken würde ist, dass sie vor meinen Augen so gut wie jedes Mal nackt herumläuft, ich meine, heute erst recht. Nebensache. Die Liebe dagegen ist, so vermute ich, mit ihr zuweilen kompliziert, doch wenn sie liebt, dann ist sie loyal bis aufs Messer und hält einem die Probleme vom Hals. Je mehr man ihr gibt, desto mehr kommt zurück. Wie ich neben ihr morgens erwachte, streichelte ich ihr die Wangen und fand, es könne etwas werden. Wir verabredeten uns für das Jahr 2010 auf dem Geisterbahnsteig von Ostkreuz, das ist der vierte und unwirklichste Bahnhof in der ganzen Bahnhofsanlage und er zählt irgendwie auch nicht so richtig zum Mekka meiner Errettung und Wiedergeburt dazu. Wenn es ihn wirklich gibt, soll er irgendwo halbversteckt und halb eingestürzt im Westen liegen und die Züge sollen denn auch nur in diese eine Richtung fahren, sagt man.
FERDINAND
Es gab mal einen Clown, der hieß Ferdinand. Eine zutiefst tragische Figur. Ich fand Clowns schon als Kind eine merkwürdige Erfindung, sie passen nicht in eine ideale Welt, aber es gibt sie noch und sie sind so schrecklich real, dass ich am liebsten jedem einzelnen von ihnen die Maske vom Gesicht reißen würde, um sie zu rehabilitieren. Ich weiß nämlich nicht, ob der echte Mensch hinter der Clownmaske ein glücklicher Mensch sein kann, aber ich habe schon immer geglaubt, dass es eine höhere und bösartige Macht gibt, die Menschen in Clowns verwandelt und sie so durcheinander bringt, dass ihnen auch Coca-Cola nicht mehr hilft. Diese Macht schickt sie dann schnarchend auf die Bahnhöfe, wo sie von Anticlowns in blauen Kostümen aus ihrem Schlaf geweckt werden, damit sie ihre Arbeit fortsetzen. Menschen mit clowneskem Spiel glücklich machen. Ich meine, auch ich ertappe mich dabei, wie sie mich glücklich machen: Sie erinnern mich daran, wie gut ich es habe, kein Clown zu sein. Obwohl jeder einer werden kann. Wie gut es mir geht mit fließend Wasser, Musik und Kühlschrank.
Im Grunde weiß Ferdinand nichts über mich, ebenso habe ich keine Ahnung, wer er ist. Aber es gibt ihn! Ich sehe täglich hunderte von ihnen, gleich morgens, wenn ich als braver Student in meine Uni fahre, stehen sie da: als Schlange vor der Bahnhofsmission und sie alle schlottern hungrig in der Kälte, bis die Frau im Kittel aufschließt. Eine obdachlose Schlange, die von Tag zu Tag länger wird.
KREUZUNG
Als sich der obere Bahnsteig Berlin-Ostkreuz schon in eine Kreuzung verschiedenster Menschenschicksale verwandelte, hatte ich noch schlechte Laune. Ein Bahnhof ist eigentlich immer eine Kreuzung und oft eine ziemlich nervige, weil da wären: Treppendrängeln, Gerüche, belanglose Gespräche, schwangere Schaffnerfrauen, Leute mit von Gesichtern wie Hängebrüste bis Juckpulver im Mund, ganz zu schweigen von den Intellektuellen, die sich aufgrund ihrer Intelligenz keine Autos leisten können. Und dann? Strotzender Humanismus und zwischenmenschliche Liebe! Und das, obwohl so kurz vor Weihnachten alle nur an Geschenke denken. Ich hatte einfach noch keine Ahnung. Punkt achtzehn Uhr hatte ich beim Chinamann im Erdgeschoss zwei Chinapfannen geholt, eine für mich und eine für meine Brieffreundin, die gerade aus Tasiilaq zu Besuch war und sich im Prenzlauer Berg in einem unbeheizten Dachboden einquartiert hatte. Jetzt auf dem Bahnhof war es zehn Minuten später. Für mich und meine Chinapfannen hieß es nun warten. Wir setzten uns, die eine rechts, die andere links von mir, dann kühlten wir zusammen ein bisschen ab. Ich wollte mich entschließen, das Rauchen wieder zu beginnen und die da mit der Kapuze nach einer Zigarette fragen, da kam sie schon, meine Bahn. Die Türen öffneten automatisch und ich nahm meine beiden Essen in beide Hände und stieg ein. Ich blieb nahe bei der Türe. Dann, wie üblich, das rote Signal! Die Türen wollten gerade schließen, da tauchte Ferdinand auf, er keuchte die Treppe hinauf; ich erkannte ihn am vor Schmutz stehenden Trenchcoat und einem Stoffbeutel voller Zeitungspapier und ich bekam diese Wonne von Mitgefühl, die ich öfter bekomme und ich streckte meine Arme aus, um ihm die Türe offen zu halten, mit Gewalt — ich fand, er dürfe seine Bahn nicht verpassen! Die schwangere Schaffnerfrau wiederholte extra für ihn "Zurückbleiben!" und die Geschehnisse verselbstständigten sich. Ferdinand zögerte und mich verließen die Kräfte. Ferdinand schaffte es nicht mehr. Die automatische Türe hatte meine beiden Arme ab den Ellenbogen hoffnungslos eingeklemmt und ich sah mich plötzlich im Inneren des Zuges in der Scheibe gespiegelt, mein Gesicht verzog sich, weil ich mir Sorgen machte um meine Arme und auch um die Chinapfannen da draußen auf meinen ausgestreckten Handflächen! Ich kann Ferdinand verstehen, dass er sie mir abnahm. Ich sah’s durch das Glas: Wie sich mein Spiegelbild mit seinem Gesicht vereinte, welches dann was weiß ich wohin verschwand. Gut, er war hungrig und ich hatte lange Zeit Obdachlosen nichts mehr gespendet, aber war ich erleichtert? Was war mit meiner grönländischen Brieffreundin, der ich mit abgetrennten Armen, schulterzuckend wie ein Zombie, gegenüberstehen müsste um ihr zu sagen: "Du, Abendessen fällt heute leider aus, guck mich an, es war die Hölle!" Bestimmt würde sie mich vor lauter Schreck nicht im Krankenhaus besuchen. Bestimmt auch nicht auf dem Friedhof, denn das hier überlebe ich nicht. Ich bekam Angst. Ich betete wie noch nie.
Diese Geschichte ist Menschen gewidmet, wie Danielo, Solveig und Fee. Solveig war nach späteren Aussagen (ich war ja schon bei Gott) die erste, die an der Automatiktüre zerrte. Fee war die zweite und auch diejenige, die schrie, so dass noch mehr Menschen herbeieilten, um mir zu helfen. Danielo, der alles von weiter weg mitbekam, informierte sogleich die Schaffnerin, die den Zug dann per Notknopf stoppte, weil er schon am Losrollen war. Das ist eigentlich alles. Meine Arme besitze ich noch. Dank ihnen.
Anelia Botev
Endstation Ostkreuz
Es war Mittsommernacht, als Marc sich in seiner noch durch die Tagessonne aufgeheizte Wohnung für einen netten Abend mit seinen Freunden vorbereitete. Er zog sich sein Lieblings-T-Shirt an, wuschelte mit ein wenig Haarwachs durch seine Locken und sprühte sich Duft, den ihm Lis, seine Ex, geschenkt hatte, auf den Hals und unter die Achseln. Er wollte ihn so schnell wie möglich leeren, aber zum Wegkippen war er ihm doch zu schade.
Mit einem Sechserpack Becks in der Hand ging er am Rudolfplatz vorbei, Richtung Modersohnbrücke, dem Treffpunkt aller verlorenen, einsamen und doch hoffnungsvollen Großstadtromantiker. Diese Brücke verband zwei sehr unterschiedliche Teile Friedrichhains, sie war dank der EU großzügig gebaut, unter ihr verliefen viele Bahngleise. Seit ihrer Eröffnung hatte sie sich mehr und mehr zu einem Treffpunkt für Sonnenuntergang- und manchmal auch Sonnenaufgangsliebhaber entwickelt. Das Café del Mar Berlins, nur viel lässiger und intimer, dachte er.
Da sah er schon Malte und Thomas auf dem Fußgängerstreifen hocken. Neben ihnen saßen noch einige Leute, die er nicht kannte. Hey, darunter waren auch Frauen. Innerlich erfreut, doch betont langsam steuerte er auf die Gruppe zu.
"Hey!"
"Hey Marc! Setz dich zu uns! Das Bier ist uns gerade ausgegangen. Gut, dass du mit Nachschub anrückst. Diese wunderbaren strahlend-schönen Menschen hier Tania, Ronny und Louise."
Er grüßte in die Runde, sein Blick streifte die blonde Louise mit ihrem niedlichen Pagenschnitt etwas länger als die anderen. Thomas schien seiner Euphorie freien Lauf zu lassen – hatte wohl schon länger hier gesessen.
"Hör mal, kommst du gleich mit zu einer Walpurgisnachtparty mit Feuer im Hof, Hexenmädels und genialer Musik? Sie findet in einem Club am Ostkreuz statt, am Markgrafendamm, glaube ich."
"Klar. Warum nicht."
Die anderen strahlten ihn an. Louise hatte süße Grübchen, sie gefiel ihm immer besser. Hoffentlich kam sie mit.
Einige Stunden später sitzt er in einem großen, weichen, weißen Sofa im Hof des Ministeriums für Erholung. Ein viel versprechender Name für einen abgewrackten Club, ihm gefällt es hier hervorragend. Diese Leichtigkeit, diese Wärme ist noch spürbar. Auf seinem Schoß liegt Louises Kopf. Er streichelt ihr feines Haar. Sie hat die ganze Nacht getanzt und ihn dabei angelacht. Er ist verwirrt und glücklich. Jetzt ist sie endlich bei ihm, selig schlummernd, aber er will sie nicht einfach gehen lassen. Dieser Abend muss eine Fortsetzung finden. Beim Gedanken, sie nicht wieder zu sehen, sehnt er sich nach einem tiefen Abgrund. Hier sind zu viele Nachtgestalten mit torkelnden Schritten und Glasmurmelaugen. Er will sie von allen fernhalten, ganz für sich allein. Mit ihr auf einer Wiese liegen oder im Wald umherstreifen, sie auf Moosbänken küssen und mit ihr wilde Himbeeren pflücken. Marc seufzt, sein Kopf fällt auf das Polster, die Geräusche verschwimmen in flirrenden Farben und lösen sich in ihm auf.
Sieben Uhr: Es ist wieder hell. Seine Freunde sind längst gegangen. Aber Louise ist noch da, lächelte ihn an.
"Guten Morgen!"
"Hey… lange Nacht…"
"Stimmt – und gleich muss ich in die Schule." "Oh nein!" "Doch."
Er verflucht das Konzept der Zeit, die westliche Zeitrechnung und alle Zwänge, die ihre Trennung beschleunigen. Schließlich ist dies ein besonderer Morgen, ein Vorzeichen einer besonderen, anderen, neuen Zeit. Lange war er nicht mehr so glücklich. Verliebt? Zu früh. Ruhig bleiben.
Sie rappelt sich auf und räkelt sich wie eine Katze. Sie reißt ihn noch hoch und zieht ihn auf den Markgrafendamm, der schon voller Autos ist, Richtung Unterführung. Er erblickt den mächtigen, schwarzen Pickelhaubenturm. Wächter des Ostkreuzes nennt er ihn manchmal, immer das verschachtelte treue Ostkreuz im Visier. Schon schlägt ihm der Fettgestank des Asia-Imbisses im S-Bahn-Eingang entgegen. Trotz dieser penetranten Sinneseindrücke kann er nur an Louise denken.
Louise schiebt ihn rechts Richtung Treppenaufgang. Aha, sie muss also zur Ringbahn. Oder doch wieder herunter? Nun stehen sie vor dem Metallgitter zwischen den Gleisen. Dahinter befinden sich Blumen und lose Platten, ein Denkmal des Verfalls. Er kann sie so nicht fahren lassen.
"Mmmh. Kannst du mir deine Telefonnummer geben?" Ein Versuch, lässig zu gucken.
"Klar, das könnte ich, aber ist das nicht langweilig? Gib dir mehr Mühe – sag doch, dass du mich wieder sehen willst. Direkt in mein Gesicht!"
Er taumelt vor Anstrengung und Unsicherheit. Jetzt darf er keinen Fehler machen. Er riskiert ihre totale Verweigerung, sieht aber zugleich wie ihre Augen ihn tanzend, lachend und erwartungsvoll fixieren.
Er geht einen Schritt auf sie zu. Sie bewegt sich nicht. Dann nimmt er ihr Gesicht in seine noch warmen Hände. Samtig und weich fühlt sie sich an. Kuss auf den Mund. Ohne Zunge. Sie küsst zurück.
In diesem Moment fährt die Bahn ein. Keine Zeit zum Nachdenken, schnell handeln. Er flüstert ihr hastig ins Ohr.
"Nächste Woche 7 Uhr 23 an diesem Gleis, vor dem Gitter. Bitte sei auch hier!" Sie drückt kurz seine Hand und springt in das letzte Abteil.
Manuela Drossel
Liebe am Ostkreuz
Meine erste Liebe wohnt ganz nah
und immer wenn ich lang fahr,
denk ich zurück an die schönen Nächte
und mir wird klar, er ist nie mehr für mich da.
Der Ostkreuz schon.
Erika Reichelt
Erstes Glück in der Hahnstraße
Ganz nah am Bahnhof Ostkreuz bin ich mit meinen Geschwistern aufgewachsen. Mit ihnen ging ich damals zehn Jahre lang in die Max-Kreutziger-Oberschule in der Böcklinstraße. Im Teenageralter schaute ich immer mehr auf die Jungs und sie auf uns Mädchen. Die erste Rivalität unter uns besten Freundinnen begann. Wir wurden neidisch aufeinander, wenn einer der Jungs mit einer Anderen länger sprach als mit einem selbst. Ich passte im Unterricht nicht mehr auf, und die Zensuren wurden schlechter, weshalb ich bald Ärger mit meinen Eltern bekam. Doch irgendwie war mir das alles gleichgültig, besonders der Unterricht in der Schule. Wichtig waren jetzt für mich die abendlichen Treffen in der Hahnstraße. Es hatte sich eine Clique von zirka 12 Jugendlichen der achten bis zehnten Klassen aus unserer Schule gebildet, zu der ich auch gehörte. Die Hahnstraße hatten wir uns ausgesucht, weil wir dort unbeobachtet waren, denn nur Giebelwände begrenzten sie. Jetzt gibt es sie nicht mehr. Auf dem Gelände steht die Zille-Grundschule in der Boxhagener Straße. In unserer "Hahne" war immer etwas los. Dort rauchte ich meine erste Zigarette. Ein etwas älterer Junge hatte immer welche bei sich und bot uns netterweise davon an. Die "Hahne" war auch der Ort, an dem ich meinen ersten richtigen Kuss bekam, das heißt mit Zungenschlag. Mir wurde heiß und kalt dabei. Doch immer, wenn es am schönsten wurde, musste ich nach Hause. Das war gegen 21 Uhr, viel zu früh, wie ich damals fand. Meine Eltern waren streng, so versuchte ich immer pünktlich zu Hause zu sein, denn ich wollte das nächste Mal wieder hingehen dürfen.
Eines Abends kam ein großer blonder Junge zu uns in die "Hahne". Er war aus der Jessner-Schule und wohnte in der Nähe. Der interessierte mich bald am meisten und ich ihn glücklicherweise auch. Es war wohl Liebe auf den ersten Blick. Er war blond und hatte schöne blaue Augen, also genau mein Typ. Bald waren uns die Treffen mit den Anderen in der "Hahne" nicht mehr wichtig. Wir wollten allein sein. Wir hatten uns so viel zu erzählen und uns kennen zu lernen. Jeder dunkle Winkel wurde zum Küssen genutzt. Als meine Oma erkrankte, nahmen meine Eltern sie zu sich und pflegten sie, bis sie nach einigen Wochen wieder gesund in ihre kleine Wohnung zurückkehren konnte. In diesen Wochen tauschte ich mein Bett mit ihrem und wohnte in Omas Eineinhalb-Zimmer-Wohnung nahe der Samariterkirche. Das war ein glücklicher Umstand für meinen Heinz und mich. Oft kam er mich dort besuchen, was wir jedoch vor meinen Eltern geheim hielten. Diese Wochen waren sehr, sehr schön für uns beide. Wir spürten, dass wir für einander bestimmt waren. Kurz nachdem ich meine Lehre als Sekretärin abgeschlossen hatte, erkrankte meine liebe Oma erneut und starb bald darauf. Weil ich schon drei Jahre auf ihre Wohnung angemeldet war, durfte ich diese als Hauptmieterin beziehen. Das war in vielerlei Hinsicht ein Glücksfall für uns und meine Schwester, denn sie hatte unser gemeinsames Zimmer nun für sich allein und wir beide eine eigene Wohnung, voll möbliert. Ein guter Start für unsere Ehe. Wir hatten nur eine neue Schlafcouch gekauft und die Möbel etwas umgestellt. Jetzt konnten Heinz und ich endlich heiraten. Vier glückliche Jahre wohnten wir in dieser Wohnung im Bezirk Friedrichshain. Etwas vermisste ich allerdings, das Geräusch der vorbeifahrenden S-Bahnzüge, wenn sie mit ihrem eigentümlichen Singen vom Bahnhof Ostkreuz kommend, nah an unserem Wohnhaus vorbei fuhren, und auch den Richtung weisenden hohen Wasserturm direkt am Bahnhof. Ich hatte mich in all den Jahren meiner Kindheit so daran gewöhnt. Als sich endlich Nachwuchs bei uns anmeldete, zogen wir um nach Hellersdorf in eine größere Wohnung. Nach und nach kauften wir uns neue Möbel, nur einige mir lieb gewordene Dinge, Andenken an meine Oma, behielten wir. Hier wohnen wir heute noch mit unseren beiden Kindern. Gern denke ich manchmal an die Schulzeit und unsere "Hahne" zurück, denn da habe ich ja meine "große Liebe" kennen gelernt.
Anna-Elisabeth Renk
Idylle mitten in der Stadt
Weil ich auf Stralau zu Hause bin,
geh ich oft zum S-Bahnhof Ostkreuz hin,
entlang den Uferwanderweg am Rummelsburger See,
im Winter auch bei Eis und Schnee.
Im Herbst, wenn so viel Blätter auf den Wegen liegen
und Krähen und Möwen schreiend fliegen.
Im Sommer, wenn die Sonne den Weg bescheint,
die es manchmal recht gut mit uns meint,
da freut man sich schon auf den belaubten Wandelgang
unten an der Kynaststraße entlang.
Im Frühling, wenn die Wildpflanzen sprießen,
kann man den Weg so richtig genießen,
da sieht man den See spiegelblank und klar
und es turtelt in Wasser das Schwanenpaar.
Ob es stürmt oder regnet, früh oder spät,
ein Angler immer am Ufer steht.
Ganz früh im Mai
kommt auch die Nachtigall herbei.
Geht man den Paul-und-Paula-Weg entlang,
ganz in der Nähe der Liebesbank,
am Wasser, im Unterholz verstaut,
hat sie jährlich ihr Nest gebaut.
Ihr Revier und das brütende Weibchen wird gut bewacht,
darum singt sie Tag und Nacht.
Leute, die nach Ostkreuz gehen,
blieben lauschend manchmal stehen.
Was kann schöner sein,
als jung und verliebt bei Mondenschein
auf dieser Bank zu schmusen und zu plauschen
und dem Gesang der Nachtigall zu lauschen.
Denn nachts, wenn andere Vögel schweigen,
hört es sich an wie mit Harfen und Geigen.
Nun wird der Uferwanderweg neu gemacht,
hat jemand an die Nachtigall gedacht?
Wird das Unterholz dort weggenommen,
wird sie nicht mehr wiederkommen.
Heli Lichtstral
Das Märchen von der Liebe
Rummis Liebesgeschichte
Oh, ihr seid noch auf??? Na ja, im Winter wird es eben zeitig dunkel. Eine Zeit zum Geschichten erzählen beginnt, in den dunklen Nächten des Winters und besonders in der Zeit vor Weihnachten …
Und wisst ihr, wo ich heute bin???
Heute sitze ich am neuen Pocket-Park … das ist kurz vor dem alten Flaschenturm und kein Bewohner und kein Spaziergänger darf eigentlich dorthin, denn es wird ja noch gebaut … aber für mich ist es am Abend ein gutes Plätzchen … niemand kann mich stören …
… besonders vor Weihnachten wird mir immer so komisch ums Herz, ein bisschen schwermütig und traurig werd ich und sitze gern allein im Dunklen … träume … und viele Geschichten fallen mir ein … von der Weihnachtszeit – und von der Liebe. Denn Weihnachten wird ja auch: "Das Fest der Liebe" genannt!
Und immer wieder muss ich daran denken, wie meine Eltern meine Eltern wurden. Das ist wohl die schönste aller Liebes-Geschichten, die ich mir vorstellen kann … ein richtiges M ä r c h e n, das Märchen von ihrer Liebe!!!
Und es geschah – im Rummelsburger See, der damals noch der Strahlower See hieß oder floss gar noch der Hauptarm der Spree hier hindurch??? Egal. Es war hier – und es war in der Zeit vor Weihnachten!!!
Meine Mutter hatte sich so sehr in den Fischer von Stralau verliebt. Und hat sich ihm lange nicht zu erkennen gegeben. Später trafen sie sich ganz, ganz heimlich. Und damit der Fischer von Stralau immer an das Wasserfräulein denkt, schenkte sie ihm zum Zeichen ihrer Liebe ihren Schleier!!!
Aber ihr Vater, mein Opa, der Wassergeist, hatte ihr jeden Kontakt zu den Menschen streng verboten. Denn er hatte schlimme Erfahrungen machen müssen seit die Menschen versuchten, immer mehr und mehr Fisch aus dem See herauszuholen, mehr als die Natur bereit war, den Menschen zu schenken…
Ein rückwärts laufender Wächter, der Krebs, war Minister im Reich des Wassergeistes – und verfolgte das Mädchen ständig. Einmal hatte dieser sogar auf den jungen Fischer von Stralau geschossen … ja! Ich darf gar nicht daran denken … Und natürlich berichtete der Krebs dem Wassergeist von der Tochter und dem Fischer …
Als mein Opa, der Wassergeist, von der großen Liebe seiner Tochter erfuhr, ging er eines Abends an Land und traf den Fischer von Stralau … er klopfte an die Tür der Fischerhütte und als der junge Mann, der später mein Vater wurde, öffnete, sagte der Wassergeist, dass der Fischer sterben müsse, denn er besitze den Schleier seiner Tochter! Aber der junge Fischer lachte nur und sagte, dass er mit dem Sterben keine Eile hätte. Sondern er wolle das Wasserfräulein lieber zur Frau haben!!!
Darauf ist irgend etwas passiert mit meinem Opa, dem Wassergeist. Er sprach zwar nicht ein Wort … aber er kam am nächsten Abend wieder und holte den Fischer von Stralau zur Hochzeit ab … am Ufer des Sees tauchte ein großes Haus auf, das der Fischer bis dahin noch nie gesehen hatte … alle Wände bestanden aus reinem Glas, und alles war festlich erleuchtet. Der Fischer hörte Musik und das Lachen vieler Leute! An einer Festtafel war der Platz neben der Seejungfrau, dem Wasserfräulein frei, und der Fischer von Stralau setzte sich neben sie.
Als es schon sehr spät war, flüsterte meine Mutti, ähh ich meine das Wasserfräulein, ihrem geliebten Fischer zu, dass sie um zwölf Uhr, also um Mitternacht, für eine Weile auf den Grund des Sees hinabsteigen müsse … mein Vater, mein späterer Vater, der Fischer von Stralau, beging nun einen sehr, sehr großen Fehler – unbemerkt schlich er an die große Wanduhr und stellte die Uhr eine Stunde zurück … so verging die Mitternacht, ohne dass es jemand bemerkte … eine Stunde zu spät schlug die Uhr dann zwölf Mal … meine Mutter, das Wasserfräulein stieß einen lauten Schrei aus und war verschwunden …
Mit ihr war aber auch alles vergangen, was sie umgeben hatte. So stand mein Vater, ähh, ich meine der Fischer von Stralau, plötzlich ganz alleine am dunklen Ufer des Sees … und er bereute sehr, so sehr, dass er seiner jungen Frau nicht vertraut hatte … und eine große Sehnsucht packte ihn nach seinem geliebten Wasserfräulein!!!
Und er wollte nun gerade nicht mehr von ihr lassen … und sprang ihr nach in die dunklen Wasser des Rummelsburger Sees…
Nein, nein! Ihr braucht nicht traurig sein. Was wie ein Ende klingt, war ja erst der Anfang. Natürlich hat niemand mehr den Fischer auf dem Lande, weder auf der Rummelsburger noch auf der Stralauer Seite gesehen … aber meine liebe Mutter war doch da!!! Und erwartete den Fischer von Stralau schon!!!
Sie küsste ihn so lange und so von ganzem Herzen, dass er danach … ob ihr’s glaubt oder nicht: wie ein Fisch atmen konnte … Meine Mutter — das Wasserfräulein – hatte ihm sozusagen abgegeben, von ihren Fähigkeiten, versteht ihr … wie in einer großen Liebe. Und mein Vater versprach ihr dafür, immer bei ihr zu bleiben.
Lange nahmen die Menschen an, dass der Fischer um sein Leben gekommen war … das stimmte auch in gewisser Weise – denn um sein bisheriges Leben – war er gekommen …
Jaaa, das alles geschah um die Weihnachtszeit, vor vielen hundert Jahren auf dem Grunde des Rummelsburger Sees!!!
Und neun Monate nach Weihnachten wurde ich geboren … so voller Liebe war die Weihnachtszeit am Grunde des Sees!!!
Fragt doch eure Eltern auch einmal nach der großen Liebe???!!! Aus der ihr gewachsen seid??? Zu Weihnachten ist die Zeit dafür --- denn vergesst nicht: Weihnachten ist das Fest der Liebe, der Geschichten und der Märchen, und nicht nur das Fest der Geschenke …
Sooo, Rummi wünscht euch nun, dass ihr schöne Ferien habt und mit euren Eltern und Großeltern ein ganz, ganz schönes Weihnachtsfest feiert!!!
Und gut in das neue Jahr hineinrutscht … ooochhh, nicht traurig sein!!!
Nun muss ich aber los … ich habe meinem Vater doch versprochen, bei dem Weihnachtsvorbereitungen zu helfen… und wenn ich nicht pünktlich am Kratzbruch-Riff bin… sorgt sich meine Mutti…
Tschüüß … sagt für heute Rummi … und vergesst mich nicht…
Unter Verwendung von: Der Stralauer Fischer und das Wasserfräulein.
Aus: Der Stralauer Fischzug. Sagen, Geschichten und Bräuche aus dem alten Berlin.
Herausgegeben von Stephanie und Joachim Marzahn.
Verlag Neues Leben, Berlin, 1987
Friedrich A. Holm
Für Nils Scharmberg
Liebe ist die Zeit am Anfang deiner Augen
und bleibt mir Zukunft zeigend im Gesicht
was der Träume wegen die zum Leben taugen
von aller Worte Gaben sicher hier Gedicht
damit Tage für das Dasein Hoffnung tragen
diesem Blick bald Seele lastendem Gewicht
ihrem Muss mittels Sehnsucht Ziel zu sagen
Christa Block
Der verflixte Bahnhof Ostkreuz
Im Jahr 1958 bezog ich eine Wohnung in Berlin-Friedrichshain, in der Corinthstraße. Es war meine erste eigene Wohnung, unter dem Dach gelegen und bestehend aus kleiner Küche, noch kleinerem Flur und etwas größerem Zimmer. Die Toilette befand sich eine halbe Etage tiefer und ich musste sie mir mit meinem Nachbarn teilen. Der war viel auf Reisen und so gehörte das kleine Örtchen zum Glück oft mir ganz allein.
Eine große Auswahl hatte man ja damals nicht, die Angebote vom Wohnungsamt waren rar und da ich ja erst begann, mich selbstständig zu machen, Wohnung und Haus recht ordentlich aussahen und mir die Corinthstraße auch ein wenig sympathisch war, fiel mir die Wahl leicht. Wichtig war mir auch die Nähe des S-Bahnhofes Ostkreuz, um zur Arbeit und zu meiner Familie zu kommen. Und so richtete ich mich in der vierten Etage mit Blick auf einen engen Hinterhof, aber dem Himmel ziemlich nahe, wohnlich ein und fühlte mich auch bald zu Hause. Einkaufsmöglichkeiten gab es genügend im Umkreis, um für Essen und Trinken zu sorgen, ohne das Eingekaufte weit schleppen zu müssen.
Den Bahnhof Ostkreuz fand ich schon immer interessant mit seinen vielen Treppen und Bahnsteigen und schon als Kind amüsierte mich "Die Hose", wie ich die zwei Dächer über dem Bahnsteig unten nannte, die ich von oben sah, wenn ich in der Ringbahn saß. Immer war Leben und Gedrängel auf den Bahnsteigen, die einen rannten die Treppen hinunter, die anderen stürmten hinauf. Wollte man von Mahlsdorf kommend Richtung Grünau fahren, lief man unten ans andere Ende des Bahnsteiges, stieg die Treppen wieder hinauf und wartete auf seinen Zug. Der fuhr dann am alten Wasserturm vorbei und man konnte die kleinen Lauben bewundern, vor denen Erholungssuchende saßen und sich trotz des Lärms der vorbeifahrenden S-Bahnen scheinbar wohl fühlten.
Aber dieser Bahnhof hatte auch seine Tücken. Nicht unbedingt für einen, der in seiner Nähe wohnte, der wusste, wo die einzelnen Ein- und Ausgänge lagen und welchen man benutzen musste, um zum Beispiel zur Corinthstraße zu kommen. Aber für andere konnte es schon zu einem Problem werden, wenn man den falschen Ausgang benutzte. Damals saßen ja noch Eisenbahner an den Schaltern und man konnte nicht so ohne weiteres das Bahnhofsgelände wieder betreten, wenn man sich einmal nach draußen verirrt hatte. Da wurden die Fahrkarten noch kontrolliert und man musste die abgefahrene abgeben. Den Bahnhof und sein umgebendes Gebiet konnte man auch nicht so leicht umrunden. War man in der Neuen Bahnhofstraße, musste man zurück bis zur Marktstraße, um dann über die Kynaststraße wieder zum unteren Ein- oder Ausgang Markgrafendamm zu kommen.
Für mich war das als geborene Friedrichshainerin damals kein Problem, und so konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass es einmal eines für mich werden könnte.
Meinen späteren Mann lernte ich 1959 auf einem Zeltplatz an der Ostsee kennen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich natürlich noch nicht, dass er einmal mein Mann werden wird. Und beinahe hätte auch der verzwickte Bahnhof Ostkreuz das verhindert. Wir hatten uns verabredet, mein Mann wollte mich besuchen. Wir hatten keinen Zeitpunkt ausgemacht, aber ich wartete.
Jeden Tag fuhr ich von der Arbeit gleich nach Hause, machte keinen Abstecher zu meinen Eltern, ER sollte ja nicht warten. Aber er kam nicht und so war für mich, wenn auch mit ein wenig Bedauern, das Thema Ostseebekanntschaft erledigt.
Später erfuhr ich, dass auch ER die Berlinerin als erledigt betrachtete. Er fand die Corinthstraße nicht, weil er als Ortsunkundiger den falschen Ausgang benutzte. Beim zweiten Anlauf und Einholung von Auskünften klappte es mit der Corinthstraße, aber mich, bzw. meine Wohnung fand er nicht. Als Nichtberliner konnte er sich einfach nicht vorstellen, dass die Berliner Wohnhäuser auch Hinterhäuser und Quergebäude hatten und man ganz hinten in einem Haus wohnen konnte.
Er meinte, ich hätte ihm die falsche Anschrift genannt, weil ich ihn vielleicht doch nicht wieder sehen wollte.
Und doch versuchte er es noch einmal, fand mich aber wieder nicht in meinem Haus und machte sich auf den Weg zur S-Bahn. Und obwohl der Bahnhof Ostkreuz so viele Ausgänge hat, benutzten wir beide an diesem Tag und zu dieser Stunde den gleichen und trafen uns so zufällig wieder. Und dieser Zufall bestimmte unser weiteres Leben. Im März 1960 heirateten wir, und in meiner kleinen Wohnung fand sich noch Platz für ein größeres Bett und für ein Klavier, ein wichtiges Arbeitsmittel für den Musiker.
Auch ihm gefielen die kleinen Geschäfte in der Corinthstraße. In der zwei Häuser weiter gelegenen Fleischerei wurden wir Stammkunden und unser Lieblingssalat zum Abendbrot war der dort hergestellte Fleischsalat. Brot oder Schrippen dazu gab es in der Bäckerei ein Stück weiter auf der anderen Seite. Im Tabakladen an der Ecke kaufte mein Mann seine Zigaretten und oft saßen wir im kleinen Kino am Markgrafendamm.
Wenn es der Dienst meines Mannes erlaubte, gingen wir morgens gemeinsam zum Bahnhof Ostkreuz. Wir standen auf dem Bahnsteig D, ich wartete auf meine Bahn ins Zentrum, mein Mann auf der anderen Seite fuhr Richtung Biesdorf.
So bildete dieser Bahnhof über mehrere Jahre hinweg einen wichtigen Knotenpunkt in unserem Leben. Alle Fahrten zur Arbeit, zur Familie und Freunden sowie zu Ausflügen begannen und endeten hier. Wir schleppten unseren Kinderwagen die vielen Treppen hinauf und hinunter, Reisegepäck und anderes, stolperten über damals schon unebene Stufen, ärgerten uns über viele Unzulänglichkeiten des Bahnhofes und fühlten uns trotzdem mit ihm eins.
Bald war die Wohnung zu klein und wir zogen um. Nun lag Ostkreuz nicht mehr so auf unseren Wegen. Die U-Bahn war näher und doch kamen wir noch einmal ganz konkret in die Nähe des Bahnhofes. Wir suchten damals einen kleinen Garten mit Laube und bekamen ein Angebot, das uns vor allem amüsierte. Wir hätten oben neben dem Wasserturm eine Parzelle pachten können und hätten zwischen den Gleisen und rechts und links vorbeifahrenden S-Bahnen unsere Freizeit verleben können. Nein, das wollten wir nicht und verzichteten.
Und jetzt bin ich mit meinem Mann 44 Jahre zusammen. Über den Bahnhof Ostkreuz fahren wir ab und zu und immer denken wir an die Zeit dort, in der unsere Liebe begann.
Michael Guske
Zurückbleiben!
Als der Zug anhielt, öffnete der Mann die Tür und trat auf den Bahnsteig. Es war bitterkalt. Er schlug den Kragen seines abgetragenen Mantels hoch, eine eher symbolische Geste, denn der schneidend kalte Wind ließ sich nicht davon abhalten, den Körper des Mannes sofort mit seinem eisigen Atem zu umfangen.
Der Mann sehnte sich nach dem überheizten Waggon zurück, aber er musste hier umsteigen, wollte er zu seiner Wohnung im Südosten Berlins gelangen.
Er mochte diesen Bahnhof nicht, weder am Tage, wenn es hier vor Menschen wimmelte, die von den S-Bahnen ausgespuckt werden, zum nächsten Bahnsteig hasten, um dann wieder im Bauch einer anderen Bahn zu verschwinden, noch in der Nacht, wenn nur wenige sich auf den Bahnsteigen verlieren.
Jetzt war es Nacht, genauer gesagt Heilige Nacht. Deswegen war der Mann fast der Einzige, der hier ausstieg. Seine Augen suchten die richtige Treppe, die ihn zu seinem Bahnsteig führt. Er wusste, seine Bahn fuhr in wenigen Augenblicken. Und dann würde lange gar nichts mehr fahren. Und um die halbe Nacht hier zu verbringen – nein, dazu war dieser Bahnhof nun ganz gewiss nicht geeignet. Und für ein Taxi hatte er kein Geld.
Er war nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Nachdem er heute Nachmittag seine Mutter im Krankenhaus im Norden Berlins besucht hatte, um ihr Trost zu spenden und ihr sein Weihnachtsgeschenk – eine bestickte Tischdecke, die sie wohl nicht mehr brauchen wird – zu geben, hatte er keine Lust, sofort nach Hause zu fahren. Wozu auch, es war keiner da, der auf ihn wartete.
Also ging er in eine Kneipe. Es waren nur wenige Gäste da, wahrscheinlich hatten sie den gleichen Grund wie er. Weihnachten – das Fest der Familie. Wenn man eine hatte. Wenn nicht, gibt es in Berlin zum Glück noch ein paar Orte, wohin man vor der Einsamkeit flüchten kann. Er hatte nicht vor, lange zu bleiben. Die Gespräche der Anderen ermüdeten ihn. Es war auch nicht Gesellschaft, was er suchte, er wollte einfach nur nicht allein sein.
Der Alkohol erwärmte ihn und munterte ihn auf. Nach einer Weile nahm er an den Gesprächen teil. Der Inhalt war ihm egal, es machte ihm zunehmend Freude, mit unbekannten Leuten zu reden. Doch ein Blick auf die Uhr machte ihm zu später Stunde klar, dass er los musste, wollte er die Nacht noch nach Hause kommen.
Nun hastete er zur Treppe. Doch dann musste er sich an einem der Maste, die das Dach trugen, festhalten. Die Welt drehte sich ein wenig um ihn herum. Der Wechsel vom warmen Waggon in die bitterkalte Nacht strapazierte seinen Kreislauf. Der Alkohol tat sein Übriges. Dazu kam jetzt noch ein Hustenanfall, der seinen schmächtigen und verbrauchten Körper schüttelte. Seit einiger Zeit schon quälte ihn eine Erkältung, die sich heute anscheinend in Fieber entlud.
Der Mann kam wieder zu Atem und erreichte mit kurzen, unsicheren Schritten die Treppe. Die Hand fest am Geländer, versuchte er die von Generationen von Menschen ausgetretenen Stufen schnell und sicher zu nehmen. Nachdem er die Hälfte geschafft hatte, sah er die Bahn noch abfahrbereit auf dem Gleis stehen. Die Angst, sie nicht mehr zu erreichen, ließ ihn alle Vorsicht vergessen. Er löste die Hand vom Geländer und beschleunigte seinen Schritt. Da kam er ins Straucheln. Er rutschte mit einem Fuß ab und schlug der Länge nach hin. Fluchend rappelte er sich auf, doch in diesem Augenblick hörte er das Abfahrtssignal, und die Türen schlossen sich. Mit der Gleichgültigkeit einer Ampel, die nachts an einer menschenleeren Kreuzung den nicht vorhandenen Verkehr regelt, fuhr der Fahrer mit starrer Miene an ihm vorbei.
Der Mann fluchte nochmals, holte ein nicht mehr ganz sauberes Taschentuch aus seiner Manteltasche und wischte sich das Blut von der Innenseite seiner Hand, mit der er den Sturz etwas abgefangen hatte. Seine Knie schienen auch etwas abbekommen zu haben, doch das interessierte ihn jetzt nicht.
Zeit hatte er nun genug, doch der Wind hatte ihm inzwischen auch den letzten Rest Wärme heraus geblasen. Er sah sich auf dem nun menschenleeren Bahnsteig um. Alles wurde kalt und abweisend vom Neonlicht ausgeleuchtet. Nichts, was so besonders wäre, dass es eine Beschäftigung bot. Einige Großplakate auf der anderen Seite der Gleise, deren Werbebotschaften er zwar erfasste, ihn aber gleichgültig ließen, ein paar Hinweise zu Schienenersatzverkehr und weitere Einschränkungen im Zugverkehr im Aushang, das war’s. Auf dem anderen Bahnsteig gab es einen Kiosk. Er hätte sich wenigstens die Titelseiten der zahllosen bunten Zeitschriften anschauen können. Selbst wenn sie noch so belanglos sind, hätte es ihm ein wenig die Wartezeit verkürzen können. Doch die Fenster waren mit Holzplatten verhängt.
Es gab keinen Platz, an dem er sich hätte vor der Kälte und dem Wind schützen können.
Nachdem er einen Blick auf den Fahrplan geworfen hatte, der ihm nur bestätigte, was er ohnehin schon wusste, humpelte er zu einer roh gezimmerten Holzbank, nicht besonders bequem, aber immer noch besser als diese Sitze aus Eisen, die einem die Kälte noch stärker ins Bewusstsein rückten. Er setzte sich in eine Ecke, schlang den Mantel noch fester um sich und verfluchte sich im Stillen, beim Verlassen der Wohnung die Mütze am Haken hängen gelassen zu haben. Die wenigen verbliebenen Haare auf dem Kopf waren nicht geeignet, der Kälte Einhalt zu gebieten.
Er schaute in die Dunkelheit. Der Nachthimmel war sternenklar und verstärkte noch das Gefühl von eisiger Kälte. Gegenüber sah er schemenhaft den alten Wasserturm, dessen Dach ihn an eine preußische Pickelhaube erinnerte. Er erinnerte sich daran, dass dahinter kleine Gärten liegen. Früher hatte er immer gedacht, es müssen doch eigenartige Menschen sein, die sich hier ihren Traum vom eigenen Kleingarten erfüllen, rechts und links stark befahrene S-Bahn-Strecken und Fahrgäste, die einem neugierig bei der Gartenarbeit oder beim Ausspannen im Liegestuhl zusahen. Jetzt sind die Gärten längst aufgegeben, die Beete von Unkraut überwuchert und die Lauben verfallen.
Zu Füßen des Wasserturmes duckte sich ein kleines Empfangsgebäude. Es diente als Zugang vom Süden her, aber eine Funktion hatte es wie so viele ähnliche Gebäude schon lange nicht mehr. Der Rollladen vom Fahrkartenschalter war schon vor Jahrzehnten das letzte Mal heruntergefallen. Automaten ersetzten den Verkäufer. Bei dem geplanten Umbau des Bahnhofes wird es wahrscheinlich endgültig verschwinden. Modern und effizient muss alles sein. Dass daraus Austauschbarkeit und Beliebigkeit entsteht, wird anscheinend als Tribut an die heutige Zeit in Kauf genommen.
Während dem Mann diese Gedanken durch den Kopf schossen, nickte er langsam ein. Der Alkohol und die Müdigkeit zeigten eine Wirkung, an der sogar die Kälte der Winternacht abprallte.
Er wusste nicht, wie lange er sich schon in diesem Schwebezustand zwischen Wachsein und Halbschlaf befunden hatte, als ihn das Gefühl überkam, dass ihn jemand ansah. Er schreckte auf und sah sich misstrauisch auf dem Bahnhof um. Er war immer noch ganz allein. Ein ICE mit dunklen Fenstern fuhr auf dem Fernbahngleis entlang, dann war wieder Totenstille. Doch irgendwas war da. Der Mann spürte, dass ihn zwei Augen aus der Dunkelheit beobachteten. Und dann sah er sie: Eine junge Frau mit entschieden zu dünner Kleidung trat aus dem Halbschatten auf ihn zu. Zu allem Überfluss hielt sie auch noch ein Eis in der Hand, an dem sie anscheinend mit großem Appetit leckte. Das Geräusch, das sie beim Laufen machte, sagte ihm, dass sie Hackenschuhe trug, was ihn allerdings schon nicht mehr wunderte. Sie kam direkt auf ihn zu.
"Ist hier noch ein Platz frei?" fragte sie. Diese Frage war eigentlich überflüssig angesichts der Menschenleere. Er nickte. Sie setzte sich neben ihn, schlug die Beine übereinander, warf ihm einen kurzen Blick zu und widmete sich wieder ihrem Eis.
Da er sich in die Ecke der Bank gedrückt hatte wie ein verprügelter Hund, konnte er sie unauffällig ansehen, ohne aufdringlich zu wirken.
Sie war wirklich noch jung, vielleicht Mitte zwanzig. Sie trug schulterlanges nussbraunes Haar, das ein ovales, perfekt geschnittenes Gesicht umrahmte. Zwei große braune Augen vermittelten den Eindruck von Wärme und Freundlichkeit. Sie war sehr hübsch.
Sie trug einen dünnen weißen Pullover und einen halblangen weißen Rock. Auch ihre Schuhe, eher Sandalen mit hohen Absätzen, waren weiß. Dass ihre Kleidung ihr nicht den geringsten Schutz vor der Kälte bot, schien sie nicht zu stören.
Es war lange her, dass er eine Frau angesprochen hatte. In einem früheren Leben war er mal verheiratet gewesen, für ganz kurze Zeit. Dann war sie eines Tages fort. Er sei ein schrecklicher Langweiler und Pedant, er kümmere sich mehr um seine Schallplatten, voll mit uninteressantem Geklimper, als um sie und die kleine gemeinsame Tochter, sie ersticke in seiner Gegenwart, stand auf einem hastig hingeschriebenen Zettel, der auf dem Fußboden im Flur lag.
Dann kamen noch einige Briefe von ihr, um die Scheidungsformalitäten zu klären. Er sah sie wieder, als sie vor dem Richter saßen, und wenige Minuten später verließ sie den Saal, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er hat von ihr und von dem Kind nie wieder was gehört.
Seine Vorliebe galt der klassischen Musik. Er arbeitete im Konzerthaus, half an der Garderobe aus, riss Eintrittskarten ab, wies Plätze an. Während der Konzerte stand er im Hintergrund und lauschte der Musik. Beethoven, Smetana, Vivaldi – er kannte jeden Ton.
Anfängliche Versuche, eine neue Frau zu finden, scheiterten schon im Ansatz. Bald schon gab er es auf und lebte für sich allein. Er war ziemlich unscheinbar, besaß nicht viel von dem, was man als Ausstrahlung bezeichnet. Hatte man mit ihm mal zu tun, vergaß man ihn unmittelbar danach sofort wieder. Nur wenn er sich zu Hause eine Schallplatte aufgelegt hatte und ein in seiner Vorstellung existierendes Orchester dirigierte, zeigte er Leidenschaft. Aber die Sehnsucht ist ganz tief in seinem Herzen jung geblieben.
Jetzt hatte er das Gefühl, neben einem Engel zu sitzen, denn wer sollte sonst mitten in der Nacht auf diesem gottverlassenen Bahnhof sich ausgerechnet neben ihn setzen?
Er fasste Mut:
"Entschuldigen Sie, ist Ihnen nicht kalt?", sprach er sie an. Dabei spürte er, wie sich sein Magen vor Angst, sie könne aufstehen und weggehen, zusammenzog.
Doch sie lächelte ihn freundlich an.
"Doch, ein wenig schon", sagte sie, "es ist ungewöhnlich kalt für den Weihnachtsabend".
Ihre Augen sahen aufmerksam zu ihm herüber. Wärme lag in ihrem Blick. Das Ziehen in seinem Magen nahm zu. Da tat er etwas, was er vor wenigen Minuten noch für völlig unmöglich gehalten hatte: er zog seinen alten Mantel aus und reichte ihn ihr.
"Bitte, ziehen Sie ihn an." Er hoffte, sie würde den Geruch nach Nikotin und abgestandener Kneipenluft, der in dem Mantel haftete, nicht wahrnehmen.
Aber sie lächelte immer noch. "Danke", sagte sie und hängte sich den Mantel um ihre schmalen Schultern.
"Was machen Sie um diese Zeit hier auf dem Bahnhof?", fragte er, "Warum sitzen Sie nicht zu Hause bei Ihrer Familie und feiern Weihnachten?"
"Ich habe hier in der Nähe zu tun", entgegnete sie, "und vertrete mir nur ein wenig die Beine. Ich arbeite in der Werbung". Das Letzte sagte sie sehr bestimmt, als sollte es alles erklären, ihre Kleidung, ihre Anwesenheit zu dieser Zeit, einfach alles. Sie leckte wieder an ihrem Eis.
"Nun gut", dachte er, "Werbung ist eine schnelllebige Sache, da kann man wenig Rücksicht auf die Zeit nehmen".
"Und was tun Sie hier?" Sie schaute ihn neugierig an. "Haben Sie Ihre Bahn verpasst oder haben Sie die Weihnachtsgeschenke verbummelt und trauen sich nicht nach Hause?"
Sie lachte. Ein fröhliches, klares Lachen, ohne Spott.
"Nein." Auch er lächelte jetzt. Er erzählte ihr vom Besuch am Krankenbett seiner Mutter, und dass er danach noch ein wenig Gesellschaft gesucht hätte, um nicht den ganzen Abend alleine zu sein. Wie viel Bier er getrunken hatte, sagte er ihr nicht. Er schämte sich etwas und hoffte, seine Stimme würde fest und sicher klingen.
Wind kam auf. Sie zog den Mantel fester um ihre Schultern. Obwohl sie hin und wieder an ihrem Eis knabberte, hatte er den Eindruck, es würde nicht weniger werden. Na ja, auftauen kann es bei diesen Temperaturen nicht.
Plötzlich überkam ihm wieder ein starker Hustenanfall. Er spürte das Stechen in seinen Lungen und wusste, der einzige Ort, an dem er sich jetzt befinden sollte, ist sein Bett.
"Sind Sie krank?" fragte das Mädchen besorgt. "Wollen Sie nicht Ihren Mantel wieder nehmen?"
"Nein, nein", wehrte er ab, "es geht schon". Verdammte Erkältung, verdammter alter, schwacher Körper. Zum Glück donnerte wieder ein Zug, diesmal ein langer Güterzug, vorbei, so dass sie seinen Husten nicht mehr hören konnte. Er widerstand dem Verlangen auszuspucken und schluckte nur.
Sie schaute ihn lange prüfend an. Die Wärme ihrer Augen ließ ihn die Kälte vollends vergessen und verstärkte wieder das unerklärbare Ziehen im Magen, dass einen packt, wenn der Kopf die Führung an den Bauch übergibt. Es erinnerte ihn an eine lange zurückliegende Zeit, und er hatte das Gefühl, wieder jung und gesund zu sein
"Alles wieder in Ordnung." Der Belag seiner Stimme klebte ihm förmlich auf der Zunge. Er räusperte sich. Er wollte das Gespräch am Laufen halten, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Sie schien seine Unsicherheit zu spüren. "Ich habe noch etwas Zeit. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen noch etwas Gesellschaft leisten."
Der Mann fasste es als angedeutete Frage auf und nickte. "Das ist nett von Ihnen. Entschuldigen Sie, dass ich nicht sehr unterhaltsam bin. Ich habe nicht allzu viel mit Menschen zu tun. Besonders nicht mit jungen Frauen", fügte er nach einer kleinen Pause hinzu mit einem kurzen Seitenblick auf sie. "Seitdem ich meine Arbeit aufgeben musste, bin ich überwiegend allein."
"Was haben Sie gemacht? Was für eine Arbeit, meine ich."
Er erzählte ihr vom Konzerthaus, in dem er tätig war, von der Musik, von berühmten Solisten und von noch berühmteren Dirigenten, die dort aufgetreten sind.
Seine Stimme gewann zunehmend an Sicherheit. Er befand sich auf festem Boden. Ab und zu schaute er sie an, um zu prüfen, ob sie ihm noch zuhört. Doch ihr Gesicht verriet gespannte Aufmerksamkeit. Sie hielt ihre Augen unverwandt auf ihn gerichtet. Über seine eigene Rolle in diesem Haus sprach er nicht. Aber das war auch nicht von Bedeutung. Er erklärte ihr den Unterschied zwischen Geige und Violine, erzählte ihr von Beethoven, der noch im Zustand völliger Taubheit komponiert hatte und redete über Händels Aufenthalt am englischen Königshof. Über die Sinfonie mit dem Paukenschlag kam er zur unglücklichen Liebesbeziehung zwischen Frederik Chopin und George Sand. Das steigende Fieber in seinem Körper schien ihm zusätzliche Energie zu geben.
Nach einiger Zeit hielt er inne, ungläubig über seinen Redefluss. Er kann sich nicht erinnern, dass ihm jemals ein Mensch solange zugehört hatte. Seine Mutter vielleicht, aber da war er sich nicht so sicher, ob sie wirklich bei der Sache war. Doch das junge Mädchen neben ihm, eingehüllt in seinem Mantel, immer noch das Eis in der Hand, hörte ihm gebannt und konzentriert zu, als schien es eine völlig neue Welt zu sein, die sie das erste Mal betrat.
"Ja", sagte er abschließend, "die Musik ist für mich die Verkörperung des Lebens. In Allem ist Musik, doch nicht jeder kann sie hören".
Er schwieg. Nach einer Weile stummen Beieinandersitzens fing das Mädchen plötzlich an, eine Melodie zu summen. Schon nach wenigen Takten erkannte er sie: es war der Eingangschor aus dem Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach.
Noch voller Verwunderung darüber, dass jemand mitten in einer eiskalten Winternacht auf dem anscheinend kältesten Bahnhof der Stadt dieses Stück anstimmte, fiel er mit ein. Zuerst summte auch er, man sollte es vielleicht lieber ein Brummen nennen, doch dann fing er an zu singen: "Oh jauchzet, frohlocket". Seine Stimme, sonst brüchig und leise, wurde plötzlich klar und kräftig. Bald stand er auf und fing an, das unsichtbare Orchester zu dirigieren. Vorn die Streicher, rechts die Posaunen, hinten die Pauken. Er sang und dirigierte, wie er es sonst nur zu Hause machte. Aber hier machte es ihm nichts aus. Er spürte, dass er eine Verbündete gefunden hatte, jemanden, der ihn ernst nahm. Jetzt noch mal die Pauken. Und der Chor etwas lauter, bitte. Die Streicher etwas gedämpfter, damit die Bläser besser zu hören sind. Und jetzt nur die Posaunen, dazu der Chor. Jetzt der Chor alleine. Und nun wieder die Streicher. Und jetzt die Bläser dazu. Noch mal die Pauken. Dann alle zusammen und mit energischen Handbewegungen dirigierte er die Schlussakkorde.
Stille.
Dann brandete hinter ihm tosender Beifall auf. Er war völlig verschwitzt. Nach einem kurzen Moment drehte er sich um und verbeugte sich. Als er wieder hochblickte, verschwand der Konzertsaal, und vor seinen Augen sah er wieder die alte hölzerne Bank mit dem Mädchen, das stürmisch klatschte. Erschöpft setzte er sich hin.
Das Mädchen sah ihn bewundernd an. "Das war das wundervollste Weihnachtskonzert, das ich je gehört habe", sagte sie. Sie beugte ihren Kopf zu ihm hin, und dann fühlte der Mann ihren weichen Mund auf seinen spröden Lippen. Ihr Kuss schmeckte nach Jugend und Vanilleeis.
Er glaubte, ihren Geruch noch in der Luft zu spüren, als sie schon lange weg war. Dann spürte er nichts mehr.
Eine Stunde später kam die erste S-Bahn eingefahren. Ein paar junge Leute stiegen aus, anscheinend von einer Weihnachtsparty in der Stadt kommend. Sie waren in guter Stimmung und strebten dem Bahnsteig der Ringbahn entgegen. Sie kamen an der Bank vorbei und sahen einen alten Mann dort sitzen. Er sah etwas verwahrlost aus, unrasiert und nach Alkohol riechend. Merkwürdigerweise lag sein Mantel trotz der Kälte neben ihm auf der Bank, als würde er nicht zu ihm gehören. Der Mann hatte die Augen geschlossen und lächelte. In seinem Mundwinkel klebte etwas, was wie Speiseeis aussah.
"Los, wir wecken ihn auf", sagte einer der jungen Leute, "er erfriert sonst".
Er fasste den Mann an der Schulter, um ihn wachzurütteln.
Doch der Mann fiel stumm zur Seite.
Wenige Tage später wurden die großen Werbeflächen gegenüber dem Bahnsteig Richtung Südosten erneuert. Dabei wurde auch das Plakat mit der jungen braunhaarigen Frau, die an einem Eis leckte und jeden Betrachter freundlich ansah, ausgewechselt. Da die Menschen auf diesem Bahnhof immer in Eile sind, hatte wahrscheinlich keiner gemerkt, dass ihre Augen seit kurzem irgendwie trauriger geguckt haben.
Franziska Dreke
Vergissmeinnicht
Die Frau fiel mir sofort ins Auge. Ich stellte gerade fest, dass der Kaffee zu heiß war, und verfluchte im Stillen, wie jeden Morgen, dass ich erneut nicht daran gedacht hatte, als sie langsam die Treppe vom oberen Bahnsteig hinunter kam. Ich weiß nicht, was es genau war, das meinen Blick davon abhielt, achtlos über sie hinweg zu gleiten, wie er es sonst zu tun pflegte, wenn ich morgens an diesem Kiosk in aller Eile meinen Kaffee trank, noch halb im Traum oder in Gedanken schon im Büro, und all die Leute um mich herum nur wie durch einen Schleier wahrnahm.
Alles war eigentlich wie immer, die gleiche tägliche Routine, die mir mittlerweile so vertraut war wie meine eigene. Am Blumenladen wurden die Jalousien hochgezogen, die nette Verkäuferin vom Kiosk ordnete die Zeitungen in den Ständern, ein Stück weiter begann gerade der Mann in dem orangefarbenen Overall wie jeden Morgen die Mülleimer auszuleeren. Es faszinierte mich, dass er stets mit dem gelben Eimer begann und dann den roten, den grünen und am Ende den blauen leerte, als wäre das Ganze ein geheimer unveränderlicher Code. Sonst immer genoss ich sie beinahe, die Stimmung des langsam erwachenden Bahnhofes, das Ankommen und Abfahren der Bahnen, die hektischen Schritte der Passanten, Stimmengewirr, Rufe, die vom Obststand herüber drangen, den Duft von Kaffee und noch frischen Brötchen, das warme Gefühl des Pappbechers an meiner Handfläche, aber heute blieb mein Blick an dieser Frau hängen, die mit langsamen Schritten die Treppe hinunter kam, eine Hand auf dem rostigen Eisengeländer, den Blick starr geradeaus vor sich gerichtet. Vielleicht war es dieser Blick, der meine Aufmerksamkeit fesselte: er wirkte völlig in sich gekehrt, abwesend, leer, als handele die Frau unter Hypnose, vielleicht war es aber auch ihr seltsamer Aufzug. Sie trug ein langes, hoffnungslos veraltetes Kleid mit einer breiten Spitzenborte am Saum und einer engen Taille, einen Gürtel und eine dazu passende kurze Jacke. Die eigentliche Farbe des Kleides war nicht mehr auszumachen, denn es war völlig zerschlissen, die einst sicherlich dekorative Spitze hing zum Teil in Fetzen auf den Boden hinab und der Stoff, der an einigen wenigen Stellen noch seine frühere Qualität erahnen ließ, sah nun vor allem schäbig und mottenzerfressen aus. Die Frau machte auf mich den Eindruck, als käme sie gerade vom Kostümverleih für Nachkriegsmode, was wohl vor allem am erstaunlichsten Teil ihrer Erscheinung lag: einem riesigen Hut mit breiter Krempe und gewagter Blütendekoration, der wohl einmal dieselbe Farbe wie das Kleid gehabt haben musste, nun aber eher aussah, als hätte er die vergangenen 60 Jahre auf einem Dachboden verbracht. Unter dem Hut, der die obere Hälfte ihres Gesichtes fast völlig beschattete, schauten einige eisgraue Haarsträhnen hervor. Ich versuchte, das Alter der Frau abzuschätzen, als sie langsam und ein wenig gebeugt, als bereite ihr das Gehen Probleme, in einiger Entfernung an dem Tisch vorbeiging, an dem ich stand. Sie musste wohl bereits die 70 überschritten haben, wenn sie nicht sogar schon 80 Jahre alt war. Ich beobachtete, wie die Bahn nach Grunewald einfuhr, die Türen sich öffneten und die zierliche Gestalt der alten Dame für einen Moment von der sich aus den offenen Türen des Zuges ergießenden Masse aus hektisch rennenden Gestalten verschluckt wurde. Suchend irrten meine Augen über die vielen namenlosen Gesichter bis sie nach kurzer Zeit den wippenden großen Hut entdeckten, der inmitten der Menschenmenge wie eine Insel aussah. Die Leute verschwanden schnell, die Treppen hinauf, um in die Ringbahn umzusteigen oder in Richtung der Ausgänge, und nun konnte ich die Frau wieder sehen. Sie stand mittlerweile mitten auf dem Bahnsteig und sah sich um. Ich dachte darüber nach, ob wohl mit ihr etwas nicht stimmte, ja ganz offensichtlich musste etwas mit ihr nicht stimmen, wenn man von dem Aufzug ausging, in dem sie herumlief. Es war nicht besonders warm jetzt im März und dieses Kleid sah nicht so aus, als wäre es der Jahreszeit angemessen, einmal ganz von der Mode abgesehen. Wieder blickte die Frau sich suchend um. Vielleicht war sie nicht ganz richtig im Kopf und hatte sich verlaufen? Das konnte es sein. Ich hatte schon einige solche Fälle erlebt. Bahnhöfe, und vor allem dieser hier, schienen bevorzugte Orte zu sein, an die es verwirrte Leute immer wieder trieb. Ich sann über ähnliche Erlebnisse nach und darüber, ob ich das Bahnhofspersonal auf die Frau aufmerksam machen sollte, als ich plötzlich abgelenkt wurde. Eine Stimme fragte nahe an meinem rechten Ohr, ob an diesem Tisch noch Platz wäre. Ich murmelte etwas Zustimmendes, rückte automatisch ein Stück zur Seite und riss dann meine Augen von der immer noch mitten auf dem Bahnsteig stehenden Frau los, um sie auf einen bärtigen Mann mit einer Zeitung unter dem Arm zu richten, der sich nun neben mich stellte und ein belegtes Brötchen auf einem Pappteller in der rechten Hand balancierte. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, legte er seine Zeitung neben seinen Teller und begann, darin zu lesen, wobei er von Zeit zu Zeit von dem Brötchen abbiss. Ich schaute schließlich wieder zu der Frau hinüber. Sie stand inzwischen den Gleisen zugewandt und schien den Himmel zu betrachten, der langsam seine Rosafärbung über der Stadt verlor.
Aus den Augenwinkeln nahm ich plötzlich eine Gestalt wahr, die sich von den Treppen her näherte. Es war ein junger Mann, und er schien es sehr eilig zu haben, denn er rannte fast über den Bahnsteig und sah sich dabei immer wieder hektisch nach hinten um. In der einen Hand trug er eine große dunkle Tasche, in der anderen hielt er vor sich ausgestreckt einen Pappbecher, aus dem es dampfte. Er wirkte seltsam deplatziert und im ersten Moment konnte ich nicht herausfinden, was an ihm so merkwürdig war, bis mir klar wurde, dass er einen zylinderartigen Hut trug und dazu einen dunklen, abgewetzten Anzug mit schwarzer Fliege und weißem Hemd, so dass ich wieder dieses Gefühl hatte, in der falschen Zeit gelandet zu sein. Verwirrt blickte ich ihm nach und sah, wie er in Richtung der alten Dame eilte, jedoch offenbar ohne sie zu sehen, da er sich beim Laufen die ganze Zeit nach hinten umschaute, als befürchtete er verfolgt zu werden. Er war nun schon bis auf wenige Meter an die Frau herangekommen, die noch immer völlig abwesend und ahnungslos in die entgegengesetzte Richtung schaute, als mir mit einem Schlag klar wurde, was gleich passieren würde. Ich richtete mich mit einem Ruck auf und ließ meinen Kaffeebecher los um einen Warnruf auszustoßen, als es auch schon geschehen war: der junge Mann stieß im Laufen mit der alten Dame zusammen. Fast hätte er sie umgerissen, doch sie ergriff geistesgegenwärtig seinen Arm und hielt sich so aufrecht, wobei jedoch der Becher seiner Hand entglitt und der Inhalt — Kaffee, wie ich der Farbe nach annahm — sich in einem dampfenden Schwall über den Rock ihres Kleides ergoss. Sie hielt mit einer Hand ihren rutschenden Hut fest und stieß einen lauten Schreckensruf aus, woraufhin sich einige Köpfe nach dem seltsamen Paar umdrehten. Ich beobachtete nun mit zunehmendem Erstaunen den jungen Mann, der sich immer und immer wieder vor der Dame verbeugte und dazwischen wild gestikulierend auf sie einredete, während sie den Schaden auf ihrem Kleid begutachtete. Erstaunt stellte ich fest, dass ihr abwesender Blick völlig verschwunden war und einem klaren, intelligenten Gesichtsausdruck Platz gemacht hatte. Ärgerlich schaute sie den jungen Mann an und redete auf ihn ein, während sie dabei immer wieder unwillig auf den großen Fleck auf ihrem Kleid deutete. Inzwischen war auf dem Bahnsteig hinter mir wieder ein Zug eingefahren, und die beiden standen auch zu weit von mir entfernt, als dass ich ihr Gespräch hätte mitverfolgen können, aber ich beobachtete weiter gespannt, wie der junge Mann nun mit der einen Hand seine Tasche aufhob und mit der anderen die alte Dame am Arm nahm und sie zu einer nahen Bank führte, auf die sich beide setzten. Er sah immer noch etwas verstört aus und an seinem Hals hatten sich hektische rote Flecken gebildet. Die beiden schienen ein Gespräch miteinander zu beginnen und ich konnte bis zu meinem Tisch erkennen, dass bei der seltsamen alten Dame der Ärger rasch zu verfliegen schien, während er noch immer mit fahrigen Bewegungen versuchte, sich zu erklären. Plötzlich lachte sie laut auf und ich konnte ihr Lachen bis zu mir hinüber hören. Ihre Stimme klang zu meiner Überraschung sehr hell und wirkte fast jugendlich. Am meisten faszinierte mich jedoch die Veränderung, die in ihrem Gesicht vor sich ging während sie lachte. Ich fragte mich, wie ich sie je für abwesend oder verwirrt hatte halten können. Ihre Augen strahlten und sie wirkte plötzlich viel jünger. Ihr Gesicht war mit einem Ausdruck plötzlicher Frische überzogen, ein wenig Rot hatte sich auf ihre Wangen gestohlen, und ich ertappte mich erstaunt bei dem Gedanken, dass diese alte Dame auf eine gewisse Art wirklich schön war und dass die vielen Fältchen, die ihr Gesicht durchzogen, wenn sie lachte, diese Schönheit noch betonten. Über der Betrachtung des merkwürdigen Pärchens, das auf der Bank dort drüben irgendwie wirkte, als wäre es einem alten Film entsprungen, hatte ich die Zeit völlig vergessen. Mein Kaffee war inzwischen fast kalt geworden und kaum noch genießbar und nach einem Blick auf die Uhr stellte ich mit Erschrecken fest, dass es schon sehr viel später war, als ich erwartet hatte. Hastig raffte ich meine Sachen zusammen und nach einem letzten Blick zurück zu der Bank, auf der der junge Mann und die alte Dame noch immer saßen, riss ich mich schließlich los und hastete davon.
Am nächsten Morgen war ich mit meinen Gedanken schon auf der Arbeit. Der Tag versprach, sehr hektisch zu werden und schließlich ärgerte ich mich auch noch, dass der Tisch des Kiosks, an dem ich jeden Morgen meinen Kaffee zu trinken pflegte, bereits besetzt war. Widerwillig ging ich also hinüber an den Nachbartisch und begann missmutig, an meinem Becher zu nippen. Das Erlebnis vom Vortag hatte ich dabei schon völlig vergessen, als ich sie plötzlich zu meiner großen Überraschung die Treppe hinunter kommen sah: die alte Dame, die ich schon gestern gesehen hatte. Sie trug genau dasselbe Kleid wie am Vortag, dazu den auffälligen Hut und bewegte sich mit dem mir schon bekannten leeren Ausdruck im Gesicht in meine Richtung. Verwirrt beobachtete ich, wie sie immer näher kam. Es war schon ein merkwürdiger Zufall, dass mir diese Frau noch nie zuvor aufgefallen war und ich sie nun zwei Tage hintereinander am selben Ort traf. Langsam begann die Dame wirklich, mich sehr neugierig zu machen, und für den Augenblick hatte ich die anstehenden Probleme im Büro völlig vergessen. Als sie näher kam fiel mir erst richtig auf, wie groß der Unterschied zwischen dieser in ihrer Geistesabwesenheit schon fast unheimlich wirkenden Person und der Dame war, die ich gestern mit dem jungen Mann auf der Bank hatte sitzen sehen. Ich musste mir selbst noch einmal versichern, dass diese beiden tatsächlich ein und dieselbe Frau waren, sonst hätte ich das Ganze vermutlich selbst für Einbildung gehalten. Was tut sie bloß hier, fragte ich mich, während sie mit starrem Blick an mir vorbeiging, genau wie am Vortag parallel zu den Gleisen und mitten auf dem Bahnsteig. Aus der Nähe sah ihr Kleid noch viel schäbiger aus und sie bot darin einen fast grotesken Anblick. Ich wartete gespannt darauf, was sie heute tun würde, vielleicht würde ich ja herausfinden können, was sie denn zwei Tage hintereinander in einem solchen Aufzug hier auf dem Bahnhof suchte. Meiner Neugier nachgebend beschloss ich, sie noch eine Weile zu beobachten. Ich hatte es, angesichts der Dinge, die mich heute erwarteten, ohnehin nicht besonders eilig, ins Büro zu kommen. Die Frau blieb nun stehen und musste sich nun merkwürdigerweise ungefähr dort befinden, wo sie gestern gestanden hatte, als der junge Mann mit seinem Kaffee sie fast umgestoßen hatte. Vielleicht sucht sie dort etwas, schoss es mir gerade durch den Kopf, doch bevor ich noch weiter darüber nachdenken konnte, passierten plötzlich mehrere Dinge gleichzeitig: aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung an der Treppe war und erkannte den jungen Mann vom Vortag. Ungläubig beobachtete ich, wie er, sich immer wieder hektisch umsehend, über den Bahnsteig rannte, dieselbe Tasche in der einen, einen Becher in der anderen Hand. Auch er war exakt wie am gestrigen Tag gekleidet: derselbe altmodische Anzug, die Fliege, und auch der Hut fehlte nicht. Ich fragte mich, ob ich da wirklich sah, was ich sah, oder ob ich jetzt ganz plötzlich verrückt geworden wäre. Das konnte es doch gar nicht geben, solche Zufälle waren einfach nicht möglich. Völlig fassungslos musste ich mit ansehen, wie der Mann genau wie am Vortag der ahnungslosen alten Dame immer näher kam — … er musste doch jetzt aufpassen, er konnte doch nicht denselben Fehler noch einmal machen, hatte er denn nicht daraus gelernt … — und schließlich mit ihr zusammenstieß, wobei er erneut seinen Kaffee auf ihr Kleid verschüttete. Dort, wo sie den alten Kaffeefleck scheinbar erfolgreich beseitigt hatte, prangte nun ein neuer, der sich rasch ausbreitete. Fast amüsiert wartete ich jetzt auf die überraschte Reaktion, wenn beide erkennen würden, welcher unglaubliche Zufall sie erneut in genau derselben Situation wie am Vortag zusammengeführt hatte, um so verwirrter war ich jedoch, als weder die alte Dame noch der junge Mann auch nur eine Spur des Wiedererkennens zeigten. Im Gegenteil: die beiden verhielten sich vielmehr, als würden sie sich zum ersten Mal begegnen. Was nun folgte, kannte ich schon: der junge Mann entschuldigte sich gestenreich und mit Hilfe vieler Verbeugungen, die Dame machte ein ärgerliches Gesicht. Wieder war der abwesende Ausdruck völlig verschwunden und sie machte nunmehr bis auf ihre merkwürdige Kleidung einen ganz normalen Eindruck. Als ich die beiden kurz darauf dann erneut zu der Bank hinübergehen sah, glaubte ich, meinen Augen nicht zu trauen. Für einen kurzen Augenblick erwog mein Gehirn die Möglichkeit, in einer Zeitschleife gefangen zu sein, nur um aber im nächsten Moment den Gedanken sofort wieder zu verwerfen. Das ist doch Unsinn, dachte ich. Vielleicht war ich ja nur überarbeitet und meine überreizte Fantasie spielte mir einen makabren Streich. Vielleicht bildete ich mir das alles ja nur ein, oder ich träumte nur und würde im nächsten Augenblick aufwachen. Ich ertappte mich dabei, wie ich schon angespannt auf das Klingeln meines Weckers wartete, doch nichts dergleichen passierte. Im Gegenteil — der junge Mann und die alte Dame saßen weiterhin dort drüben auf der Bank und unterhielten sich angeregt miteinander und ab und zu wurde das glockenhelle Lachen der merkwürdigen Frau bis zu mir hinübergetragen.
Niemand anderem schien aufzufallen, dass das Ganze alles schon einmal passiert war, niemand außer mir schien zu bemerken, dass etwas hier nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Ich klammerte mich an meinem Becher fest und versuchte, mich gegen den Gedanken zu wehren, dass hier gerade Unerklärliches geschah oder dass ich womöglich eben den Verstand verlor. Ich wagte gar nicht, das Paar auf der Bank auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, und nach einer Weile bemerkte ich, dass ich sie geradezu hypnotisieren musste, als sich beide plötzlich erhoben. Ich erstarrte, dann fiel mir ein, dass ich ja am Vortag vorher gegangen war und deshalb nicht wissen konnte, was jetzt passieren würde, aber das es dasselbe sein musste wie gestern, daran hatte ich plötzlich keinen Zweifel mehr. Die Dame strich ihren Rock glatt und lächelte, und der junge Mann verbeugt sich galant und küsste ihre Hand. Eine Gruppe vorübergehender junger Mädchen kicherte. Der junge Mann deutete mit ausgestrecktem Arm auf die nahe Bahnhofsuhr, woraufhin die alte Dame nickte. Ich konnte bis hierher sehen, wie sie errötete. Ich beobachtete fasziniert, wie daraufhin beide in verschiedene Richtungen davongingen. Der junge Mann entfernte sich und verschwand rasch in der Menge, die Dame aber ging erneut an mir vorüber und stieg langsam die Treppen zum Bahnsteig F hinauf. Noch zeigte ihr Gesicht Spuren frischer Röte und ihre Augen strahlten. Sie sah völlig verwandelt aus und wirkte jung und auf seltsame Weise glücklich. Noch lange nachdem ich die beiden aus den Augen verloren hatte, stand ich wie versteinert am Tisch des Kiosks und umklammerte meinen Becher kalten Kaffee. Immer wieder kreisten meine Gedanken um das eben Erlebte, versuchten verzweifelt, eine Erklärung dafür zu finden, die sich halbwegs normal und einleuchtend anhörte, aber mir fiel dafür einfach nichts ein. Ich hätte sie ansprechen sollen, dachte ich, aber dann fragte ich mich, was ich denn hätte sagen sollen, ohne mich völlig lächerlich zu machen. Schließlich stand es Leuten ja frei, so oft sie wollten, auf einem Bahnhof zusammenzutreffen und sich auf einer Bank zu unterhalten. Vielleicht hatte ich auch einfach etwas missverstanden und die beiden kannten sich. Manche Leute benahmen sich eben etwas merkwürdig. Und der Kaffee, warf eine zweifelnde Stimme ein, was ist mit dem Kaffee. Solche Dinge passieren doch ständig, versuchte ich mich zu beruhigen, aber tief in mir wusste ich, dass so etwas zwar ständig passieren konnte, aber wohl kaum an zwei aufeinander folgenden Tagen um dieselbe Zeit am selben Ort.
Einen Monat später zog ich ernsthaft in Erwägung, einen Arzt aufzusuchen. Es ging mir ja eigentlich nicht schlecht, aber der Fakt, dass ich im Büro praktisch nicht mehr geistig anwesend war und mir so ständig Fehler unterliefen, machte mir zunehmend zu schaffen. Ich konnte inzwischen auch nicht mehr schlafen und wenn ich schlief, sprach ich im Schlaf oder träumte verworrenes Zeug. Meine Frau fing an, sich ernsthafte Sorgen zu machen, als ich begann, jeden Morgen eine Stunde früher aus dem Haus zu gehen, nur um rechtzeitig am Bahnhof zu sein. Ich verbrachte meine Zeit, bevor die alte Dame auftauchte, damit, einen Kaffee nach dem anderen zu trinken und wartete begierig darauf, endlich ihren merkwürdigen Hut in der Menschenmenge auf der Treppe ausmachen zu können. Ich wurde unruhig, wenn sie nicht pünktlich war, es gab mir das Gefühl, dass etwas aus den Fugen geraten könnte und ich ertappte mich dabei, wie ich begann, mit den Fingern nervös an meinen Becher zu trommeln. Sobald sie dann aber die Treppe hinunter kam und mit leerem Blick an mir vorüber schritt, verschwand das Gefühl dieser Rastlosigkeit augenblicklich und ich entspannte mich, während ich zusah, wie der junge Mann der alten Dame den Kaffee über das Kleid goss und anschließend mit ihr ein Gespräch auf der Bank begann. Das Ganze erschien mir mittlerweile auch nicht mehr so kurios wie am Anfang. Sie trafen sich eben zufällig oder auch nicht – na und, was war schon besonderes dabei. Irgendwann hatte dieses Gefühl, die beiden unterbrechen zu müssen, um sie zu fragen, was sie da eigentlich taten und warum ich sie hier jeden Tag in derselben Situation beobachten konnte, nachgelassen. Die Geschichte dahinter erschien mir einfach nicht mehr so wichtig, der Grund ihres Treffens hatte für mich an Bedeutung verloren und ich wunderte mich auch nicht mehr darüber, ja, wenn ich darüber nachdachte, erschien mir das Ganze in zunehmendem Maße ganz natürlich. Meine anfängliche Neugier war einfach immer mehr abgeklungen und hatte schließlich einer stummen Akzeptanz Platz gemacht. Es war einfach, als wäre es schon immer so gewesen, als hätte ich mein ganzes Leben jeden Morgen damit verbracht, am Ostkreuz Kaffee zu trinken und einen jungen Mann und eine alte Dame zu beobachten, die sich dort jeden Morgen neu zufällig trafen. Die beiden waren ein Teil meiner Routine geworden, ein Teil meines Lebens beinahe und ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern, wie es gewesen war, als sie das noch nicht gewesen waren. Sie erfüllten mich auf eine merkwürdige Weise mit einer Art Zufriedenheit und ich fühlte eine unerklärliche Wärme und ein wunderbares Glücksgefühl in mir aufsteigen, wenn ich die beiden beobachtete. Ich brauchte sie einfach, um meinen Tag zu beginnen, um weiterzumachen und war, ohne dass mir das selbst bewusst war, regelrecht davon besessen, das Treffen der beiden wieder und wieder zu beobachten, jeden Tag aufs neue, als spulte ich ein Video immer und immer wieder zurück, um es mir noch einmal von vorne anzusehen.
Ich trank schon meinen vierten Kaffee. Sonst war ich spätestens bei drei wenn sie kam. Dreieinhalb höchstens. Heute schon der vierte. Wenigstens war er noch heiß. Ich presste meine Hände gegen den Becher und genoss beinahe den Schmerz, als ich die Hitze durch die dünne Pappwand an meinen Handflächen spürte. Auch der Becher konnte das leichte Zittern meiner Hände nicht verbergen. Ich schaute hinüber zur Bank. Zuerst war der junge Mann noch unruhig herumgelaufen, hin und her, hin und her, immer in der Nähe der Bank, unruhig zur Treppe hinüberschauend. Jetzt lief er nicht mehr hin und her. Er saß mit dem Rücken mir zugewandt auf der Lehne, die Füße auf der Sitzfläche. Neben ihm auf der Bank stand der Kaffeebecher. Ab und zu schaute er auf zur Treppe hinüber oder auf zu den Leuten, die vorübergingen. Sie würde nicht mehr kommen, ich wusste das irgendwie und er vielleicht auch, aber er blieb weiter dort auf der Bank sitzen und die Leute gingen an ihm vorüber. Er rührte sich auch nicht, als ich mich neben ihn auf die Lehne setzte, er schaute nicht einmal auf, sondern starrte weiter vor sich hin auf den Boden. Wir sprachen nicht, sondern saßen nur so da und ich beobachtete, wie der Himmel über der Stadt sich langsam von rosa zu zartblau verfärbte. Ab und zu fuhren Züge ein, hielten und fuhren wieder ab und noch mehr Leute eilten an uns vorüber.
"Sie war die erste Liebe meines Vaters" sagte der junge Mann schließlich leise. "Er hat sie in seinem Tagebuch erwähnt." Er stockte. Plötzlich wollte ich gar nicht mehr wissen, wie es weiterging. Es war einfach nicht mehr wichtig. Was änderte das jetzt noch. Ich wollte schreien, ihm sagen, dass mich das nicht interessierte, aber ich hielt den Mund. "Als ich sie endlich gefunden hatte, habe ich herausgefunden, dass sie nie geheiratet hat. Sie lebte inzwischen in einem Altersheim und hatte schwere Alzheimer. Sie hatten sie schon längst aufgegeben, denn sie hat niemanden mehr erkannt. Als sie mich sah, ist sie plötzlich aufgewacht. Alle sagten, es sei ein Wunder. Sie hat mich immer für meinen Vater gehalten, so sehr ich auch versucht habe, ihr zu erklären, dass er gestorben ist. Der Tag, an dem sie sich kennen lernten war das Einzige, an das sie sich noch erinnerte…" Er hob wie Hilfe suchend die Arme. "Also hat sie ihn kennen gelernt, jeden Tag, immer wieder und wieder neu…!" Der junge Mann verstummte. Was gab es auch noch mehr zu sagen? Ich dachte an die leeren abwesenden Augen der alten Frau und danach an ihr strahlendes, verwandeltes Gesicht, an die zarte Röte auf ihren Wangen, das mädchenhafte Lachen – eine Spur der glücklichen Jugend, der Beginn einer jungen Liebe — jeden Tag aufs Neue erlebt. Ich bemerkte nicht, wie wieder ein Zug einfuhr, bemerkte nicht die vielen Leute, die vorübereilten auf die Ausgänge zu oder die Treppen hinauf, bemerkte auch nicht, wie der junge Mann schließlich aufstand, seinen Kaffeebecher nahm und davonging, sondern fühlte nur den stechenden Schmerz eines herben Verlustes und eine unerklärliche Traurigkeit über etwas, das ich gar nicht benennen konnte. Und ich saß auf der Banklehne, die Füße auf der Sitzfläche und schaute auf die Gleise hinaus, während der zartblaue Himmel über der Stadt sich langsam azurblau färbte und in den Bahnhof Ostkreuz ein neuer Zug einfuhr.
Hannelore Adam
Sehnsucht.
Für Henning.
Steh wieder am Fenster, und denke
an dich,
seh dich ganz nah vor mir, schau in
dein liebes Gesicht.
Du bist einfach gegangen, der Schmerz
sitzt noch tief,
doch mein Herz, das ist bei dir, hab
dich noch sehr lieb.
Kann dich nicht vergessen, warte
immer noch auf dich,
am Ende des Weges brennt noch ein
letztes Licht.
Das Licht steht für Hoffnung, und
solange sie lebt,
werde ich dich wieder finden, vergiss
mich bitte nicht.
Gabriele Müller
Magie und meine Liebe am Ostkreuz
S-Bahnhof Ostkreuz, wichtiger Knotenpunkt zwischen vielen Strecken innerhalb Berlins.
1968 — Mein Weg führte mich vom oberen Bahnsteig, wo die Züge aus Pankow, Oranienburg, Grünau und Königs Wusterhausen ankommen, zur Treppe zum Bahnsteig Richtung Erkner.
Ich, Gabriele, wohnte damals — 17-jährig — noch bei meinen Eltern in Köpenick und war Schülerin der Erweiterten Oberschule Max-Planck in Berlin-Mitte in der Auguststraße. Wir waren dort die einzige reine Mädchenklasse dieser Schule. Diese Mädchen zum Abitur zu führen, war für unsere Lehrer bestimmt nicht immer einfach. Unser Mathematiklehrer hatte immer Spaß mit uns, aber unsere Klassenleiterin hatte kein einfaches Los. Unsere Geschichtslehrerin — eine spätere, kurzzeitige Kollegin von mir — sagte mir damals, dass an einer normalen Grundschule die Kinder eher berechenbar sind, aber in den Abiturklassen schwebt immer etwas in der Luft, was man nicht erfassen kann und das macht es so schwierig. Ich denke, sie hatte Recht. Wir waren schon etwas Besonderes.
Als reine Mädchenklasse waren wir sehr empfänglich für die Aufmerksamkeiten der Jungen aus anderen Klassen. Intensive Blicke wurden ausgetauscht, Briefchen geschrieben und zugesteckt. So erging es mir auch.
Ebi (Eberhard) hatte ein Auge auf mich geworfen. Er war eine Klasse tiefer und es begann ein interessanter Briefwechsel auf einer Schulbank. Ihm ging es bestimmt genau so wie mir. Da wir für die speziellen Unterrichtsfächer die Klassenräume wechseln mussten, konnten wir immer nicht schnell genug erwarten in den entsprechenden Klassenraum zu kommen, wo wieder eine neue Nachricht geschrieben stand. Ebi, kleiner als ich, schwarzhaarig mit Brille, die er aus Eitelkeit auf der Straße immer nicht aufsetzte und lieber nach dem S-Bahnzug fragte, da er die Anzeige ohne Brille nicht lesen konnte, war total verliebt in mich. Ich fand auch alles toll und spannend.
An diesem sonnigen Frühlingstag kam ich eben diese Bahnhofstreppe Ostkreuz herunter, um in den Zug Richtung Erkner einzusteigen. Normalerweise musste ich immer ganz nach hinten gehen, aber an diesem Tag stand Ebi mit seinem Freund gleich am Zuganfang, da er in Friedrichshagen vorn aussteigen musste. Ich freute mich sehr Ebi zu treffen. Begrüßte auch seinen Freund.
Der war circa vier Jahre älter als Ebi, blond, blaue Augen und etwas größer als ich. Das Auffälligste an ihm waren sein Lächeln, die wunderbaren Zähne, die man dann sah, und eine offene Zurückhaltung. Ich registrierte vor allem, dass er auf den ersten Blick eine große Ähnlichkeit mit dem Aussehen und der Jugendlichkeit von Schlagersänger Frank Schöbel hatte.
Mein verliebter Ebi war natürlich auch sehr froh, mich zu sehen. Wir unterhielten uns bis Köpenick über die Schule, die neuesten Kinofilme und viele andere Dinge. Die fünf Stationen von Ostkreuz bis Köpenick vergingen sehr schnell. Ich erfuhr nur kurz, dass sein Begleiter mit Spitznamen Andy (Andreas) hieß, er der langjährige Freund und Nachbar von Ebi war und bald zur Armee musste. Zwischen Ebi und mir war es ein lockeres und temperamentvolles Gespräch, soweit das mit Ebi möglich war. Seinen Freund Andy spürte ich nur.
In Köpenick angekommen, gab es einen kurzen Händedruck zur Verabschiedung und ein "Mach's gut".
Der Zug hielt und ich verließ den Wagen. Die S-Bahntür schlug zu und ich stand kurze Sekunden still mit dem Rücken zur Tür. Es war wie Magie. Als der Zug anfuhr, wusste ich, dass ich Andy heiraten werde.
Nachdem wir kurze Zeit später zu dritt im Kino waren und Andy mich nach Hause brachte, weil Ebi nicht wollte oder keine Zeit mehr hatte, wurden wir ein Paar.
1970 haben wir dann auch wirklich geheiratet. Wir bekamen später eine wunderbare Tochter. Leider trennten wir uns als Freunde nach 18 Jahren, aber immer noch, wenn ich heute am S-Bahnhof Ostkreuz bin, muss ich an diese Magie denken, lächeln und habe das Bedürfnis, davon zu erzählen.
Barbara Blum
Zärtlichkeit auf dem Bahnsteig
Bahnhöfe haben ein eigenes Leben, sie atmen förmlich. Einfahrende Züge werden angesaugt, während diejenigen, die wegfahren, wie überflüssig wieder ausgespuckt werden.
Es geht nicht um einen unter vielen Bahnhöfen, wo nur ein einzelner Zug kommt und geht. In dieser Geschichte dreht es sich um einen Bahnhof, auf dem sich Züge von mindestens vierzehn unterschiedlichen Richtungen inner- und außerhalb Berlins treffen.
Es war auf dem S-Bahnhof Ostkreuz in Berlin. Ulrike stand jeden Morgen auf dem Bahnsteig 3 und wartete auf die S-Bahn, die in Richtung Friedrichstraße fährt. Sie war jung, es machte ihr nichts aus, das Treppauf und -ab und die Atmosphäre der Unruhe, der Ankunft und Abfahrt. Jeden Morgen traf sie Viertel vor sieben Uhr den jungen Mann mit dem grünen Anorak und der hellen Manchesterhose. Er kam immer fast zeitgleich die Treppe hoch gerannt wie sie, und sie standen in unmittelbarer Nähe, dass ihre Blicke sich treffen konnten. Ihr gefielen die braunen Augen und schwarzen Haare des Mannes. So blinzelte sie in seine Richtung hinüber bis die S-Bahn einfuhr. Dann wurden sie manchmal auseinander gerissen im Gedränge des Einsteigens und sie verloren sich.
Einmal hatte sie zwei schwere Taschen zu tragen und kam ins Stolpern, er sprach sie an. Seine Stimme war ungewöhnlich wohlklingend und tief, sie drang in sie ein. "Kann ich Ihnen eine Tasche abnehmen?" "Gern", sagte sie und gab sie ihm, als schon der Zug einrollte. Die Fahrt reichte kaum aus für das interessante Gespräch, das sich nun entspann.
Es kam wie es kommen musste. Karl und Ulrike verabredeten sich das erste Mal, um allein spazieren zu gehen.
Es war wunderschön, der Herbst zeigte sich von der besten Seite, es war noch lind im Oktober und die bunten Blätter rieselten von den Buchen und Kastanien auf die Straße. Es begann eine wunderschöne Zeit der Liebe und Zärtlichkeit. Sie wohnten noch beide zur Untermiete.
Später, als er mit ihr im Zimmer am Tisch saß, sagte er: "Ulrike, leider kann ich nicht in Berlin bleiben, ich will ein Studium als Elektro-Ingenieur anfangen und die Ingenieurschule ist weit weg, in einer kleinen Stadt in Sachsen. Wirst du die Zeit auf dich nehmen, die wir uns nicht sehen können, ohne mich auszukommen?"
Ulrike warf ihren Kopf nach hinten, dass ihre schwarzen Locken flogen. Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie dem Plan ablehnend gegenüberstand. Sie erhob sich vom Stuhl, der mit Korbgeflecht auf dem Sitz beschaffen war und musste in dem geräumigen Zimmer auf und ab gehen, ehe sie etwas sagen konnte.
Ihr biegsamer schlanker Körper war voller Unruhe. "Ich weiß nicht, ob das gut ist für uns", begann sie endlich, "doch du musst es tun, wenn du dir etwas mehr im Leben vorgenommen hast, natürlich will ich dich nicht aufhalten. Wir werden uns sehr selten sehen." Kurze Zeit nach ihrem Gespräch begann Karl sein Studium und er blieb lange Wochen fern.
Ulrike fiel das Alleinsein schwer. Die Freundinnen nahmen sie mit ins Theater und zu Tanzabenden, sie war eine fröhliche und aufgeschlossene Frau.
Später lernte sie einen jungen Mann im Theater kennen, der ihr über Freunde, Verwandte, Kunst und Sport erzählte und Anregungen zum Nachdenken gab. Sie war von seinen Kenntnissen und seiner Ausstrahlung fasziniert, dass aus den lockeren Gesprächen mehr wurde. Sie trafen sich und besuchten gemeinsam verschiedene Veranstaltungen und Museen. Karl konnte nur einmal nach Monaten zu Besuch kommen, da das Lernen ihn in Anspruch nahm. Ulrike brachte es nicht übers Herz, Karl etwas von ihrer Bekanntschaft zu erzählen, so schrieb sie ihm einen Abschiedsbrief und sie sahen sich nicht wieder.
Ulrike heiratete den neuen Freund. Durch seinen künstlerischen Beruf hatte Alexander mit vielen Malern zu tun und konnte andere Menschen von seinen Ideen begeistern.
Jedoch war sein Leben von Höhen und Tiefen gezeichnet, die Ulrike nicht mitgehen konnte. Nach fünf Jahren führten die Spannungen zu einer tiefen Krise und zum Bruch der Ehe.
Unrast, Unzuverlässigkeit und Untreue konnte Ulrike nicht mehr ertragen. Ein schnelles Beenden war für sie die beste Lösung.
Noch immer kam Ulrike jeden Morgen zum Ostkreuz und stieg in ihre Bahn, um zur Friedrichstraße zu fahren. Ihre Arbeit als Sekretärin nahm sie in Anspruch. Die zahlreichen Beratungsprotokolle und Niederschriften kosteten viel Zeit und Mühe, des öfteren kam sie erst spät in ihre kleine Wohnung, die in der Nähe der Spree gelegen war.
Eines Tages, als sie wieder auf dem Bahnsteig am Ostkreuz stand, es war spät geworden, sah sie einen Mann stehen, dessen schwarzes Haar ihr auffiel. Sie musste einen Moment nachdenken, der Atem stockte ihr, es war Karl. Auch er sah in ihre Richtung und sein Gesicht war starr vor Staunen
Beide kamen aufeinander zu und begrüßten sich. "Du fährst wieder in deine Firma in die gleiche Richtung? Welcher Zufall. Dein Studium wirst du abgeschlossen haben, oder?", sagte Ulrike.
Karls Gesicht war freundlich geworden, doch seine Zurückhaltung nach dem Vorgefallenen war spürbar.
Er erzählte, dass er mit Bravour sein Studium abschloss, ein Jahr in Sachsen arbeitete und jetzt wieder in Berlin in der alten Firma zum Abteilungsleiter aufgestiegen war. Es machte ihm Freude, sagte er. Sie saßen noch lange in dem Restaurant, das abseits der Straße lag, es war wieder Herbst und bereits dunkel. Sie tranken ein Glas Wein und er sagte;
"Meinst du nicht auch, Ulrike, es ist doch gut, dass es das Ostkreuz gibt und wir uns da wieder begegnet sind?"
Fabian Theurer
Von den Schnecken
Jonas Morgenstern, stolzer Besitzer von nicht weniger als drei attraktiven Schnecken, war heute Morgen gut gelaunt. Morgenstern war Programmierer und teilte sich mit seinen possierlichen Tierchen eine Altbauwohnung im südlichen Friedrichshain Berlins. Aufgelesen hatte er die Schönheiten an der Autobahnraststätte Hermsdorfer Kreuz und an noch zwei anderen Orten, an denen es ihnen ziemlich mies ergangen war oder zumindest alsbald ergangen wäre. Er, Jonas Morgenstern, gab ihnen Herz, Verstand und einen kleinen Platz, an dem sie sich sicher fühlen durften.
Obgleich die liebenswerten Geschöpfe voneinander wissen mussten, gab es weder Zwang noch Eifersucht unter ihnen.
Da war einmal die blonde Schnirkelschnecke mit dem grauen Teint, die das Basilikum so liebte. Des Weiteren die kohlenschwarze Baumschnecke mit dem braunmarmorierten Gehäuse, die ihre gesammelte Aufmerksamkeit stundenlang einem alten Kopfsalatstumpf widmen mochte. Und zu guter Letzt die Hainbänderschnecke, die eindeutig das Prädikat "anspruchsvoll" verdient hatte. Wäre sie doch bereit gewesen, für Apfelschalen und welke Petersilie ihr Leben zu geben.
Jede von den drei hatte ihren ganz eigenen, unverkennbaren Reiz und Charakter. Und doch war zugleich erst im intimen Durcheinander, im Kreuz und Quer und Nebeneinander, im Auf- und Abtasten, im Berührung Suchen und wieder Rückzug Antreten jener sanften Geschöpfe, Schönheit und Sinnlichkeit vollkommen zu begreifen.
Ein schöner Tag stand bevor! Es blieb dunkel und regnete in Strömen. Die Schnecken durften eine Brause auf dem Balkon nehmen. Jonas frühstückte unterdessen. Die Eierschalen und den Teesatz würde er später im Mörser zerstampfen und den Wirbellosen in ihr Terrarium legen. So saß er da und kaute, und die Schnecken nahmen gierig die kalten Regentropfen auf, fraßen, bildeten Schleim für künftige Spaziergänge. Jonas Morgenstern wälzte spärlich belegte Butterbrote im Mund und schwere Gedanken im Kopf. Es war wie jeden Morgen seit einem guten halben Jahr. Aber letzten Endes waren sie glücklich. Es fehlte ja an nichts. Oder doch? Jonas Morgenstern studierte seinen Geldbeutel. Es befanden sich zwei Euro und zweiunddreißig Cent darin, wobei sich die zweiunddreißig Cent aus vier Stücken zu fünf Cent, einem Stück zu zehn Cent und einem Stück zu zwei Cent zusammensetzten. Es würde nicht einmal ganz für Nummer 7, gebratener Eierreis mit Huhn, am ehemaligen Imbiss International reichen. Für höhere Investitionen sah es erst recht finster aus. Was andere Quellen anbetraf, so kannte er Sofaritze und Sparschwein von früheren Untersuchungen her bereits ähnlich in- und auswendig wie seine Westentasche. Es war da nichts mehr zu holen; also musste er nun doch zur Arbeit gehen. So ist das in einer Leistungsgesellschaft. Jeden Morgen das gleiche Theater. "Adieu, Schnecken!", rief er wie immer von der Wohnungstür. Die blonde Schnirkelschnecke wackelte heute recht artig mit den Fühlern dazu. Die Baumschnecke hatte sich zurückgezogen. Und die Hainbänderschnecke fraß welke Petersilie.
Jonas Morgenstern war Programmierer von Beruf, aber nicht aus Berufung. Seine Arbeit machte ihm überhaupt keinen Spaß. Er hatte sich auf maßgeschneiderte Softwarelösungen für mittlere und große Betriebe spezialisieren müssen; seine Aufgabe bestand zumeist darin, eine Software zur Ermittlung des Einsparpotenzials beim Personal zu erstellen. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen konnte er aber nicht gut schummeln.
Die einzige Ausnahme war die Angelegenheit mit dem Millenium-Bug gewesen, an der er gut verdient hatte. Damals, zum Wechsel vom Jahr 1999 auf das Jahr 2000, war es notwendig geworden, die Betriebssysteme von Millionen von Computern umzustellen. Denn die Programme hatten nur zwei Speicherstellen für die Jahreszahl erhalten, so dass nach 1999 wieder das Jahr 1900 anzubrechen drohte; klapprige Rentner wären zum Wehrdienst eingezogen worden, Fahrstühle wären stehen geblieben und Kernreaktoren geschmolzen. Auf einmal war seine Hilfe gebraucht worden. Aber hatten denn er und seine Kollegen schon 1987 oder 1991 vorhersehen können, dass irgendwann einmal mehr als zwei Speicherstellen für die Jahreszahl gebraucht würden? 2000, so Jonas Morgensterns Auffassung, das klang doch heute noch wie alberne Science-Fiction. Das Jahr 2000 durfte es nach dem gesunden Menschenverstand eigentlich gar nicht geben, von 2002 oder 2020 ganz zu schweigen.
Seine maßgeschneiderte Software zur Ermittlung des Einsparpotenzials beim Personal hingegen war immer sorgfältig und vorausschauend erstellt, so dass meist schon kurz nach Einführung des Programms seine Stelle gestrichen wurde. Auf diese Weise zog er von Betrieb zu Betrieb wie ein Landstreicher und nicht wenige Firmen kamen nach seinen Berechnungen zum Schluss, dass sie besser ganz ohne Personal auskamen. Häufig förderte diese Erkenntnis denkwürdige Szenen zutage. So etwa, als der Vorstandsvorsitzende einer Firma namens Paradeiser-Reisen seinen gesamten Personalstab betriebsbedingt kündigte und die Hemdsärmel hochkrempelte, um selbst bei der Kartoffelernte anzupacken. Hatte er doch im Eifer des Gefechts vergessen, dass er höchstpersönlich Jahre zuvor den Konzern von einem rückständigen Landwirtschaftsbetrieb in ein innovatives Touristikunternehmen überführt hatte. An der alten Stelle war kein Kartoffelacker mehr, sondern nur noch englischer Rasen mit einem Pförtnerhäuschen davor! Wie konnte man nur so vergesslich sein. Völlig verwirrt, ließ er sich abfinden und nach Mallorca ausfliegen.
Ganz allgemein schien Morgenstern vom Schicksal dazu verdammt, immer wieder von desorientierten, ignoranten und sinnestauben Menschen umgeben zu werden. In welchem Gegensatz standen sie zu den wundervollen, gefärbten Schnecken, die ihre Umwelt mit vier Fühlern aufzunehmen vermochten und über die einfachsten Dinge auf Erden die größte Freude und Dankbarkeit empfanden! Auf das gesellige Beisammensein mit seinen gehäusetragenden Haustieren freute er sich deshalb Tag für Tag nach Feierabend.
Jonas hatte auch versucht, mit den Schnecken über jenen betrüblichen betrieblichen Vorfall zu sprechen. Aber es war zu schwer gewesen, ihnen überhaupt zu vermitteln, was eigentlich vorgefallen war.
In letzter Zeit ertappte er sich nach der Arbeit des Öfteren dabei, junge Frauen in der S-Bahn anzulächeln. Manchmal erwiderten sie das Lächeln – davon aufgerüttelt, hielt Jonas es dann für einen Irrtum oder ein schweres Vergehen seinerseits. Er überlegte fieberhaft, ob sein Verhalten durch das Grundgesetz in seiner derzeit gültigen Form gedeckt war, oder ob er ähnliches wenigstens schon einmal in der Fernsehwerbung beobachtet hätte. Einfach so fremde Mädchen anzusehen, ohne Auto, Bausparvertrag oder zumindest die längste Praline der Welt. Ihm fiel nichts ein. Er errötete dann und sah rasch zur Seite. Von diesen Abgründen mussten die Schnecken aber nichts wissen.
Abends war er allemal wieder der treu sorgende Familienvater für seinen langäugigen Harem. Es war gut, dass sie eigentlich erst richtig wach wurden, wenn er nach Hause kam.
Tagsüber schlafen die Schnecken doch.
So ging es lange Zeit. Morgenstern und die Außenwelt blieben sich fremd. Jedoch verändert sich auch das Leben eines Programmierers zuweilen so unvorhersehbar wie ein Absturz von Windows eintritt! Bei Morgenstern geschah es auf folgende Weise: Die letzten Meter nach Hause legte er immer mit dem Fahrrad zurück, damit er nicht auf den Bus angewiesen war. Dazu musste er sich vom Bahnsteig zu einer Abstellanlage begeben. Diese lag neben der Bushaltestelle und gegenüber eines großen schwarzen Wasserturms. Jonas machte sich also wie immer gemütlich auf den Weg, ohne sonderlich auf die anderen Menschen in seiner Nähe zu achten. Als er jedoch gerade das Bügelschloss von seinem Rad entfernt hatte, schrak er von einem sonderbaren Geräusch auf. Zuerst glaubte Jonas, ein Rülpsen oder ein lautes Rascheln von Blättern vernommen zu haben. Dann aber hörte er ganz deutlich ein Räuspern und Hüsteln, das zwischen den glasierten Ziegeln des alten Turms hervorzubrechen schien. "Bonjour!", sagte Jonas unwillkürlich. "Bonjour!", krachte der Wasserturm, "ich fühle mich ganz und gar nutzlos. 1912 erbaut, habe ich einige Jahrzehnte lang als Wasserturm gedient. Seither heiße ich nur noch so und stehe in der Landschaft." Da konnte Jonas seine Bewunderung nicht mehr verhalten und rief aus: "Welch ein imposantes Bauwerk Sie sind!" – "Nicht wahr?", erwiderte der Wasserturm, "an Gestalt und Wuchs bin ich noch am ehesten mit dem Ischtar-Tor aus Babylon zu vergleichen, das sich jetzt im Pergamon-Museum befindet." Jonas erriet wohl, dass der Wasserturm nicht sehr bescheiden war. Aber er war so rührend! – "Wenn Sie jetzt die Güte hätten, mich zu huldigen …", fuhr der alte Turm fort. – "Natürlich", erwiderte Jonas verwirrt und vollzog mit ausgestreckten Armen mehrere Verbeugungen in Richtung des Turms. Dann wollte er aber doch nach Hause, und die Leute an der Bushaltestelle starrten inzwischen auch schon ganz ängstlich in verschiedene Richtungen. Offensichtlich hatten sie den Wasserturm nicht gehört und hielten darum ihn, Jonas Morgenstern, für einen ausgemacht komischen Vogel.
"Halt! Bleiben Sie stehen!", rief jemand hinter ihm her. Der Wasserturm konnte es nicht gewesen sein, denn der hatte eine tiefere Stimme.
"Was ist denn nun schon wieder?", rief Jonas Morgenstern verstört, und griff in beide Bremsen, dass es quietschte. Als er sich umwandte, erkannte er eine Rollstuhlfahrerin. Sie lächelte verlegen, winkte kurz, und bemühte sich dann, zu ihm aufzuholen. "Haben Sie gerade mit dem Wasserturm gesprochen?", fragte die Frau etwas außer Atem. Jonas zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Ja, na und? Sie kennen doch diese greisen Bauwerke. Sie nehmen sich furchtbar wichtig und sprechen wildfremde Personen auf der Straße an, um ihnen ihre Lebensgeschichte aufzuzwingen." Die Frau schien zu überlegen. "Das ergibt Sinn", stellte sie dann mit einem feinen Lächeln fest. Sie überlegte nun nicht mehr, schien aber auf eine bestimmte Reaktion von Jonas zu warten. Der rang nach passenden Worten. "Sind Sie wirklich behindert?", sagte er schließlich monoton. Die strahlende Erwartung im Gesicht der Rollstuhlfahrerin wich großer Enttäuschung. Und so schob er eilig nach: "Ich meine natürlich, Sie sehen kein bisschen behindert aus." Die Frau bemerkte wohl, dass Jonas Morgenstern kein sonderlich begabter Romantiker war, aber sie fand ihn so süß! "Ich heiße Monika. Monika Schubert", erklärte sie. "Und ich Jonas. Jonas Morgenstern", bestätigte Jonas.
Er lud Monika auf eine Tasse Tee zu sich nach Hause ein.
Es stellte sich heraus, dass Jonas keinen Aufzug im Haus hatte. Bis dahin hatte er das nie als Hindernis erkannt; jedoch konnte Monika mit seiner Unterstützung am Treppengeländer entlang laufen. So umschlungen, sahen sie schon wie ein frisch verliebtes Paar aus – aber so schnell ging es denn doch nicht! Vielleicht erröteten deshalb alle beide, als ihnen im Treppenhaus ein Mann mit Wollmütze entgegenkam und "Siebzehn Jahr, blondes Haar" vor sich her trällerte…
In der Wohnung sah Monika sich neugierig um, indem sie den Rollstuhl mit erstaunlicher Wendigkeit mal hier, mal dorthin wandte. "Warum bewahrst du denn den Salat in einem Aquarium auf?", fragte sie schließlich. "Das ist kein Aquarium", antwortete Jonas nachsichtig, "sondern ein Terrarium. Und der Salat gehört den Schnecken, die darin wohnen". Das sah Monika ein. Sie fand die Schnecken sogar richtig süß. Und so kamen sie allmählich ins Gespräch. Langsam, aber unaufhaltsam. So wie die Schnecken sich fortbewegen.
So hatten sie sich schon für Stunden unterhalten, als Jonas auf einmal wieder einfiel, dass Monika im Rollstuhl saß. Natürlich wollte er wissen, wie es passiert sei. Und Monika berichtete, dass sie bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt worden sei. Sie war als Kind etwas unvorsichtig mit dem Fahrrad in eine Spielstraße eingefahren. Ein Autofahrer hatte sie erfasst und war dann vom Unfallort geflüchtet – der Täter konnte nie festgestellt werden. Jonas machte ein betroffenes Gesicht. Aber Monika sagte: "Es ist nicht so schlimm für mich."
Und sie fügte hinzu: "Nur leider sitzt mein Vater deswegen im Gefängnis. Er hat damals in seiner Verzweiflung den nächsten rücksichtslosen Autofahrer, der ihm begegnet ist, verprügelt und dabei schwer verletzt. Er tut mir sehr leid." Jonas zog es vor, zu schweigen. Vielleicht konnte er ihrem Vater bei Gelegenheit einen Kuchen mit einer Feile darin backen. Vorläufig war er einfach nur froh, dass er Monika gefunden hatte.
Und er hoffte sehnsüchtig, dass sie ihn ebenso gerne mochte wie er sie.
Zu diesem Buch
Vom Juli bis Oktober 2003 lief der literarische Wettbewerb "Ostkreuz 2020". Dabei ging es um künstlerische Visionen und Ideen zum künftigen Leben in den Wohngebieten rings um diesen bedeutenden Verkehrsknotenpunkt Berlins mit seiner wechselvollen Geschichte. Diese Aktion stellte gewissermaßen eine Fortsetzung des vorjährigen Schreibwettbewerbs "Ostkreuz, zweimal täglich" dar, aus der 2002 eine Anthologie gleichen Namens entstanden war. Hier waren die meisten Beiträge mehr auf die Vergangenheit oder die Gegenwart orientiert. Mit "Ostkreuz 2020" sollten nun Geschichten inspiriert werden, die sich mit der Zukunft befassten. Würde das gelingen? Eine offene Frage, nicht zuletzt für die Initiatoren des Wettbewerbs.
Die vorliegende Anthologie beantwortet diese Frage. Sie enthält alle eingesandten Beiträge zu diesem Wettbewerb, nicht so viele wie im vorangegangenen Wettbewerb, aber immerhin eine beachtliche Zahl. Zugelassen waren alle Genres, aber das Thema inspirierte doch eher zu einer narrativen, literarischen Annäherung. Viel mehr Bedingungen, als dass die Länge der Arbeiten fünf Seiten nicht übersteigen und sie bisher unveröffentlicht sein sollten, waren nicht gestellt worden. Die Einsender selbst sollten bestimmen, was es mit "Ostkreuz 2020" auf sich hat.
Organisator dieses Wettbewerbs war das Nachbarschaftszentrum RuDi in Kooperation mit dem Online-Magazin Kultstral. Das Projekt wurde unterstützt und gefördert durch das Förderprogramm der Europäischen Union, URBAN II. Eine Jury, deren Vorsitz vom früheren Bürgermeister des Bezirkes Friedrichshain, Helios Mendiburu, übernommen wurde, wählte die besten Beiträge aus, prämierte sie und stellte die Preisträger in einem feierlichen Rahmen der Öffentlichkeit vor. Auf die Zusammenstellung dieser Anthologie hatte die Preisvergabe keinen Einfluss. Sie folgte der Logik der Buchpublikation.
Über das Taschenbuch hinaus werden alle Beiträge im Online-Stadtteilmagazin Kultstral (www.kultstral.de) erscheinen und so einen noch größeren Kreis von Lesern finden.
Abschließend sei allen Dank gesagt, die am Wettbewerb und am Zustandekommen der Anthologie beteiligt waren. Das schließt auch diejenigen ein, die die Förderung dieses Projektes durch die Europäische Union und das Land Berlin ermöglicht haben.
Berlin, im Dezember 2003
Karsten Schulze
Sommertagtraum
Tomczek betrachtete sein Gesicht im Monitor. Es war alt geworden, das Nichtstun, das Zunichtsnutzesein hatten es verzehrt. Keine Schicksalsschläge oder existenziellen Bedrohungen — die unaufhörliche Langeweile, die immer gleichen Gespräche, der genormte Alltag, die sinnlosen Beschäftigungen hatten ihm über die Jahre ihre Narben ins Gesicht gefräst.
Sein verlorener Blick streifte hier und da Wartende, Vorsichhineilende, die ihrem nächsten Ziel hinterher jagten. Ein paar Retrogestalten schienen sich zu einer Performance der Moden der letzten Jahrzehnte versammelt zu haben. Die fünfte Sixties-, die sechste Hippie-, die — er wusste nicht wievielte — Punkwelle, Neo-Neoattitüden, bodenlose Leere, die T-Kom-Stimme verkündete die Ankunft der nächsten S-Bahn. Wie eine Feder glitt der silberne Zug in die Halle. Das lückenlos scheinende Fensterband untermalte ein orangefarbener Streifen, der holografische Bilder der aktuellen Net-Views übertrug. Naher Osten, Afrika, die Ekel erregenden Debatten der Rechtsbeharrer und Wohlstandsbewahrer — es würde niemals enden. Das gnadenlose Hoch der letzten Tage schien den Zug bis kurz vor den Siedepunkt erhitzt zu haben, die Bilder flimmerten wie in irisierende Luft gehüllt, ein leises metallisches Knistern ging von ihnen aus. Bilder von überall auf Reisen, als glaubten sie, man könne nicht genug kriegen von all dem, was einen im Grunde nichts anging. Unhörbar glitten die Schleusen auf und entließen in einem kühlen Luftschwall einen Strom von Fahrgästen. Er spürte, wie dieses Fließen Besitz von ihm ergriff, seinen Körper, seine Gedanken durchspülte, alles hinwegspülte in ein weit verzweigtes Delta der Gleichgültigkeit. Die Dinge kamen, glitten vorüber, während er sie betrachtete, verschwanden sie, um neue Dinge nach sich zu ziehen. Am Fenster sitzend betrachtete er die aus dieser Perspektive grotesk verzerrten Bilder der Orangeline, die sich in einen Schweif verwandelte, als der Zug kräftig beschleunigend den Bahnhof verließ. Ihm gegenüber saß ein knutschendes Pärchen. Den linken Arm des Jungen zierten zwei Kom-Tattoos. Es gab ein monatliches Taschengeld für diese Art der Werbung, das bei Jugendlichen sehr beliebt war. Man konnte im Wunderland seine Haut zu Markte tragen. Hatte man das Geld nicht mehr nötig, wurden sie kosten- und makellos entfernt. Mit zunehmendem Alter wurden sie zum Stigma. Ostkreuz verließ er den Zug. Hinter der Ausgangsschleuse verharrte er. Das OK-Center dominierte die Szene mit seiner Glasfront, die sich aus geometrischen Formen zusammensetzte, die er noch aus der Schule kannte. Fast glaubte er die einzelnen Gebäudeteile stöhnen zu hören unter dem Schmerz, den sie sich gegenseitig zuzufügen schienen. In der Weise, wie sich Zylinder, Kegelstumpf, Pyramide und Kubus gegenseitig durchdrangen, Eklektizismus der Neomoderne. Öde gähnte die riesenhafte Fläche aus genormten Betonwerksteinen in ihrer monotonen Müdigkeit, unterbrochen nur von geradlinigen und schwingenden Bändern, die die Konsequenz des kühnen Entwurfs ein wenig schwächten. Wie willkürlich geordnet stand eine Ansammlung öffentlicher Stadtmöbel im sengenden Mittagslicht, Bänke ohne die Spuren des Messers, Mülleimer ohne Graffiti, T-Kom-Zellen mit intakten Scheiben, deren Glanz kein eingeritztes Muster trübte. Kein Zeichen von Unordnung oder Vandalismus unter den Augen der Ü-Cams. Mit emsigen, greifzangenbewehrten Händen lauerten die S-Amt-Kolonnen gierig auf achtlos fortgeworfene Fastfoodreste. Die vereinzelten Bäume würden nicht alt und knorrig werden. Wenig tiefer würden ihre Wurzeln auf Beton stoßen, Decke des Tunnels, der sechsspurig den Platz unterquerte. Er musste pinkeln. Das Wall-Klo aus Marmor und modernster Technik kostete zwei € Eintritt und weit und breit kein toter Winkel. Alles lebendig! Die Akteure in diesem Ensemble — hier ein Berliner, aber das war nicht weiter wichtig - wirkten auf ihn ein wenig wie die 3D-Animationen der Architekten, in denen sich Fußgängermodelle in Modellräumen bewegten, um neue Erkenntnisse über Verlauf und Verhalten von Konsumentenströmen zu erlangen, die der Optimierung von Center-Strukturen dienen konnten. Innovation und Nachhaltigkeit brandmarkten den öffentlichen Raum in einer Weise, die so manchen sensiblen Zeitgenossen zum Exodus in ländliche, gänzlich aufgegebene Gegenden getrieben hatte. Durch die Glasfront des Centers spiegelten sich im Glanz des täglich polierten Fußbodens, den man aus allen Steinbrüchen der Welt hierher gekarrt hatte, die Leuchtreklamen der allgegenwärtigen, immer gleichen EH-Ketten, die sich über die Jahre metastasenartig verbreitet hatten. Ein Krebs, der nicht tötete, sondern am Leben erhielt - mehr nicht. Vor ihm drehte sich die vierflügelige Tür der Drehschleuse mit anmutiger, dem bunten Treiben spottender Langsamkeit. Der schwülwarme, viertelkreisförmige Raum sog ihn mit schlüpfriger Leichtigkeit auf, um ihn jenseits der Schwelle wieder auszuspeien. Kindliche Eindrücke an überheizte Kaufhallen wurden in ihm wach, Zeiten unschuldiger Neugier, unschuldiger Gedanken. Die säuselnde Klangkulisse erinnerte ihn an Theater. Die Bühne war mit Statisten reichlich bevölkert. Einkaufstüten schleppendes, Wagen schiebendes Volk, die lichte Rotunde abschreitend, neue Hose, Schuhe, Hemd, Wurst, Käse, feine Backwaren, Tiefkühlfertigkost, Burger-Softdrink-Familymenue, Tiefgarage, Eigenheim, Stein auf Stein, Hecke, Grill und Gartenzaun, yeah yippieh yeah, heute, morgen, vorwärts immer, nimmer...wohin? Tomczek wusste nicht, wusste nichts.
Er setzte sich auf eine Bank vor der marmorgefassten Pflanzinsel unter der gläsernen Kuppel.
Licht! Er schloss die Augen, lehnte den Kopf zurück. Sonne - hinter geschlossenen Lidern, Gräser im Wind, mächtige Pappeln, Espengeflüster, wabernde Schlingarme im kühlen, klaren Wasser der Spree - das war draußen - 300 Meter neben der Schnellstraße - eine Illusion.
Er war ein Illusionist in der Geisterbahn seiner Träume geworden. Sie waren zum Scheitern verurteilt, er. Die Welt war zu groß für ihn, unvorstellbar groß, keine kleinen Lösungen für eine kleine Welt. Er fühlte sich hilflos, einsam - dekadenter Schmerz der Seele. Kaum jemand ahnte, was kommen würde... einer grub einen Findling frei, drehte ihn, schuf dem Bach ein neues Bett, das teilte sich vorm Findling, vereinte sich dann, fließen, davonfließen......
"Ist Ihnen nicht gut?" Der freundlich lächelnde Mann trug Barett und Vollbart. Über seiner Stirn prangte das Wort ARGUS. Tomczek parierte die Frage mit einem ungläubigen "Wovon in aller Welt reden Sie?" und führte die Hände des Wachmanns an seine Wangen. "Sie haben so warme Hände, geht es Ihnen gut?" Der Wachmann sah sich unsicher um. "Schauen Sie nicht weg, schämen Sie sich?" Der Wachmann richtete seinen Blick wieder auf ihn. "Kennen Sie einen Ort zum Sterben?" Mit offensichtlich aufrichtiger Anteilnahme setzte er sich neben Tomczek. Seine Hände lagen jetzt in Tomczeks Schoß, der lehnte seinen Kopf an die uniformierte Schulter und begann behaglich ein altes Kinderlied zu summen.
Der Wachmann schaute ihn verwundert an. "Ich verstehe nicht." Tomczek versank in einem Traum, ein dunkler Tunnel, Sterne am Mauergewölbe, ein Schatten kroch aus der Ferne auf ihn zu, leiser Gesang einer unendlich schönen Melodie...
"Nicki, Nicki!" Ein halsstarriger, nikotingelber Pudel rutschte, hilflos die Pfoten gegen den glatt polierten Boden gestemmt, hinter einer kreischenden, uralten, gebeugten Dame her.
"Nicki, jetzt komm, Niiicki!" Der Wachmann brüllte plötzlich los. "Ich krieg dich, du Aas, warte!" Dann stürmte er los, stolperte beinah über die Schnappleine, die Nicki mit seinem Frauchen verband, und hechtete auf den Eingang von REAL zu. "Bleib steh'n, du Sau!" quietschte der Wachmann, schon wieder Fahrt wegnehmend, um nicht über den pechschwarzen, verwegen gelockten Mischling hinwegzufallen, der ängstlich - eine Tüte zwischen den Zähnen - nicht wusste, wo er lang rennen sollte. Dann startete der kecke kleine Hund und nahm, indem er sich unter den Pranken des Wachmanns wegduckte, Reißaus in Richtung der schmalen Glaspforte, die neben der Drehtür offen stand. "Mistsau, verrecke!" Der Wachmann versuchte sich, wild mit den Armen rudernd, zu fangen, schrappte mit dem Barett haarscharf an der Kante der Brottheke vorbei, murmelte ein verkniffenes "'tschuldigen Sie, gnädiger Herr!", streifte die Einkaufstüte des so Angesprochenen und fiel schließlich doch auf alle Viere, fast in die Arme eines kleinen Mädchens, das sich ängstlich hinter seiner Mutter zu verstecken suchte. Wild fluchend rappelte er sich auf und wendete in Richtung Ausgang, um das Objekt seiner Begierde gerade noch schwanzwedelnd auf den Vorplatz entschwinden zu sehen. "Kanaille!" Japsend ließ er sich neben Tomczek auf die Bank plumpsen. "So geht das schon seit Wochen." keuchte er. "Spaziert einfach hier rein, wuselt durch die Gänge, durchstöbert die Mülleimer, bettelt an der Wursttheke, die stecken ihm auch noch was zu, damit er bestimmt wiederkommt. Er springt die Kinder an, klaut ihnen Eis und Süßigkeiten aus den Fingern, die Leute finden 's auch noch lustig und dann, ab durch die Mitte."
Tomczek musste grinsen, obwohl ihm traurig zu Mute war. Von der Großbildleinwand über dem Eingang leierte ein üppiges blondiertes Promohuhn die aktuellen Sonderangebote herunter. Von allen Seiten vereinigten sich Schnäppchen offerierende Stimmen zu einer misstönenden Kakophonie schier unglaublicher Unterbietungen. Draußen staute sich die samstägliche Kombikolonne vor der Tiefgarageneinfahrt. Neben der Rolltreppe verschwand eine nicht abreißende Schlange prall gefüllter Einkaufswagen nebst ihrer Fahrer hinab in den Keller. Der Strom der Zeit war zu einem unappetitlichen Warenstrom verkommen. Aus der Kassenhalle gaben die vollautomatisierten Scanschleusen ihr zwitscherndes Konzert. Ein Großteil der Kassiererinnen hatte sich seit kurzem in Bürgergeldempfängerinnen verwandelt, die nichtsnützig vor dem Fernseher lungerten, um ihre überschüssige Freizeit mit dem Anschauen zahlloser Tagesquizshows totzuschlagen. Eine Automatengesellschaft, die keine Handlanger mehr brauchte — Segen der Technik. Nach und nach hatte sich die stupide Arbeit an die Ränder einer weltumspannenden Freihandelszone verlagert, die man auch nur aus dem Fernsehen kannte, emsige, dunkelhäutige Massen, die überzeugt worden waren, dass nur das Dienen ins Paradies führte. Die Massen hierzulande hatten ein ganz neues Problem, das hieß Freizeitbewältigung. Die Auswüchse dieser anderweitig geltungsbedürftigen Masse schleuste man durch eine hocheffektive Eventmaschinerie, die jedem seine öffentliche Zurschaustellung auf mittlerweile mehr als hundert Fernsehkanälen ermöglichte. Ein ganzes Land war zum Superstar geworden, alle feierten jeden, es war wunderbar.
Tomczek erhob sich schwerfällig. Er drückte dem Wachmann die Hände, wünschte ihm gutes Gelingen bei seiner nervenaufreibenden Jagd nach Mr. Black und wandte sich der Drehschleuse zu. Dann stand er wieder im prallen Sonnenlicht, der Wärmeschock machte ihn schwindelig. Halb blind stolperte er die lang gestreckte Warenschleuse entlang, die dreispurig in den nicht öffentlichen Bereich der Anlage führte. Er verdrückte sich zum Pinkeln in die Büsche. Vor ihm war ein Loch in den meterhohen Stabgitterzaun geschnitten, das ein kleiner Ranunkelstrauch fast vollständig verdeckte. Auf dem Rücken liegend zwängte er sich durch die kleine Lücke und stand am Ende einer kopfsteingepflasterten Straße, die von Beifuß und Goldruten überwuchert war, die in voller Blüte standen. Über einen uralten rostigen Drahtzaun nickten die schweren Traubendolden einer verwilderten Holunderhecke. Auf dem Schild an der kleinen Gartenpforte stand in kaum noch lesbaren altertümlichen Buchstaben KGA Reichsbahn II. Mit seinem ganzen Gewicht musste Tomczek sich dagegen stemmen, bis sie sich einen Spalt breit öffnete, so dass er sich hindurch schlängeln konnte. Vor ihm lag ein schmaler Pfad, der sich in einem bunt blühenden Gewirr verschiedener Stauden verlor, die emsige Laubenpieper vor Jahren hier sich selbst überlassen haben mussten. Der Geruch gärender Äpfel lag verführerisch in der schwülen Luft. Es gab weit und breit keine Zeichen menschlicher Anwesenheit, eine Stille harmonischer Natur umgab ihn. Summen, Zwitschern, Zirpen, Rascheln, flüsterndes Laub, sanft streichender Wind und das ferne Grollen der Autobahn, das durch Luftschächte nach oben drang. Verwilderte Gärten, zerfallende Lauben mit eingestürzten Dächern, der Boden übersät mit Unrat, verkohlten Holzresten, Brombeeren, die sich durch die zerschlagenen Fenster wanden, vermodernde Zäune, die von Hopfen und Knöterich vollkommen überwuchert waren. Er entdeckte Mr. Black, der genüsslich seine Beute zerfetzte und ihn mit einer Mischung aus Neugier und Argwohn zu beobachten schien. Bleierne Müdigkeit übermannte ihn. Er stolperte weiter und erreichte eine mannshohe Mauer, die den Garten von der dahinter liegenden Brache trennte. Auch dort ein ähnliches Bild, Trümmer einer vergangenen Zeit, leere Fensterhöhlen, die an Krieg erinnerten, morbider Charme einer längst verklärten Epoche. Tomczek folgte der Mauer und erreichte schließlich die Böschung des Bahndamms. Auf allen Vieren krabbelte er weiter, die Brombeeren kratzten ihm Hände und Arme blutig, aber er spürte den Schmerz nicht mehr. Er spürte nichts mehr. Das gleichgültige Fließen, das ihm mit der Zeit so vertraut geworden war, hatte jetzt völlig von ihm Besitz ergriffen. Mit letzter Kraft erreichte er das Ende der Böschung. Verschwommen glänzten vor ihm die endlosen Doppelbänder der S-Bahngleise. Unbeholfen entledigte er sich seiner Jacke, legte sie zusammengeknüllt hinter dem äußeren Gleis auf die Betonschwelle und bettete seinen Kopf in den weichen Stoff. Eine Weile starrte er in den wolkenlosen Himmel. Dann schlief er ein ... ein Traum: ich lege die Elektroden an, kühles Gel an den Schläfen, lege den Hebel um, Dunkelheit, ein Gitternetz feiner Linien erstreckt sich auf stahlblauem Grund bis zum Horizont. Eine Stimme zittert durch den Raum, von unendlich weit her. Sie klingt wie fremdartiger Singsang. Ich fühle mich leicht, als sei ich körperlos, nur ein immaterieller Gedanke ohne Herkunft, ohne Bestimmung. Dann beginnt die Luft zu zittern, der Gedanke wird unklar, immer weniger fassbar, verschwindet. Schließlich sehe ich, wie er Form annimmt, sich in eine durchsichtige Blase verwandelt, letztes Glied einer Kette, die durch meinen Kopf zieht und mich traumlos zurücklässt.
Ralv Ogel
Jogging um halb zehn
Kühle Frische. Ruhe. Gezwitscher. Morgenrot überm Ostkreuz. Wind zischelt an Mauern, Kanten, Pfählen entlang. Feuchter Asphalt, von Gräsern, Trieben und Strünken aufgerissen. Auf dem sich allerdings noch ganz gut laufen lässt, mit stabilen, gut gedämpften Laufschuhen. Die hier machen's nicht mehr lange. Wird bald Frühling werden. Stirnband kann ich einpacken. Aber noch eilt mir mein Atem wolkig voraus. Wenn sie noch nicht da ist, lauf ich schon mal Richtung Ufer, dreh dann um und ihr entgegen. Vom Rumstehen hol ich mir sicher was. Seit die Lauffreunde die Ruinen abgesichert haben, kann man hier wieder gut langlaufen – vorausgesetzt, der alte Expo-Weg am Ufer wird freigehalten. Die Büsche sind ja das Geringste. Der Vermieterverein sprengt immer noch regelmäßig die letzten Reste an Wohnungsbestand weg. Früher hätte man das wohl unter Terrorismus verbucht. Na, hier wohnt ja auch keiner mehr, soll auch keiner wohnen. Und dann ist prompt wieder der Pfad zugeschüttet. Kümmert die ja nicht. Heute keine Überraschungen, scheint's.
Letztens war in der Pizzeria noch der Ofen zu sehen. Hat auch irgendjemand zerschlagen. Wer kommt denn hier noch her außer uns Läufern? Die Zivilisation ist fünf Kilometer weg. "Der bewohnte Teil Berlins hat sich im Laufe der Jahre 2015 bis 2020 etwa auf die Größe Bonns eingependelt." Wann stand das in der Zeitung – diesen oder letzten Monat? Der Betonstumpf da war mal 'n Kindergarten. Glaub ich. Um den ist nicht schade. Hinten um die Silos soll man eher 'nen Bogen machen. Aber die Straße ist ja breit genug. Heinz ist letztens mal wieder bis Friedrichshagen runter. Schon so 'ne Sache. Wenn er da umkippt, ist Schluss, da gibt's ja nun kein gar nix mehr. Aber das ist ja das Schöne am Laufen: Allein mit dir und deinen Beinen. Rollt heute wieder wie von selbst. Ich glaub, ich dreh hier um, hier wird der Wildwuchs zu dicht, weiß man nie. Die Wölfe sollen schon ganz in die Nähe gekommen sein. Ach, bisschen überängstlich, oder? Wer sagt denn, dass die einen anfallen. Naja, erst mal zurück. Bestimmt kommt mir Martina dann schon entgegen. Dahinten, das ist sie doch schon, oder? Grüne Jacke, weinrote Hose. Bestimmt. Irgendwo Kameras? Leute, die ich nicht kenne? Bullen können überall sein. Entwickelst 'ne richtige Paranoia über die Jahre. – "Hallo, schön, dich zu sehen." – "Schön, dass du da bist. Bin 'n bisschen vorgelaufen um mir nix wegzuholen." – "Ist die Luft rein? Hast du jemand geseh'n?" – "Nichts bemerkt." – "Ich auch nicht. Hat länger gedauert, weil wir keine zehn Fahrgäste zusammen gekriegt haben und die S-Bahn deshalb nicht losfuhr. Anscheinend hat sich jemand erst angemeldet und ist dann krank geworden oder so. Aber dann kam zum Glück spontan noch jemand." – "Die müssen ja auch mal fahren. Wie oft fährt sie pro Tag? Dreimal?" – "Bei Bedarf auch öfter. Bin froh, dass sie überhaupt noch laufen. Letztens blieb eine auf offener Strecke liegen. Zwischen Treptower Park und Sonnenallee. Mitten in 'ner Müllhalde." – "Ich mach mir jeden Tag mehr Sorgen, was ist, wenn sie uns erwischen." – "Die kürzen mich unters Existenzminimum. Hast du die Geschichte mitgekriegt von dem ehemaligen Tierwärter im Zoo? Kam letztens im Radio." – "Zum Radio hören komm ich fast nie. Zwischen eins und drei mach ich meistens mein Mittagsschläfchen." – "Mal sehen, ob ich's zusammenkriege. Also: Der betreute damals im Zoo die Seehunde. Und als der Zoo zumachte, hat er's nicht übers Herz gebracht, die Tiere einzuschläfern und zwei mit nach Hause genommen. Die Hälfte seiner Rente ging fürs Tierfutter drauf. Lebte nur für seine Seehunde. So weit, so gut. Aber da gab's dann seine Nachbarin. Allein stehend. Die hatte sich in ihn verknallt und 'ne ziemlich dumme Idee." – "Hat sich an ihn rangeschmissen." – "Nicht nur das. Man munkelt, sie hätte ihn und sich selbst angezeigt." – "Wegen Partnerschaftsverschweigung? Aber es gab doch gar keine." – "Vor Gericht genügt der Anschein. Und für den hat sie gesorgt." – "Wie kann man nur so blöd sein." – "Sie hat gedacht, er müsste jede Menge Kohle kriegen, auf jeden Fall mehr als sie. Und wenn dann ihre Partnerschaft gerichtlich festgestellt wird, wird ja ihre Rente, die geringere, gekürzt, und er wird sie aus Anstand bei sich aufnehmen und für sie sorgen müssen." – "Und?" – "Seine Rente war geringer als ihre. Sie war Chefsekretärin früher. In der Privatwirtschaft. Da haste ja schon fürs Kopieren mehr gekriegt als so 'n Tierpfleger im öffentlichen Dienst." – "Also hat sie für ihn sorgen müssen." – "Ja, das hat sie sich auch so ausgemalt. Aber er hat total auf Ablehnung geschaltet. Wollte sie nicht mehr sehen und zusehen, dass das alles rückgängig gemacht wird." – "Wenn die dich einmal am Kragen haben." – "Eben. Aber sie hat irgendwann resigniert. Und dann haben sie sich geeinigt, dass sie eine amtliche Trennung erreichen wollen. Auseinander ziehen, sich nicht mehr sehen." – "Und wie konnte er überleben? Hat sie ihn weiter bezahlt?" – "Wollte er nicht. Hat ihr nicht mal ihr Konto gegeben. Briefe zurückgeschickt." – "Dann hat er also mit viel weniger Kohle auskommen müssen." – "Etwas mehr als die Hälfte." – "Und die Tiere?" – "Die hat er durchgefüttert. Nur er selbst kam zu kurz. Hat ja auch keiner mehr nach ihm gesehen, nachdem die Nachbarin weggezogen war." – "Mein Gott." – "Letzte Woche hat 'n Renten-Beamter seine Leiche gefunden. Kam wegen 'ner amtlichen Prüfung, ob die Partnerschaft noch Bestand hat. Hatte sie beantragt. Eingegangen wie 'ne Primel. Verhungert." – "Wie alt war er?" – "Noch 'ne Ecke jünger als wir. Fünfundsiebzig. Die Seehunde hat man übrigens nicht gefunden. Müssen irgendwo in freier Wildbahn unterwegs sein." – "Die Rummelsburger Bucht wär da ja fast ideal, oder? Vielleicht watschelt uns ja noch einer übern Weg." – "Ja, das wär lustig." – "Oder lieber nicht. Vielleicht bringen sie ja Unglück." – "Verschrei's nicht. Im übrigen wär's für uns nicht ganz so schlimm, oder? Würdest du mir die Tür weisen?" – "Kommt drauf an. Wie kränkelnd bist du denn?" – "Mein letzter Arztbesuch war vor zehn Jahren." – "Doch nur, weil's zu teuer ist." – "Nein, ich bin kerngesund! Kommt vom Laufen. Und von dir." – "Na, dann." Das größte Wagnis, dem sich ein Rentner heutzutage aussetzen kann, ist wahrscheinlich ein amtlich nicht genehmigter Kuss in der Öffentlichkeit. Aber man gönnt sich ja sonst nichts. Und hier am Ostkreuz schau'n einem eh nur wilde Tiere zu. Die kennen das.
Thoralf Kullig
Der Feldhase
Er verstand sie nicht. Kein einziges Wort. Georg lümmelte sich in einem abgeschabten Sessel unbestimmten Alters inmitten des heruntergekommenen Clubraumes und versuchte seit fast einer Stunde vergebens diesem seltsamen Mädchen zu folgen, welches in flammenden Worten auf ihn einredete. Auf ihn und seine Mitstreiter. Er schaute zweifelnd in die Runde. Dort saß sie – die ruhmreiche Bürgerinitiative "Keine Autobahn Durch Den Kiez, Stoppt Die Baukonzerne" (KADDKSDBK) bzw. deren trauriger Rest:
Ulrike, die prinzipiell alles ablehnte, was irgendwie nach Kommerz roch und sogar ihre beiden Hunde "Trotzki" und "Che" streng vegan ernährte; Rob Ying, genannt "YingYang", weil er vor zwölf Jahren mit seiner Familie aus China hierher flüchtete, und Günni, der sowieso nicht wusste, wohin mit sich und nur an Vormittagen zwischen Aufstehen und Frühstück annähernd alkoholfrei war. Vermutlich hatte er deshalb nichts dagegen, diese siebzehnjährige Amazone anzuschleppen, die ihnen mit allen Mitteln einzureden versuchte, den mittlerweile aussichtslosen Kampf gegen "das Imperium" fortzusetzen.
Während "Ichwohneschließlichauchhier"-Katrin redete und redete, überlegte Georg, wann die Dinge eigentlich begonnen hatten, schief zu laufen. Vielleicht schon im Jahre 2007, vor inzwischen acht Jahren, als der Architektur-Wettbewerb Ostkreuz 2020 ausgeschrieben wurde und Anwohner und Medien lieber Wolkenkratzerprojekte oder Metrorapidstrecken diskutierten, anstatt den drohenden, von der Industrie massiv geförderten, Plan einer sechsspurigen Autobahn mitten durch den Kiez zu bekämpfen? Oder begannen die Probleme drei Jahre später, als sich der "Highway to Ostkreuz" durchsetzte und unzählige Anwohner und Basisgruppen das Vorhaben in Grund und Boden verdammten, statt es grundsätzlich zu akzeptieren, aber im Detail bedeutende Zugeständnisse auszuhandeln? Er wusste es nicht. Ja, im Jahre 2010 waren sie eine Macht gewesen. Allein Georgs Bürgerinitiative KADDKSDBK, die er zusammen mit Günni und Rob bei einem "kritischen Besäufnis" in der Sonntagstraße gegründet hatte, zählte annähernd 50 Mitglieder aller Couleur inklusive 500 Alternativvorschläge für ein überdachtes Wolkenkuckucksheim namens Ostkreuz. Vielleicht begann damals der Niedergang. Sie führten gemeinsam Prozesse, klagten gegen anstehende Enteignungen, absehbare Lärmbelästigungen und Abgase, Kostenexplosionen, stellten Befangenheitsanträge und störten Lokaltermine, nur um später festzustellen, dass sämtliche Aktionen von Politik und beteiligter Industrie vorausgesehen und fest eingeplant waren. Nützliche Idioten konnte man immer gebrauchen! Und negative Werbung ist besser als gar keine.
Die letzte Niederlage für die arg geschrumpften Protestierer lag genau drei Monate zurück; ein endgültiges Urteil stand in 14 Tagen an. Georg schüttelte den Kopf. Es war hoffnungslos. Und nun schleppte Günni auch noch dieses Mädchen, diesen Jeanne-d´Arc-Verschnitt, an! Siebzehn Jahr, blondes Haar. Angeblich Mitglied des Europäischen Jugendparlaments. Toll. Persönlich bekannt mit Dauerkanzler Schröder, der es auch 2018 "noch mal wissen" wollte. Super. Als ob das irgendjemanden interessieren würde! Titel gab es hier schließlich genug. Georg zum Beispiel hatte gleich drei davon: Arbeitsloser, Alpha-Single und Anführer einer Verliererversammlung, die sich Bürgerinitiative titulierte. Von jener fühlte er sich nun ebenso intensiv wie ratlos angestarrt. Natürlich war seine Grundsatzentscheidung gefragt. Vielleicht sollte er zuvor den 50:50 Joker ziehen oder jemanden anrufen... ??
Georg erhob sich würdevoll mit einem Räuspern, die Schultern strafften sich unter der Verantwortung — gleichsam gegen diese siebzehnjährige Neunmalkluge gerichtet – da fiel ihm selbige schon ins nicht ergriffene Wort. Katrin schlug vor, in den kommenden vierzehn Tagen eine komplett neue Strategie zu starten. Ihre Idee: Da die Bebauungsschneise bereits seit zwei Jahren in beträchtlichem Umfang enteignet und geräumt würde, hätten sich sicher an vielen Stellen frei wuchernde Biotope gebildet, in denen man durchaus die eine oder andere geschützte Lebensform entdecken könne. Mit Fotos und entsprechendem Auftritt von Robin Wood oder dem NABU e. V. wäre bei Gericht ein Aufschub herauszuholen. Das sei wichtig, weil bei einer nochmaligen Verzögerung das Industriekonsortium platzen würde und somit eine Neuausschreibung in Frage käme. Jetzt fiel sogar Günni die Bierflasche aus dem Gesicht. "Meinst Du, das könnte ähnlich laufen wie beim Flughafen, der nun pünktlich im Jahre 2021 auf dem Ex-Bombodrom-Gelände bei Wittstock gebaut werden soll?" krächzte er. "Sofern es keine Altlasten gibt ...??" ergänzte Ulrike wiehernd. Plötzlich fingen alle an, durcheinander zu reden. Am lautesten brüllte Rob, der sich besonders engagierte, weil er — aus einer Region stammend, in der chinesische Bürokraten ohne Rücksicht auf die Interessen von Millionen Anwohnern den gigantischen Drei-Schluchten-Staudamm bauten – frühzeitig gelernt hatte, sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren. Georg starrte Katrin staunend an - er war ehrlich beeindruckt. Wie sie doch mit ihren Ideen die Stimmung gehoben hatte! Obendrein war sie nicht nur klug, sondern – wie konnte er das bisher übersehen? – verdammt hübsch.
Später erinnerte er sich nur noch unscharf an den weiteren Verlauf der Debatte, "Nenn-mich-nicht-Ulli"–Ulrike hatte Kamera und Fernglas besorgt, und Georg und Katrin bildeten das erste Erkundungsteam. Er wollte einfach sehen, ob sie recht hatte. Er wünschte es sich um seinet-, aber auch um ihretwillen. Denn ein bisschen – soviel gestand er sich ein – bewunderte er sie. Sie gingen die Sonntagstraße hinunter und passierten den neu gestalteten S- und Fernbahnhof Ostkreuz. Georg betrachtete das futuristische Eingangsportal mit der überdimensionalen elektronischen Anzeigentafel, der größten in ganz Berlin. Hier konnte man schon von weitem Abfahrtzeiten und Aussehen der Züge studieren. Außerdem informierten kurze Multimedia-Clips über aktuelle Kauf- und Entertainmentangebote innerhalb der riesigen „Bahnhof-Ostkreuz-Arena“. Katrin blieb stehen und betrachtete den Ort. Sie erzählte Georg, dass sie oft hierher kam, denn es war nicht einer von den vielen 08/15 Glas- und Shoppingpalästen, wie es sie in Berlin zu Dutzenden gab. Es sei ihr ein wenig peinlich — besonders wenn sie an ihr alternatives Image dachte – aber die steinernen, fast klassizistischen Fassaden in Verbindung mit der geschickten Neon-Beleuchtung hätten für sie, besonders in den Abendstunden, etwas zugleich Beruhigendes wie Magisches. Georg war überrascht, solche Gefühlsregungen hätte er nicht bei ihr vermutet und es nahm ihn noch mehr für sie ein.
Er ging an Katrins Seite weiter in die Lenbachstraße und fühlte sich mit einem Mal großartig. Seit Ewigkeiten hatte ihn kein Mädchen mehr so durcheinander gebracht! Beinahe fünf Monate war es nun her, seit ihn seine letzte Freundin fluchtartig in Richtung Hamburg – natürlich via Autobahn! – verlassen hatte, als sie von seinen Zukunftsplänen als Retter der Menschheit vor weltweiter Betonierung erfuhr. Ob Katrin noch solo war? Er traute sich nicht zu fragen; vielleicht sah sie ihn dann wieder mit diesem leicht spöttischen Blick an, von dem er sich hinter seiner überlegenen Fassade komplett durchschaut fühlte. Außerdem war sie erst siebzehn. Vielleicht hielt sie ihn mit seinen stolzen 25 schon für einen alten Knacker. Unwillkürlich zog er den Bauch ein und streckte die Brust raus.
Ein kurzes "sch, sch" von ihr unterbrach seine Gedanken. Sie standen einige Meter vor einem verfallenen Abrisshaus direkt an der Matkowskystraße. Hier sollte die Autobahn entlang führen. "Ich glaube, dort sind Fledermäuse", flüsterte sie. Er blickte durch sein Fernglas — genau wie die Kamera eines der neueren Modelle, mit denen man auch nachts gestochen scharf sehen und filmen konnte. Tatsächlich, sie hatte recht. Er beobachtete verblüfft das muntere Treiben. Das schien eine ganze Kolonie zu sein. "Vielleicht sollten wir gleich beim NABU e. V. anrufen." meinte sie. "Wenn hier schon Fledermäuse in dieser hohen Zahl ungestört nisten können, finden die Naturprofis sicher noch mehr. Vielleicht sogar den Feldhasen, der steht auf der Roten Liste der geschützten Tiere." "Also ich würde lieber noch einige Tage auf eigene Faust nach Feldhasen suchen." brach es spontan aus Georg heraus. "Und zwar gemeinsam mit dir! Natürlich nur wenn du magst ... ?" Sieh an, jetzt meinte er, auf ihren Wangen einen Hauch von Röte wahrgenommen zu haben. So cool war sie also doch nicht! Aber auch seine Ohren fühlten sich plötzlich unerträglich heiß an. Glücklicherweise konnte man in der Dämmerung nicht mehr so gut sehen. Frech kommt weiter, dachte er und legte nach: "Ich habe mich schon seit der fünften Klasse im Bio-Unterricht intensiv für das Fortpflanzungsverhalten von Feldhasen und Karnickeln interessiert – wie wäre es mit einer kostenlosen Führung morgen oder übermorgen?" "Und das Gerichtsverfahren?" antwortete sie mit leiser Stimme. "Wichtigere Dinge haben Vorrang", entgegnete er leichthin und der Blick, den beide daraufhin wechselten, schien eine Ewigkeit zu dauern...
Ramona Bhandal
Ostkreuz
Es ist ein Kreuz - mitten im Osten
Zwischen gestern und heute – in’s Morgen hinaus
Verbindet stählern mit Ringbahn und "Posten"
Fern- und Heimweh – tagein – tagaus
"Rostkreuz" – schnaufen Eckenbrücken
überdacht im Säulenwald
Baudenkmalerisch entzücken
Klinkernbögen, hundertalt
Cornelius – Wasserturm – Du lichter
an Stralau – Rummelsburger Bucht
bist Wahrzeichen und kennst Geschichten
nach denen man noch heute sucht...
Von Seenpracht – sagenumwoben
vom "Nixenkai" und Fischzugsfest
Liebesinsel, Segelbooten
einst Fischerdorf – jetzt Ausflugsnest
Am "Paul und Paula" – Ufer stehen
an der Insel, stiefelgleich
maritime Winde wehen
wie im schönsten Urlaubsreich
Breite Stege – helle Bauten –
Cafe’s, Gärten, Stück um Stück
wo man einst Handwerksleute schaute
und der Kaufleut’ Lebensglück...
Lichtenberg – an Deinen Pfaden
am geschützten Biotop
gingen Waisenkinder baden
in der Zeit der Kriegesnot
Heut steh ich träumend auf der Brücke
der Fernsehturm – zum Greifen nah
es ist ein Katzensprung bis Mitte
und Zukunft weht mir durch das Haar
Ostbahnhof und Friedrichstraße
Metropole schreit nach Welt
Panoramabahn mit Klasse
Ostkreuz – Ring – die Weichen stellt
Noch kurz im Bauerhof zu Gaste
"gebrettert" – lang am Waldessaum
Wuhlheide – am Kinderpalaste
Ostkreuz – Erkner – Freizeitraum
Treptower, Twins – und schon am Hafen
— der Park säumt blumig’ Wanderweg
zum "Zenner" Volksfeststimmung erhaschen
oder verliebt zum Schwanensteg
So geh ich heim – durch Deinen Kiez
ein Spiegel – wandelbar wie Du
vieles verschwand, entstand mit Witz
und Kompromissen – schnell gesucht...
Ist Heim geworden, Friedrichshain
Nur eine Brücke weit von Dir
Projekte, Zirkel und Vereine
Leisten gute Arbeit hier
Im "Rudiladen" – Kiezzentrale
sinnt man ernst um Dein Geschick
mitgestalten – allemale
Zukunft ist ein Meisterstück
"Rostkreuz", Du machst so viel Geschichte(n)
Berlinern bist Du vieles wert
Dein Antlitz wieder aufzurichten
auf das man "neue Linien" fährt
Bald werden Brücken fest im Glanze
neuer Gastlichkeit erstrahlen
Empfangsgebäude, noch im Schlafe
Ost – Kreuzer gar wohl verwahren...
Starke Linien durch die Zeiten
auf allen Wegen – wünsch’ ich Dir
um die Zukunft zu beschreiten
starte durch, nicht unsaniert...
Thomas Rehaag
Kreuz 2020
Wenn er vor zwanzig Jahren von Zweifeln geplagt wurde, wuchs heute seine Welt in die Eindeutigkeit. — Jetzt war er einverstanden.
Ivan wuchtete seine 120 Kilo die Treppe hinunter. Der Abend lockte ihn aus seiner Wohnung auf der Halbinsel Stralau. Und das Kreuz.
Die Häuser hatten inzwischen einen weißen Anstrich erhalten, der unten blau abgesetzt war. Auf den Dächern befanden sich viereckige Lichtinstallationen, nachts bunt leuchtend. Einige blinkten in Intervallen.
Ivans Wohnung glich einem eklektischen Trödelladen. Er war nicht in der Lage, sich von den liebgewordenen Dingen zu trennen. Alte Lampen, seine Lieblingspuppe, alte Bücher, Gläser in den unterschiedlichsten Formen und Farben, Häkeldeckchen — sehr alt, zuletzt ein brauner Teddybär. Bevor er einschlief, überwucherten seine Erinnerungen jede Nacht den modernen Schnitt der Wohnung. Sehnte er sich nach der Höhle?
Ivan trat vor die Tür. Schon fiel sie geräuschlos ins Schloss. Ängstlich vergewisserte er sich mittels eines Griffs in seine rechte Manteltasche seines Schlüssels. Beruhigt ging er seine gewohnte Richtung. Aus den Wohnungen fiel ein lebhaftes Grau. Die Straßen könnten Rehen zur Partnersuche dienen: Ruhe. Ivan stand am Wasser. Er wendete seinen Kopf zu den Häusern, versenkte seine Augen in das Lichterspiel da oben. Der Rummel der Kindheit erschien vor seinen müden Augen. Schnell wendete er sich dem Wasser zu und schüttelte kräftig seinen Kopf. Wurde er sentimental? Na und!
Die Häuser gegenüber ähnelten denen seines Ufers. Nur fehlten die Lichter auf den Dächern. Stattdessen, Ivan zur Freude, schmückten sich die Fassaden mit grün-blauen Kuben — das Licht nahm kein Ende. Selbst das Wasser wurde herabgesetzt zu einem Spiegel. Ivan ging nach links. Die Bucht beherbergte Bootshäuser. Sie bestanden zum großen Teil aus Glas. Innen sah er vereinzelt Bewohner an Tischen oder vor dem Fernseher sitzen. Sie wurden durch schwarze Vorhänge zerteilt. Ivan bewegte sich wie eine Dampflokomotive schnaufend vorwärts. Er holte aus der Manteltasche eine Tüte Erdnüsse und riss sie gierig mit den Zähnen auf. Er steckte sich zwei Hände voll in den Mund und versenkte die Tüte wieder in die Tasche. Die Bucht machte einen Bogen. Früher lag hier die "Käthe". Ivan vermisste das Gebell der vier alten Hunde. War der Besitzer gestorben? Oder war dieser eingefleischte Eremit ins Irrenhaus gekommen? Ivan überkam eine Trauer. Die Hunde fraßen gerne abgepacktes Fertighühnchen. Die Knochen blieben nie übrig. Ivan sah auf das Wasser. Hier hatten die Hausboote eine Lücke gelassen. Ivan rückte sich seine starke Brille zurecht. Er schaute zum Himmel. Er wurde von einem rot-weißen Schleier überzogen. Hinter Ivan lag das Kreuz. Er sah auf das Wasser. Es sammelte sich in ihm, aber er konnte nicht singen, sonst sänge er es heraus. Er bewegte langsam die Lippen. Ein Gedicht:
Der Eremit muss jetzt wohl in der Kälte sein.
Badet ihn ein Wasser? Badet ihn ein Wahn?
Meine Augen streicheln das glänzende Wasser,
der Spiegel der Lichter der Stadt, ratlos ist,
zu dem der Zweifel kommt. Und die Hunde des Neids.
Über mir verhüllt der Himmel seine blaue Farbe,
der Schleier des Kreuzes ist ein ratlos Schimmern.
Nach Mitternacht wälze ich mich durch meinen Traum,
und das Kreuz liegt hinter mir und der Himmel zeigt
sein wahres Blau.
Badet ihn ein Wasser? Badet ihn ein Wahn?
Meine Tränen laufen von mir weg, mein Körper ist ein
schweres Fleisch, das von der Trauer angefallen wird,
durch die Lücke kommt kein morsches Boot zurück.
Überkommt mich eine Furcht? Was nähert sich von vorn?
Ich hab mit meinem Bruder nie die Worte gewechselt,
unsere Blicke hingen im Vorbeigehen aneinander,
auch die Hunde trollten sich in die Ecken des Rosts.
Nun ist es zu spät für eine Bekanntschaft, durch die
Lücke dringt das Licht des Mondes und das Gebell und
das Gesicht, Bruder, fällt in den Fluss.
Ivan wischte sich die Tränen mit der rechten Hand vom Gesicht und ging weiter. Die Tüte Erdnüsse hatte sich geleert. Er ging zum Gelände des alten Glaswerks. Hier erinnert nichts mehr an die alten Zeiten. Die Dunkelheit umhüllte eine weite Wiese, die von geraden Kieswegen durchmessen wurde. Ein Hundeauslaufgebiet. Auf den Wegen standen Behälter für den Hundekot. Eigentlich sollte hier ein Abenteuerspielplatz entstehen, aber die Kinder spielten nicht mehr in der Öffentlichkeit. Die Computer fraßen Menschen. Ivan bekam Hunger. Er sah auf seine Taschenuhr. Er öffnete seinen Mund ein wenig. Keiner konnte jedoch seinen etwas ratlosen Gesichtsausdruck sehen, fast so wie ein Provinzler, der vor einem Fahrkartenautomaten in der Stadt steht. Vielleicht war er noch ein Provinzler! Ein übrig Gebliebener.
Ivan beschloss zum Bahnhof Ostkreuz zu gehen. Dort gab es McDonalds. Ivan lief das Wasser im Mund zusammen. Er beschleunigte seinen Schritt. Wieder griff er in seine Taschen. Auch seine Hosentaschen krempelte er um. Zwanzig Euro! Der Abend war gerettet! Die Straße stieg leicht an. Ivan schnaufte. Vor ihm wuchs der Bahnhof aus der Straße. Er war durchsichtig wie die gläserne Fabrik in Dresden. Ivan blendete das blau-weiße Neonlicht der Bahnsteige. Hier sparten sie wirklich an nichts. Ivan setzte seine Sonnenbrille auf. Würde er fliegen können, sähe er sich alles auch von oben an. Oben erstreckten sich hellrote Lichtschlangen über dem Bahnhofsglas. Was gäbe das für ein Bild? Der Autoverkehr nahm zu. Früher musste er auf die Autos Rücksicht nehmen. Gefahren lauerten auf ihn. Vorbei! Sie hatten einen Fußgängertunnel bauen lassen. Fahrstühle befanden sich an den Seiten des Eingangs. Sollte Ivan sie benutzen? Seine rechte Hand wanderte zum Rufknopf. Jäh zog er sie wieder zurück. Er bewegte sich die Treppe hinab. Leute mit Reisetaschen begegneten ihm, in den freien Händen Zeitungen oder Hot Dogs. Kinder hatten Eis in beiden Händen. Ivan erreichte den Eingang des Bahnhofs. Automatisch öffnete sich die Tür. Ivan betrat zögernd die Bahnhofshalle. Das Übliche: Verschiedene Läden, ein Spätkauf, in der Mitte vier Kübel mit Palmen, darum Marmorbänke. Ivan musste noch eine Treppe bezwingen und stand vor der McDonalds-Filiale. Diesmal musste er die Türflügel selber aufstoßen. Er ließ sich von der lächelnden Bedienung zwei Whopper einpacken, traditionell. Natürlich gingen sie mit der Zeit! Es gab auch vegane Varianten. Aber Ivan aß gerne Rindfleisch. Er verstaute die Packungen in einem Plastebeutel, der reklameneutral war. Ivan nahm die Sonnenbrille ab und schenkte der jungen Bedienung ein Lächeln. Doch sie wandte ihm nur noch ihr linkes Ohr zu. Der nächste Kunde trat heran. Ivan zuckte mit den Schultern. Er kam sich wie ein alter Lustmolch vor: Der Mund lächelte, aber die Augen blieben traurig in ihren Betten. Er straffte sein Gesicht und setzte die Sonnenbrille auf. Schnell verließ er den Ort seiner Niederlage. Die Halle erschallte von den Stimmen des Zugservice. Zwischendurch sanfte Musik. Private Sicherheitsdienste durchschritten gemächlich die Halle. Kein Penner weit und breit. Ivan atmete tief durch. Ihn störte die Nähe übel riechender Körper. Die Halle hatte sich geleert. Besser so! Ivan hatte alle anonyme Nähe nicht gerne. Seit den Babyjahren war er überwiegend sich selbst überlassen. Wieder versuchte er mit den Schultern zu zucken. Es gelang ihm nicht. Zuggeräusche. Ivan hatte die Möglichkeit, seinen Ort ohne Anstrengung zu wechseln. Er ließ sie Möglichkeit bleiben. Ivan verließ den Bahnhof. Er musste sich eine Bank suchen. Sein Mund sonderte Speichelfäden ab. Er wusste, dass sich die Sonntagstraße nur unbedeutend geändert hatte. Kein altes Haus war übrig geblieben. Er nahm widerwillig die Richtung. Egal! Der Abend musste vergehen!
Die Gegend um diese Straße bildete einen dunkleren Kontrast zum Bahnhof. Ivan tauchte in sie ein. Die Fassaden der Häuser waren rechts rot und links grün. Da öffnete sich auch ein kleiner Park. Ihn beleuchteten Gaslampen. Der Lärm der vielen Cafés und Kneipen drang zu Ivan. Ivan setzte sich auf die Bank und wickelte einen Whopper aus. Er genoss die Weiche zwischen seinen Zähnen und schloss die Augen. Eine Krähe schrie. Ivan erschrak. Der Vogel saß vor seinen Füßen. Ivan warf ihm ein Stück Fleisch zu. Die Krähe krächzte. Dann schlug sie den Schnabel in das Fleisch. Den zweiten Whopper hob sich Ivan für später auf. Junge Leute näherten sich lärmend. Er erhob sich. Hatte man draußen nirgends seine Ruhe! Er sah in die Sonntagstraße. Nur noch wenige Imbisse. Kein Döner mehr. Man war zur Hausmannskost zurückgekehrt. Ivan hätte sich hier auch Blutwurst mit Sauerkraut und Kartoffeln genehmigen können. Er war satt! Es gab ein Kellerkino für wenige Personen. Alte Filme liebte Ivan. Er blieb vor dem Kino stehen und studierte die Vorschau. Er erkannte die Schrift schwer. Kein Wunder. Er hatte vergessen, die Sonnenbrille abzunehmen. Er wechselte die Brillen. Leute hatten ihn schon ängstlich angesehen. Heute zeigten sie einen Film mit den Marx Brothers. Der Platz um ihn wurde voller. Junge Leute und Leute in den mittleren Jahren. Sie strahlten vor Lebendigkeit. Ivan begann sich unwohl zu fühlen. Gelächter. Sie sahen nach viel Geld aus. Alle Laternen in der Straße waren intakt, im Gegensatz zu früher. Das passte zusammen. Ivan ging zu seiner Insel. Er dachte an die Krähe. Er nickte weise. Wo war ihr Schwarm? Er ging nochmals zu der Bank. Aus den Bäumen krächzte es. Ivan brach die zweite Whopperpackung auf und legte ein großes Stück Brötchen mit Fleisch vor die Bank. Dann verschlang er den restlichen Whopper und ging ohne sich umzusehen. Warum hatte er dies getan? Aus Trotz? Er machte einen großen Bogen um den Bahnhof. Sein Licht ließ ihn nicht los. Sicher ging er seinen Weg. Hoffentlich begegnete ihm keiner. Er wollte nicht noch eine gute Tat vollbringen. Es reichte. Er betrat die Hundewiese. Der Vollmond schien. Einzelne Hunde bellten und die Frauchen und Herrchen rauchten und wedelten mit den Leinen. Er gehörte nicht zu ihnen, aber durch sie lebte er. Er war auf ihnen gewachsen. Er lachte laut los. "Bin ich ein Monstrum oder eine Sumpfblüte?" Er hob seinen Kopf. "Antwortet mir!" Nur die Hunde bellten zu den Schreien ihrer Halter. Ivan schlug sich mit beiden Fäusten gegen die Stirn. Er stieß mit dem Bauch gegen Eisen. Er schrie auf. Er stand am Wasser. Die Boote lachten ihn mit ihrem Gelichter an. Er wendete sich ab. Er brauchte zum Schluss einen richtigen Ausblick. Links sah er sein Haus. Er hatte auf einmal viel Zeit. Er ging über die Wiese zu der großen Spreebrücke. Wieder ein schwerer Anstieg und er stand hoch über dem Wasser. Ivan japste nach Luft. Er öffnete alle Knöpfe seines Mantels. Seine Ellenbogen lagen auf dem kalten Brückengeländer. Hier war das Wasser eine schwarze Grube. Nur an den Rändern lagen einzelne Lampen auf der Oberfläche. Der Hafen war mit Ausflugsschiffen angefüllt. Weit vorne sah Ivan das rot beleuchtete Riesenrad des Themenparks. Seine Drehung machte ihn schwindeln. Er senkte seinen Kopf und sah auf das Wasser. Ruhe. Eine Hand legte sich auf seine rechte Schulter. Ivan erschrak diesmal nicht. Er hatte sie erwartet. Er richtete sich auf. Maria stand neben ihm.
"Maria!"
"Wie geht es dir, Ivan?"
"Maria! Du musst lange durch die Kälte gelaufen sein."
Ivan streichelte ihre alte schwarze Lederjacke, danach ihr langes, volles dunkles Haar.
"Es war ein langer Weg bis ich dich hier fand."
"Ich will nicht fragen, was wir hier machen", sagte Ivan. "Ich will nicht ratlos sein, Maria."
"Dann lass uns das Wasser betrachten."
Beide legen die Arme um ihre Schultern. Es hat "sich einiges verändert". Maria schweigt.
"Woher kommst du?"
Maria bleibt stumm.
"Ich frage wie ein Narr, weil ich meine Angst besiegen will."
Ivan schaut Maria von der Seite an. Sie dreht sich halb zu ihm. Ihre Augen treffen sich. Durch Ivan geht die Erleichterung wie eine Messerschneide. Maria wendet den Blick in das Wasser. "Ich gehe jetzt, Ivan."
Maria geht langsam von der Brücke. Während sie geht, blickt sie Ivan in die Augen. Sie hat dabei ein starres Gesicht. Ivan streckt beide Arme nach ihr aus. Er umarmt die Luft. Maria verschwindet lächelnd. Ivan wird kalt. Er knöpft seinen Mantel zu. Die Dinge würden noch eindeutiger werden. Er wurde alt. Er ging von der Brücke, ohne Hoffnung, Maria einmal wieder zu sehen. Er verfolgte sie. Sie blieb verschwunden. Jetzt hatten die Zeiger seiner Uhr die Mitternachtsstunde erreicht. Ivan ging an den Schiffen im Hafen vorbei. Hier öffnete die Nacht ihren Mantel. Nur wenige Laternen brannten. Ivan hatte keine Angst. Der Wind verstärkte sich. Ivan senkte seinen Kopf. Sollte er ihm das Gesicht peitschen! Er hob ihm den Kopf entgegen. Er setzte sich auf eine halbzerfallene Bank in der Nähe des Ufers und rollte sich in seinen Mantel. Bis hierhin reichte das Licht des Kreuzes nicht. Er sah die Sterne. Er dachte an Maria. Sein Herz verkrampfte sich. Er holte tief Luft. Maria! Er vermisste sie. Er liebte sie nur in der Abwesenheit.
Der Wind legte sich. Ivan wird hier sitzen bleiben. Sein Hunger war mit Maria verschwunden. Die Nacht schloss seinen Abend. Müde sah er zum Riesenrad. Das Licht war erloschen. Ivan summte vor sich hin. Langsam kam die Angst zurück. Er hörte auf zu summen. Er blieb voller Töne. Legte sich da eine Hand auf seine Schulter? Ivan sah sich um. Nichts! Gab es für ihn noch einen Morgen? Keine Antwort. Ivan sandte ein letztes Gedicht in den Fluss. Er nannte es Kreuz 2020:
Kreuz 2020
Maria ist durch die kühlen Landschaften gegangen
in das Kreuz des Nordens.
Ihre Rast bei mir war weniger als ein Kuss.
Nur die Augen versuchten mich zu streicheln
über das stille Wasser hinweg; erstarrtes Gesicht
des Mitleids in der ersten Hälfte der Nacht.
Meine Fragen waren die Rückkehr des Zweifels,
gegossen aus einem Meer der Angst — ich suchte
die Ruhe in der Antwort Marias, ich Narr, konnte
doch die Eindeutigkeit nur in mir liegen.
Ihr Blick in meinem ahnte schon den Abschied
und der Narr verschwand mit ihr in der Dunkelheit.
— Hier rauscht ein stilles Fließen und die Sterne
fallen in den Fluss. Ihr Licht, das täuscht.
Nicht dieser Kuss ist ihr Licht und meine Augen
wollen das eine Dunkel finden in den Zwischenräumen,
da weint der Harlekin und geht.
Nur das Wasser hält mir seinen Spiegel hin und bleibt.
Maria ging in die kühlen Lande, zum Kreuz des Nordens,
in die Kälte des Pols.
Gehe ich nach Ost? Gehe ich nach West? Gehe ich nach Nord?
Gehe ich nach Süd?
Gleich bleibt sich alles in mir und ich nehme die eine
Liebe in mein schweres Fleisch, so taub wie der Stein,
geißel mich zu Viereckkanten,
wissend mein Scheitern.
Ilse Treue
Blicke aus einem Haus, das erst gebaut wird
In der sechsten Etage eines Neubaublockes sitze ich auf meinem Balkon und schaue auf den Lenbachplatz. Mit Sträuchern und blühenden Blumen sowie einem Springbrunnen und einer Märchenfigur am Brunnenrand ist er geschmackvoll gestaltet. Die geschwungenen, schmalen Wege fügen sich harmonisch in die Anlage ein. Unter Schatten spendenden Bäumen findet der Spaziergänger auf Parkbänken Platz zum Ausruhen. Es ist die Zeit des Berufsverkehrs. In kurzen Abständen passieren die S-Bahnzüge den Bahnhof Ostkreuz, der seit seinem Umbau nicht wieder zu erkennen ist. Das umständliche Wechseln von einer Fahrtrichtung zur anderen und das beschwerliche Treppauf–Treppab gehören der Vergangenheit an. Jetzt sind die Bahnsteige übersichtlich angeordnet und bequem mit dem Aufzug oder über Rolltreppen zu erreichen.
Dort, wo einst die Max-Kreuziger-Oberschule stand, erhebt sich ein nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen erbautes Forschungsinstitut. Es gibt 300 Menschen Lohn und Brot. Die zahlreichen kleinen und mittleren Unternehmen konnten sich, wie überall in der Stadt, wirtschaftlich stabilisieren und ebenfalls neue Arbeitsplätze schaffen. Und so bewegen sich Ströme von Menschen aus den Betrieben über den Bahnhof Ostkreuz heimwärts. Einige steigen um oder verlassen den Bahnhof. Andere streben ihm entgegen. Es ist ein quirliges Hin und Her, das ich täglich zur Feierabendzeit von meinem Balkon aus beobachte.
Es wohnt sich gut am Lenbachplatz. Von hier bis zur Modersohnbrücke stehen beiderseits der Revaler Straße neu erbaute Häuserblöcke mit großzügig angelegten grünen Höfen, in denen die Kinder gefahrlos spielen können. Kleine Cafés, Bistros und Kneipen laden zum Verweilen ein. In wenigen Minuten ist die Schule an der Modersohnbrücke zu erreichen. Nach der kürzlich erfolgten Modernisierung wurde der alte Baumbestand des Schulhofes durch frisches Grün ergänzt. In der Seumestraße begeht die gut besuchte Kinderbibliothek ihr 20jähriges Bestehen. Unweit davon verläuft die kurze Helmerdingstraße, die, wenn sie reden könnte, von einer bewegten Geschichte erzählen würde. Zuletzt war sie eine Brache, bevor hier ein großes Gesundheitszentrum entstand, das weit über die Bezirksgrenzen hinaus genutzt wird.
Die ursprünglich geplante Stadtautobahn wurde nicht gebaut. Dafür wurden die Gelder in den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs investiert. Straßenbahnen und Busse fahren zur Freude der Fahrgäste in dichten Abständen, was einer Hauptstadt gut zu Gesicht steht. Durch die überall angelegten Radfahrwege steigen vor allem viele jüngere Leute aufs Fahrrad um.
Während meine Gedanken spazieren gehen, schaue ich vom Balkon in die Runde. Von hier oben habe ich einen phantastischen Ausblick, der in westlicher Richtung bis weit über den Fernsehturm hinaus geht. Blicke ich nach Osten, so erkenne ich bei klarem Wetter den Müggelturm. Im Süden verläuft hinter den S-Bahngleisen und dem Stralauer Kiez das blaue Band der Spree, auf der Fracht- und Fahrgastschiffe ruhig ihre Bahnen ziehen. Fast am Horizont im Südwesten erblicke ich manchmal den Kreuzberg. Am schönsten ist es abends, wenn der Tageslärm abebbt und die Stadt im Lichterglanz erstrahlt, wenn sich der Himmel über mir wölbt und wenn mir die Sterne zublinzeln. Entrückt glaube ich, im Märchenland zu sein.
Eine plötzlich quietschende Straßenbahn holt mich abrupt in die Wirklichkeit zurück. Nein, wir sind noch lange nicht im Jahr 2020 angekommen, wir schreiben erst das Jahr 2003. Das Ostkreuz ist noch ein Rostkreuz mit vielen Treppen. Ich wohne auch nicht in der sechsten Etage eines Neubaublockes, sondern in meiner Parterrewohnung ohne Balkon, von der aus ich immer nur kleine Ausschnitte des Himmels sehen kann. Aus dem weit geöffneten Fenster schauend, warf ich unverbesserlicher Optimist einen sehnsuchtsvollen Blick in eine ungewisse Zukunft. Man wird doch mal träumen dürfen.
Thorsten Schmidt-Kapfenburg
Berlin — Bahnhof Ostkreuz 2020
Der Himmel über Berlin war eine graue diffuse Masse, als er an diesem Novembernachmittag 2020 gegen 17.30 Uhr am Bahnhof Ostkreuz ankam.
Das störte ihn jedoch in keiner Weise, sah er darin doch eher eine willkommene Übereinstimmung und Korrespondenz mit seinem inneren Zustand. Die Meteorologie hatte heute nur wenige Stunden dazu gebraucht, den Himmel so diffus werden zu lassen, wie er jetzt war. Für ihn hingegen waren an die zwanzig Jahre vonnöten gewesen, bis sein Leben diesen Zustand des Diffusen erreicht hatte, welcher sich nun in ganz natürlicher Eintracht mit den klimatischen Verhältnissen dieser Stadt zu verhalten schien.
Dennoch erschien ihm Berlin immer noch ein wenig trostloser, immer noch ein wenig abweisender als andere Städte im November, und derer hatte er wahrlich einige gesehen, seit er vor neunzehn Jahren Berlin verlassen hatte, um seine Laufbahn im Rest der Welt fortzusetzen. Damals, im Jahr 2001 (er erinnerte sich, dass es ebenfalls Ende November gewesen war) war er von hier aus aufgebrochen, um eine Kapellmeisterposition an der Oper in Zürich anzutreten. Dort jedoch war er nicht lange geblieben.
Die kulturpolitischen Querelen, deretwegen er aus Berlin geflüchtet war, hatten in kürzester Zeit auch Zürich eingeholt, welches bis dahin als kulturell krisensicher gegolten hatte. Er hatte sich damals zu fühlen begonnen, als flöhe er vor einem wilden, blutrünstigen Tier, das ihn unaufhörlich verfolgte, nicht nur in seinen Träumen, sondern ganz real und das ihm sein Leben mit fortschreitender Zeit unerträglich machte. Anfangs nur in ideeller Hinsicht, später zunehmend existenziell. Er war ein sehr sensibler Mensch, reaktionär und konservativ im besten Sinne des Wortes. Das gestand er sich ein. Im Sinne nämlich von: das Gute, Altbewährte erhalten zu wollen, und er glaubte an seine Kunst und daran, dass sie die Kraft habe, Menschen zu verändern und Umstände zu verbessern, wenn sie nur aufrichtig war. Die Politik hingegen schien daran weniger zu glauben und die hiesige Kulturpolitik offensichtlich schon gar nicht. Da regierte ausschließlich das Geld - und davon war angeblich immer weniger vorhanden gewesen. Sagte man... Seine Flucht vor jenem Tier, das er den »Rotstift der Kulturpolitik« nannte, hetzte ihn nach kurzer Zeit von Zürich nach Stuttgart, weiter nach München und über Mailand und Wien nach London. Zuletzt sogar für drei Jahre nach New York. Jetzt, neunzehn Jahre später, war er wieder dorthin zurückgekehrt, von wo aus er Ende November 2001 aufgebrochen war.
Er erinnerte sich daran, wie er sich während seiner Zeit in Berlin in den morbiden Charme des Bahnhofs Ostkreuz verliebt hatte, und er empfand diesen Ausdruck ganz und gar nicht als zu hochgegriffen. Es hatte ihn an den Charme einer verwelkten Schönheit erinnert, von der er überzeugt war, dass sie viel Wissenswertes mitzuteilen gehabt hätte, hätte man sie nur eindringlich genug nach ihren Geschichten befragt. Er hatte sich damals lebhaft vorstellen können, tage- und nächtelang den Geschichten und Erlebnissen dieser morbiden Schönen zu lauschen, sich ihren Worten hinzugeben, um in ihnen zu versinken... der vielfältigen Geschichte des Ostkreuzes. Was er aber heute hier zu Gesicht bekam, hatte mit der verlebten Schönheit von einst wahrlich nur noch sehr wenig gemeinsam.
"Die Alte hat sich ganz schön aufgemotzt..." kam es ihm in den Sinn, "... wie eine Hure, die den Weg aus der Gosse herausgefunden hatte. Und die sich nun an den Hals irgendeines vermögenden Freiers gehängt hatte, der ihr ein Leben in Prunk und maßlosem Luxus ermöglichte."
Er nahm sich Zeit, alles um ihn herum eingehend zu betrachten. "Es war Geld da!" staunte er. "Es war immer vorhanden gewesen!! Es steckte nur immer in den anderen Töpfen ... H!" So setzte er, durchaus beeindruckt, seine Gedanken fort. Er war heute, an einem tristen Novembernachmittag 2020 gegen 17.30 Uhr hier am Bahnhof Ostkreuz angekommen, um seine langjährige Flucht vor jenem Tier, das ihm im Laufe der Zeit dichter und dichter auf die Fersen gerückt war, nun endgültig zu beenden. Es hatte ihn beinahe eingeholt und ihm war, als könnte er bereits seinen heißen, fauligen Atem im Nacken spüren.
"Es war Geld vorhanden gewesen..." sinnierte er wieder. Dieser Gedanke ließ ihn nicht los. Die Stadt Berlin war ganz offensichtlich nie so wenig flüssig gewesen, wie sie seit jeher zu sein vorgegeben hatte. Das ließ sich nicht leugnen angesichts dessen, was sich ihm hier präsentierte. Selbst an einem so trostlosen Nachmittag im November ließ sich dies nicht verhehlen. Die Fortbewegung mit den öffentlichen Schienenfahrzeugen der BVG, das Bahn Fahren, das Umsteigen, das von A nach B Gelangen, war hier scheinbar nur Nebensache geworden. Eine Randerscheinung sozusagen. Zwar war dies hier unbestreitbar ein Umsteigebahnhof geblieben - und was für einer! - und doch schien es ihm, als befände er sich in einem multifunktionalen Erlebniszentrum. Kein Vergleich zu dem, was ihm schon vor zwanzig Jahren aufgefallen war, als er noch ein Auto und seinen Führerschein besessen hatte und ihn auf bundesdeutschen Tankstellen jedes Mal beim Tanken das Gefühl beschlichen hatte, dass der Verkauf von Kraftstoff nicht unbedingt vorrangig gewesen war. Tankstellen (es gab davon nur noch sehr wenige, da die meisten Fahrzeuge inzwischen mit Solarspeicherenergie angetrieben wurden) waren schon damals zu besseren Supermärkten mutiert, in denen man neben allem Erdenklichen eben auch Kraftstoff erwerben konnte. Selten jedoch leider im Angebot oder gar zum Schnäppchenpreis. Ein unmerkliches Lächeln huschte über sein Gesicht; es war ein sehr seltener Gast in seinen Zügen geworden.
Berlin - Bahnhof Ostkreuz: ein multifunktionales Erlebniszentrum. Der Ausdruck gefiel ihm. Hier gab es kaum etwas, was es nicht gab. Versorgungs- und Einkaufstechnisch war hier an alles gedacht worden. Aber das war es nicht, was ihn vor allem faszinierte, damit hatte er ohnehin gerechnet. (Waren doch die Bahnhöfe Friedrichstraße und Alexanderplatz schon seit langem derart ausgestattet und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, wann sich dieser Luxus auf die weiteren Bahnhöfe in Richtung Osten würde ausgedehnt haben, die diesbezüglich jene im Westteil der Stadt längst in den Schatten gestellt hatten.)
Er erinnerte sich daran, wie er vor vielen Jahren einmal über die drei- bis vierstöckigen Autobahnkreuze mitten in Shanghai gestaunt hatte. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was er hier an Futuristischem vor sich sah. Eine gigantische Pyramide aus Glas, Stahl und Marmor (Oder war es nur marmorierter Beton? Das ließ sich nicht eindeutig ausmachen...) erhob sich über den gesamten Bahnhof, unter der die Züge nahezu lautlos und in vier Etagen dahin glitten. Dabei war ihm von Anfang an diese ungewöhnliche Stille aufgefallen und hatte ihn äußerst angenehm berührt. Keine unnötige Musik, die aus verborgenen Lautsprechern quoll; die notwendigen Ansagen erfolgten äußerst gedämpft, aber dennoch verständlich oder wurden zuweilen auf dem größten der acht gigantischen Monitore angezeigt, die in die Wände der Pyramide eingelassen worden waren. Selbst die ein- und abfahrenden Züge bewegten sich mit der Lautlosigkeit von Nattern in diesem Bahnhof. Er verbuchte dies als sehr positiv: Konnte er sich doch schon von jeher maßlos darüber echauffieren, dass sich das Thema Umweltverschmutzung niemals auf die akustische Verunreinigung der Welt bezog. Für eine achtlos weggeworfene Zigarettenkippe konnte man belangt werden. Wie viel häufiger jedoch wurde akustische Umweltverschmutzung toleriert, einfach als gegeben und unveränderlich hingenommen. All diese unnötigen aufdringlichen Klänge, die achtlos verursacht sich unaufgefordert den Weg in unser Innenohr bahnen.
Sein Gehör war in den vergangenen Jahren immer sensibler geworden, seine Nerven entsprechend schwächer und seine Toleranzgrenze diesbezüglich sogar fast gegen Null gesunken. Und nun hier diese unerwartete Stille - trotz des betriebsamen Lebens, das hier herrschte. Sollten die Menschen in der Hauptstadt wider Erwarten sensibler geworden sein? Schwer zu glauben...
Und doch: So ganz hundertprozentig perfekt war diese Stille nicht. Da drang noch etwas ganz Dezentes an sein Ohr, als schliche sich etwas kaum Wahrnehmbares, jedoch äußerst Wohltuendes durch seine Gehörgänge, um sein Unterbewusstsein zu umschmeicheln. Überall im Boden waren künstliche Rinnsale unter Glas eingelassen, die abwechselnd in unterschiedliche Farben getaucht wurden. Diese wurden gesäumt von unzähligen kleinen Sockeln, auf denen unzählige kleine Brunnen standen, die unaufhörlich, aber durch irgendetwas gedämpft, was er nicht herauszufinden imstande war, vor sich hinplätscherten.
Er erinnerte sich an jene Esoterikkreise, aus denen einst dieser Trend zu Zimmer-und Tischbrunnen entsprungen war. Er hatte sie immer als furchtbar kitschig empfunden, aber offenbar hatten sie ihren Siegeszug getan und übten ihre wohlige Wirkung nun nicht mehr nur in Arztpraxen und Anwaltskanzleien aus, sondern auch auf Massenverkehrsknotenpunkten wie diesem. "Verkehrte Welt", dachte er, "man lindert die Symptome, ohne das Übel an der Wurzel zu packen". Trotz dieser Einsicht konnte er sich der angenehm wohltuenden Wirkung dieser zahlreichen Miniaturfontänen nicht entziehen, und die Frage nach des Übels Wurzel kümmerte ihn eigentlich auch nicht mehr im Geringsten, seit er seinen Beschluss gefasst hatte und nun so kurz vor dessen Durchführung stand.
So stand er weiterhin sinnierend staunend und examinierte seine Umgebung mit taxierenden Blicken. Dabei schweifte sein Blick über ellenlange Fließbänder, die von Zeit zu Zeit in herkömmliche Rolltreppen übergingen (er selbst musste über ein solches Rollband hierher gelangt sein, hatte es wahrscheinlich nur nicht wahrgenommen, als er von der Majestät der alles überdachenden Pyramide gefesselt war). Auf diese Weise wurden die Passanten in die jeweiligen Etagen zu den Bahnsteigen befördert. Das Bild, das sich ihm hier bot, ließ ihn unweigerlich an die paradoxen Treppenräume des M. C. Escher denken. Überwältigend war diese Komposition aus Glas, Stahl und Marmor.
Inzwischen war es 18.14 Uhr geworden. Es wurde langsam Zeit für ihn. Er musste sich zwingen, seinen bewundernd schweifenden Blick wieder auf sich selbst zu richten - seinem Vorhaben entgegen. Er setzte sich in Gang, bewegte sich gemächlich zum Bahnsteig 4 und blieb an dessen äußersten Anfang stehen. Dort, wo die S3 Richtung Erkner, deren Lichter er bereits im schwachen Nebel erkennen konnte, noch ihre höchste Geschwindigkeit haben würde während sie einfuhr. 18.15 Uhr — jetzt befand er sich auf der Zielgeraden. Bald würde seine Flucht beendet sein. Lautlos näherten sich ihm die gleißenden Augen des Tieres, dem er sich in den Rachen werfen würde.
In dem Augenblick als der Zug einfuhr, wurde ihm klar, dass er einige Schritte zurück in die Richtung gehen musste, aus der er gekommen war, um in den letzten Wagen einsteigen zu können.
Und noch etwas war ihm in diesem Moment bewusst geworden: er hatte das Tier besiegt. Es hatte nun keine Macht mehr über ihn. Und die marode Schöne von einst war tot. Das genügt! Sie hätte ihm nichts mehr von Belang erzählen können. Der Wagen war voll - Feierabendverkehr. Deshalb blieb er direkt an einer der Türen stehen und mit Abfahrt des Zuges ließ er sowohl das Tier als auch sein diffuses Leben hinter sich.
"Man muss weiterkämpfen, weiterkämpfen bis zum Umfallen, auch wenn die ganze Welt den Arsch offen hat... oder grad deswegen!" Er erinnerte sich gut an jene Worte aus seiner Jugendzeit. Konstantin Wecker war kein Berliner gewesen und sie waren gut 40 Jahre alt... und dennoch so wahr wie nie zuvor. Jedenfalls für ihn. Jedenfalls jetzt!
Die S3 setzte ihre Fahrt in Richtung Erkner fort. Er fuhr nach Hause - in sein neues Leben, während erste Regentropfen auf die Pyramide fielen und das Licht in seine Spektralfarben brachen.
Inka Engmann
Haupthafen Ostkreuz
Nach langem, langem Schlaf erwachte die Spree und blickte auf die Zeit. "2020 schon? Ich wollte doch 2000 schon aufstehen!" murmelte sie. Sie dehnte und reckte sich, richtete sich auf und betrachtete ihren Körper.
"Nanu, ich bin ja ganz braun vor Dreck! Und die Fische sind auch alle weg!" rief sie empört und sprang aus ihrem Bett, das heißt, sie blieb noch darin stehen und bildete eine Wassersäule bis in den Himmel. Verwundert schaute sie über Berlin. Die alten Häuserreihen fand sie freundlich und gemütlich, aber dazwischen erhoben sich kalte, sterile Türme aus Glas und Beton, die konnte sie gar nicht leiden. Noch weniger gefielen ihr die zahllosen grauen Asphaltbänder, welche die ganze Stadt durchzogen und mit vielen kleinen Stinkerwespen überfüllt waren. Sie wurde immer wütender und beschloss die ganze Stadt zu überfluten. Doch da gewahrte sie den alten roten Wasserturm am Ostkreuz und hielt inne.
"Dich kenne ich, von dir habe ich geträumt!" sagte sie
"Endlich mal wieder was los hier!", freute sich der Turm, "ich sterbe seit zehn Jahren an Langeweile!"
"Warum, du kannst doch über ganz Friedrichshain gucken!" sprach die Spree.
"Das kenne ich doch in- und auswendig!" seufzte der Turm. "Vor 10 Jahren war es noch lustig hier, da gab es noch das Ostkreuz, wo jeden Tag viele, viele bunte Menschen in die S-Bahnen ein- und aus- und umgestiegen sind. Aber die BVG hat die Fahrkartenpreise dermaßen überteuert, dass irgendwann kein Mensch mehr S-Bahn fahren wollte, und so wurde der gesamte Verkehr im Jahr 2010 eingestellt. Jetzt verfällt hier alles und mir ist langweilig."
"Ja, die Leute fahren nur noch mit diesen kleinen Stinkerwespen herum und verpesten die ganze Stadt!" schimpfte die Spree. "Deswegen überflute ich jetzt alles, nur dich lasse ich stehen!"
"Ich habe aber noch Freunde hier!" rief der Turm. "Die gemütlichen Altbauten erzählen so viele Geschichten, ich will nicht, dass sie sterben!"
"Hmmm ..." machte die Spree. Und nun beratschlagte sie mit dem alten Wasserturm, was sie tun könnten, und ihnen kam eine grandiose Idee. Die Spree grub sich ein neues Bett durch die zahllosen grauen Asphaltbänder, welche die Stadt durchzogen und spülte die Stinkerwespen hinfort.
Daraufhin wurde die Stadt viel freundlicher und stank nicht mehr so sehr. Die Leute fuhren nur noch mit Tretbooten herum und das Wasser wurde von Jahr zu Jahr sauberer, sogar die Fische kehrten zurück. Das Ostkreuz bauten die Berliner zum Haupthafen um und der alte Wasserturm bekam ein großes Licht auf den Kopf und wurde Leuchtturm. Er hatte nie wieder Langeweile.
André Klein
Die Drehscheibe des Ostens
Erstes Kapitel
Randolf zog den Schlüssel und schaute in den blauen Morgenhimmel. Der herbstliche Wind pfiff durch seinen grauhaarigen Lorbeerkranz und ließ ihn an den kahlen Stellen fühlen, dass der Winter nicht mehr all zu fern sei.
"Guten Morgen, Herr Möcht!"
Als Randolf seinen Blick vom Himmel löste, war der freundliche Nachbar schon wieder weitergezogen.
Randolf schaute auf die Uhr.
Es war Viertel vor fünf.
Er konnte sich Zeit lassen, da er in der Neuen Bahnhofsstraße wohnte und von dort aus war es nur ein Katzensprung zum Ostkreuz.
Randolf wechselte an einer Ampel auf die andere Straßenseite über.
Der klirrende Himmel und ein feiner Hauch von Frost in der Luft erinnerten ihn an den Tag, an dem er zum ersten Mal diesen Weg gegangen war.
Es schien so lang her, vielleicht waren es zehn oder gar zwanzig Jahre.
Damals war nicht viel los in der kopfsteingepflasterten Neuen Bahnhofsstraße. Es war recht ruhig und trotz der damals noch in weiten Abständen vorbeirauschenden S-Bahnen konnte man ab und zu sogar einen Vogel hören.
Aber seit die kleine Grünfläche neben Randolfs Haus einem Parkplatz gewichen war, herrschte auf der Neuen Bahnhofstr. ein ewiges Durcheinander von Motorrollern und Autos, solange die S-Bahnen rollten.
Und das taten sie nun auch unter der Woche rund um die Uhr.
Es war das beliebteste Gesprächsthema unter den Nachbarn.
Immer wieder rieben sie sich an den unwiderruflichen Fahrplanerweiterungen auf, während Randolf bloß zuhörte oder ihnen riet, in eine andere Straße zu ziehen.
Randolf war die Zuggeräusche gewöhnt.
Es gab kaum einen Tag außer sonntags, an dem er nicht in seinem Zeitungsladen auf Steig D stand und den rastlosen Passagieren Lesestoff verkaufte.
Als Randolf durch den backsteinernen Bogen unter den Gleisen hindurch spazierte, erinnerte er sich an die Plakate, auf denen hier vor ungefähr einem Jahrzehnt die Totalsanierung des "Ostkreuz: Drehscheibe des Ostens" angekündigt wurde.
Während der Bauarbeiten wurde ein Bahnsteig nach dem anderen gesperrt und so kam es, dass auch Randolf Möcht zum ersten Mal für mehrere Monate am Stück seinen Zeitungsladen nicht mehr betrat.
Seiner Meinung nach war die Entschädigung, die er bekam, mehr als genug.
Andere Ladenbesitzer jedoch, wie der Obstverkäufer oder der Kartoffelfritteur, schlossen sich zusammen und planten noch während der Bauarbeiten Streiks für die Zeit nach der großen Neueröffnung.
Einige von ihnen sah Randolf nie wieder. Ihre Läden blieben, aber die Gesichter wechselten.
Randolf bewegte sich durch das leere Wartehäuschen hindurch und stoppte. Er überlegte, welchen Weg er nehmen würde.
Es war bloß gedankliche Routine und doch zugleich eine Art Ritual.
Randolf nahm an einem Tag nie denselben Weg zweimal.
Da sein Zeitungsladen in der Mitte von Steig D stand, blieben ihm zwei entfernungsgleiche Möglichkeiten.
Würde er die Treppenstufen der Überführung erklimmen, um zu seinem Laden zu kommen, oder an den immer bunten Neonschildern der Fastfoodallee vorbei über die Rolltreppe auf Gleis F gelangen, wo die Ringbahnen fuhren und immer noch wie vor zwanzig Jahren saisongerechte Kompositionen von Osterhasen oder Vogelscheuchen hinter Bauzaun auf Betrachter warteten.
An diesem Morgen fiel Randolfs Wahl auf die Überführung mit ihren riesigen Panoramafenstern und den drei zerbrechlich wirkenden Glaskuppeln, um die sich jeweils wie eine Krone elliptische Stahlformen schwangen und mit Glas überspannt wie riesige Libellenflügel in der kühlen Morgensonne glitzerten.
Randolf stützte sich mit einer Hand auf dem Stahlgeländer ab und stieg hinauf.
Es war die gleiche alte Betontreppe, die er schon seit zwanzig Jahren mit Füßen trat, bis auf die gelben Markierungsstreifen, an deren Stelle seit der großen Sanierung nun orange Lichtpunkte vorbeischnellten und den Fahrgast freundlich blinkend vor einem Tritt ins Leere warnten.
Oben angekommen hielt Randolf inne.
Er schaute durch ein großes Fenster und sah die S3 Richtung Erkner an dem grimmigen Pickelhaubenturm vorbeirauschen, der jedoch der gängigen Meinung nach durch seine bunt werbende Plakatierung viel von seinem rohen Charme einbüßte.
Aber Randolf sah den streng blickenden, namenlosen Wasserturm immer noch als stummen Zeitzeugen und Schutzpatron des alten Bahnhofs.
Ebenso wenig wie die unzähligen Plakate für Internetprovider und Slipeinlagen auf dem schiefergedeckten Dach seines Heims, störten ihn die Reihen von Flachbildschirmen, welche an den Wänden der Überführung mal für vegetarische Ernährung, mal gegen globale Misswirtschaft warben. Randolf wusste, dass die meisten Werbeplätze an wohltätige Vereine oder konkurrenzlose Unternehmen verschenkt wurden, damit - solange keine zahlenden Kunden die Flächen mieteten - wenigstens irgendetwas flimmerte. "Helfen Sie den Kindern im Kongo mit nur einem Euro", "Werbung macht Marken stark"
Jede halbe Stunde lief sogar eine dreiminütige Zusammenfassung der Nachrichten.
Randolf kannte die meisten Informationen zwar immer schon aus den Zeitungen und blieb nur selten vor den Schirmen stehen, aber als vor fünf Jahren der Eiffelturm live übertragen wurde, wie zuerst eine kleine Explosion an einem der vier Füße das skelettartige Gebäude erzittern ließ und dann die gesamte Konstruktion berstend ineinander krachte, war Randolf bei weitem nicht der Einzige, der mit offenem Mund innehielt.
Zweites Kapitel
Kim & Aya
Hinter den verkratzten Fenstern zogen die Lichter der Stadt vorbei.
Kim Stuckbein schaute auf die Laufschrift:
"Nächste Bahnhöfe: Ostkreuz, Treptower Park, Sonnenallee."
In der Hand hielt er sein Mobiltelefon und las noch einmal die SMS von Aya.
Sie hatte ihn eingeladen zu einer richtigen Szeneparty in Ostberlin, in einen Club, dessen Name sie ihm nicht mitgeteilt hatte. Treffpunkt Ostkreuz hieß es bloß.
Kim gähnte.
Er hatte Ayas Nachricht bekommen, als er nach stundenlanger Lektüre in Mexlers Einführung in die Kulturwissenschaft das schwere Buch endlich beiseite gelegt hatte, um ins Bett zu gehen.
Und nun saß er hier in der S 41 auf dem Weg zu einer Party in Ostberlin und opferte seinen Schlaf für dieses Mädchen, das er kaum kannte und doch nicht nah genug kennen lernen konnte.
Kim hatte Aya de Mismo das erste Mal in einem Seminar für Südostasienwissenschaften an der Humboldt-Universität gesehen.
Einmal hatte er sogar mit ihr und ein paar anderen einen Vortrag zu interkultureller Differenz vorbereitet und es war ihm dabei gelungen, eine seiner dreifarbigen Art-déco-Visitenkarten wie zufällig auf dem Tisch liegen zu lassen.
"Ist das deine?"
In Ayas Hand flatterte die Karte.
"Oh ja, das ist ja wirklich meine. Behalt sie doch einfach. Dann können wir uns vor Semesterende noch mal treffen und alles wiederholen."
Aber dann, noch vor der großen Abschlussprüfung war sie plötzlich verschwunden und alles, was ihm blieb, war die Erinnerung.
Aya. Aya de Mismo. Allein ihr Name duftete schon nach sonnigeren Breitengraden, über welchen das ganze Jahr lang ein milder Frühlingswind wehte, fern von grauen Häuserblocks in gefrorenen Planquadraten.
Ihre schwarzen, sauber verfilzten Zöpfe, die sie mit einem Batik-Band zusammenhielt, ihre langwimprigen Kastanienaugen und diese sprießenden Lippen, die cremigen Boten ihres unermüdlichen Lächelns.
Und sie, Aya de Mismo hatte ihm eine SMS geschickt.
Befriedigt steckte er sein Telefon in die Innentasche seines Mantels und starrte mit steigender Erwartung auf die Laufschrift, als ihm plötzlich der unangenehme Gedanke kam, dass er möglicherweise nicht der alleinige Empfänger Ayas Nachricht war.
Vielleicht hatte sie ihn bloß aus Versehen auf eine Rundschreibenliste gesetzt, die an all ihre Freunde ging.
Aber Kim Stuckbein war bereits auf dem Weg und für spitzfindige Unwahrscheinlichkeiten war es einfach zu spät.
Es mochte vielleicht sein, dass ihre Güte nicht für ihn allein bestimmt war, aber sie hatte sich bei der Gruppenarbeit immerhin direkt neben ihm gesetzt.
Und wie sie ihn damals angelächelt hatte, sprach mehr als tausend Worte.
Die Bahn kam kreischend zum Stillstand, die Türen öffneten sich und Kim trat auf den Bahnsteig.
Er erinnerte sich nur dunkel daran, hier schon einmal ausgestiegen zu sein.
Von der Anhöhe des Bahnsteigs schaute Kim herab auf bestimmt ein Dutzend Gleise.
Darüber schwebte eine Überführung, auf deren Dach sich drei geflügelte Glaskuppeln wölbten, unter denen sich die Wege der Passagiere in farblosem Neonlicht kreuzten.
AUSGANG. AYA.
Kim sah eine Treppe und stieg instinktiv hinunter.
Obwohl es tiefste Nacht war, herrschte ein emsiger Betrieb auf dem Bahnhof.
Auf einem Flachbildschirm blinkte in Orange: Steig D
Kim lief an einem Zeitungsladen vorbei, streifte einen Minisupermarkt und zog den Dunst von frischgegrillten Currywürsten durch seine Nasenflügel als er plötzlich, am Ende des Bahnsteigs angelangt, vor einer Treppe stand.
Er war schon acht Minuten im Verzug.
Wer konnte wissen, wie lange Aya noch auf ihn warten würde.
Müde und voll banger Vorfreude stapfte er die Stufen hinauf.
Als er das höchste Niveau erreicht hatte, befand er sich in einem geraden Gang.
Es musste die kuppelbesetzte Überführung sein, die er schon bei seiner Ankunft entdeckt hatte.
Riesige Fenster eröffneten ihm einen weiten Blick über die gesamte Gleisanlage.
Aber wo war der Ausgang?
Zwischen zwei Fenstern hing ein schlieriger Bildschirm, auf dem ein weißes I rotierte.
Kim trat heran und berührte den Schirm mit seinem Finger, als das I einer Reihe von Knöpfen wich.
"Sanierungsgeschichte", "Investoren", "Fahrscheine", "Gesamtübersicht"…JA!
Das musste es sein.
Kim schlug mit der flachen Hand auf den apfelgroßen Knopf.
Es knackte, eine plätschende Klaviermusik kroch aus dem Nichts und eine affektlose Frauenstimme sprach:
"Seit dem Jahre 2003 konnte der tägliche Passagiertransfer des Bahnhofs Ostkreuz um mehr als die Hälfte gesteigert werden."
Auf dem Schirm erschien ein altes Foto.
"Ein entscheidender Faktor des großen Erfolgs liegt unbestreitbar in der lang geplanten Totalsanierung, deren Konzept schon vor mehr als zehn Jahren bereitstand."
Kim berührte abermals den Schirm, auf dem jedoch nun einzelne Bilder von Kränen und muskelbepackten Bauarbeitern unbeirrt vorbeifuhren.
Ungeduldig rieb er seine Stirn.
"Die Tatsache, dass der Bahnhof unter Denkmalschutz stand, hat die Umsetzung der Sanierungspläne lange Zeit blockiert. Erst nach langjährigen Diskussionen konnten sich die Behörden im Jahre 2014 darauf einigen, Effizienz und Vergangenheit in einem neuen, denkmalschonenden Konzept zu vereinbaren.
Dies ist der Grund dafür, dass trotz der großen Veränderungen bestimmte Teile des Ostkreuz, wie die Backsteinbögen oder die Bahnsteigstützen im Jugendstil auf Steig E auch heute noch vollständig erhalten sind. Im Gegensatz zur komplett umgestalteten Überführung, welche damals im Stil der neuen Sachlichk…"
"Jetzt zeig mir endlich die verdammte Übersicht!"
Seine Stimme klang, als ackere ein rostiger Pflug durch steif gefrorene Erde.
So oft Kim es mit einem Computer zu tun hatte, gab es Probleme.
Er stützte sich mit beiden Händen auf dem Monitor ab und sah nun eine Aufnahme von Kränen und Baggern, die im Zeitraffer hektisch hin und her sprangen, während die Sonne in jedem Augenblick aufs Neue einen rasanten Bogen über den Horizont zog, als ihn plötzlich eine Hand bei der Schulter packte.
Kim fuhr zusammen und drehte sich um.
Vor ihm stand ein dicklicher Mann mit einem Schnauzer, an dessen haarlosen Mundwinkeln sich ein der Jahreszeit unangemessenes Lächeln vermuten ließ.
"Locker bleiben, mein Junge. Die Infobox kannst du vergessen!"
Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn, lachte laut und fragte dann:
"Kann ich dir vielleicht helfen? Ich bin hier quasi zu Haus."
Kim kratzte sich am Hals.
"Äähm ja. Wo is’n hier der Ausgang… bitte?"
Der Alte lachte, hob seine Hand, zeigte erst nach links und dann in die entgegengesetzte Richtung.
Kim folgte der haarigen Pranke mit seinen Augen, schaute nach links, schaute nach rechts und runzelte die Stirn.
"Ja. Du hast richtig geraten. Es gibt hier nicht nur einen, sondern zwei Ausgänge."
"Und was ist, wenn ich nicht genau weiß, wohin ich will?"
Sichtlich befriedigt nickte der Alte.
"Jaa, das ist so 'ne Sache. Nimm doch einfach den Erstbesten."
Wenigstens blieb der größte Teil seines höhnischen Grinsens unter dem Schnauzer verborgen.
Kim gähnte, bedankte sich, kehrte dem Alten den Rücken zu und lief geradeaus.
Wo konnte Aya wohl auf ihn warten?
Wie ein Spion in dringlicher Mission ließ er seinen Blick durch die Überführung schießen.
"Hey du!"
Kim drehte sich um.
Vor ihm stand Aya. Stand Aya. Einfach so.
Und lächelte.
Er hatte sie treffen wollen, und nun traf sie auf ihn.
"Aaa…Ayaa…Ha..Hallo."
Er war nicht darauf vorbereitet.
"Jetzt komm schon. Steven und Anna warten schon beim Ausgang."
Kim versteckte seine Hände in den Manteltaschen.
"Ich hoffe, ihr habt nicht lang warten müss…"
"Schon okay. Jetzt hab ich dich ja gefunden."
Seine Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht.
Er war immer noch wie geblendet, von ihrem vergebenden Lächeln.
"Ich hab den Ausgang nicht gefunden", gestand er.
Aya zwinkerte und fasste seinen Arm.
"Früher hab ich mich hier auch immer verirrt. Schau, da geht's lang."
Kim folgte ihr.
"Du, Aya. Sag mal…"
Sie drehte sich um und fuhr ihm grinsend dazwischen.
"Du willst bestimmt wissen, warum ich auf einmal mich nicht mehr in der Uni hab blicken lassen."
Kim nickte verwundert.
"Es ist 'ne längere Geschichte. Das muss ich dir alles später erzählen, aber fürs erste reicht, wenn ich dir sage, dass ich Stress mit meinem Freund hatte."
Kim hatte nie geahnt, dass sie einen Freund haben könnte.
Wie blind war er gewesen.
"Aber das ist jetzt alles vorbei." Sie lächelte.
Kim atmete auf.
Als wäre nichts gewesen, fragte sie dann plötzlich in einem vertraulicheren Ton:
"Warst du eigentlich schon mal im Ministerium für Entspannung?"
Kim schüttelte den Kopf.
"Vor 'nem Jahr hatten die ganz schön Probleme mit der Polizei, aber seit die jetzt den Wintergarten und die Blues-Lounge neu eröffnet haben, ist es dort ruhiger geworden. Ist direkt neben dem alten X-Garten, weißt schon, dieser uralte Kindergarten mit den kniehohen Waschbecken und dem Outdoor-Dance-Floor im Sandkasten. Das Twosides kennst du aber sicher, da wo früher der Low-Budget-Wellblech-Hangar stand. Die haben das Grundstück komplett umgegraben."
Sie sprach so schnell, dass sich die Silben überschlugen.
Auch wenn Kim nur Augen für ihre Lippen hatte und sein Ohr bloß der betörenden Melodie lauschte, so erzählte sie weiter von der schnelllebigen Bar- und Nachtclubwelt, als wäre sie selbst hinter der Theke groß geworden.
Plötzlich verstummte Aya und lachte.
"Okay, ich bin abgeschweift, ich geb's zu. Also warst du nun schon mal im MFE, oder nicht?"
Kim wiederholte die Silben.
"Emm Eff Eee"
Aya lachte.
"Ja, Mensch! Das Ministerium für Entspannung. Naja, du scheinst es jedenfalls nicht zu kennen."
Kim schaute nach oben und sah den Mond in der Glaskuppel mehrfach gespiegelt.
"Wo gehst du denn sonst hin, am Wochende?"
Kim lebte erst seit einem halben Jahr in Berlin, in der Nähe vom Hackeschen Markt.
Seine seltenen, aber stets fatalen Trinkausflüge hatten ihn nie weiter als in den Kneipenradius der näheren Umgebung geführt.
Dennoch antwortete er ihr weltmännisch:
"Ach, weißt du. Mal da hin, mal dort hin. Je nach Lust und Laune."
Aya wandte ihm plötzlich ihr Gesicht zu und ließ ihre Filzlocken eine Kurve fliegen.
"Mal ganz ehrlich. Als ich dich das erste Mal gesehen hab, dachte ich, du machst dir nicht viel aus Party, sondern bist mehr so 'n Bücherwurm."
Kim lächelte unter Anstregung zurück.
Drittes Kapitel
"So, da ist auch schon die Treppe!"
Aya wies in die Richtung eines animierten Plakats, auf dem ein stilisierter Baum vor gelbem Untergrund glitzernde Münzen regnete.
In grellen Lettern stand geschrieben:
"Geld fällt nie."
Der Rest der Aufschrift war von einem länglichen Schatten verdeckt.
Als Kim näher kam, entdeckte er, dass der Schatten ein Mann war.
Er trug einen schwarzen Schlapphut, einen langen schwarzen Mantel und hielt vor seinen gefalteten Händen eine Hochglanzzeitung, auf der in stahlblauen Buchstaben prangte:
"Erwachet!"
Er starrte sie an.
Kim blickte zu Aya und wusste, dass es ihr, ebenso wie ihm, auffiel.
Sie liefen Schritt für Schritt weiter, als plötzlich ein allgegenwärtiger Knall ihre Trommelfelle zum Erzittern brachte, gefolgt von einem dumpfen, langsam fallenden Ton.
Als das Geräusch seinen tiefsten Punkt erreicht hatte, fand sich Kim in absoluter Dunkelheit wieder.
Eine schrille Stimme drang in sein Ohr.
"Ein Zeichen! Ein Zeichen! So wurde es uns offenbart, dass an diesem Tage Abend- und Morgenland das letzte Mal gegeneinander in den Krieg ziehen werden. Chaos komme und verzehre uns!"
Im Schreck des ersten Moments drehte er sich um und rannte wieder hinein in die Überführung, in der kein einziges Plakat mehr leuchtete, keine einzige Neonröhre glimmte.
Vor Kims innerem Auge schossen die Bilder des berstenden Eifelturms, der irakischen Gottesmobs und des jüngsten Attentats auf den kalifornischen Minister wild durcheinander.
Kim erinnerte sich nur unfreiwillig an die Nachrichten der letzten Tage:
"Und wie es ein aktuelles Video prophezeit, sind weitere Anschläge geplant auf weitaus essentiellere Strukturen in Frankreich, Deutschland und auf alle anderen Freunde Amerikas."
Kim konnte seine Hand nicht vor Augen sehen.
War er etwa schon tot?
Doch um sich herum hörte er Schritte und roch den warmen Atem der anderen Passagiere.
Hilflos wandte er seinen Kopf in der Dunkelheit umher.
"Ayaa?"
Keine Antwort. Es herrschte totale Stille.
Nicht einmal die S-Bahnen schienen mehr zu fahren.
Im undurchdringlichen Dunkel flackerten hier und da einige Feuerzeugflammen und Mobiltelefonbeleuchtungen auf und schwankten vorsichtig hin und her.
In der Überführung hing eine Wolke von praller Angst, die kurz vor der Schwelle zur Panik stand.
Kim wusste ebenso wie alle anderen, dass es nur noch einen Tropfen brauchte, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.
Noch verhielt sich ein jeder sittsam und lief vorsichtig weiter.
Aber dennoch war es jedem Einzelnen bewusst, dass die überstürzte Handlung bloß einer impulsiven Seele, ein unüberlegter Schritt, eine hysterische Reaktion eine plötzliche Kettenreaktion des tierischen Selbstrettungsinstinkts loslösen konnte, der noch den Menschlichsten unter ihnen dazu veranlassen würde, alle Rücksicht über Bord zu werfen, um sich mit Fäusten und Ellbogen den kürzesten Weg in die Freiheit, raus aus der Dunkelheit zu bahnen, koste es was es wolle.
Randolf hatte sich binnen kürzester Zeit an die Dunkelheit gewöhnt.
Er sah die Menschen langsam und beinahe ehrfürchtig in ihrer Vorsicht aneinander vorbeigehen, einige mit kleinen Lichtern in den Händen.
Keiner der Passagiere schien an sein Ziel zu denken, an sein Zuhause, an seine Pläne.
Randolf lächelte.
Sie alle waren vollkommen anwesend in der Dunkelheit der Überführung.
Niemand war in Gedanken schon zu Hause, noch bei der Arbeit.
Sie waren hier und es war dunkel, an der Schwelle des abgründig Ungewissen.
Denn niemand wusste, was der Grund für das Geschehene war, geschweige denn was als nächstes passieren würde und so verharrten sie alle gemeinsam im selben Moment.
Als plötzlich die großen Bildschirme zu flackern begannen und die Neonröhren sich eine nach der anderen erhellten, glaubte Randolf eine Zufriedenheit in den Gesichtern der Passagiere zu erkennen, die er bisher nur von Fotos der Amazonas-Indianer, Beduinenstämme oder anderen Urkulturen kannte.
Ein bescheidenes und zugleich stolzes Lächeln, welches von einem gemeinsam empfundenen, menschlichen Triumph über das Unausweichliche, über die rohe Natur, über den Tod hinaus strahlte.
Wie ein Krieger im Dschungel, den ein bloßer Zufall aus dem Würgegriff der Schlange befreit und ihn voll neu gewonnener Lebensfreude wieder auf die Jagd schickt, so schienen auch all die modernen Stadtmenschen für einen Augenblick ihre abertausenden Ziele und Sorgen im Angesicht des Endes vergessen zu haben.
Hier und da lagen sich junge Paare in den Armen.
Alles war in Ordnung, obwohl sich nichts entschieden hatte, bis auf die bloße Freude am Leben, welche sie in ihrer sicher geglaubten Existenz nicht in vollem Maß zu schätzen wussten und nun plötzlich unter all ihren Plänen und Zielen verschüttet wieder auffanden.
Aber wer konnte wissen, wie lange es dauern würde, bis sich die Erinnerung im Zuge der Gewohnheit wieder abschleifen werde?
Machen wir uns keine Sorgen.
Gott lässt sich immer seltener blicken, aber auf den Teufel können wir stets vertrauen.
Britta Nickol
Die Preisverleihung
"Ding donggg - du hast nur noch fünf Minuten bis zu deinem nächsten Termin!" Ann ignoriert die Ansage ihres Terminkalenders und versucht weiter die Autobahnausfahrt zum ICC zu erreichen. Der Verkehr ist so dicht, dass kaum eine Handbreit Platz zwischen den Autos bleibt. Sie kann nur noch 50 km/h fahren und die Luft wird immer dicker. Nur noch 300 m bis zur Ausfahrt. Wenn sie die erreicht, hat sie den Level geknackt. Aber nein, vor ihr. "Oh je, passt doch auf! — So ein Mist!" Ein Unfall. Diesen Level kann sie für heute vergessen. Sie steckt im Stau fest. "Ding donggg – Du hast nur noch vier Minuten bis zu deinem nächsten Termin!" Enttäuscht steigt Ann aus ihrem Playroom. "Diese Staus sind doch nur eine Erfindung der Spieldesigner" denkt die Zehnjährige ärgerlich und beobachtet, wie sich ihr Playroom minimiert.
"He, Ann bist du fertig?" "Ja, Dad, ich komme schon." Seit einer Stunde ist Ann fix und fertig angezogen. Heute will sie auf keinen Fall die Zeit verpassen. "Die kann sich wieder nicht loseisen von ihren historischen Spielen", lästert der siebenjährige Max, der immer ausspricht, was er gerade denkt. Er steht herausgeputzt im Lift und spielt mit der Lichtschranke, die die Tür offen hält. "Stimmt gar nicht." Ann legt hastig ihr Videocap an, klemmt sich im Flur ihre Jacke unter den Arm, zieht im Vorbeilaufen ihre Schuhe aus dem Regal und springt mit einem Satz aus der Wohnungstür in den Lift. "Ich bin ja schon da", keucht sie triumphierend, während sie die Schuhe neben Max auf den Boden fallen lässt. Max würdigt die Leistung seiner Schwester mit einem erstaunten Blick und ruft in die Wohnung "Daaaaad, wo bleibst du denn?"
Eric und Tamara, die Eltern von Ann und Max, sind schon den ganzen Tag auf Veranstaltungen anlässlich der EU-Preisverleihung unterwegs. Eric ist kurz nach Hause gekommen, um Ann und Max abzuholen. Die Kinder wollen unbedingt bei der Preisverleihung dabei sein. Ann ist fasziniert von dem Gedanken, die Ehrung ihrer Eltern für die Nachwelt festzuhalten. Max will dabei sein, weil seine Schwester auch mit darf. Der Festakt findet im Kulturzentrum Ostkreuz statt. Bis dort sind es nur ein paar Schritte über den S-Bahnhof. Von ihrem Küchenfenster aus kann die Familie den modernen Bau sehen. Er sieht aus wie ein dickes Huhn beim Brüten und wird deshalb liebevoll "fette Henne" genannt. Diese "Henne" hat jede Menge Vereine, Clubs und Boards unter ihren Fittichen.
Ann hat gerade ihre Schuhe angezogen als Eric grinsend zu ihnen in den Lift steigt: "Ein alter Mann ist doch kein Transrapid." Ann mustert amüsiert ihren Dad. In seinem Galadress sieht er völlig anders aus als in seinen sonst üblichen Jeans. Er wirkt irgendwie straffer und ernster. Max starrt den dunkelblauen Anzug an. "Dad, musst du jetzt immer so rumlaufen?" "Nein Max, zum Glück nicht."
Heute wird der Bahnhof Ostkreuz offiziell von einer EU-Kommission zum schönsten Bahnhof Europas ernannt. Damit verbunden ist der EU-Förderpreis "Kunst im Alltag" für die Gestalter des Bahnhofs, die "free-colors". Eric, Tamara, Ben und Nina sind die First Members der "free-colors". Im Jahre 2004 hatten sie sich bei gemeinnütziger Arbeit kennen gelernt. Nina war mit 14 Jahren die Jüngste. Die anderen waren bereits 16 Jahre alt. Alle vier waren wegen Beschmierens und Zerkratzens von Publics verurteilt worden. Bei der gemeinsamen Arbeit fanden die Delinquenten schnell heraus, dass keiner Spaß an den Zerstörungen hatte, sondern sie sich alle nach Herausforderungen und Farben sehnten. Aus dieser gemeinsamen Sehnsucht heraus gründeten sie den Verein "free-colors". Sie hatten sich auf ihre Fahnen gesprüht, Leben in Berlins Bahnhöfe zu bringen. Und das haben sie auch. Gemeinsam entwarfen sie Bilder, suchten Farben, Leinwände, Förderer und Gleichgesinnte. Nach und nach wurde ein Bahnhof nach dem anderen in ein neues Kleid gesteckt. Ihre Freundschaft schlug oft Purzelbäume. Aber gerade dadurch wurde sie immer fester. Eric verliebte sich auf den ersten Blick in Tamara. Sie war jedoch nicht so schnell zu beeindrucken. Anderthalb Jahre versprühte er ununterbrochen Funken bis das Feuer auf sie übergriff.
Die Bahnhöfe Berlins gehören heute, im Jahr 2020, dank dieser jungen Leute und deren Sponsoren zu den bekanntesten der Welt. Viele Berlintouristen kommen nur um die Galerien zu sehen, die über die gesamte Stadt verteilt sind. Das Public-Netz Berlins steht seit 3 Jahren im "Guinness Buch der Rekorde" als größte Galerie der Welt.
Die Idee des Belebens hat viele andere Interessengruppen inspiriert. Es gibt Literaturzirkel, Theater-Groups und Musikbands, die ihre Programme in der Erlebnisringbahn und den Bahnhöfen präsentieren. Interessierte jeden Alters arbeiten Hand in Hand.
Max und sein Grandpa hauen gemeinsam bei den Traindrummers ordentlich auf die Pauke. Ann dagegen ist bei den Power-Findern. Die suchen nach neuen Energiequellen und deren sinnvolle Nutzung für die Öffentlichkeit. Die Stadt und die Publics haben viele Stromkosten gespart, besonders durch den Einsatz von Schall-Strom-Wandlern. Dabei werden hauchdünne magnetisierte Metallblättchen durch den Schall in Schwingungen versetzt. Ann hat bei den Power-Findern gelernt, wie aus den Schwingungen Strom entsteht.
Ann und Max fragen ihren Dad auf dem Weg zur Preisverleihung nach den Ereignissen des Vormittages. Eric erzählt von der Fahrt mit dem Galeriezug und dem Mittagessen mit den Politikern im Ostkreuz-Tempel. Obwohl das alles erst wenige Stunden her ist, kommen ihm seine Erinnerungen unwirklich vor.
Auf dem Platz vor der "fetten Henne" tummeln sich einige Schaulustige und Sicherheitspersonal. Max sieht seine Mutter, schlüpft unter der Absperrung hindurch und rennt auf sie zu „Mom, Mom!“ Ein Security-Mann lässt Eric und Ann passieren. Ann kam sich noch nie so wichtig vor. Tamara begrüßt ausgelassen ihre schmucken Kinder, zupft Erics Fliege zurecht und gibt ihm aufgekratzt einen Klaps auf den Po: "Zum Anbeißen!" Die Kinder lachen über die mütterliche Ausgelassenheit. Eric schmunzelt verlegen und wird rot.
In der Vorhalle zum Festsaal herrscht ein surrendes Treiben. Tamara und Eric gesellen sich zu ihren Mitpreisträgern Ben und Nina. Nina hat sehr fantasievolle Kostüme genäht für sich, ihre Eltern und ihre Freunde. Alle in ihrem Gefolge tragen Kleidung im Enterprisestil . Der schüchterne Ben dagegen ist heilfroh darüber, in seinem dezenten Sakko fast unsichtbar zu sein. Bens Sohn Tom, ebenfalls im Sternenflottenoutfit, kämpft sich zur gleichaltrigen Ann vor. Alle plappern erwartungsvoll durcheinander. Ann und Tom schalten fachsimpelnd ihre Videocaps ein und aus. Max hat Durst. Er quengelt und quengelt bis er einen Saft bekommt. Ann und Tom wollen nichts trinken. Sie sind viel zu aufgeregt.
Die Familien der First Members nehmen ihre Plätze in der ersten Reihe ein. Es wird getuschelt und gelacht bis das Licht im Saal verlischt. Ben räuspert sich, weil ihm die eingetretene Ruhe unheimlich ist. Die Musik beginnt leise zu spielen. Ann nimmt alles auf. Die Boygroup, die spielt, ist sehr angesagt. Dann reden einige sehr wichtige Leute und zur Erholung heizt erneut eine Band dem Saal ein.
Ben hat Schweißperlen auf der Stirn. Nina legt beruhigend ihre linke Hand auf seinen Arm und zupft mit der Rechten immer wieder an ihrem Kleid. Ann muss sich mehrmals mit einem Blick auf ihre feierlich strahlenden Eltern vergewissern, dass das alles auch wahr ist.
Max stößt gegen Anns Bein: "Ich muss mal!" "Was?" "Dad, Max muss mal." "Tamara, Max muss mal." Die Dringlichkeit des Bedürfnisses wird in hin- und her wandernden Fragen und Antworten diskutiert. "Gehst du oder soll ich mit ihm gehen?" "Meinst du wir schaffen das noch?" "Meinst du er findet es allein?"
"Und jetzt bitte ich die Gewinner des EU-Förder…" "Mom, ich muss jetzt." "Ann, kannst du nicht mit ihm gehen?" "… zu uns auf die Bühne." Der ganze Saal klatscht lautstark Beifall. Die vier Preisträger fassen sich bei den Händen und gehen gemeinsam auf die Bühne. Max steht hampelnd vor Ann: "Jetzt gleich!". Sie ist verzweifelt. Die rote Lampe der Fernsehkamera, die auf die erste Reihe gerichtet ist, leuchtet auf. Ann konzertiert sich auf das rote Licht. Jetzt immer schön cool bleiben, schließlich hat sie eine Woche lang ihr Fernsehlächeln geübt. Ihre Gesichtsmuskeln verkrampfen sich schmerzhaft. Plötzlich läuft Max los zur Bühne. "Oh, nein!" Mit einem Satz ist Ann bei ihm und zieht ihn von der Bühne weg in Richtung Ausgang.
Wütend wandert das Mädchen mit dem eingeschalteten Videocap vor der Herrentoilette auf und ab. Minute für Minute wird der menschenleere Vorraum für die Ewigkeit festgehalten, untermalt von Anns leidenschaftlichen Flüchen auf Saft und kleine Brüder. Max wird und wird nicht fertig. Ann öffnet ungeduldig die Tür einen Spalt: "Komm jetzt endlich." "Ich kriege das Wasser nicht an!" Ann versucht an die Lichtschranke des Waschbeckens heranzukommen. Aber auch sie ist zu klein. Von solchen kinderfeindlichen Hindernissen lassen sich die Kinder von EU-Preisträgern doch nicht abschrecken. Ann hebt Max hoch. Sie muss zweimal umgreifen bis Max endlich in Reichweite der Lichtschranke ist. Das Wasser schießt aus dem Hahn direkt auf Max’ Kopf. Nach schreckerfüllten Sekunden steht Max klitschnass und zitternd vor seiner fassungslos tropfenden Schwester. "Ich bin fertig. Wir können wieder reingehen."
Während Tamara und Nina die Kinder lachend trocken rubbeln, holt Eric schnell frische Sachen von zu Hause. Zur Eröffnung des anschließenden Galadiners sitzen alle gutgelaunt, wieder trocken und hungrig am Tisch. Ann und Tom diskutieren beim Essen begeistert, wie sich die Szenen der Wasserschlacht und der Preisverleihung am effektvollsten kombinieren lassen.
Barbara Blum
Ostkreuz 2020
Es war im Sommer 2020, die Sonne schien warm, ein lauer Wind blies auf dem Markgrafendamm und bewegte sommerzart die Zweige und die grünen Buchenblättchen.
Unter der großen Buche am Ostkreuz standen Schwebe-Motte und Rucksack-Willi. Sie unterhielten sich angeregt über die neue Apartmentwohnung von Schwebe-Motte. Sie war eine von den unzähligen Wohnungen der 20 Etagen im Hochhaus am Ostkreuz.
Er war begeistert, seine Augen sprühten förmlich Blitze, wenn er von seinem Haushalt-Roboter RUMU (Rund Um die Uhr) berichtete, der der stille Diener seiner neuen Häuslichkeit war.
"Wenn das einer vor einem Jahr zu meinem 18. Geburtstag gesagt hätte, weißt du, hätte ich an den Kopf gezeigt und heute ist es Wirklichkeit. Das ist Klasse, nicht mehr mit meinem Bruder das Zimmer teilen zu müssen. Die Neue liegt in der l8. Etage, ich habe eine Aussicht, die kann ich nicht so einfach beschreiben. Da liegt so vieles von meinem Berlin drin, die Spree, die sich wie ein Band schlängelt, und das schmucke Ostkreuz mit Hochhäusern, der Magnet-Schwebebahn, der Passage und dem Menschengewimmel", presste Schwebe-Motte vor Aufregung geschüttelt hervor.
Er nahm sich kaum Zeit zum Luftholen, sein Adamsapfel hüpfte, seine roten kurzen Haare wippten und seine blauen Augen traten vor Anstrengung etwas hervor, als er weitersprudelte:
"Die Magnetschwebebahn ist auch von innen super. Eierschalenform die Sitze, Zeitungen und Getränke an der Seite, Behinderten-Rollstühle werden über Rampe hinein- und herausgehoben. Meine Oma sagt, das hätte sie nicht für möglich gehalten, dass aus dem grauen Ostkreuz ein Stadtteil mit vielen leuchtenden Farben würde.
Ich fahre schließlich täglich Magnet-Schwebebahn in Richtung Schönefeld. Mit ihren 300 Sachen rast sie fast im Kreis auch nach Erkner und Strausberg. Eine ruhige Schaukelpferdfahrt. Das ist immerhin die erste solche Bahn in Deutschland, die wie ein Blitz dahinschwebt.
Du bist wahrscheinlich noch gar nicht diese Strecken gefahren, du fliegst ja lieber täglich mit deinem Rucksackpropeller nach Berlin-Mitte in dein Geschäft. Stimmt es?"
Schwebe-Motte ließ immer noch nicht locker und sprudelte weiter: "Du kannst mich bald mal besuchen kommen. In vier Wochen habe ich bestimmt Ordnung in meiner Wohnung gemacht.
Auf meinem Balkon kannst du am besten den Rucksackpropeller landen, da fahre ich meine Landeklappe vor dem Gitter aus. Du brauchst dann nicht mit der Blitzgondel im Haus nach oben zu sausen."
Schwebe-Motte, als einer der ersten Mit-Fahrer in der Magnet-Schwebebahn, erhielt seinen Namen daher, ein Leichtgewicht übrigens auch, holte nun erst mal tief Luft. Er konnte es nicht ändern, auf einmal regte sich seine Dichter-Freude: Begeistert kam es aus ihm: "Am Ostkreuz, Bau-Feuerwerk entfacht, Magnet-Schwebebahn sich berühmt gemacht, zum neuen Ostkreuz schaut ganz Berlin, es platzt aus den Nähten und wächst weithin."
Als er einen liebevollen Blick in die 18. Etage seines Hochhauses warf, nutzte Rucksack-Willi die Gelegenheit. Der Funke der Begeisterung war auch auf ihn gefallen nach Schwebe-Mottes sprühenden Worten.
"O, Gott, du machst mich neugierig", endlich konnte er den Faden aufnehmen. Jetzt war er am Zuge, der Zwanzigjährige, der groß gewachsen und als Schuhverkäufer in einem Kaufhaus angestellt war. Sein Anzug saß korrekt, die dunklen Locken waren zu unzähligen Zöpfchen geflochten. Zerzaust vom Flug mit seinem Rucksack-Propeller standen sie nach allen Seiten. Sein Flugzeug stand klein und lässig neben ihm. Ein großer Rucksack, der einen Motor und aufklappbare Propeller enthielt. Ein kleiner Sitz für den Flieger, der sich entfalten konnte, war auch dabei. Für einen sicheren Flug sorgte ein elektronischer Aufpasser. Schließlich flog eine Vielzahl der kleinen Brummer in der Luft herum.
"Du sprachst von deinem Roboter RUMU", spann Rucksack-Willi den Faden fort. "Was kann er denn alles noch für dich machen? Natürlich werde ich deinem Freund die kalte Kralle schütteln. Vielleicht verliebe ich mich in deinen Haushälter, in einen, der nicht streitet und ohne Widerrede meine Wünsche erfüllt. Wo werden diese Getreuen denn erschaffen?"
Schwebe-Motte stand schon auf dem Sprung, er wollte sich bald verabschieden. Er hatte daran gedacht, dass er am Abend noch einiges erledigen wollte. Dazu gehörte ein Psycho-Video zum Vorbereiten auf eine schriftliche Zwischen-Arbeit an seiner Fachschule; dieses Video hatte die Eigenschaft, nach dem einmaligen Sehen und Hören den Inhalt dessen durch Wellen bleibend in sein Gehirn einzugraben. Ein kleines Wunder also. Der Besuch einer gebrechlichen Nachbarin stand ebenso auf seinem Programm. Mit dieser kleinen Aufgabe war übrigens die Zuweisung dieser großzügigen Wohnung im Hochhaus am Ostkreuz verbunden. Junge und Alte wohnten nebeneinander. Ein junger Mensch war am Tag eine angemessene Zeit für einen Alten da. Diese praktische und liebevolle Alten-Unterstützung war eine ganze Weile am Ostkreuz-Kiez schon Alltag geworden.
"Mein RUMU wurde hier am Ostkreuz geboren und bekommt täglich viele neue Brüder. Ist doch Sahne." Erregt sprach Schwebe-Motto einen Reim, der offenbar aus ihm heraus musste:
RUMU, dieser Freund im Stillen erfüllt getreu fast jeden Willen, am Ostkreuz kam er auf die Welt, und tut nur das, was mir gefällt.
Am Umspannwerk ganz hier in der Nähe wurde eine neue Halle gebaut, in der die Haushalt-Roboter das Licht der Welt erblicken. Viele Leute arbeiten dort. Über diesen Um- und Ausbau erzähle ich dir später. Du musst mich bestimmt besuchen kommen, ich freue mich schon darauf. Ich erwarte dich. Jetzt muss ich wirklich gehen. Tschüs, tschüs. Hastig berührten sie die Finger zum Gruß und damit rannte Schwebe-Motte schon davon, um in die 18. Etage zu kommen.
Peter Goettler
ein bahnhof ist ein bahnhof und ein schiff
ich telefonierte eben nach essen, das liegt in nordrhein-westfalen, und lizzy las mir ein stück aus einem buch vor. ich kenne das buch, denn sie hatte mir bei ihrem besuch vor 3 tagen in berlin schon daraus vorgelesen. seit sie hier war, benutzt sie eine s-bahnkarte vom ostkreuz als lesezeichen.
ich muss nicht besonders betonen, dass ich in lizzy verliebt bin. falls doch, betrachte ich den willigen leser hier gern als alten baum und ritze ein 'peter liebt lizzy' in seine rinde.
jetzt denke ich an das vergangene wochenende, an die s-bahnkarte in ihrem buch und das eingestempelte datum, das beweist, dass sie hier in meiner heimat war.
die sache mit meiner heimat beginnt damit, dass ich jetzt im niemandsland wohne. umgeben von viel wasser und glasbläsereien aus vergangenen dädeähr-zeiten, die nun industriedenkmäler sind. gleichzeitig aber im schatten des hochhauses einer der größten versicherungen der welt. mainhattan ist ein dreck dagegen. vorne raus sehe ich hafenkräne der binnenschifferei, hinter meinem haus züchtet eine landwirtschaftliche berufsschule gänse und geranien, während ich nachts am ende der straßenschlucht die wagen der berliner s-bahn zuckeln sehe, aufgereiht wie weihnachtsgirlanden.
man könnte glauben, das alles sei von fellini für mich als kulisse zusammengetragen worden.
so wird es nicht immer bleiben. wenn es nach den planungen der verantwortlichen menschen geht, wird unsere gegend ein neues gesicht bekommen. spätestens dann soll es eine stadtautobahn mit einer ausfahrt 'stralau' geben. der s-bahnhof ostkreuz wird schnittig eingebunden und eine ähnliche gläserne ästhetik bemühen wie der lehrter bahnhof am kanzleramt.
auf altstralau stehen zwar noch die wohnungen leer, aber die makler legen bereits ein der zukunft entsprechendes selbstbewusstsein an den tag. am osthafen sollen neue bürotürme entstehen, wie generell in allen ecken ladenflächen und büroraum für dienstleistung aller couleur geplant sind. alle stralauer und friedrichshainer werden neue jobs bekommen und von attraktiven service- und shoppingoptionen umworben werden. jedenfalls diejenigen, die dann noch hier wohnen.
das ganze wirkt wie in dem comicheft 'asterix und die arverner', im dem sich die gesamte volkswirtschaft eines dorfes damit beschäftigt, sich gegenseitig weine und kohlen zu verkaufen.
es soll meinungen geben, deren wortführer zu einer extrem zynischen gattung mensch gehören müssen. sie unterstellen nämlich, bei den geplanten bürohochhäusern handele es sich doch eher um inverstorenarchitektur und krämerisches quadratmeteraddieren und weniger um ein architektonisches highlight und imposantes tor zum osthafen. zwar sehe ich gemäß den plänen auch keinen osthafen mehr, aber sowas surreales könnte doch selbst fellini nicht erfinden?
das ostkreuz ist deutschlands meistfrequentierter nahverkehrsbahnhof und es erfordert keinen fortschrittsfanatiker, um sich veränderungen hinsichtlich der übersichtlichkeit oder eines behindertengerechten zuganges zu wünschen. man sollte den umbau des ostkreuzes aber auch in einem erweiterten licht sehen, denn er ist flankiert von maßnahmen grundsätzlicher art, die eine verschiebung der bestehenden kultur bedeuten. der geneigte leser darf raten, welcher nutzung das reichsausbesserungswerk, zentral im friedrichshainer kiez gelegen, nach seiner sanierung gewidmet wird. weine und kohlen? ja, genau so ähnlich.
das "neue" ostkreuz liefert dazu den hintergrund und die nötige infrastruktur.
die menschen, die hierher zum arbeiten kommen dürfen, werden wenig zeit auf den weg verschwenden können. ihr transport sollte effektiv und zielgerichtet erfolgen und bestimmt essen sie kalorienarm. die tage der hafenkantine mit schnitzel, pommes und majo sind gezählt. im entkernten industriedenkmal an der spree werden die mtvs einziehen und sich in der nachbarschaft zu den universals sonnen, die jetzt schon da sind.
apropos pommes und tellerrand. falls sich in meinem essay die worte dienstleistungszentrum und umstrukturierung zu sehr häufen sollten, liegt das nicht an mir, sondern an dem auf das elementarste beschränkte vokabular von utopischen menschen. ich erwähne das, um deutlich zu machen, dass wir hauptstädter nicht die einzigen sind, bei denen sich die verantwortlichen gedanken um die gestaltung der vergangenheit machen, und offensichtlich benutzen alle beteiligten ein zentrales wörterbuch!
in lizzys heimat beschäftigt man sich im zuge dessen mit der zukunft verwaister förderschächte oder kohlewäschereien und das handwerkszeug, mit dem hier und dort gehobelt wird, ähnelt sich frappant.
der terminus "entkerntes denkmal" erinnert mich oft an eine geschichte aus der antike, die "das schiff des theseus" heißt. theseus war ein krieger aus athen, der mit seinem schiff nach kreta segelte, um dort ein paar jungfrauen zu retten, die abhanden gekommen und als opfer für einen gewissen minotaurus gedacht waren. allen unkenrufen zum trotz gelang ihm das abenteuer und er brachte die mädels wieder heile nach hause. die athener verliehen ihrer freude mit einer alljährlichen prozession durch die stadt ausdruck, bei dem sie theseus' schiff vorneweg trugen. das machten sie über jahre und jahrzehnte so. allerdings mussten sie, um das schiff zu erhalten, im lauf der zeit vom mast bis zu den deckplanken alles erneuern. als selbst der letzte rostige nagel ersetzt war, stellte ein athener der etwas nachdenklicheren sorte die frage, ob es sich denn nun noch überhaupt um das schiff des theseus handele, wo doch alles so neu war, dass der große T das schiff so nie gesehen habe geschweige denn berührt? ich glaube, dass es damals noch lange diskussionen gab, aber den griechen stand noch zeit zur verfügung. in unseren tagen finden solche spaßbremsen nur noch wenig gehör.
was ich hier erzähle, ist nicht nur eine geschichte, sondern ein ansatz, der die frage stellt, bis zu welcher schwelle eine sache noch als der ursprüngliche gegenstand gelten kann.
die visionäre haben im moment weniger geld in den taschen, als sie sich je hätten vorstellen können. daher wird die realisierung ihrer vorhaben noch eine weile auf sich warten lassen, was einige stralauer mit genugtuung erfüllt. ich stehe dem allem offen gegenüber, denn letztendlich sind die menschen meist anders, als man auf grund ihrer berufe, ihres sozialen standes oder des einkommens unterstellt. hauptsache keiner von ihnen will meine wohnung, und die meiner nachbarn natürlich auch nicht.
apropos nachbarn, im büdchen, meinem nachtladen gegenüber, kaufte heute nacht ein junges pärchen ein. ich war auch da und bekam wie immer 3 bier, eine packung nil. aufmerksam wurde ich, weil sie sehr hübsch war und es offensichtlich selbst nicht wusste. er hatte sich in jugendlichem leichtsinn einen eigenartig gestutzten vollbart geleistet und ihr war das egal. die beiden verglichen vorsichtig die preise der rotweine. sie waren anfang 20, auf keinen fall wesentlich älter und redeten viel und sehr leise miteinander. es war ein inniges flüstern. die weltlichen diskussionen mit dem kassierer regelte sie, während ich schon am gehen war.
draußen auf der straße dachte ich darüber nach, ob sie wohl so leise und innig miteinander schlafen wie sie rotwein kaufen. dann sollte man es mit fug und recht "liebe machen" nennen. ich überlegte noch, ob das für ein ganzes leben reicht, aber es ist immerhin möglich.
auf jeden fall gehören die beiden genauso zu meiner heimat, wie der hundekot an den gehwegen. in der jeweils speziellen ausprägung kann beides nur hier auftreten. anderswo gibt es weniger nachtläden und wenn, dann sind die menschen nicht so, nennen wir es mal elementar, wie wir. hier, vor der kulisse der großen versicherung, kann man noch mit wenig geld leben, ohne sich wie ein vollidiot zu fühlen.
das erklärt natürlich nicht den hundekot, aber ich nehme an, dass es hier viele verlorene seelen gibt, die einen guten, meist großen schwarzen kumpel nötig haben. ich hoffe, niemand übersieht, dass ich kein hundehasser, sondern vielmehr ein romantiker bin.
der schlecker-markt in meiner heimat schließt um 19 uhr und spottet damit allen autoritären bemühungen mittels langer ladenschlusszeiten den konsum zu drosseln und die arbeitslosenzahlen anzukurbeln, oder umgekehrt, wie auch immer. wir sind eine anarchische gegend. mir sind die ladenschlusszeiten egal, denn ich brauche wenig shampoo und kein hundefutter.
ich weiss nicht, ob es sich bei der sache mit der heimat genauso verhält, wie mit dem glück. demnach ist das gefühl von glück gleich glück. ein gefühl von heimat ist gleich heimat? auch das klingt immerhin möglich.
wenn der aktuelle terminplan des umbaus eingehalten werden kann, wird das veränderte ostkreuz im jahr 2020 seit 6 jahren in betrieb sein. dann werden andere menschen schon hier leben und wenn es erstmal so ist, fragt man selten noch warum.
ich hoffe sehr, dass lizzy dann auch noch da ist und das schönste dabei wird sein, dass es ihr gleichgültig ist, wie der s-bahnhof aussieht, an dem sie ihre lesezeichen abstempelt.
berlin, im september 2003
Sabine Franzke
Ostkreuz – Rostkreuz
Es ist Mitte Oktober. Der Wind bläst pfeifend gegen brennende Ohren. Das Hauptsegel der "Taifun" plustert sich auf. Das frisch angemalte Boot auf dem Rummelsburger See ächzt und schaukelt hin und her. Plötzlich reißt Jockel am Heck das Ruder heftig herum. Kay, Juli und die Drillinge Lou, Mercedes und Junaidi werden mit einem Schwall blaugrauen Wassers übergossen. Sie drängen sich dichter zusammen. Wenig später gehen sie an der Anlegestelle Kynaststraße barfuß in Slips und karierten Kamelhaardecken an Land. Gemeinsam machen sie das Boot im Hafen des Sport- und Segelparks fest. Danach geht Juli zu ihrem bunt besprühten Spind. Sie zieht eine trockene Mikrofaserhose mit Kapuzenpullover heraus und wirft sich eine matrosenfarbene Jacke über. Fünf Minuten später trinkt sie mit den anderen heiße Schokolade aus Keramikpötten im "Roststrand". Das Café stammt noch aus den Zeiten als Ostkreuz Rostkreuz geschimpft wurde und gehört zum Park. Die Keramiksachen werden im Oasenkreuz in der Sonntagstraße von Wohnungslosen und anderen Lebenskünstlern angefertigt und im Café nebst Proviant verkauft.
Juli sieht rüber zum Schnittlauchturm, kurz Schnitti genannt. Weithin leuchtend ähnelt er einem gigantischen Schnittlauchbündel. "Als Steppke hatte ich vor dem Ostkreuz Angst. Dachte, in dem grauen Turm lebt einer, der die Treppen und Schienen mit einem bösen Zauber verhext." Jetzt ist der Turm restauriert. Seit dem anhaltenden Babyboom von 2005 und gelockerten Adoptivgesetzen mit Elternschein dient er als Zwergenturm. Der See und die Gärten vor dem Turm bieten Spielparadiese. Die hellen Turmräume auf drei Etagen sind mit bunten Matratzen und Wänden ausgestattet. Die Kynaststraße ist nun teils Kinderskater- teils Straßenbahnstrecke. Der Autoverkehr wird umgeleitet. Unerwartet hatte man hier von der chinesischen Seite Hilfe bekommen. Und finanziert wurde das Projekt u. a. von der so genannten Littering oder Singapurgebühr. Seit der Einführung müllt keiner mehr so leicht auf den Straßen und Plätzen. "Auch das Fensterkratzen hat stark abgenommen", sinniert Juli.
"Kalt, was?" reißt Kay sie aus ihren Gedanken.
"Ja, aber wenn ich mir das hier ansehe, wird’s mir gleich wärmer. Irgendwie doch schade, dass erst im Frühling wieder angesegelt wird. - Bist du auch aus dem Kiez hier?" fragt Juli.
"Markgrafenstraße. Betreute WGs Lichtplantagen", kommt die Antwort.
"Lichtplantagen. Stell ich mir gigatoll vor. In der Gürtelstraße, wo ich wohne, läuft alles eher ’n Tick langsamer."
"Der Ethnomarkt bei euch ist doch auch blitzig. Aber ich muss schon sagen, die Lichtplantagen sind phantastisch. Blauer Himmel, Zuckersand, viel Grün, und alles interaktiv. Die Kids mögen’s. Der Stranddschungel ist übrigens am besten. Die Graffitis sind echt klasse. - So, ich muss hier leider rum. Vielleicht sehen wir uns mal da", spricht’s und ist um die Ecke verschwunden.
Juli joggt fast den Parkweg zum Bahnhof entlang. Am Ostkreuz verlangsamt sie jedoch automatisch ihr Tempo. Im Blumenladen Papageno begrüßt sie der pfeifende Papagei. Lächelnd kauft sie sich eine Gardenie. Beglückt von der Photoausstellung "Terra Australis" im Ansagerhäuschen will sie die grüne Rollbahn zum Bahnsteig in Richtung Alex nehmen, um dort ein Geschenk zu kaufen. Verträumt schlendert sie auf dem mit Rasen ausgelegten Bahnsteig entlang und setzt sich auf einen ausrangierten Flugzeugsitz neben eine Efeusäule. Die grüne Bahn hält leise und läd(t) sie ein. Doch bevor sie einsteigt, fällt Juli ein, dass das Oasenkreuz auch gute Geschenke zu bieten hat. Sie kehrt um und fährt mit der blauen Rollbahn zur Sonntagstraße. In der Sonntagstraße, einer der fünf Spielstraßen am Ostkreuz, fährt ein Auto über einen Ball. Ein Kind fragt den Fahrer vorwurfsvoll: "Warum hast du das gemacht?" Und ein jugendlicher Straßengärtner winkt ihn zum KiKi Sonntag (Kinderkiosk) mit unterirdischem Parkplatz. Er wird Spende entrichten und mit dem Kind und einem neuen Ball eine Stunde im Park kicken. "So sind nun mal die Regeln in der Spielstraße," erklärt ihm der jugendliche Straßenwärter. "Wenn Sie Ihren Elternschein gemacht hätten, würden Sie besser aufpassen." Das Kind steht daneben und grinst.
Juli grinst auch und geht in ihr Haus. Im altmodischen Hausflur mit Stuckdecke schaut sie in ihren Briefkasten und meint gedankenverloren: "Niemand zu Hause." Auf der Treppe brummt sie vor sich: "Wir schreiben das Jahr 2020, und es ist immer noch fast unmöglich, jemanden in dieser Stadt wieder zu finden. Lichtplantagen. Pffff. Da leben doch 20 000 Leute."
Am nächsten Morgen zerrt der Wecker an ihren Ohren. Juli reckt und streckt sich. "Da kann ich machen, was ich will", denkt sie. "Der Himmel bleibt wohl grau. Aber man soll ja den Tag nicht nach dem Wetter beurteilen und schon gar nicht, wenn man nicht in den Lichtplantagen wohnt." Zwischen die Balkontüren drängelt sich ein kleiner, frecher Lufthauch, der sie die warme Decke bis zur Unterlippe ziehen lässt. Das Aufstehen fällt ihr schwer. Versehentlich lässt sie die Traumstücke fallen. Die schimmernden Symbole lösen sich in Luft auf.
Juli trinkt mit Genuss einen Latte Macchiato und liest Anzeigen im Tip-Magazin. Und findet diese: "Singen eine Freude, Bücher wie Wein, Wasserpalme und Plüschtiger, Arbeit mit Worten, in Filme geträumt, Sport mit Vergnügen, Musik ein Genuss, schreib mir mal, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!."
"Klingt ja süß. Vielleicht schreibe ich nach dem Schachturnier was Verspieltes zurück."
Sie macht sich auf den Weg zum KIKI Sonntag, wo das Turnier stattfinden soll. Der große Spielsaal ist erfüllt vom Ticken der etwa 2000 Uhren, die sich winzig neben den karierten Brettern ausmachen. Niemand scheint zu atmen. Über jedem Brett berühren sich fast zwei gefurchte Stirnen, die Rücken vornüber gebeugt. Und Juli schwebt in diesem Schweigen, im Bann der Zeit. Keine Gestik, kein lautes Wort, kein Rauch, keine Musik, nur das Wispern der Umhergehenden und das zarte Schlurfen der Figuren auf den Holzbrettern. Ein Profi mit gestreiftem Hemd unter dem feuerwehrfarbenen Blazer und kontrastiv gestreifter Jeans, schlendert Arme wedelnd auf und ab, dreht sich um und geht dann auf einen Schachtisch neben Juli zu, an dem zwei Teenager sitzen. Juli sieht genauer hin. Sieht Kay ziemlich ähnlich. Oh, là, là. Ist auch Kay.
"Hallo. Du interessierst dich für Schach?" flüstert Kay Juli zu.
Die Farbe des Blazers annehmend sagt Juli schnell: "Ja, klar. Ich schreibe einen Bericht über das Turnier. Für die "Kiddy Times"."
Das Spiel der Teenager ist inzwischen beendet. Das kleinere der beiden Mädchen kommt auf Kay zu und sagt atemlos: "Ich muss unbedingt nach Hause. Mein Hund ist doch alleine." Kay hängt seine Tasche an den Rollstuhl des Mädchens und sagt: "Na dann los." Und dann: "Luzie, das ist Juli. Juli, das ist Luzie. — Tut mir leid, ich muss schon wieder weg." Und schon weiter entfernt: "Brauchst du einen Nebenjob? Komm doch einfach mal am Mittwochabend zur Lebenshilfedisco ins Kaleidoskop. Das ist in der Corinthstraße. Du nimmst am Ostkreuz die rote Rollbahn und gehst durch den Park. Dann findest du es schon. Ciao."
Die gefühlte Zeit bis Mittwoch, fünf Tage, beträgt für Juli einen Monat. Und immerzu sieht sie auf den Werbepostern, den Gesichtern der Fahrgäste in der U-Bahn der Stadt, selbst im Supermarkt und im Fernsehen das Gesicht von Kay.
Aufgeregt nimmt Juli am Mittwoch die Bahn und steigt am Ostkreuz aus. Der Weg ist tatsächlich leicht zu finden. Eine Gruppe ausgelassener Jugendlicher geht vor ihr durch den Park in ein bunt besprühtes Gebäude.
Musik schallt aus einem Saal. Auf einem Schild an der Tür steht "Alkohol, Essen und Zigaretten verboten." Juli geht in den verdunkelten Saal und an der Tanzfläche entlang. Allmählich gewöhnen sich ihre Ohren und Augen an die laute, enthemmte Atmosphäre. An der Decke hängen Plastikpalmen. Viele Leute umarmen sich und bewegen sich kollernd, redend, fuchtelnd. Fast niemand sitzt auf den Stühlen am Rande der Tanzfläche. Eine Frau umrundet fröhlich hüpfend den Saal und ruft "Hallo, hallo". Rollifahrer zappeln freudig wedelnd auf der Tanzfläche. Andere Jugendliche schieben sie und lächeln breit. Unbekannte schütteln Julis Hände, tanzen mit ihr mit strahlendem Gesicht. Einzelne liegen auf dem Boden und singen lauthals den Liedtext oder einen anderen. Hier und da jagen sich Verspielte zwischen den stehend, liegend oder sitzend Tanzenden. Reichlich beschalte Fußballfans führen auf der Bühne einen Sporttanz vor. Die Luft ist körperhitzig. Ein Liebespärchen küsst sich von Rollstuhl zu Rollstuhl.
Das Mädchen des Pärchens ist Luzie. Noch fünf Minuten vorher hatte sie ein samtrotes I-love-you-Herz von einem anderen Jungen geschenkt bekommen. "Ist nicht mein Typ, zu alt", sagt sie frech. Das Gesicht ganz Grübchen, wirbelt sie ihr langes Engelshaar und neuen Tanzpartner um sich herum. Juli hört, wie sie ihrer Freundin zuschreit: "Diese Disco ist mein Leben, Alter."
Da trifft Juli Kay mit strahlenden Augen und lachendem Mund.
"Hallo", sagt Juli freudig. "Geht es hier immer so zu?"
"Klar. Komm tanzen", schreit Kay über die Musik hinweg.
Alles tanzt übermütig zu dem uralten Lied "Baby, I wanna know if you be my girl." Die Arme in der Luft schwingend singt man später einstimmig "nach Hause geh'n wir nicht" und zu anderen alten Kamellen. Der Rausschmeißer ist ein Schneewalzer. Kay steckt Juli zum Abschied schnell eine Café-Postkarte zu und sagt: "Schick’ mir bald mal eine E-mail. Ich zieh grade um und ein Handy hab ich sowieso nicht."
Auf der Karte steht: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Liselotte Kubitza
Nach meinen Tagebuchnotizen
20.5.2020
Wie stets allmorgendlich überlege ich auch heute mein Tagesprogramm. Nach dem Frühstück und dem Routineaufräumen spurte ich bei schönem Wetter und bester Laune los. Ein Blick vor der Haustür zum schönen gepflegten Wühlischplatz und loslaufend an der zur DDR-Zeiten lebhaft bevölkerten Max-Kreuziger-Oberschule vorbei, steigert sich meine gute Stimmungslage. Das hat seinen Grund darin, dass die nach der Wende 1989 aus Kindermangel geschlossene Schule im Jahre 2000 jahrelang vernachlässigt vor sich hingammelte und unsere Kiezbewohner dieses Trauerspiel missmutig verfolgten. Aufgrund einer kämpferischen Initiative der rebellierenden Bewohner rund um den Bahnhof Ostkreuz wurde das Schulgebäude in Zusammenarbeit mit dem Rathaus endlich saniert und ein "Kiezhaus" für Jung und Alt aller Bevölkerungsschichten eröffnet. Seitdem glänzt die erneuerte Fassade in erfreulichen Farben, desgleichen die ehemalige Turnhalle auf dem Gelände des alten Schulhofs. Dieser wurde fantasievoll nach den Vorschlägen der Bürger mit viel Grün, Blumen, Sträuchern und Bänken umgestaltet. Der alte Baumbestand und ein Springbrunnen erfreuen den Blick im Vorübergehen. Im Weitereilen überlege ich, wann ich das schöne und interessante Kiezhaus betreten werde. In der Sonntagstraße herrscht bereits reges Treiben. Diese bietet nun einen alternativen Anblick. Alle Balkons haben Blumen. Nachdem wir jahrelang wegen der Sanierung der Altbauten aus der Gründerzeit um 1900 fast unzumutbar durch Bauschutt, Dreck und an Bauwagen sowie sperrigen Baumaterialien unterschiedlichster Art, verdunkelnden Baugerüsten unfallgefährdet vorbeistolperten, ist nun Bauruhe eingetreten. Wir haben’s mit viel Geduld überlebt und freuen uns alle sehr. Auch die Handelsszene hat sich nach 10 Jahren Geschäftesterben langsam erholt. Der abgeschlossene Gaststättenboom vom S-Bahnhof bis hinter die Lenbachstraße verbreitet ein besonders angenehmes Flair und zieht viele junge Leute von früh bis abends an. Auch der geräumige Platz vor dem Bahnhof ist grün und bei schönem Wetter spezieller Anziehungspunkt für Sonnenhungrige und Kinder an der Spielecke. Schnell kaufe ich Kartoffeln, Suppengrün und Kräuter im Gemüseladen ein, weil es den jetzt auch wieder wie zu DDR-Zeiten gibt. Am besten für die Hausfrauen ist aber das längst notwendige Fischgeschäft mit umfangreichem Angebot. Noch kurz eine Information an der vor drei Jahren eröffneten Galerie über die nächste Vernissage lesend, eile ich zum Mittagkochen nach Hause. Mein Entschluss, am Nachmittag das Kiezhaus aufzusuchen, setze ich in die Tat um. Am Eingang Böcklinstraße geht es raus und rein. Alle Altersgruppen sind vertreten. Viele begrüßen sich. Die Häuser gegenüber des Kiezhauses sind restlos saniert und an der Böcklin-, Ecke Wühlischstraße ist ein Kinderspielplatz entstanden. Auffallend sind die früheren Graffitischmierereien am Ostkreuz zurückgegangen. Sehr zufrieden lese ich im geschmackvollen Foyer des Kiezhauses den aktuellen Veranstaltungsplan. Mich interessiert Verschiedenes. Gehe ich zu den Zeitzeugen der Senioren oder zur Schreibwerkstatt für Jung und Alt? Auch eine Vorlesungsgruppe jeden Alters trifft sich heute. Für die Malwerkstatt habe ich kein ausreichendes Talent, aber die ausgestellten Werke in den schön renovierten Räumen sehe ich mir gern an. Auch für den Chor und den Musikunterricht eigne ich mich nicht mehr, jedoch werde ich in zwei Tagen zum Seniorentanz in die ehemalige Schulaula gehen. Jetzt aber zur Schreibwerkstatt! Einige Kinder sind da und bitten die Senioren, ihre schriftlichen Visionen durchzulesen und eventuell Fehler zu korrigieren. Das machen wir gerne. Die Älteren berichten oft über die bewegte Vergangenheit, woran auch die Jüngeren interessiert sind und staunend zur Kenntnis nehmen. Rege wird dann diskutiert. Ich habe mir die schriftlich fantasievolle Zukunftsvorstellung eines dreizehnjährigen Mädchens durchgelesen und war ebenso erstaunt. Fehler hatte ich nur einige zu korrigieren: Zur Zubereitung von warmen Getränken gibt es eine kleine Küche auf jeder Etage. Tee oder Kaffee bringen wir selbst mit und Kekse spendiert jeder reihum. Kulturell bereichert ging ich nach zirka zwei Stunden nach Hause.
22.5.2020
Auf zum Tanz in das Kiezhaus! Meine Freude und Spannung sind groß. Gehübscht habe ich mich, so gut es geht. Näher kommend höre ich Musik. Nun kann’s losgehen. Aha, da steht ja auch mein seriöser Verehrer und echter Kavalier alter Schule. Beschwingt vergehen, ab und zu tanzend, drei Stunden. Bis zum nächsten Mal, wo ich bei den lateinamerikanischen Tänzen der Jüngeren zuschaue, denke ich an das erfreulich Erlebte. In einer Woche werden dann auch ausländische Tänzer, wie eben so häufig bei den Kindern, vertreten sein. Integration international ist im Kiezhaus kein Problem. Deutsch- und Gymnastikkurse erweitern die Palette des Angebots, wovon viele ausländische Bürger profitieren. Das allseitige Motto lautet: "Jeder hilft Jedem". Ein beispielhaftes Haus, nachahmenswert! Für die allgemeine Sauberkeit und Ordnung sorgt ein Hausmeister mit seiner Familie.
23.5.2020
Meine erste Außerhausarbeit besteht heute darin, zur neu eröffneten Schneiderei in der Sonntagstraße zu gehen. Wie lange haben wir diese vermisst. Ich bringe eine Hose zum Kürzen dorthin. Das schöne ist, dass Kurzwaren wie Nähgarn, Knöpfe, Reißverschlüsse, Bänder und ähnliches mehr angeboten werden. Wegen solcher Kleinigkeiten musste man all die Jahre zum Einkaufen fahren. Welche Verbesserung! Das Beste aber ist die Gelegenheit zum Laufmaschenaufnehmen der kaputten Damenstrümpfe. Wie hässlich sieht eine Dame mit sichtbaren Laufmaschen aus. Die Renteneinkünfte sind leider nicht hoch genug, um alles Reparaturbedürftige gleich wegwerfen zu können. Hierbei haben wir also den ehemaligen DDR-Standard wieder erreicht. Mein nächster Anlaufpunkt ist die Postfiliale in der Neuen Bahnhofstraße, die aufgrund der nicht nachlassenden Bürgerforderungen endlich eingerichtet wurde. Der Weg bis zur Frankfurter Allee war besonders für die Älteren und Behinderten viel zu weit. Im Laufe der Zeit ist in der Revaler-Straße ab Bahnhof Ostkreuz bis kurz vor der Modersohnbrücke eine ansehnliche Parkanlage und ein kleiner Spielplatz entstanden. Vor Jahren hatte ich dieses Modell anlässlich einer Bürgerbefragung vorgeschlagen und freue mich nun besonders über die Ideeverwirklichung. Zur Raumschaffung sind ein sehr hinfälliges Wohnhaus und alte, barackenähnliche Gebäude abgerissen worden. Nun kann man sich auf Bänken oder in einem netten kleinen Café niederlassen und verweilen. Hier treffe ich unvorhergesehen meinen amüsanten Tanzverehrer zu einem Plausch. Am Nachmittag bummle ich durch die mit vielen bunten Sonnenschirmen vor den Läden und Gaststätten verschönte Sonntagstraße zur Neuen Bahnhofstraße. Hier gibt es ein Geschäft am anderen und für die vielfältigen Waren wird unter lustig farbenfrohen Sonnenschirmen Reklame gemacht. Das bleibt nicht ohne Wirkung. Mein Ziel ist das Schuhgeschäft zwecks Kauf von Sommerschuhen und das Damenkonfektionsgeschäft wegen des Erstehens einer leichten Bluse. Im Vorübergehen kaufe ich noch im fantastischen Teegeschäft "Marion" ein Präsent für einen Damengeburtstag. Der nach Jahrzehnten geplante Umbau des Bahnhofs Ostkreuz ist mühsam abgeschlossen und hat für die Bürger nach Geduldsproben aller Art die lang ersehnte Verbesserung gebracht. Als Folge dessen entstand auch die ausgedehnte Geschäftswelt in der Neuen Bahnhofstraße. Viele Arbeitsplätze sind entstanden. Die Kriminalitätsrate ist zurückgegangen. Jubel überall!
25.5.2020
Das Wetter ist uns weiter hold. Alle Leute, so wie auch ich, sind in guter Stimmung. Mein Plan ist, zum Rummelsburger See zu gelangen. Dazu laufe ich durch den wunderbar umgestalteten Bahnhof Ostkreuz, benutze Rolltreppen und Fahrstuhl und erreichen bequem den nun existierenden Ausgang "Rummelsburger See". Dann nur wenige Schritte und ich bin da. Hier hat sich Erstaunliches getan. Mein netter Verehrer steht, wie im Café verabredet, neben der Bootsausleihstation am Ufer und winkt mir erwartungsvoll zu. Gemeinsam genießen wir das muntere Treiben der Leute und schauen auf die Ruder-, Paddel- und Wassertretboote. Den Kahn für Jugendliche zur Freizeitgestaltung gibt es noch immer und dazu eine Jugendherberge auf einem aus dem Verkehr gezogenen Dampfer. Ein Stück weiter befindet sich ein Restaurantschiff, welches wir zur Kaffeezeit betreten. Unsere Blicke richten wir auf einen langen Steg, an dem Segel- und Motorboote an- und ablegen. Eine Fähre fährt von einem Ufer zum anderen, hinüber auf die Lichtenberger Seite. Das wahrhaftige Bilderbuchwetter ist zum Ergötzen. Am Ufer befindet sich eine gepflegte Promenade mit Blumen und Sträuchern. Viele Jugendliche haben in ehrenamtlicher Arbeit zur Verschönerung der Anlage beigetragen. Für die Kinder gibt es bunte Luftballons sowie anderen Schnickschnack zu kaufen und überall Eis für Groß und Klein. Fröhlich erklingt eine bekannte Leierkastenmelodie, die zum Mitsummen verführt. Auf denn, weiter ins Getümmel! Wir sind beide gut drauf und strahlen mit der Sonne um die Wette. So kann’s bleiben, juhuh! Meine neuen Schuhe wurden bewundert und haben sich bewährt; desgleichen mein unterhaltsamer Herr. Für die nächste Woche nehmen wir uns eine Fahrt ins Umland mit der S-Bahn vor. Dank der lebenswert wieder eingeführten Jahresumweltkarte zu günstigem Preis und der hervorragenden Verkehrsmöglichkeiten ist das gut machbar. Ein schöner Tag geht zu Ende. Dankbar für das Erlebnis richte ich meine Gedanken auf den morgigen Tag. Da geht es zur Vernissage mit der neuen Bluse. Na dann, nur zu!
Erika Reichelt
Vision vom (R) Ostkreuz
Ach, das könnte schön sein, ein Bahnhof mit Fahrstuhl,
wo Kranke mit Rollstuhl die S-Bahn erreichen,
wo rollende Treppen die Menschen befördern,
wo Sprayer die Wände nicht mehr bestreichen,
wo man durch Parks zum Bahnhof gelangt,
wo wieder eine Bahnhofsuhr prangt,
wo Händler ihre Waren verkaufen
und man nicht muss so viel laufen.
Vielleicht ein Ausgang zur Rummelsburger Bucht
Für den, der die Erholung sucht.
Eine Halle mit vielen Geschäften,
mit Fleisch und Wurst und vielen Säften,
mit Brot und Kuchen und anderen Sachen.
Das würde uns viel Freude machen.
Parkplätze wären auch nicht schlecht,
die wären P+R - gerecht.
Schnell soll der Umbau geh'n,
denn wir Alten wollen den Neuen seh'n,
wollen die Bequemlichkeit genießen,
die wir so lange schon vermissen.
Wollen als Anwohner den Baulärm ertragen,
um später den Kindern zu sagen:
Hier stand mal ein Bahnhof, das Rostkreuz genannt,
DEN haben wir noch gut gekannt.
Fabian Theurer
Warten auf Tine
Tine und ich kommen ursprünglich ganz woanders her. Das ist heutzutage ja auch keine Seltenheit mehr. Wäre doch Zufall, wenn man ausgerechnet da, wo man eben geboren ist, auch noch Arbeit findet. Oder die Liebe seines Lebens. Zwanzig Jahre vor dem Jahr 2020 waren wir beide genau 20 und so unterschiedlich, wie sonst nur Zwillinge es sein können. Es war Sommer, als wir uns kennen lernten: Am Badesee. Das knallrote Banner des Che Guevara und ein wolkenloser Himmel trafen da aufeinander und in der Zweieinigkeit der Gegensätze fanden und hielten wir uns fest. Wir konnten uns anfangs nicht so oft sehen wie wir es gerne gewollt hätten. Doch hat sich auf Tine zu warten schon immer gelohnt. Sah ich sie dann endlich wieder, konnte sie immer mit einer besonderen Überraschung aufwarten: Sie hatte dann zum Beispiel einen Mandarine-Schinken-Salat erfunden oder trug einen neuen Wickelrock. Irgendwann beschlossen wir, eine gemeinsame Wohnung zu beziehen. Einen Schaukelstuhl und eine Palme für den Balkon, Teller und Tassen mit Blümchendruck, ein paar Schränke und unsere Bücher nahmen wir mit; Tine fand noch ein Telefon bei sich auf dem Dachboden und ich noch einen Tisch bei mir im Keller. Und dann wohnten wir zusammen. Saßen zum Beispiel auf unserem hochglanzpolierten Parkett und tranken uns mit Pinot Meunier zu, eine Rosenstolz-CD auf Wiederholung im Hintergrund, als Tine genüsslich feststellte, dass ich wie ein Zeitungsjunge aus den 20er Jahren (sie meinte die 1920er) aussähe, bevor wir übereinander herfielen und … man hätte es eine autonome Boheme nennen mögen, wäre es nicht ausgerechnet in Erlangen gewesen. So war unserem kleinen Glück auch keine große Zukunft beschieden: Ein paar Jahre nur, dann wurden Schaukelstuhl, Palme, Teller und Tassen mit Blümchendruck, die paar Schränke und unsere Bücher wieder herausgetragen, so wie sie hineingelangt waren. Es dauerte nur etwas länger als beim Einzug, da wir unseren Freundeskreis ziemlich vernachlässigt hatten.
Tine konnte meinen Schreibtisch gebrauchen, ich ihr Telefon. Auch ein paar Bücher wechselten noch schnell die Seite. Dann war die Wohnung wieder weiß und leer, Tine und ich wir sahen uns verzweifelt an. Tränen, letzte Umarmung, letzter Kuss. Wir stiegen in einen ICE, dem wir damals noch aus dem Küchenfenster hinterhersehen konnten. In die eine Richtung fuhr er nach München, in die andere nach Berlin. Tine zog es nach Süden, mich nach Norden.
In der Zeit danach schrieben wir uns Briefe. "Ich muss mir ja selbst weh tun", schrieb Tine dann etwa, bevor sie auf ihre Fortschritte bei der in München komplizierten Wohnungssuche zu sprechen kam. Auch ich war nicht gleich richtig angekommen. Anstatt in Berlin war ich in einem vom Verdauungsgas der Bourgeoisie aufgeblähten Vorort zwischen Berlin und Potsdam gelandet. Zehlendorf eine poetische Note abzugewinnen wollte mir nicht gelingen. Dennoch antwortete ich und Tine dankte es mir, indem sie stets mit "Fühl dich umarmt und geküsst" schloss – ganz so, als seien wir noch frisch verliebt. Manchmal allerdings traten ein paar Monate Pause auf, ehe der Vorhang des Schweigens sich wieder teilte. Im Ergebnis war die Neuigkeit dann immer eine besondere Sensation. So etwa, als Tine irgendwann beschloss, einen ihrer Zeitungsjungen zu heiraten. Was sie mit ihrem fortgeschrittenen Jurastudium offenbar genauso gut vereinbaren konnte wie ihre zahlreichen Seitensprünge. Zeitgleich wandelte ich auf Irrwegen durch einen seltsamen Landstrich. Die Einwohner dort begrünten ihre Regenrinnen und Hauseingänge mit kleinen Bäumen und Sträuchern; der Straßenbelag bestand aus etwa fünf verschiedenen Materialien aller deutschen Geschichtsepochen seit dem Kaiserreich, war aber an allen Stellen gleichmäßig kaputt. Ansonsten war noch bemerkenswert, dass grün angestrichene Rohre von etwa einem Meter Durchmesser, scheinbar wild aus dem Brachland eines geziegelten schwarzen Wasserturms emporkriechend, rätselhafte Substanzen geheimer Herkunft irgendwohin transportierten. Ich setzte Tine umgehend über meine Umzugspläne in Kenntnis.
Tine behauptete immer, München im Grunde zu hassen und nur aus Zweckmäßigkeitserwägungen dorthin gezogen zu sein, um beizeiten nach Berlin überzusiedeln. Vielleicht nahm sie die Nachricht deshalb eher mit Neid zur Kenntnis; sie ließ mich wissen, dass sie sich für mich freue, leider! Aber zurzeit furchtbar viel zu tun habe. "Ausführliches, sowie ich Zeit habe!", schrieb sie.
Hansestadt Bremen. Lutherstadt Wittenberg. Medienstadt Babelsberg. Jede Stadt bekommt einen Beinamen verpasst. Wenn sie keinen hat, erfindet die Deutsche Bahn eben rasch einen. Mein absoluter Favorit ist die "Stadt der Käthe-Kruse-Puppen Donauwörth Hubschrauberstadt Europas". Wie gut durchdacht dieser Name ist, erschließt sich einem sofort – jedenfalls, wenn man weiß, welches von den Wörtern ursprünglich die Stadt bezeichnet. Was sollten denn die Puppen allein nützen? Hubschrauber! Das klingt nach Schrappschrappschrapp: Hightech, Wirtschaft, Arbeitsplätze. "Juhu, es geht aufwärts!", drängt sich dem Stadtbesucher auf. Laptop und Lederhose! Und was ist Berlin? "Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland" natürlich. Das vereinigt bereits alle Superlative auf einmal in sich. Meines Erachtens haben aber auch der Bezirk Friedrichshain, ja, sogar das Ostkreuz sich einen Beinamen verdient. Die Bevölkerung sollte über mehrere Vorschläge abstimmen dürfen. Ich würde den Vorschlag "Entscheidungsraum Ostkreuz" einreichen. Erstens, weil es sich nicht entscheiden kann, wem es angehört: Friedrichshain? Hat der nicht was mit Kreuzberg zu tun? Oder Lichtenberg? Vielleicht auch ein ganz kleines bisschen Treptow? Und ist das dann Stralauer Kiez oder Rummelsburg oder...? Zweitens, weil hier vieles entschieden wird, von dem kein Mensch weiß, ob es wirklich so gut ist. Brauchen wir zwei, drei neue Bürotürme als Gegengewicht zum Treptower? Ich sage: Ja. Mindestens so notwendig wie das fünfte Einkaufszentrum um die Ecke und breitere Straße für noch mehr Autos. Tine hat sich gegen den Zeitungsjungen, aber für ein Kind entschieden. Ein Mädchen, das sie nach der Malerin Frida Kahlo benannt hat. In Ermangelung eines Partners ließ sie Glückwunschkarten mit dem Satz "Ich freue mich auf die Ankunft meiner Tochter Frida" bedrucken. Was ich für eine sehr alberne Idee hielt. Trotzdem gratulierte ich recht herzlich. Nun hatte ich aber meinerseits recht wenig Zeit, mich weiter darum zu kümmern, denn das Ostkreuz nahm mich in den nächsten Wochen und Monaten vollständig in Anspruch.
Im Grunde ist es ja wie eine Wohnung, in der ständig Putz von der Decke rieselt; man bückt sich, kehrt und wischt, bringt scheinbar alles in Ordnung – und wenn man sich umdreht, kann man schon wieder von vorne beginnen. Seltsam nur, dass es so wahnsinnig glücklich macht. Vielleicht, weil es hier immer noch wirklich notwendige Arbeit gibt, die andernorts schon längst ausgestorben ist. Facility Management, Personalberatung oder elektrische Fensterheber finden manche Menschen auch eine notwendige Beschäftigung. Ich aber nicht. Und Tine übrigens auch nicht, auch wenn sie vorläufig trotzdem nichts mehr von mir zu wissen wollen scheint.
Es waren wieder einmal Jahre vergangen, als sie mich eines Abends anrief und mit einer Selbstverständlichkeit drauflos quasselte, als sei sie nur mal eben Zigaretten holen gewesen. Dass sie einer großen Anwaltskanzlei in München vorstand, wusste ich schon. Sie hatte spektakuläre Auftritte bei Prozessen, von denen ich dann hinterher in der Zeitung las; zeitweilig brachte ich ihren Namen, den sie übrigens nie abgelegt hatte, gar nicht mehr mit meiner Tine in Verbindung. Perfekter Rollentausch: Tine berichtet, was sie bei ihren Streifzügen durch die Welt der Reichen und Schönen erlebt hat und ich … ach Tine, Odyssee! "Wie geht's Frida?" – "Och, der geht's gut. Weißt du was? Sie spricht zwei Sprachen fließend!" – "Andauernd wahrscheinlich, oder? Ganz die Mutter!" Gelächter. "Und was treibst du so?", fragte Tine. "Ich warte auf bessere Zeiten." – "Was?! Du wartest? Hör mal mein Lieber, das Glück kommt dir nicht mal auf halben Weg entgegen." – "Schade eigentlich", dachte ich bedrückt. Laut sagte ich: "Jaja, und Morgenstund hat Gold im Mund und Blut ist dicker als Wasser …", was sie prompt wieder mit herzlichem Gelächter quittierte.
Gewisse Redensarten haben sich bis zum heutigen Tag einen gewissen Stellenwert erhalten, was den Lachreiz anbetrifft. Ihre raue Stimme jedenfalls wirkt anziehender denn je auf mich. Diese Stimme erklärte mir nun, sie müsse einen ungeheuer wichtigen Mandanten unbedingt in Berlin treffen, und wenn es mich nicht störte, wolle sie mal auf einen Sprung bei mir vorbeikommen. Wir hatten uns zwölf Jahre lang nicht mehr gesehen. Ich sagte sofort zu.
Tine wollte aus irgendeinem Grund nicht direkt zum Ostkreuz kommen, und schlug die Modersohnbrücke als Treffpunkt vor. Offensichtlich hatte sie vorher einen Stadtplan zu Rate gezogen. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Es war Winter 2020, ich vergrub meine klammen Hände in den Jackentaschen und marschierte los. Jeden Moment, den ich an sie dachte, wurde mir warm ums Herz. Seltsam: Kalte Hände, warmes Herz. Während ich die Straße herunter lief, erinnerte ich mich wieder an all die Dinge, die ich Tine früher so gerne gezeigt hätte: Das Rostkreuz mit den vielen Menschen. Die Schienen auf der Straße, die nirgendwo mehr hinführten. Den zur Straße hin angeschrägten 30-Zentimeter-Gehsteig. Meine kuriose kleine Gründerzeitwohnung mit den Ochsenblut-Dielen. Die Schuttpflanzen (heißen die nicht auch Pionierpflanzen?). Wo war das alles geblieben? Warum mussten wir es aufgeben? Wie hatte es sich angefühlt, in dieser Gegend zu leben – bevor das Ostkreuz zu einem Einkaufs- und Dienstleistungszentrum umgebaut worden war? Ich schloss die Augen und fand etwas davon wieder, doch als ich die Augen wieder öffnete, sah ich nur noch diese trostlose Gegenwart, die nun die Wirklichkeit darstellen sollte. Der alte Stadtteil von damals war verdammt jung geworden, und ich verdammt alt. Mit einem Mal empfand ich so etwas wie Scham: Erste graue Haare wuchsen auf meinem Schädel und ich atmete schon zu heftig für so einen kurzen Spaziergang. Vielleicht hätte ich doch das Auto nehmen sollen. Würde Tine bei meinem Anblick erschrecken? Andererseits war sie ja genauso alt wie ich. Und ich war, naja, auf eine Weise distinguiert, erfahren in den Umgangsformen und finanziell in der Lage, sie vornehm zum Essen einzuladen. Ganz anders als früher! Als wir noch die gemeinsame Wohnung in Erlangen hatten. Ich schreckte aus meinen Gedanken auf. Die Überraschung bestand darin, dass es keine gab. Als die mit einem dunkelblauen Schal vermummte Gestalt auf der Mitte der Brücke sich nach mir umwandte, erkannte ich Tine sofort wieder. Nein, mehr als das, sie war einfach wieder gegenwärtig, obwohl ich sie schon die ganze Zeit über gespürt hatte. Mein erstarrtes Grinsen wollte erst wieder weichen, als ich sie plötzlich in den Armen hielt und ihre Tränen an meinem Hals spürte. Wenigstens sie war sich treu geblieben. "Du", sagte sie nach einer Weile, "ich muß dir was gestehen." Ich wartete: "Ich habe mich wieder gebunden …" – "Ja, aber das ist doch schön", log ich. Tine sah mich mit großen Augen an. "Es macht dir wirklich nichts aus …? Oh, das ist gut." Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und lachte verlegen. "Weißt du, ich stehe halt immer noch auf Typen so wie dich damals, in Erlangen." Ich mutmaßte natürlich sofort über die tollen Eigenschaften, die jemand besitzen musste, der mir ähnlich sein sollte. Kräftig, intelligent, erfahren und hochgradig männlich musste er mindestens sein, oder? Nein, hatte Tine gesagt. Es sei vielmehr so, dass sie immer noch auf Zwanzigjährige steht.
So ist es nun einmal, Jugend zahlt sich nicht aus und im Alter wird es auch nicht besser. Das gilt für außergewöhnliche Stadtteile ebenso wie für außergewöhnliche Frauen, die sich einem immer dann entziehen, wenn es eigentlich erst spannend werden könnte. Immerhin gibt es sie, so viel steht fest. Ich weiß nur immer noch nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll.
Zu diesem Buch
Diese Anthologie ist aus dem Schreibwettbewerb "Ostkreuz, zweimal täglich" entstanden, der von Mitte Februar bis Ende April 2002 lief. Eingereicht werden konnten bislang unveröffentlichte Kurzgeschichten, Porträts, Gedichte, Essays und Reportagen, die sich des Wettbewerbsthemas auf irgendeine Weise annehmen oder sich ihm nähern. Die Länge der Arbeiten hätte nach Möglichkeit fünf Seiten nicht übersteigen sollen. Weitere Bedingungen gab es nicht. Teilnehmen konnte jeder, der das Ostkreuz kannte und mit diesem Begriff etwas verband.
Eine Jury unter Vorsitz von Manfred Bofinger sichtete die Einsendungen, zeichnete fünf Beiträge mit Preisen aus und fand im Übrigen, dass die meisten Einsendungen es verdienten, einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden. So entstand die Idee zu diesem Buch.
Um sie zu verwirklichen, suchten die Organisatoren des Wettbewerbs - die Nachbarschaftseinrichtung RuDi und die Arbeitsgruppe Bürgerbeteiligung im Stralauer Kiez - Sponsoren. Und sie fanden sie in den Lenkungsgremien für das Berliner URBAN-II-Programm. Der Bahnknotenpunkt Ostkreuz und die umliegenden Wohngebiete liegen mitten in dem Stadtraum, der aufgrund seiner wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Defizite seit 2001 Fördergebiet der Europäischen Union im Rahmen des URBAN-II-Programms ist. Eine schöpferische Auseinandersetzung der Bürger mit ihrem Wohnumfeld gestern, heute und morgen, wie sie sich in den Beiträgen der Anthologie widerspiegelt, korrespondiert mit den Zielen, die mit diesem europäischen Programm verfolgt werden. So kann der vorliegende Band auch als ein kleiner, aber origineller Beitrag zu diesem Programm betrachtet werden, der auch das Dankeschön an die Sponsoren besser ausdrückt, als wir es je könnten.
Berlin, im Juni 2002
Sonia Karst
Ein erstes und ein letztes Mal
Zum Ostkreuz führen viele Wege.
Wie nach Rom.
Am Ostkreuz scheiden sich die Geister.
Wie im Falle von Natalie und mir.
Mit Natalie und mir - das hat nicht geklappt. Eigentlich kannten wir uns schon lange. Ich bewunderte Natalie und sie mich. Doch das genügte nicht, um eine gemeinsame Wohnung zu beziehen. Das kann ich im Nachhinein sagen. Aus der Nähe betrachtet waren Natalie und ich wie Nacht und Tag. So gestaltete sich unser Lebensrhythmus. Wir hatten außer der Wohnung nichts gemeinsam. Nach wenigen Monaten stand fest, dass wir uns jede für sich anderweitig umsehen mussten. Mich zog es weiter in den Osten. Und Natalie wollte in ihre alte Gegend zurück.
Als ich mich das erste Mal dem Ostkreuz näherte, benutzte ich eine Behelfsbrücke. Über diese Brücke gelangte ich auf eigentümliches Terrain. Es war, als führte die Brücke zu einer Insel inmitten der Stadt. Eine Insel - darauf lief es ja auch hinaus. Die Brücke war wie ein Luftschloss gebaut. Stahlrohrverstrebungen sprossen aus der Erde, bäumten sich über den Schienen auf und hinüber zum Inseldamm.
Um zu der Wohnung zu gelangen, die ich besichtigen wollte, musste ich beinahe die gesamte Insel durchqueren. Hastig hetzte ich voran. Du kommst zu spät, dieser Gedanke trieb mich über das Eiland. Ich hatte keine Zeit, Land und Leute zu betrachten. Und doch konnte ich im Vorübergehen das Zentrum der Insel ausmachen. Wen oder was es hier auch zu sehen gäbe, dessen war ich mir sicher, befindet sich in der Nähe der Kaufhalle. Auf den ersten Blick erkannte ich die alteingesessenen Inselbewohner, die heute Morgen schon Pappkartons zu Sitzgelegenheiten gefaltet hatten und danach dürsteten, dass das Einkaufszentrum seine Pforten öffnete. Wie die Hühner saßen sie nebeneinander, tauschten Inselneuigkeiten aus und freuten sich darauf, den Tag beim Dosenbier zu verbringen. Die alten Insulaner wollten ihre Ruhe. Sie waren sich selbst genug. Sie waren sich Schausteller und Zaungäste ihrer Lebenskunst.
Eilig lief ich auf das Haus Nummer siebenundfünfzig zu. Der Hausmeister, den die Wohnungsbaugesellschaft geschickt hatte, hatte sich schon vor der Tür postiert und sah mir entgegen. Ich dachte schon, Sie hätten es sich anders überlegt, empfing er mich. Außer Atem schüttelte ich den Kopf. Kommen Sie, sagte der Hausmeister, ich zeige Ihnen die Wohnung. Er führte mich in den ersten Hinterhof. Von dort aus betraten wir den linken Seitenflügel und stiegen in den ersten Stock. Das Schloss klapperte verdächtig als der Hausmeister die Tür öffnete. Die Wohnung bestand aus einem Zimmer, das die Ausmaße eines Tanzlokals hatte, einer Küche und einer Toilette. Mehr nicht. In der Küche gab es einen Ofen, der mitten im Raum stand und nicht zu gebrauchen war. Ein mit vergilbtem Zeitungspapier verstopftes Rohr ragte dort aus der Wand, wo die Spüle montiert werden sollte. Vom Fenster aus blickte ich auf die unteren Äste eines Kastanienbaumes, unter denen zwei Amseln tobten. Über den Wipfeln zogen die Schwaden eines Kraftwerkes dahin.
Hier wollen Sie einziehen, fragte der Hausmeister angewidert, Sie kommen mir gar nicht wie all die anderen Patienten vor. Ich brauche dringend eine Wohnung, sagte ich und der Hausmeister sah mich an, als wüsste er nun alles über meine Situation. Voller Mitleid legte er seine Hand auf meinen Unterarm. Bloß nicht weinen, sagte er. Ich schüttelte den Kopf. Wenn Sie für die Malerarbeiten niemanden haben, dann kann ich Ihnen zur Hand gehen, bot er mir an, als ich mich umgesehen hatte. Das schaffe ich schon, wehrte ich ab. Und der Hausmeister dachte, dass ich nicht nur verlassen worden, sondern auch noch stur und somit schuld an meiner Situation bin. Die lauten Gedanken des Hausmeisters empörten mich. Und der Hausmeister wiederum flüchtet sich vor meiner Wut. Er war ein gebranntes Kind. Geschlagen mit der Betreuung der Mieter im Haus Nummer siebenundfünfzig und anderswo, wo es war wie hier. Eilig begab er sich ins Treppenhaus. Ich folgte ihm. Energisch ließ ich die Tür ins Schloss fallen. Es schepperte eindringlicher als beim Öffnen, und als der Hausmeister abschließen wollte, bewegte sich das Schloss mit dem Schlüssel nach rechts und dann bewegte sich gar nichts mehr. Der Hausmeister rüttelte vergeblich an der Tür, drehte sich zu mir um und sagte: Da werden Sie wohl den Schlüsseldienst holen müssen. Ich fluchte. Nicht weinen, redete der Hausmeister weiter, Sie können die Kosten mit der Miete verrechnen. Ich nickte dankbar und machte mich auf den Weg.
Der Geschäftsführer des auf der Insel ansässigen Schlüsseldienstes kannte nur die teuren Inselpreise. Ich musste jenseits der Brücke jemanden suchen, der das Schloss repariert. Nach mehreren Anläufen fand ich einen Handwerker, der bereit war, am Nachmittag vorbeizukommen und zu einem deutlich günstigeren Preis das Schloss auszuwechseln.
Stunden später wiederholte ich die Prozedur vom Vormittag. Ich hetzte hinüber zur Insel, empfing den Handwerker und später den Hausmeister, dem ich einen von den neuen Schlüsseln gab. Der Hausmeister wollte den Ofen anschließen lassen und eine Heizspirale im Bad anbringen. Auf den Hausmeister war Verlass. Bevor ich mich zum zweiten Mal an diesem Tag von ihm verabschiedete, fragte ich ihn nach den anderen Mietern. Der Hausmeister lächelte nachsichtig. Die Mieter, die hier wohnen, werden Sie nicht zu Gesicht bekommen, sagte er. Ich dachte an Geister, an unheimliche und gleichzeitig ungefährliche Geister.
In den ersten Wochen sah ich tagsüber tatsächlich keinen der anderen Hausbewohner. Nachts drangen Geräusche zu mir vor, die von belebten Nachbarwohnungen zeugten. Bis mir einige Male die Mieter aus dem vierten Stock begegneten. Ein Mann und sein Hund. Der Hund lief wie der Mann gesenkten Hauptes. Hätte er auch ein tief ins Gesicht ragendes Kapuzenshirt getragen, hätten sich die beiden zum Verwechseln ähnlich gesehen. Im Treppenhaus machte der depressive Pitbull einen Moment lang Anstalten, als ob er nur spielen wollte. Er kam auf mich zu und schnupperte andeutungsweise in meine Richtung. Doch ehe seine Bewegungen freudig erregt wurden, trottete er seinem Herrchen hinterher, das schon einen Treppenabsatz weiter geschlichen war. Irgendwann im Laufe des Jahres sind die beiden ausgezogen. Der Mann mit dem Kapuzenshirt hat seinen Hausrat aus dem Fenster geschmissen, unten eingesammelt und in die Tonne geschmissen. Dann waren die beiden verschwunden. Seitdem habe ich tatsächlich niemanden mehr zu Gesicht bekommen. Ins Dunkel lauschend hörte ich vereinzelt irgendwen im Treppenhaus oder von nebenan reden.
Die Insel erkundete ich in meinen täglichen Spaziergängen. Vor dem Frühstück und im abendlichen Dämmerlicht lief ich eine Runde. Meine Spaziergänge glichen Besuchen in einem Freilichtmuseum. Die Insel war eine Art Museumsinsel. Entlang meines Weges befanden sich: Eine Postfiliale, in der die Zeit stehen geblieben war, zum Telefonieren verschwand ich hinter einem Bretterverhau, der ochsenblutfarben angestrichen war, ein Stück Land, auf dem Schafe eintönig blökten, ein Autohaus, eine Kirche gegenüber einer Schule, ein kleiner Park, in dem Obdachlose mit blutunterlaufenen Augen wohnten, eine Ampelkreuzung, eine Kneipe, die irgendwann Pleite gegangen ist, in der es Schnitzel, Dosenerbsen und Petersilienkartoffeln für sieben Mark fünfzig gab, ein Altenheim, eine Kaufhalle, in der die Dose Bier neunundzwanzig Pfennige kostete, eine Bibliothek, in der Bibliothekarinnen mit verbitterter Miene den ihnen anvertrauten Bücherschatz aus vergangenen Zeiten hüteten, ein Spätkauf, in dem eine Dose Bier den doppelten Kaufhallenpreis kostete, ein Schreibwarenladen, in dem eine krebskranke Frau arbeitete, eine Bank für Geldgeschäfte und ein, zwei Bordelle. Außerdem gab es eine Allee schlanker Pappeln, Bäume auf der Insel und streunende Hunde. Und wie auf einer Insel üblich, herrschten hier eigene Gesetze. Die Bewohner beschützten sich selbst. Eigenhändig sorgten sie für Ruhe und Ordnung, denn es gab keine Polizeistation auf dem Eiland.
Eines Morgens erzählte der Inhaber des Spätkaufes, er sei heute Nacht überfallen worden. Ein Unbekannter hätte mit einer Pistole bewaffnet den Laden betreten und gefordert, die Nachteinnahmen herauszugeben. Der Inhaber des Spätkaufes war ein Mann zwischen dreißig und vierzig. Genauer konnte ich sein Alter nicht schätzen. Er war hünenhaft groß und breit und phlegmatisch in seinen Bewegungen. Die Nachtarbeit stand ihm ins teigig bleiche Gesicht geschrieben. Er trank gerne und er trank Nacht für Nacht. In diesem Nebel aus Alkohol, durchwachter Nacht und chronischer Müdigkeit trat er hinter dem Tresen hervor, schlug dem Angreifer die Pistole aus der Hand, dann in das Gesicht des Räubers, dann überall dorthin, wo er ihn am Körper treffen konnte. Er schlug langsam und bedächtig auf den Ganoven ein, bis dieser zur Tür hinaus war. Die Waffe hat der Ladenbesitzer behalten. Entsichert und entladen führte er sie staunenden Kunden vor. Warum er nicht die Polizei gerufen habe, wird er nach jeder Vorführung gefragt. Und nach jeder Vorführung antwortet der Inhaber des Spätkaufes gelangweilt und ein wenig erstaunt: Wozu denn erst die Bullen kommen lassen, der Typ lässt sich hier sowieso nie wieder blicken.
All das erzählte ich Natalie, als sie zum ersten Mal zu Besuch kam. Ich wollte sie sogar in den Spätkauf führen, damit auch sie die Waffe betrachten kann. Doch Natalie weigerte sich. Es dämmerte bereits und Natalie wollte auf keinen Fall bleiben bis es dunkel ist. Denn dann würde sie sich nicht trauen, den Damm entlang bis zur S-Bahn zu laufen. Wenn ich hier wieder weg bin, sagte Natalie, mache ich drei Kreuze und zukünftig einen weiten Bogen. Dann verabschiedete sie sich.
Zum Ostkreuz führen viele Wege.
Und viele führen daran vorbei.
Am Ostkreuz scheiden sich die Geister.
Das mit Natalie und mir konnte nicht klappen.
Christine Zalewski
Ostkreuz. Am Rande
Zwei Bahnsteige und ein dritter quer dazu und hoch oben. Treppauf, treppab. Wie oft bin ich hier umgestiegen! Ich weiß es nicht, man könnte es ausrechnen. Zehn Jahre lang fast jeden Werktag und zweimal am Tag: morgens und am späten Nachmittag. Von einem Bahnsteig und hinauf zum anderen. Morgens noch mit Schlaf hinter den Augen und flink, so flink wie nur möglich. Nur nicht den Anschluss verpassen. Morgens kurz vor Arbeitsbeginn zählt jede Minute. Mit verschlossenem Gesicht eilen die Menschen hin und her. Wer da ruhig auf dem Bahnsteig säße, käme sich vor wie in einem Ameisenhaufen.
Jetzt habe ich Zeit, jetzt könnte ich in Ruhe beobachten. Aber wer steht schon auf, nur um anderen auf dem Weg zur Arbeit zuzuschauen? Aber Zeit habe ich jetzt, ich könnte in Ruhe in diesem Bäckerei-Imbiss eine Tasse Kaffee trinken. Aber jetzt habe ich zu wenig Geld. Ich friere. Eine Tasse Kaffee jetzt wäre schon gut. Zehn Jahre arbeitet man in der gleichen Firma - und dann das Aus. Zuerst dachte ich ja: Eine kleine Pause wär' auch ganz schön. Aber ohne Geld? Man spart ja, wo man kann, man schont die gute Bürokleidung, braucht ja auch nichts sofort nachgekauft zu werden.
Jetzt könnte ich ja einmal in der Woche mit Helena und Simone in dieses Café gehen, in diese Bäckerei mit Hinterzimmer. Aber das kostet mich fast sechs Euro, jedes Mal. Und mitgehen, ohne etwas zu bestellen, geht auch nicht. Wie die Verkäuferin schon schaut. Und wenn Helena oder Simone mich einladen, um diese Peinlichkeit zu überbrücken, ist mir das auch nicht recht. Ich bin doch keine Bettlerin!
Ach, ob ich obdachlos bin? Wie kommen Sie denn darauf? Nein, obdachlos bin ich natürlich nicht. Ich habe eine Wohnung. Bloß weil ich zwei große Taschen bei mir habe, bin ich doch nicht obdachlos! Nachdem ich die Arbeit verloren hatte, haben Kurt und ich überlegt, zusammenzuziehen. Seine Wohnung ist ja auch groß genug für uns beide. Natürlich zahle ich Miete bei ihm und habe sie auch immer pünktlich bezahlt. Ich will niemand etwas schuldig bleiben. Nee, wollte ich nie.
Das ist freundlich, dass sie mich zum Kaffee einladen, aber nötig wär' das nicht. Ja, da kann man sich die Hände richtig an der Tasse wärmen. Na ja, Kurt hat schon früher ganz gern gepichelt. Als Frührentner, kein Problem. Aber wenn wir jetzt Krach haben, dann schmeißt der mich doch glatt aus der Wohnung, obwohl ich fast die ganze Miete zahle. Das glauben Sie mir nicht?
Ja der Mantel, den trage ich jetzt im vierten Jahr, der ist schon etwas schäbig. Aber wenn ich diese Miete nicht zahlen müsste, könnte ich mir schon einen ordentlichen Mantel leisten - und einen geschenkten will ich nicht. Natürlich zahle ich die Miete. Man will ja nicht obdachlos werden und auf Kurt ist in Gelddingen kein Verlass.
Warum ich dann um diese Zeit hier am S-Bahnhof Ostkreuz stehe? Das geht Sie gar nichts an! Na ja, Kurt hat mich aus der Wohnung geschmissen. Ist nicht so tragisch, wie sich's anhört, ein, zwei Tage muss ich überbrücken, dann kann ich wieder zurück.
Wo ich hingehe? Weiß noch nicht. Letztes Mal war ich bei Else. Zur Not könnte ich auch bei Elisabeth unterkommen. Aber Rosa würde ich nur sehr ungern um so etwas bitten. Danke für den Kaffee, junge Frau. Aber jetzt muss ich wieder los. Ja, wie ich noch Arbeit hatte, das waren andere Zeiten. Aber ohne Geld gerät man doch leicht in Abhängigkeiten, die früher gar nicht drin gewesen wären. Passen Sie bloß auf. So was kann Ihnen auch passieren. Was, Sie glauben das nicht? Passen Sie bloß auf. Und danke noch mal für den Kaffee. Ah, da kommt meine S-Bahn!
Markus Arnold
Die Brücke und das Häuschen
An der Brücke gab es mal ein Häuschen. Es stand wie ein Hexenhäuschen auf langen Stelzen bestimmt 15 Meter hoch über der Erde. Es hatte nicht, wie jedes Haus, Nachbarn, in die es eingefügt war und der Wind umspielte es von allen seinen Seiten. Nur ein kleiner Steg führte von seiner Tür bis zur Brücke, die ihm die einzige Gesellschaft war. Die Brücke selbst war fast so alt wie das Häuschen und überspannte die Geleise der Stadt- und der Fernbahn, zwischen denen das Häuschen stand. So konnte es den ganzen Tag eine Menge Bewegung beobachten. Es kannte die Fahrpläne der Züge, bemerkte jede Veränderung, ein jedes Zuspätkommen genau und manchmal, wenn der Wind günstig stand, da hörte es aus dem Ostbahnhof die Stimme des Stationssprechers, die sehr geehrten Fahrgäste um etwas Geduld bittend. Was das war, diese Geduld, das wusste das Häuschen nicht und auch die Brücke konnte es ihm nicht sagen.
Über der Brücke fuhren täglich die Autos hin und her. Manche hatten es sehr eilig und das waren meist die lautesten. Sie hupten und brummten und einige ließen sogar ein ohrenbetäubendes Geheul von sich und nahmen sich sehr wichtig. Die Langsamen aber liebte die Brücke am meisten. Abends erzählte sie es dann dem Häuschen: "Hast du gesehen, heute war er wieder da."
Das Häuschen wusste natürlich sofort, wer gemeint war, aber es tat immer so, als hätte es nichts gesehen und belustigte sich daran, wie die alte Brücke dann immer so aufgeregt war.
"Der Käfer, der rote mit den schwarzen Punkten. Hach, nun tu doch nicht so, als wüsstest du nicht!"
"Der Käfer, ach so ja, der Käfer."
"Immer, wenn er über mich drüber fährt, weißt du, dann kitzelt das so, dass ich am liebsten wackeln würde."
Die Brücke mochte die Autos, die kitzeln, und früher, da hätten die Autos ja noch viel mehr gekitzelt als heute. Mit dem Käfer hatte es jedoch eine andere Bewandtnis. Einmal war ein Philosoph über die Brücke geschritten, hatte innegehalten und seinem Begleiter erzählt, wie wichtig Brücken doch sind, da sie die Verbindungen schaffen zwischen den Ländern und den Menschen, da sie die Ufer zusammenrücken lassen und Liebe und Frieden stiften. Ohne sie würden die Menschen doch völlig vereinsamen. Die Brücke hatte das alles mit stolzgeschwelltem Asphalt aufgenommen, und kaum war am Abend der letzte Fußgänger außer Hörweite, platzte sie auch schon heraus:
"Hey, Häuschen, hast du diesen Mann reden gehört?"
"Pssst, sei nicht so laut. Am Ende merkt noch jemand was und dann kommen sie wieder in Scharen und warten auf ein Wunder", ermahnte sie das Häuschen, aber die Brücke fuhr unbeirrt fort:
"Er sagte was von Verbindungen schaffen, Liebe und Frieden stiften und dass ohne mich die Menschen vereinsamen."
"Nun ja, zugegeben", wägte das Häuschen ab, "aber wen hast du denn schon groß verbunden, welche Menschen hast du denn schon zusammengebracht? Schau dort drüben auf der großen Warschauer. Dort passiert was, dort ist richtig was los. Dort gehen jeden Tag bestimmt hundert Pärchen entlang und überhaupt, Warschau, das ist eine bedeutende Stadt. Da fahren täglich vom Ostbahnhof vier Züge hin und wieder zurück. Nach Modersohn fährt kein einziger. Das ist wahrscheinlich nur irgendein Provinznest."
"Modersohn", entrüstete sich die Brücke, "Modersohn ist doch kein Provinznest. Das war ein Maler, ein ganz berühmter sogar. Jawoll. Landschaften hat der gemalt, ganz tolle. So etwas hast du noch nie gesehen. Und eine Frau hat der gehabt, die war auch Malerin ..."
Aber in ihrem Inneren war die Brücke tief betrübt, denn es stimmte, was das Häuschen gesagt hatte. Nie hatte sich ein Pärchen auf ihr gefunden, aber dann eines Tages, hielt der Käfer an der Brücke und ein Fotograf stieg aus. Er stellte sein Stativ auf und fotografierte den Sonnenuntergang und das Häuschen. Ein Mädchen kam vorbeigeschlendert, unterhielt sich mit ihm und schaute durch die Linse, und die beiden stiegen zusammen in den Käfer und fuhren zusammen über die Brücke, um irgendwo einen Café zu trinken. Die beiden kamen noch öfter an die Brücke, blieben eine Weile stehen, um sich den Sonnenuntergang oder den Mond anzuschauen. Bald hatte das Mädchen einen dicken Bauch und ein paar Monate später hörte man ein Schreien aus dem Käfer. Da war die Brücke wieder froh und stolz erzählte sie dem Häuschen davon.
Eines Tages kam Anton vorbei. Anton kannten sie noch von früher, denn als Anton klein war, ging er jeden Tag von der Schule aus über die Brücke nach Hause. Das Häuschen mochte Anton nicht besonders leiden, denn er hatte einmal, um seinen Freunden zu imponieren, einen Stein in eines seiner Fenster geworfen. Jetzt aber war Anton alt und er hatte wieder einige Freunde dabei. Sie beugten sich über ein paar Karten, schauten zur Brücke und wieder auf ihre Karten, tuschelten miteinander und stiegen dann wieder in ihre Autos. Der letzte Satz, den Anton sagte, hallte dem Häuschen noch in den Ohren nach:
"Diese Bruchbude kann ja bei der Gelegenheit auch gleich mit weg."
Was das heißen sollte, wurde den beiden schnell klar. Man stellte ein Schild auf, auf dem stand:
NEUBAU DER MODERSOHNBRÜCKE II BA
ÜBER BAHNANLAGEN DER DB AG
DIESES BAUVORHABEN WIRD AUS DER GEMEINSCHAFTSAUFGABE
"VERBESSERUNG DER REGIONALEN WIRTSCHAFTSSTRUKTUR"
GEFÖRDERT.
Als die Bagger kamen, verabschiedeten sich Häuschen und Brücke voneinander. Den Käfer haben sie nie wieder gesehen.
Viele Jahre später stand eine neue Brücke anstelle der alten. Der Fotograf und sein Mädchen kamen nicht mehr. Ihr Sohn, der elfjährige Paul, war eines Tages nach dem Spielen zu der neuen Brücke gekommen, war auf die Bögen, die sie überspannen, geklettert und heruntergefallen.
Barbara Blum
Ostkreuz- Romantik
Schon von der Elsenbrücke aus
seh meinen Pickel-Turm ich sich erheben,
kann gegen all die anderen besteh'n,
die noch im Umkreis in die Höhe streben.
Der Massiv-Klotz-Turm gleich in der Nähe
kann ihm nicht das Wasser reichen,
auch wenn die Spree so silbern glänzt,
sucht der Turm am Ostkreuz seinesgleichen.
Bahnhof am Rotsteinbrücken-Tunnel,
vergessen - klein und hingeweht,
Tausend Räder-Schwestern täglich grüßen,
sagen: wir sind wichtig, seht nur - seht.
Wenn einen neuen Bahnhof ihr einst baut,
denkt an die Romantik - Tradition,
wir Räder sind zwar quietschig laut,
doch auch Gefühl schwingt mit in uns'rem Ton.
Katrin Girgensohn
Ostkreuz
"Junge, ich such dir einen Nebenbuhler!", sagte Andrea eines Morgens zu mir und verschwand. Als der Tag zu Ende war, ging ich sie bei Matthias suchen.
Matthias war nur mäßig erstaunt darüber, dass ich ihn als möglicherweise Buhlenden in Betracht zog. "Du hast Andrea vernachlässigt!", warf er mir vor. "Du hast geglaubt, sie sei dir sicher. Und das hast du ihr gezeigt. Welche Frau will schon gerne in einer Reihe stehen mit den polierten Objekten, die du im Laufe der Jahre gewonnen hast, die du für vorzeigbar hältst und schließlich nur noch selten selbst betrachtest?"
Ich nickte und bat Matthias um ein Bett. Ich fürchtete mich vor einer Wohnung ohne Andrea. Matthias aber brauchte seine Betten in dieser Nacht sämtlich selber und so zog ich um die Häuser, bis ich zum Ostkreuz kam. Am Ostkreuz hatte ich Andrea kennen gelernt. Damals stand eine grölende Männerhorde am wandhohen Absperrgitter auf dem östlichsten Bahnsteig und lachte über das dort ausgestellte Idyll mit Gartenzwerg und Keramikreh.
Andrea stellte sich daneben und sagte: "Grobe Kerle!" Staunend drehten wir uns um. Eine kleine Frau mit roter Mütze, zu breit gebaut, um auf den ersten Blick hübsch zu sein. Wir wollten sie mit dummen Sprüchen belegen, aber nicht einmal Robert fiel einer ein. Erst als der Zug zur Bornholmer Straße einfuhr, blökte er: "Rotkäppchen und das Reh!" Andrea beachtete ihn nicht. Als ich mit dem nächsten Zug zurückkehrte, war sie verschwunden.
Ich verbrachte viel Zeit auf dem Bahnsteig, bis ich sie wiederfand und ihr meine Liebe gestehen musste. "Warum?", wollte sie wissen, "wegen Reh und Zwerg?" Wir fuhren bis Bernau und wanderten um den Liebnitzsee. Auf der Rückfahrt küsste sie mich das erste Mal und roch dabei wild wie Brandenburg.
Andrea war die erste Frau in meinem Leben, von der ich mir ein Kind wünschte. Bis zu Andrea war ich der Meinung, nur Frauen wünschten sich Kinder und der Sinn eines jeden Frauenlebens bestehe darin, einen Mann zu finden, der sich breitschlagen lässt und sich in die Knechtschaft einer Familie begibt.
Andrea verstand das nicht: "Ich bin zu jung!", sagte sie. Und später: "Wir kennen uns doch erst ein Jahr!" "Andrea, du kannst mit zwei Wörtern einen Gartenzwerg auf einem nassen Stück Kunstrasen gegen fünf angetrunkene Männer verteidigen. Eine solche Frau braucht eine angemessene Aufgabe!" "Du findest Frauen sexy, die ihren Nachwuchs hüten?" "Es wäre ja auch mein Nachwuchs! Du bist eine Löwin, Andrea, ich will sehen, wie du unsere Jungen beschützt!" "Woher weißt du, dass ich Kinder hüten kann wie Gipsfiguren? Ich mag dieses Ensemble auf dem Bahnsteig, weil dort jemand aus der Wildnis ein Wohnzimmer machen wollte. Mehr ist das nicht." Weil sie mich ansah wie damals vor dem Absperrgitter, fiel mir keine Antwort ein. Ich traf mich mit Robert auf der Cartbahn und gewann meinen ersten Pokal.
Heute, drei Jahre später, stand auf dem Bahnsteig ein Weihnachtsbaum hinter dem Gitter. Der Kunstrasen war noch fleckiger als früher. Ich fror.
Als der Zug kam, fuhr er nicht nach Bernau, sondern im Kreis. Einmal um Berlin herum.
Gegen Morgen stieg ich aus und klingelte bei Matthias. In jedem seiner Betten fand ich eine Frau. "Wieso liegen die nicht bei dir unter der Decke?", wollte ich wissen und packte Schrippen auf den Tisch. Matthias setzte Kaffee auf. "Ich bin ihr Vermieter. Bed & Breakfast. Keine soll glauben, ich sei ihr sicher."
Zu Hause nahm ich meine Pokale vom Regal und warf sie zum Grünen Punkt. Hinter dem letzten entdeckte ich Andrea. Sie heulte: "Deinen Nebenbuhler habe ich gefunden!"
Erleichtert nahm ich sie in den Arm. Andrea ist schwanger.
Anhang zum Ostkreuz
Mit den langen blonden Haaren, das ist Eva, auf dem Weg zu ihrem Studentinnenjob als Kellnerin, Jura-Studentin.
Das ist Fréderic, der gerade seine Freundin in Paris anruft.
Maggie ist noch unentschieden, wo sie frühstücken will. Sie ist verkatert.
Paul ist Club-DJ und muss noch seine CD-Sammlung für heute Abend sortieren.
Auf dem Weg zu ihrer Tante ist Anna, mit Narzissen in der Hand.
Das ist Susanne, die frisch verliebt ist. Seit drei Wochen frisch. Sie weiß noch nicht, dass sie schwanger ist.
Anke muss ihre Tochter Carlotta von ihrer Freundin abholen, weil sie heute zum Abendbrot noch zur Oma wollen. Oma wird wieder über das Haarfärben schimpfen.
Nils will skaten gehen, am Frankfurter Tor. Er ist sauer, weil seine Mutter ihn zum Badezimmer putzen gezwungen hat.
Nils hat seine Tocotronic-CD auf dem Ohr und wippt dazu. Dass er auch Nils heißt, ist Zufall. Nils und Nils kennen sich nicht. Dieser Nils will Nina treffen.
Nina aber läuft fünfzig m hinter ihm und ihr ist mulmig, weil sie die Beziehung beenden will - sie liebt Tim.
Bert und Andrea, genannt Anni, sind auf dem Heimweg zu ihrer ersten gemeinsamen Wohnung. Gemeinsam tragen sie die erste gemeinsame Teekanne im Beutel.
Hier sehen wir Alex und Kolja mit ihren Omas und Opa Karl.
Edita hat ein Schleudertrauma, weil Ralph den Wartburg an einen Baum gesetzt hat.
Frau Müller hastet von der Schicht nach Hause, sie ist Busfahrerin und freut sich jetzt auf Kaffee und Kuchen mit ihrer Familie.
Frank ist traurig, weil seine Oma gestorben ist und er in Berlin niemand kennt, der seine Oma kannte.
Pit muss schon wieder Rita beruhigen, die sich zu klein findet.
Henni und Anja haben sich nichts mehr zu sagen und sich deshalb einen Spiegel gekauft.
Caro und Annika wollen zu Sebastian, CDs brennen. Caro ist in Sebastian verknallt.
Rudi schleppt seine Bücher mit sich rum und drückt sich vor dem Schreiben seiner Hausarbeit.
Frank und Jo sind die Kapelle Berlinomat, unentdeckte Talente an der Gitarre, denen eine Sängerin fehlt.
Keiner von ihnen wirft einen Blick in die Schaufenster vom Café Bettenhaus. Beim Milchkaffee sitzt dort mein glückliches lyrisches Ich.
Ilse Treue
Blicke aus einem Haus,
das es nicht mehr gibt
Dort, wo Sonntagstraße, Simplonstraße und Lenbachstraße ein Dreieck bilden, wo heute eine Grünfläche mit Bänken zum Ausruhen einlädt und wo ein Spielplatz die Kinder vom Fahrdamm weglockt, unmittelbar am Bahnhof Ostkreuz, stand das Haus allein inmitten von Trümmern. An seinen Seiten türmten sich Berge von Schutt bis zum ersten Stockwerk empor. Zu dem Haus gehörten außerdem ein Seitenflügel, ein Quergebäude und ein kleiner Hof. Familien mit und ohne Kinder, Ältere und Jüngere und auch Alleinstehende wohnten darin. Seine Adresse: Lenbachstraße 13.
Im Dezember 1949 zogen wir, mein Mann und ich mit zwei kleinen Kindern (vier Jahre und zehn Monate alt) in dieses Haus ein. Wir kamen aus einer bombengeschädigten Wohnung, die wir mit zwei älteren ausgebombten Leuten teilten. Brandbomben hatten das Dach so beschädigt, dass wir bei Regenwetter Eimer und Wannen aufstellen mussten, in die es dann nervend hineintropfte. In solchen Fällen mussten wir mit den Kindern in der Küche schlafen.
Nun also hatten wir endlich eine trockene Wohnung. Und ein Bad! Noch am Umzugstag wurde der Ofen geheizt und genüsslich gebadet. Diese angenehmen Seiten überwogen anfangs, obwohl wir ahnten, dass das frei stehende Haus noch manche Unannehmlichkeiten offenbaren würde. Die kamen mit dem Winter schneller als uns lieb war. Durch die unverputzten, porösen Fugen drang die Kälte. Dass wir über dem Keller wohnten, machte die Situation noch unangenehmer. Was haben wir in dieser Wohnung gefroren! Anfangs gab der an der Außenwand liegende Trümmerberg noch geringfügigen Schutz. Doch nachdem er weggeräumt worden war, was uns zwar freute, war das Haus schutzlos dem Wetter preisgegeben. Einmal hatten spielende Kinder von außen mit einem Draht an den bröckelnden Fugen gekratzt und kamen damit plötzlich bis in unser Wohnzimmer durch. Unsere Kinder waren oft erkältet, worüber sich die Kinderärztin, nachdem sie unsere Wohnung kennen gelernt hatte, nicht mehr wunderte. Das Haus war in einem traurigen Zustand. Man konnte es nur als Übergangsstadium betrachten. Es sollte noch sieben Jahre dauern, bis wir in eine bessere Wohnung ziehen konnten.
Trotz dieser Mängel lebte es sich in der Lenbachstraße nicht schlecht. Zahlreiche kleine Geschäfte im näheren Umkreis, vor allem Konsum, Fleischer, Gemüseladen und ein Kohlenhändler, ermöglichten einen bequemen Einkauf. An der Ecke Boxhagener Straße befand sich der Spielzeugladen von Herrn Unglaube, der ebenfalls Lenbachstraße 13 wohnte. An seinem Schaufenster drückten sich unsere Kinder oft die Nasen platt. Bei ihm kauften wir dann zu einem Weihnachtsfest die Spielzeugeisenbahn - welche Freude für Klein und Groß!
Verkehrsmäßig befanden wir uns durch die unmittelbare Nähe des S-Bahnhofes Ostkreuz in sehr guter Lage. Von hier aus fuhren wir täglich zur Arbeit. So weit ich mich erinnere, konnten wir uns auf die S-Bahn immer verlassen. Das war auch an den Wochenenden so, wenn die ganze Familie ins Grüne fuhr. Gewiss, Kinderwagen (in den ersten Jahren) und Gepäck mussten treppauf und treppab geschleppt werden. Doch wir waren jung und kannten's nicht anders. Unbequemlichkeiten dieser Art nahmen wir gelassen in Kauf, lockten doch der Zeltplatz, die freie Natur und für die Kinder das ungezwungene, ausgelassene Spiel an frischer Luft. Die S-Bahn brachte uns, wenn auch oftmals total überfüllt, sicher wieder nach Haus, fast bis vor die Tür.
Sehr vorteilhaft war die in wenigen Minuten zu erreichende Max-Kreuziger-Schule, die unsere Kinder besuchten, ohne gefährliche Fahrdämme überqueren zu müssen. Nachmittags waren sie im Schulhort gut aufgehoben. An der Schule betätigte ich mich im Elternbeirat. An so mancher Klassenfahrt konnte ich die Lehrerin begleiten und die kleinen und größeren Erlebnisse mit den Kindern teilen. Jahre später durfte ich als angehende Lehrerin an dieser Schule meine ersten unvergesslichen pädagogischen Schritte machen. Mein Direktor, meine sehr erfahrene Mentorin, sowie Kolleginnen und Kollegen halfen mir, den Wechsel in meiner beruflichen Entwicklung zu meistern. Aber da wohnten wir schon nicht mehr in der Lenbachstraße.
Dass nach der Beseitigung des Schuttes auf dem abgeräumten Trümmergelände eine Grünfläche mit einem Ballplatz entstand, ist auf die Initiative der Mieter zurückzuführen. Schließlich wurde auf ihr Drängen mit Unterstützung des Bezirksamtes erreicht, dass die Giebel verputzt wurden. Später, nach dem Abriss des Hauses (wir waren bereits ausgezogen) wurde die Grünfläche erweitert und zu dem Ballplatz auch ein Spielplatz angelegt.
Sieben Jahre hatten wir hier gewohnt. Erinnerungen, Erinnerungen ... 1956 endlich konnten wir in eine sonnige, warme Wohnung mit Balkon zum Süden ziehen.
Seitdem hat sich viel verändert. Die kleinen Läden existieren nicht mehr. Die Max-Kreuziger-Schule mit ihrer schönen Aula, in der einer unserer Söhne seine Jugendweihe erhalten hatte, ist geschlossen. Neben neuen Gebäuden und renovierten, mit frischer Farbe versehenen Häusern, die Ausblick auf ein lebenswerteres Wohnen gewähren, sieht man viel Leerstand und hässliche Schmutzecken. Insgesamt macht das Umfeld um den Bahnhof Ostkreuz auf mich einen vernachlässigten Eindruck. Bis heute wohnen wir in seiner näheren Umgebung. Wenn auch nicht mehr täglich, so führen unsere Wege immer wieder zum Bahnhof, dessen anstrengende Umsteigerei wir längst nicht mehr so gelassen hinnehmen wie in jungen Jahren. Seinen Umbau sowie eine freundliche Gestaltung des Wohngebietes würden wir gerne noch erleben.
Thoralf Kullig
Pelmeni
Es klimpert, einmal, zweimal - dann wieder neu, zum x-ten Mal. "Bitte passend zahlen", zeigt der Automat an. Das Mädchen sieht verzweifelt auf das Kleingeld - ein 2-Euro-Stück, eine 20-Cent-Münze - und hofft, nicht auch noch die nächste Bahn zu verpassen. Sie hat es eilig. Und der Fahrschein kostet 2,10 Euro.
Hilfe suchend sieht sie sich auf dem menschenleeren Bahnhof um; Nöldnerplatz - es ist 23.10 Uhr. Niemand, der ihr die Münzen wechseln könnte, niemand, der ihr hilft. Bis auf den uniformierten Beamten in seinem Häuschen, der sie schon eine Weile beobachtet. Nur der Uniform traut sie nicht.
"Halt dich von den Uniformierten fern, Vögelchen", hört sie die Tante sagen, tatsächlich "Vögelchen", was bei ihr auf deutsch klingt, wie der Titel eines RTL2-Films. Langsam wird ihr kalt. Sie muss schnell nach Hause zur Tante. In der Manteltasche krallt sich ihre Hand um die Tablettenschachtel.
Seit zwei Jahren, seit ihr Touristenvisum ablief, muss sie ständig wachsam sein, Angst haben, entdeckt zu werden. Sicher könnte sie auch zu den Behörden, den Uniformierten, gehen, doch die würden sie höchstens wegschicken, richtig weg. 1000 km weit - ohne Rückfahrkarte. Natürlich würden sie ihr zuvor erklären, dass es in Dnepropetrowsk nicht gefährlich ist, nicht sein kann, schließlich steht es so in den Akten. Ein Schauer rinnt ihr über den Rücken bei dem Gedanken an ihren Vater, der sie herschickte zu ihrer Tante, weil er untertauchen musste.
Warum nur hatte sie die Tabletten vergessen, warum die Tante allein gelassen? Die Medikamente hätte sie auch in der Apotheke zu Hause holen können. Wie konnte sie nur so unachtsam sein, so egoistisch! Und jetzt fühlt sie sich beinahe wie Rotkäppchen auf dem Weg zur Großmutter! Eine Bahn fährt ein und sie ist den Tränen nahe. Sie muss doch nach Hause und will ja bezahlen! Nicht auffallen, immer einen Fahrschein kaufen, nicht bei Rot über die Straße gehen, keine laute Musik in der Wohnung - niemals Aufmerksamkeit erregen. Die aufkeimende Angst lähmt sie, treibt sie vorwärts und kurzentschlossen steigt sie ein. Erschrocken hört sie die Türen hinter sich zuknallen. Jetzt kann sie nicht mehr zurück! Sie blickt auf und es verschlägt ihr den Atem. Ein Mann vor ihr sieht sie an, durchdringend, als würde er sie erkennen. Und er trägt eine Uniform. Kein Polizist zwar, doch ein BVG-Mann, ein Kontrolleur?
Bestimmt sieht man es ihr an, er muss es einfach merken. Jeder würde doch sehen, dass sie keine Deutsche war. Sie gehörte einfach nicht hier her, das war klar und wenn er wüsste, dass sie gar nicht hier sein dürfte - dazu noch eine Schwarzfahrerin, nicht auszudenken! Wie ein Stein sitzt Furcht in ihrem Magen, nimmt ihr die Luft und sie spürt ihre Knie weich werden. Nur noch einen Augenblick ..., sie hält sich zitternd an der Metallstange fest, als ihr Blick auf die große Tasche in des Mannes Hand fällt. Er steht einfach nur da und hält diese riesige Tasche. Langsam schluckt sie und richtet sich auf. Wahrscheinlich hat er Feierabend oder er verreist. Aber er wird sie nicht ins Unglück stürzen, wird ihr nichts tun und sie kann nach Hause. Noch einmal Glück gehabt. Erleichtert setzt sie sich auf einen der freien Plätze.
Ihr Puls beruhigt sich und sie kann wieder frei atmen. Für einen kurzen Augenblick schließt sie die Augen und lässt sich treiben. Wieder fliehen ihre Gedanken zu ihrem Vater, wie er sie lachend in den Arm genommen hat, wenn sie Angst hatte, wie er ihre Tränen wegwischte und gleichzeitig alle Sorgen von ihr nahm. Ihr Vater, der so stolz auf sie ist, sie seine Pelmeni-Queen nennt. Ihre Spezialität: Pelmeni, eine Art russisches Nationalgericht, welches sie wie keine Andere zubereiten kann. Eine verführerische Komposition aus Pasta-Teig, einer Fleisch-Käse-Füllung und einem besonderen Kräutergemisch. Das Rezept steht nirgendwo geschrieben, sie hat es von ihrer Babuschka, die von ihrer usw.
Das Mädchen schreckt aus ihrem Tagtraum, als der Bahnhof Ostkreuz angekündigt wird. Sie mag diesen Ort, er erscheint ihr seltsam vertraut, erinnert sie an die Heimat, ohne dass sie genau den Grund weiß. Wahrscheinlich, weil er keine modernen Glitzerfassaden oder Leuchtreklame aufweist, sondern nur chaotisch und verwirrend auf den Außenstehenden wirkt.
Die Bahn hält und vier junge Männer steigen ein. Sofort ist sie hellwach, weil sie etwas Bedrohliches spürt. Kurze Haare und Lederjacken lassen die Zugestiegenen wie die berüchtigten Skinheads aussehen. Besorgt dreht sie sich um. Zu den anderen Eingängen sind noch zwei oder drei Männer hereingekommen. Unwillkürlich rückt sie näher an den BVG-Mann heran, der nun weniger Angst einflößend wirkt. Die Türen schließen sich und die Bahn fährt ab. Plötzlich ruft einer der Männer: "Schönen guten Abend, bitte mal die Fahrausweise zur Kontrolle!"
Das war's! Mit weit aufgerissenen Augen sieht sie die Männer näher kommen, alle kommen auf sie zu, starren sie an. Was kann sie nur tun, soll sie sagen? Sie versucht, sich zu konzentrieren. Ihre zitternden Hände vergräbt sie in den Manteltaschen, als würde sie verzweifelt nach dem nicht vorhandenen Fahrschein suchen. Zeit gewinnen. Irgendetwas muss ihr einfallen, sonst kann sie einpacken - im wahrsten Sinne des Wortes. Papa wird so enttäuscht von ihr sein, von ihrer Dummheit, ihrer Unzuverlässigkeit. Stumm sitzt sie da und in ihren Augen sammeln sich Tränen. Bloß nicht heulen, nicht jetzt. Am liebsten würde sie sich selbst anschreien, ohrfeigen ob ihres verdammten Leichtsinns, doch sie bringt kein Wort hervor. Verstohlen wischt sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln und wartet auf ihr Ende.
Etwas berührt ihre Schulter. Verwirrt sieht sie sich um und blickt in die Augen des BVG-Mannes. Er blinzelt ihr verschwörerisch zu. "Fräulein, hier ist Ihr Fahrschein. Muss Ihnen wohl runtergefallen sein, als sie die Hände aus den Taschen genommen haben ..." Verständnislos blickt sie auf die Karte, die ihr entgegengehalten wird. Eine Monatskarte! Sie schaut in seine Augen. Ein Scherz, ein böser Scherz? Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Schon mischt sich der Zivilkontrolleur ein und fährt den Uniformierten an: "Das ist doch Ihr Fahrschein! Den können Sie nicht dem Mädchen unterschieben!" Der BVG-Mann schaut aufrichtig empört in die Runde: "Ich brauche keine Fahrkarte, bin doch beim selben Verein. Das sollten sogar Sie erkennen können. Oder glauben Sie, ich komme vom Kostümfest?"
Während die sichtlich beeindruckten Kontrolleure achselzuckend zu den Türen drängen, um am nächsten Bahnhof auszusteigen, setzt sich ihr Retter kurz neben das Mädchen. "Behalten Sie die Karte. Ich brauche die nicht. War ein Geschenk meiner Frau, weil ich den Laden verlasse. Heute ist mein letzter Arbeitstag. Habe zwanzig Jahre bei der BVG gearbeitet und mache mich jetzt selbstständig; eine kleine Kneipe, wissen Sie. Die ist hier gleich um die Ecke, am Ostkreuz, in der Sonntagstraße. Wir feiern morgen Eröffnung. Kommen Sie doch ruhig vorbei." Er fährt ihr mit der Hand über das Haar, fast so wie ihr Papa es manchmal tat. "Und bei der Gelegenheit können Sie mir das Ding", er deutet mit dem Kopf auf die Karte, "wieder vorbeibringen. Vielleicht braucht sie ja noch mal jemand ..." Lächelnd verabschiedet er sich. "Schönen Abend noch." Mechanisch nickt sie ihm zu. Nun kann sie nach Hause. So richtig begriffen hat sie noch nicht, was ihr eben passiert ist. Als sie weiterfährt, fühlt sie sich plötzlich gar nicht mehr so allein.
Daheim kann sie es kaum erwarten, der Tante von dem Vorfall zu erzählen. Natürlich schimpft diese erst einmal, dass die Wände wackeln, dabei lacht sie und aus den Augen fließen ihre Tränen. "Vögelchen, das wäre eine Geschichte ganz nach dem Geschmack deines Vaters. Und bei allem ist es noch die Wahrheit, auch wenn es wie ein Groschenroman klingt. Es fehlte nur noch Cary Grant, aber der ist ja jetzt Wirtschaftssenator." Auf einmal kommt ihnen eine Idee.
Wieder sitzt sie in der S-Bahn, Richtung Ostkreuz. Diesmal ohne Angst, sie freut sich, kann kaum erwarten, dass der Zug hält. Auf dem Schoß hält sie eine große heiße Schüssel, welche ihr fast die Beine versengt. Sie steigt eilig aus und rennt die langen Treppen zur Überführung hoch und den Gang entlang auf die Straße. Unschlüssig sieht sie sich um. Hier irgendwo muss es doch sein! Und richtig, knapp 150 Meter weiter sieht sie eine kleine Kneipe mit vielen Luftballons an Tür und Fenstern. Die Wand ziert ein rotes Schild mit gelben Lettern: Am Ossi-Kreuz. Hier muss es einfach sein! Von innen dringt ihr Gejohle und Gelächter entgegen. Hinter einem rustikalen Kneipentisch sitzt ihr Retter. Er erkennt sie sofort wieder und sein lächelndes, leicht gerötetes Gesicht wird bei ihrem Anblick noch breiter. "Nur herein in die gute Stube, Fräulein! Endlich kommen meine Groupies." Jemand greift nach ihrem Mantel, ein anderer nach der Schüssel in ihrer Hand. Verlegen blickt sie in die Runde, die jubelnd ihren Retter hochleben lässt. Noch einmal nimmt sie allen Mut zusammen, um ihre vorbereitete Rede anzubringen. "Ich will danke sagen. Danke für Ihre Hilfe. Die Tante und ich haben für Sie Pelmeni gemacht, die besten Pelmeni auf der ganzen Welt. Für Sie." Der Beifall ist ohrenbetäubend. Noch ehe das Mädchen sich's versieht, ist sie mitten im Getümmel und tanzt und lacht.
Immer wieder fährt sie seitdem vorbei am Bahnhof, an der Kneipe und an ihren Erinnerungen. Es ist ihr Schicksalsbahnhof. Ostkreuz, zweimal täglich.
Inka Engmann
Die Geschichte vom alten Wasserturm
Ich stehe oben auf der Fußgängerbrücke und warte auf meine Freundin. Unter mir der Bahnhof Ostkreuz, ein Gewusel von Menschen und Zügen. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und seufze. Schon fast 'ne halbe Stunde über der Zeit. Die kommt nicht mehr, glaube ich. Aber ganz alleine nach Potsdam auf Konzert, da habe ich auch keinen Bock drauf...
Ich gucke mir die vorüberhastenden Leute an und denke mir Geschichten über sie aus. Aber irgendwie ist das langweilig, ich hab die Hummeln im Arsch und will noch was erleben heute! Rechts neben mir steht der alte Wasserturm. Den mag ich total gern, habe ihn auch schon gezeichnet. Und ich wollte schon immer mal da rein. Am liebsten gleich einziehen ins Turmstübchen! Ich guck noch mal auf die Uhr. Nee, die kommt echt nicht mehr. Na gut, selber schuld. Ich geh jetzt endlich mal zum alten Wasserturm. Wird zugeschlossen sein, aber wenigstens davor gestanden haben möchte ich mal.
Also runter, über die Straße und übern Zaun gehüpft und schon stehe ich vor dem alten Turm und streiche liebevoll über die roten Backsteine. "Du kannst bestimmt Geschichten erzählen!" sage ich. "Klar kann ich!" kommt es zurück. Nanu! Was war das? "Wer da?" rufe ich. "Na ich! Komm doch rein!" tönt es.
Ich gehe zur Tür, und sie ist tatsächlich offen! Drinnen ist es stockfinster, ich tappe an der Wand entlang und die Treppe hoch. "Hallo? Wo bist 'n du?" rufe ich. "Hier oben!" schallt es. Ich tappe immer weiter, dann stehe ich im Turmstübchen. Der Mond scheint zum Fenster rein, aber es ist niemand da, außer einer dicken Eule, die auf dem Balken sitzt und mich aus großen grünen Augen anglotzt.
"Hast du mich grad vollgequatscht?" frage ich, aber die Eule sitzt nur stumm und glotzt.
"Ich war das!" tönt die Stimme.
"Na, und wo bist du?", rufe ich, langsam ungeduldig.
"Du bist in meinem Kopf!", sagt die Stimme.
"Ein sprechender Turm also!", staune ich. Die Eule nickt und die Stimme sagt: "Genau!"
"Dann erzähl 'ne Geschichte. So 'n alter Turm wie du hat doch bestimmt viel gesehen und gehört!"
"Hab ich", sagt der Turm, "aber weißt du, es ist langweilig, immer nur das Ostkreuz und die Rummelsburger Bucht zu sehen. Ich kenne hier jedes Blatt am Baum, jede Ente auf der Bucht und jede Ratte auf den S-Bahn-Schienen.
Und das ewige: "Zug auf Gleis 3 fährt nach Erkner - einsteigen bittä - zurückbleiben bittä!" kann ich auch nicht mehr hören. Ich will endlich mal verreisen!"
"Tja, das geht wohl schlecht!", sage ich. Die Eule schüttelt heftig den Kopf, und der Turm ruft: "Doch das geht! Und wie das geht!"
Und nun komme ich doch noch zu meiner Geschichte. Eine so spannende, fantastische Geschichte habe ich schon seit Jahren nicht mehr gehört. Und als der Turm fertig erzählt hat, strecke ich mich müde in der Zimmerecke aus. So spannend war die Geschichte, dass sie mich erschlagen hat. Ich muss nun erst mal schlafen. Die Eule flattert von ihrem Balken runter und kuschelt sich an mich.
Als ich erwache, liege ich zu Hause in meinem Bett und habe keinen Plan, wie ich dort hingekommen bin. Aber Träume hatte ich, Halleluja! Na ja, kein Wunder nach der tollen Geschichte gestern...
Kurz darauf bin ich schon auf dem Weg nach draußen, erst mal "lecka Frühstück" holen. Auf der Treppe kommt mir mein Lieblingsnachbar entgegen, er ist ganz aufgelöst und wedelt mit 'ner Zeitung rum. "Mensch, haste schon gehört?", ruft er, "die ham den alten Wasserturm am Ostkreuz jeklaut!" "Wer?"
"Na, dat weeß keener so richtig. Jedenfalls ist der Turm weg, nur 'n Loch in der Erde ist noch da. Und da steht was von 'nem Schatz, der dort einjemauert jewesen sein soll. Ist doch verrückt, oder? Da klau 'n die einfach unser'n schönen Wasserturm!"
Tja, an diesem Tag ist ganz Friedrichshain in Aufruhr. Die Leute strömen massenweise zum Ostkreuz und erzählen sich die wildesten Geschichten: "Dat war 'n die Terroristen, die ham den Schatz nich schnell jenuch rausjekriegt, also hamse gleich den janzen Turm mitjenommen!" "Ach Quatsch, der KGB war det!" "Ick sag: dit war 'n verrückter reicher Sammler, der Türme sammelt!" "Ach du spinnst ja!" "Wieso 'n? Du weeßt ja jar nich, wat die Leute so allet sammeln heutzutage!"
Ich stehe auch mit am Ostkreuz, sehe das schwarze Loch, wo einst der Turm stand, und bin ein bisschen traurig. Aber auch am Grinsen, denn nur ich kenne die wahre Geschichte vom alten Wasserturm. Aber er hätte mich eigentlich mitnehmen können auf seine Reise!
Anne Fink
Mittelmaß
Bevor ich mit ihm zusammenkam, war ich nur ein Mal am Ostkreuz gewesen, und davon hatte mein Gedächtnis auch nur ein Stückchen Bank und Bahnhof so gegen 24 Uhr behalten. Mit ihm hat sich das dann geändert, denn wir stiegen oft dort um, wenn er wieder Tabak und Kohle für seine Wasserpfeife holen wollte. Beim Warten auf die Bahn beobachteten wir Männer mit Aktentaschen, in denen abgetrennte weibliche Weichteile oder sonst was verborgen sein mochte. Unsere Unterhaltungen bestanden fast ausschließlich aus dem Austausch solcher Betrachtungen. Möglicherweise war das der Versuch, irgendwelchen schmalzigen Gesprächen unter mehr oder weniger Liebenden aus dem Weg zu gehen, und es hat ja auch ganz gut funktioniert für eine Weile.
Das eigentlich Besondere an meinem Verhältnis zum Ostkreuz brachte der Jahreswechsel 2000/2001, weil es für mich das erste Silvester ohne Familie war und wir den größten Teil des Abends auf dem Bahnhof verbracht hatten. Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle erwähnt, was sonst noch ablief. Da wären das Suchen einer Party, das versehentliche Umschmeißen einer Topfpflanze der Gastgeberin bei dem Versuch, den anfangs großmütig in die Mitte gestellten Sekt (den mir meine Mutter vorsorglich mitgegeben hatte) wieder an mich zu nehmen, um mich hemmungslos zu betrinken und nicht mehr verzweifelt darüber zu sein, dass ich im Keller meiner Oma genauso viel Spaß haben könnte, das durch die Stadt Irren, einander Verlieren und Wiederfinden, wenn es einem sowieso schon egal ist, fiese Blasen von den ersten und letzten Springerstiefeln bekommen.
Jedenfalls war die letzte Station Bahnhof Ostkreuz, und wir haben dort ewig rumgestanden und gefroren. Die einzige Ablenkung von der Kälte und Frustration bot zeitweise ein Bekannter von ihm, der mit zwei Aufsehern diskutierte und ein Interview mit einem Moderator von Radio Paradiso führte. Letztendlich sank er aber auf einer Bank zusammen, und uns blieb bloß das Warten auf den Countdown. Als es so weit war, küssten wir uns kurz, er nach unten gebeugt, ich auf Zehenspitzen, und hörten noch, wie ein vorbeilaufender Mann, der die Situation (wahrscheinlich aufgrund meiner flotten Kurzhaarfrisur) verkannte, "Iii, zwei Schwule!" rief.
Celine Jünger
Die wertvolle Vase
In Berlin-Friedrichshain auf dem Boxhagener Platz ist an jedem Sonntag Flohmarkt. Auch heute. Lilli, Mascha, Max und Robert sind auch hier. Sie haben altes Spielzeug zusammengekramt und wollen es mit ein paar Vasen und Schüsseln von ihren Eltern verkaufen. Lillis Mutter hat ihr eine alte antike Vase eingepackt. Sie ist schmal und dünn mit einem schönen Muster. Lilli wollte sie zuerst behalten, aber weil sie mit ihren drei Freunden in diesem Sommer eine kleine Reise machen will, kommt die Vase doch mit. "Wir haben schon 18 Euro zusammen und stehen erst eine halbe Stunde", schreit Max, der gerade die Kasse zählt. "Zum Glück ist es Sommer. Im Winter hätte ich es keine zwei Minuten ausgehalten!" sagt Mascha, die gerade ihre Sonnenbrille putzt. "Ich habe Hunger!" stöhnt Lilli. "Ich auch. Deswegen hole ich für jeden Pommes mit Wiener und Senf!" sagt Robert. Robert ist der Älteste und Lilli die Jüngste. Plötzlich steht ein unheimlicher Mann vor Lilli. Er trägt einen großen Hut, der weit ins Gesicht gezogen ist. Seine Augen sind von einer großen Sonnenbrille verdeckt, und trotz der Hitze hat er einen langen grünen Mantel an. "Was kostet diese Vase?" flüstert er und zeigt auf die schöne Vase. Lilli denkt, wenn wir sie schon verkaufen müssen, dann teuer. Sie sagt: "23 Euro und keinen Cent weniger!" Mit strenger Stimme fragt sie: "Haben sie denn soviel Geld?" Der Mann schüttelt finster den Kopf. Zum Glück! Denkt Lilli, denn sie hofft, dass die Vase nicht verkauft wird. "Wenn Sie ein Foto haben wollen, dann kann ich eins machen. Wollen Sie?" fragt Max und macht eins mit seiner Sofortbildkamera. "Nein, nein, n e i n, N E I N!" sagt der Unbekannte und wird immer lauter.
"Aber ich!" ruft Lilli. Max gibt ihr das Foto. Es ist sehr scharf und gut getroffen. Da kommt Robert von der Würstchenbude zurück und ruft: "'schuldigung, wenn es ein bisschen länger gedauert hat. Vorm Kiosk war eine zehn Meter lange Schlange, aber jetzt gibt es was zum Futtern!" Plötzlich klirrt und scheppert es! "Ein ganzer Stand ist umgekippt!" ruft Mascha. Der Verkäufer schreit: "Der war es!" Alle gucken in die Richtung. Aber niemand sieht jemanden, nur Lilli! Sie schreit: "Das war der Mann, der die Vase kaufen wollte! Ich habe den grünen Mantel gesehen!" "Die Vase!" schreit Max und dreht sich um. Die Vase ist nicht mehr da! "Sie ist weg!" "Wo ist sie?" "Er hat sie geklaut!" "Wer?" "Der Mann mit dem Mantel!" "Warum?" Alle reden durcheinander. Als sie sich beruhigt haben, packen sie ihre Sachen zusammen und Robert sagt: "Ich bringe die Sachen zu mir, und ihr nehmt die Verfolgung auf. Ich komme nach." Mascha, Lilli und Max laufen in die Richtung, wo Lilli den grünen Mantel gesehen hat. "Ich frage diesen Herrn!" meint Max, "gib mir das Foto." Lilli gibt Max das Bild von der Vase. "Guten Tag. Haben Sie zufällig einen Mann im grünen Mantel, der diese Vase in der Hand hält, gesehen?" "A ab aber d das i ist ei eine ganz b besondere Vase! Sie i ist ungefähr f fünf oder s s sechstausend Euro w wert! Hm, j jetzt weiß i ich es. Ja i ich habe ei einen rennenden Mann ge gesehen und er li lief da la lang!", sagt der Mann. "Geradeaus!" ruft Max den beiden Mädchen zu, die sofort losstürmen. Beim Rennen erzählt er ihnen, was der Mann gesagt hat und alle glauben, dass Max zufällig einen Wissenschaftler getroffen hat. Unterwegs fragen sie mehrere Leute, bis sie zur Spree kommen. "Da ist er!" schreit Mascha und zeigt mit dem Finger auf den Unbekannten, der in ein Auto springt. "Schnell ins Taxi!" ruft Max. Kurz darauf sitzen alle im Taxi. Lilli notiert sich in ihrem Block, der neben anderen nützlichen Dingen in ihrem Rucksack ist:
ROTER BMW, AUTONUMMER B:SL-9389 MANN, GRÜNER MANTEL, LILA HUT UND AUFFÄLLIG GROSSE SONNENBRILLE.
"Anhalten! Der BMW hält", sagt Mascha zum Taxifahrer und zahlt. Lilli, Max und Mascha steigen aus. Der Mann verschwindet in einem gelben Haus. Lilli schreibt:
WARSCHAUER STRASSE NR. 35, GELBES HAUS, KELLER.
"Warum Keller?" fragt eine Stimme hinter ihr. Alle drehen sich um. "Robert!?" rufen alle. "Wie bist du hierher gekommen?" fragt Max. "Mit dem Taxi, wie ihr! Also warum Keller?" fragt Robert wieder. "Weil im Keller Licht brennt und weil ich gehört habe wie eine Tür zuschlug, es ist ja ein Fenster offen", antwortet Lilli. "Hm, wir sind jetzt eine richtige Detektivbande, da bräuchten wir auch noch einen Namen und Anführer", sagt Robert. "Stimmt. Also ich finde das Robert der Anführer wird. Wer ist dafür?" meint Max. "Ich!" "Ich!" "Ich!" "Der Anführer Robert lebe hoch, hoch, hoch!" rufen alle. "Danke! Ich habe auch schon eine Idee, wie wir heißen können, nämlich: Blue Cats!" sagt der neue Häuptling. Alle sind einverstanden. Nachdem sich alle mit Lillis Filzstiften einen blauen Katzenkopf auf die Hand gemalt haben, gehen sie an die Kellerfenster und lauschen. "Diese Göre wollte 23 Euro für sie haben, aber ich hatte kein Geld. Darum habe ich einfach einen Stand umgeschmissen und habe die Vase geklaut! Sie sind mir gefolgt aber ich habe sie abgehängt!", sagt der Bandit zu seinen zwei Komplizen. Lilli schreibt:
ZWEI KOMPLIZEN, MANN HAT EINE GLATZE, ANDERE LANGE BRAUNE HAARE, LETZTE BLONDE KURZE HAARE.
"Diese Vase ist um die fünf oder sechstausend Euro wert! Damit kommen wir beim Chef gut an!" behauptet der Räuber mit den langen Haaren. "Wo ist eigentlich der Herr Wiesel?" fragt der Glatzkopf. Lilli notiert draußen:
CHEF WIESEL, ALSO VIER!
Im gleichen Moment hören sie Robert flüstern: "Mascha du stellst dich vor die Tür, wenn jemand kommt, pfeifst du!" "OK", sagt Mascha und stellt sich auf.
Nachdem sich Lilli, Max und Robert unnötiges Geschwätz der Räuberbande angehört haben, hören sie auf einmal eine schöne Melodie. Sofort springen sie auf und verteilen sich auf dem Bürgersteig. "Hatschi! Hatschi!", der Mann, der die Tür zum Haus aufmacht, niest. Lilli schreibt:
GANGSTERCHEF, KLEIN UND DÜNN, GEBÜGELTE HOSE UND KLEINE, SPITZE UND SEHR GUT GEPUTZTE SCHUHE.
"Max, kannst du meinen Bruder holen? Er hat gerade Arbeitsschluss. Das Café ist hier ganz in der Nähe, und zwar immer geradeaus. Nach einer Weile siehst du es dann schon.", sagt Lilli. "Gute Idee! Ich glaube nämlich, dass wir es nicht alleine schaffen, die Räuber zu fangen.", stimmt Robert zu. "Wird gemacht!" ruft Max und rennt los. "Hoffentlich kommt mein Bruder bald", sagt Lilli. "Wie alt ist eigentlich dein Bruder und wie heißt er?" fragt Mascha. "Das habe ich dir doch schon tausendmal gesagt! Er ist achtzehn und heißt Sebastian", antwortet Lilli. "Still! Dieser Wiesel verlässt das Haus. Er hat die Vase unter dem Arm!" flüstert Robert. "Schreib Max einen Brief, dass wir den Chef verfolgen und so." "Mach ich", sagt Lilli und schreibt:
HALLO MAX! WIR VERFOLGEN WIESEL UND GEBEN EUCH SPUREN MIT PFEILEN. GRÜSSE LILLI, ROBERT UND MASCHA.
Sie heftet das Blatt mit einer Reißzwecke an die Tür. Danach läuft sie mit den anderen los. Der Räuber biegt in die Frankfurter Allee. Die drei Kinder immer hinterher. Mascha malt hin und wieder einen Pfeil mit Kreide auf die Hauswände. Doch plötzlich lässt sie die Kreide fallen. Sie landet genau in einem Gully! "Mist!" schimpft sie "Wie sollen wir jetzt Zeichen geben?" fragt sie Robert. "Du musst ja auch alles fallen lassen! Auf dem Flohmarkt hast du ja auch ein Glas zerdeppert!", ruft Lilli ärgerlich. "Und du? Du hättest eben besser auf die Vase aufpassen müssen! Dann wären wir nicht hier!" schreit Mascha. Lilli brüllt und kriegt einen ganz roten Kopf: "Warum ich? Du hättest ja genauso gut auf das Ding aufpassen können! Aber nein! Das Kleid durfte ja nicht dreckig werden! Prinzessin Mascha mit Prinz Robert!" "Ach ja? Wer hat denn hier die Schleife am Kleid? Und wer trägt immer geputzte Schuhe? Du fühlst dich so wie die Kaiserin von der ganzen Welt! Der Kaiser Max immer an ihrer Seite!" schreit Mascha zurück. Endlich ruft Robert dazwischen: "Hört auf! Der Herr Wiesel läuft weg und ihr streitet und lasst ihn entkommen! Hat dein Bruder ein Handy? Wenn ja, dann brauchen wir noch seine Nummer." Als die Mädchen sich beruhigt haben antwortet Lilli: "Ja er hat eins, hier ist seine Nummer." Sie holt eine Telefonkarte und einen Zettel aus ihrem Rucksack. Robert nimmt beides und läuft von einer Ecke zur anderen, bis er eine Telefonzelle gefunden hat. Lilli und Mascha sollen Wiesel weiter verfolgen.
Nach einer Weile kommt Robert zurück und ruft den Mädchen ärgerlich zu: "Warum seid ihr ihm nicht gefolgt?" "Das brauchten wir gar nicht! Er ist nämlich in das Antiquitätengeschäft gegangen", sagen Mascha und Lilli, die sich jetzt wieder gut verstehen. Plötzlich hören sie ein Quietschen und Brummen. Sebastian und Max sitzen auf einem Motorroller. "Schick, was? Den habe ich gerade im Lotto gewonnen!" "Ich habe ihm schon alles erklärt", berichtet Max. "Wer ist denn der Wiesel und wo ist er?" fragt Sebastian. "Wiesel ist der Kopf der Räuberbande. Er ist in dieses Geschäft gegangen. Wahrscheinlich will er die Vase verkaufen!" antwortet Lilli. "Dann nichts wie los!" ruft Robert und alle rennen zur Tür des Antiquitätenladens und reißen sie auf. Herr Wiesel wird ganz blass, weil ihm der Glatzkopf die Kinder beschrieben hat. Er erkennt sofort Lilli und Max. "Da ist er!" schreien alle. "Was ist denn hier los?" fragt der Verkäufer erzürnt. "Das ist ein Dieb! Er hat diese Vase von unserem Stand auf dem Flohmarkt gestohlen", schreit Robert. "Könnt ihr das beweisen?" fragt der Händler. "Ja, wir haben nämlich ein Foto von der Vase!" antwortet Lilli und holt das Foto aus dem Rucksack. "Das Foto besagt gar nichts! Diese Kinder haben die ganze Zeit an meinem Stand rumgeschnüffelt! Dabei haben sie immer Fotos gemacht!" ruft Wiesel empört. "Sie? Sie hatten doch gar keinen Stand! Der Einzige, der auf dem Flohmarkt war, war ihr Komplize!" ruft Max. "Der Komplize, so wie ihr ihn nennt, war mein Freund. Er hat mich vertreten als ich mal aufs Klo musste, und mir alles erzählt! Ich hasse Kinder! Sie lügen und lügen! Das, was sie erzählen, ist alles Lüge! Glauben Sie kein Wort!" schreit Wiesel und seine Augen sind voller Heimtücke und Hass. "Aber nein, das ist Wiesel!" ruft Lilli und fängt fast an zu weinen. Der Antiquitätenhändler erstarrt. "Wiesel?" Schnell greift er zum Telefon und wählt 110. Der Mann mit den spitzen Schuhen zuckt zusammen und will durch die Tür fliehen. Aber sie ist von Sebastian und Robert versperrt. Einige Minuten später ist die Polizei da und ein Beamter durchsucht Wiesel. Aber er findet nichts.
Nach der Durchsuchung fragt er: "Und das ist also Wiesel? Habt ihr Beweise, dass das eure Vase ist?" Sebastian überlegt eine Weile, danach ruft er "Mensch Lilli, haben wir nicht von Weihnachten ein Foto wo wir vor dem Kamin stehen?" "Ja, natürlich nur was hilft das?" fragt Lilli verwundert. "Na früher stand die Vase auf dem Kamin. Da müsste sie auf dem Foto sein." "Genau!" schreit Lilli und umarmt Max, der ganz rot wird. "Dann holen Sie mal das Foto, junger Mann, soll ich Sie nach Hause bringen?" fragt der Polizist. "Nee! Ich hab einen Motorroller!" antwortet Sebastian. "Hast du denn einen Führerschein?". Ohne etwas zu sagen zieht Sebastian seine Papiere aus der Hosentasche und zeigt sie dem Beamten, der freundlich nickt. Sebastian braust los und kommt nach zehn Minuten mit dem Foto zurück. Nun geht alles ganz schnell. Herr Wiesel wird verhaftet und ein Polizist bringt die Kinder nach Hause. Als Belohnung bekommen Max, Lilli, Mascha und Robert 1000 Euro und vier Gutscheine für ein drei-Sterne-Hotel am Meer. Sebastian bekommt 1500 Euro und einen modernen Motorradhelm.
Am nächsten Tag treffen sich die Blue Cats in der Eisdiele. "Ich freue mich so aufs Meer!" sagt Lilli. "Wir stehen ja heute in der Zeitung! Und da steht auch, dass Wiesel in seiner Wut die anderen Banditen verraten hat und sie auch verhaftet wurden", sagt Mascha, die gerade Zeitung liest. Robert hebt seine Eistüte wie ein Sektglas und sagt in feierlichem Ton: "Auf die Blue Cats!!" Die anderen heben auch ihr Eis und rufen: "Auf die Blue Cats!! Ha! Hi! Haha!".
ENDE
Lutz Kauschke
Ostkreuz
Wir sahen uns am Ostkreuz ... Kerschowkis Melodie klingt mir im Ohr. Meine Gedanken sind bei Karla, viele Jahre zurück, und bei meiner Verabredung mit ihr, in nur noch wenigen Minuten. Ostkreuz! Schaue aus dem S-Bahn-Fenster. Sehe den Wasserturm, immer noch rotbraunschwarz und standhaft, Wahrzeichen einer vergangenen Zeit. Schnell dränge ich aus dem Zug, laufe Richtung Sonntagstraße. Viel hat sich hier nicht verändert, eigentlich gar nichts. Der Bahnhof wirkt immer noch alt, dunkel, verworren, erschließt sich nur dem Kundigen, zu erkennen am schnellen Schritt. In der Woche bevölkert von Arbeitseilenden, zweimal täglich. Aber heute ist Sonntag. Die Spatzen am Kiosk suchen Krümel.
Ausgang. Die Helligkeit des warmen Frühlingsmorgens nimmt mich gefangen. Ein Blick nach rechts. Baugerüste. Ja, das spitze Haus sahst du doch gerade erst im Film, bröckelnde Fassade. Was tun ...? Der nächste Blick geht zur Uhr. Noch 15 Minuten. Du musst dich beeilen, sage ich mir, und trabe die Sonntagstraße hoch. Links ein Stück Park, am Morgen schon belagert von einigen Sonnenanbetern, einem Rudel Hunde und ein paar Mädchen, Federball spielend. Über uns kreist ein Wasserflugzeug, dreht ab Richtung Kreuzberg. Der Himmel über dem Mariannenplatz ist von keiner Rauchwolke getrübt. In wenigen Tagen ist der 1. Mai. Die Sonne bricht sich an der Glasfassade der Treptowers, neue Schlösser für Berlin.
Weiter. Jetzt wird's eng. Tische und Stühle auf dem Gehweg, die ersten Kneipen. Jede irgendwie anders und doch gleich, vereint durch das hippe Publikum. Junge Paare und Gruppen zeigen sich der Sonne, plaudern entspannt. Friedlichkeit überzieht die Szene, ... smart und gelassen.
Rechts die Schule, unsere Schule, der Hof okkupiert von einem Filmteam. Links Plakate: Live-Musik im Comeback. Dann der Gebrauchtwarenladen, draußen davor ein Wohnzimmer, komplett mit Couchgarnitur, der gekachelte Tisch glänzend auf dem staubgrauen Fußweg. Stilbruch. Drumherum lümmelnd ein buntes Volk, bereits beim Frühstück. Mein Magen knurrt. Dann, die Häuser vom Helenenhof. Haben ihre alte Düsterheit schon abgelegt. Da wohnte sie, ... Karla.
Hier waren wir aufgewachsen, zwischen Boxhagener und Revaler, Schlüsselkinder, zwei unter vielen Heranwachsenden einer kinderreichen Zeit. Wie trostlos diese Gegend war, und doch auch lebendig, geprägt von eingeengten Betrieben auf Hinterhöfen und Bürobaracken auf Trümmerbrachen, von Arbeit und Menschen und Kleingeist.
Und ich glaube, es gab es doch, das Glück. Für uns, die wir meist in der Clique umherzogen, als das Kofferradio noch Konjunktur hatte. Wir haben was von langen Haaren und viel von echten Jeans gewusst. Und Karla? Sie war meine Jugendliebe, mein Mädchen aus Ostberlin.
Vor mir der Wühlischplatz, der Park. Mir fällt der lustige Brunnen ein, das Nilpferd, erhaben über die kleinen Großwildjäger. Bin neugierig. In der ausgetrockneten Brunnenschale liegt zusammengerollt ein Schlafender, verwahrlost, mit einer Büchse Bier. Armes Berlin.
Im Park die ersten Kinder beim Spiel, bewacht von ihren stolzen Eltern, ... hier, wo sie zu Hause sind. Nicht spürbar mehr die alte Sehnsucht nach fernen Ländern. ... in die warmen Länder würden sie so gerne fliehen, die verlorenen Kinder von Berlin ... Verlorene Kinder? Nein, diese hier wohl nicht, wenn auch nicht mehr so zahlreich. Ob Tamara auch im Keller des Comeback singen würde? Wohl kaum, aber schön wär's gewesen.
Kurzer Blick auf die Uhr, es wird Zeit. Wühlischstaße. Der Bäcker hat geöffnet. Frischer Brötchenduft am Sonntagmorgen. Mein Gang wird schneller. Die Sonne kitzelt in der Nase, das Hemd wird feucht, unangenehm. Mein linker Fuß tritt in etwas Weiches. Mist! Putze den Schuh provisorisch an einem Grasbüschel. Betrachte kritisch und mit ziehender Nase das Ergebnis. Auf dem Gehweg Hundekot,... ich steh' auf Berlin.
Rechter Hand die Knorrpromenade, vollgestellt mit Blech. Aufgeputzte Bürgerhäuser. Nostalgische Idylle mit Zeitgeist, schickes Alt-Berlin im Neu-Berliner Ambiente. Möchte wissen, welcher Kopf sich wohl einst erkühnte, hier den Namen Knorr mit Promenade zu verbinden. Heute bevölkern jedenfalls nur einige angekettete Fahrräder die schmalen Fußsteige. Und eine fette schwarze Katze lauert im noch dürftigen Gras eines Vorgartens aufmerksam und regungslos auf alles, was hier sonst noch kreucht und fleucht. Ihr ist es egal.
Jetzt beginnt die Weltkultur. Gastronomie für vielerlei Geschmack. Italien, Mexiko, Indien, ... die Kontinente lassen grüßen. In einer Szenekneipe grüßt Honni. Aus einem Bild überm Tresen, ohne Lederjacke, mit ewigem Lächeln in schwarzweiß. Der Sonderzug nach Pankow scheint an ihm vorbeigerauscht zu sein. Er stand eh mehr auf Autos. Auch auf das verordnete Volksmobil Trabant? Einige ausgefallene Exemplare stehen am Straßenrand, sogar schillernd in den Regenbogenfarben. Ostalgie ist in, hier gleich zuhauf zum Bestaunen.
Endlich die Simon-Dach-Straße. Morgendliches Volksfest, genannt Brunch, bestimmt das Flair. Faszinierend. Ja hier trifft man sie, die Leute in, aus und um Berlin, ... willenlos und immer mittendrin. Noch kein Spiegelbild der Eitelkeit, aber auf dem besten Weg dahin. Ein altjunges Paar mit rheinischem Dialekt beim mediterranen Frühstücksevent. Die Kinder, vielleicht drei und sechs, fühlen sich unterfordert, toben sich an den anderen Gästen aus. Fern von Bonn lebt es sich ungezwungen. Untergehen in der Anonymität der Großstadt, eintauchen in das Sprachgewirr. Kalte Schauer, Mauer, unsichtbar, im Rücken, westwärts! Nichts zu spüren von Halloween in Ost-Berlin. Beflissene, ansehnliche Mägde in langen Schürzen, mit und ohne Nasenpiercing, schieben sich Cappuccino tragend souverän durch die Tische. Die Zeit hat Weile.
Nur noch ein kurzes Stück. Da vorn ist das Intimes, unser altes Cinema Hall. Da will sie warten, ... Karla. Ist schon merkwürdig, dass wir uns nach so vielen Jahren ausgerechnet im weltweiten Netz wieder begegnet sind. Hätten uns fast nicht erkannt. Wie mag sie jetzt aussehen, im realen Leben? Immer noch so dünn? Das Bild von ihr wirkt interessant. Ihr Gesicht, nicht so glatt und austauschbar, kleine Fältchen an den Augen, zeigt Lebenserfahrung. Jahre des Findens? Ich bin gespannt. Noch kann ich sie nicht entdecken.
Wieder geht mir die Melodie von Kerschowski durch den Kopf. Ostkreuz ... Versuch mich zu erinnern, wohin ich hier wollte, was ich hier zu suchen hab. Mühsam öffne ich die Augen. Vor mir ... vier schwarze Schuhe. Ich schaue hoch. Zwei bordeauxrote Barette. Die Augen darunter blicken streng und freundlich. Innerlich und äußerlich etwas zerknittert krame ich nach meinem Fahrschein. Ostkreuz. Schnell raus. In der linken Jackentasche fühle ich die CD, erst in den letzten Tagen zusammengestellt und gebrannt. Rocksongs über Berlin. Ohne Jumpin' Jack und Lucy Sky. Habe sie Ostkreuz genannt, ... ein Geschenk für Karla.
Für Jana zum 22. Geburtstag
Berlin, April 2002
Dr. Robert
Das Traumschiff
Mein Blick folgt den Passanten, die an einer metallenen Sitzgelegenheit vorbeieilen... Die eine Fraktion kommt die steinerne Treppe herunter, um das rollende Schienenpferd in Richtung Osten oder Westen zu nehmen. Die anderen hasten hinauf, um nach Pankow oder südlich nach Schöneweide die kurze Reise anzutreten. Zwischen den Umsteigern fallen mir zuerst jene auf, die nicht in das Raster des Schmalspurbürgers passen. Unweit wanken zwei Obdachlose, welche die Angst vor dem nahenden Sicherheitspersonal immer weiter durch den Sog der Stadt wirbelt. Da kommt ein Anzugträger mit einem Laptop unterm Arm, wobei ich mich frage, warum er nicht seinem Lifestyle gerecht handelt und seine kleine Karosse benutzt. Vielleicht will er die Regierung sabotieren.
Anstatt über Menschen nachzudenken, in die ich mich sowieso nicht hineindenken kann, sollte ich endlich die Antwort finden, warum ich mich ausgerechnet hierher von meinen Gefühlen an meinem freien Tag treiben ließ. Warum hatte ich mich eigentlich auf diesem halb verrotteten, grauen S-Bahnhof hingesetzt, anstatt wie ursprünglich geplant, in das Grün des nahen Treptower Parks einzutauchen?
Der Geruch von Bratfett weht hinüber und holt mich wieder in die Realität des anonymen Verharrens. Mit Hilfe eines Betreuers, der das Gewicht ihres Rollstuhls vorsichtig hinunter hievt, schleppt sich gerade eine Gehbehinderte jene steile Treppe hinunter, beinahe unbeachtet von der Masse der Menschen. In dem sich auflösenden Tageslicht beginnt bald der Abend seine faltige, aber niemals sternklare Haut über die Straßen und Häuser dieses Viertels zu legen. Einen Kaffee werde ich mir noch an dem Stand neben der Treppe genehmigen, um dann wieder dorthin zu gehen, wohin ich an diesem Feierabend eigentlich für die Menschen unerreichbar entfliehen wollte. Nach dem beinahe wortlosen Handel um einen großen Becher mit viel Milch muss ich feststellen, neben meinem schon mit Besitzanspruch belegten Platz einen Mann sitzen zu sehen. Ein Moment des Zweifelns wird durch die Hoffnung beseitigt, ihn gleich in die S-Bahn verschwinden zu sehen. So setze ich mich, beginne vorsichtig, das Heiße in das dafür vorgesehene Sinnesorgan zu übertragen. Mit dem Anzünden meiner Zigarette ereilt mich die Frage, ob ich ihm Feuer geben könne.
Schweigend beobachte ich unter meinem Inhalieren eine ältere Frau. Ihr Gesicht zeigt in diesem Licht keine Falten, sondern eher eine verbitterte Maske. In ihrer pastellgetönten Jacke und dem blauen Rock gleicht sie dem Schauspiel eines traurigen, zugleich karikierenden Clowns.
"Worauf wartest du?", höre ich die Stimme, wie aus dem Nichts, neben mir fragen.
"Auf nichts. Nur, dass die Zeit vergeht und ich wieder nach Hause gehen kann", erwidere ich, mehr laut denkend, als antwortend.
Der Mann hat sich vorgebeugt, saugt an seiner Selbstgedrehten und starrt leer auf den vor uns liegenden Bahnsteig.
"Weißt du, wie es ist, sich allein zu fühlen?", fragt er, sein kantiges Gesicht mir zugewandt.
"Ich fühle mich irgendwie ständig allein."
"Hast du Freunde?"
"Freunde und Bekannte", gebe ich als Aufklärung, in der Aussicht, nicht noch einmal eine erteilen zu müssen.
"Siehst du, dann brauchst du dich nicht alleine zu fühlen. Du kennst Menschen, die sich um dich kümmern."
Obwohl etwas Provokantes in seiner Stimme liegt, wendet mein Blick sich der einfahrenden S-Bahn mit der leuchtenden Aufschrift SPANDAU zu. Unter dem Dröhnen der Maschine fühle ich mich zwanglos von einem weiteren Kommentar befreit. Hätte ich doch nur den anderen Sitz gegenüber gewählt. So wäre das sicher gleich folgende Gejammer mir erspart geblieben. Die Türen werden aufgerissen, entlassen sich der Beförderung mit einem sich kollektivem Verstreuen.
"Weißt du, wie viele dieser Menschen, die dort aussteigen, nur den Fernseher und ein Bier nach getaner Arbeit haben und dieses zu ihrer BZ und Bild auch noch als gute Ergänzung sehen?"
Er zeigt mit dem Finger ungeniert auf die Frau mit dem blauen Rock und der Pastelljacke.
"Hat sie jemanden?"
"Glaube ich nicht. Nicht böse, aber ...", ich überlege, positiv beeindruckt von der Wendung des Gesprächs, einen Moment, "... sie wirkt so verbittert."
"Weißt du, wenn andere schlafen gehen, dann beginne ich aufzuwachen. Ich beginne zu denken, zermartere mir das Hirn, wie die Sache sein könnte und alles. Aber ich finde keine Antwort und schlafe erst ein, wenn andere zur Arbeit gehen."
Während ich überlege, mit meinem Kaffee die nächste Bahn zu nehmen, drücke ich meinen giftigen Freund zum Festhalten auf dem Boden aus. Ich wollte wahrhaft nicht am Feierabend für frustrierte Arbeitslose den Psychoanalytiker für frei umherwandelnde Schicksale spielen. Darum frage ich ihn auch nicht, wie welche Sachen sein könnten. Mein Blick konzentriert sich auf zwei um Krümel streitende, graue Tauben.
"Ich habe immer wieder versucht, meiner Beobachterposition zu entkommen, bin aber nie darüber hinausgewachsen."
Ich bin etwas verärgert wegen der Tatsache, nicht meinen eigenen Gedanken nachgehen zu können. Leicht gereizt entgegne ich: "Weißt du, ich glaube, wir sind wie die Tauben dort. Jeder kämpft für sich alleine und doch beharrlich irgendwie gegeneinander um irgendwelche kleinen, bedeutungslosen Krümel. Und jeder macht das, weil alle es machen und selbst wenn einer für Momente das mal vergisst, wird er doch von den anderen aufgefordert weiterzuspielen. Das Spiel. Unser aller Spiel."
"Als Gott diese Welt erschaffen hat, in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse, unterteilte er mich in die Verlierermannschaft."
Sein auf der Unterlippe Kauen, sein leerer, fast schon verzweifelter Gesichtsausdruck erweckt einen Funken Mitleid. Ich schaue mich fragend um, als würde die Antwort auf die Situation hier irgendwo geschrieben stehen. Das Licht der Neonlampen schaltet sich kurz flackernd an.
"Machst du nichts? Ich meine, Musik, Malen oder so was?"
Das traurige Gesicht unter den dunklen Haaren blickt mich an, während die faltigen Hände in die schwarze Lederjacke greifen und seinen Tabak hervorholen.
"Was würde das ändern, mein Freund?"
"Du könntest der Welt von dir erzählen. Du könntest die Welt deines Gottes bunt anmalen und ihr ein neues Gesicht geben."
"Ich soll es alleine vollbringen? Nein! Ich würde ihnen allen einen dicken Pinsel in die Hand drücken und sie alle gemeinsam diesen Bahnhof anmalen lassen, die Straßen, und sie schließlich alles voller Bäume und Unkraut begrünen lassen. Das würde ich tun!"
Ich suche ebenfalls mit meinen jungen Händen in meiner Tasche, auf der Suche nach Filterzigaretten und meinem Feuerzeug.
"Hast du nicht mal versucht, über Malen oder Musik oder Schreiben mit Leuten was zu machen?"
"Das ist lange her", stammelt er etwas leiser.
Die nächste S-Bahn nach Potsdam fährt ein. Ich strecke ihm unter ihrem Getöse mein Feuerzeug entgegen, greife zu meinem mittlerweile lauwarmen Kaffee und entfache die Glut meiner eigenen Sucht.
"Was hat dich eigentlich so frustriert und traurig gemacht?", frage ich das erste Mal wirklich interessiert. Er inhaliert den Rauch tief und bekommt wieder diesen leeren Gesichtsausdruck, der mich einen stummen Schrei seiner Seele erahnen lässt. Schließlich flüstert er knapp:
"Ich bin verlassen worden. Vor vielen Jahren."
Etwas wie Wärme, Mitgefühl, was über Mitleid hinaus geht, stachelt mich an, weiter zu reden. Aber es geht nicht. Ich kann ihm nicht über seinen Schmerz hinweghelfen. Vielleicht sollte ich ihn einfach nur in den Arm nehmen. Aber das wäre unangemessen! Was habe ich schon mit diesem Fremden zu tun, den irgendwann mal seine Frau verlassen hat, vielleicht sogar mit Kind. Verstohlen inhaliere ich den Rauch. Die S-Bahn gibt die Sicht in ein bisschen Grün wieder frei. Ich schäme mich in einer Kammer meines Verstandes für mein Mitgefühl. Hier im Kiez laufen genug Kreaturen, manche auffälliger, manche weniger, die ihr Schicksal bejammern. Warum empfinde ich gerade für ihn solche brüderlichen Gefühle?
Über den Rand des Bechers sehe ich die letzten S-Bahn-Austeiger sich verstreuen. Sicher ist es einfach, sich in dieser Stadt einsam und verlassen vorzukommen. Vielleicht gerade dann in solchen Momenten, wenn alle in Bewegung und geschäftig sind und einem selbst der kleinste Ansatzpunkt einer Motivation oder eines Zieles fehlt. Sicher ist das so. Manchmal, wenn ich auf meiner kleinen Toilette sitze, denke ich, ich sei ein unbedeutender Mensch in einer unbedeutenden Wohnung unseres unbedeutenden Hauses in einer unbedeutenden Straße in Friedrichshain. Ein Anonymus unter mehr als Hunderttausend. Eine verlorene Seele im Wirrwarr dieser Stadt mit unendlichen Möglichkeiten. Ja, manchmal denke ich dann, ich sei ein kleiner dummer Wurm in diesem Klumpen kalter Erde.
Aber ich spüre, widme mich meinen unvermeidlichen Aufgaben und Pflichten und vergesse dieses böse Stück der Realität spätestens beim Bier in einer Kneipe in meiner Straße.
"Weißt du", unterbricht er meine Gedanken erneut, "Ich habe ein Traumschiff gebaut. Eines voller Liebe und Idealen. Aus Menschlichkeit und gegenseitigem Respekt. Doch mein Traumschiff ist hier in den grauen Straßen kaputt gegangen. Mit ihm haben meine Überzeugungen mich verlassen. Jetzt sitze ich manchmal hier, manchmal dort und warte auf mein Traumschiff. Vielleicht kommt es eines Tages wieder zurückgesegelt und bringt mir zurück, was ich schon lange für verloren hielt."
Verwundert schaue ich ihn an. Ja, ich gestehe, ich bin völlig entgeistert.
"Also bist du nicht von einer Frau verlassen worden?", stottere ich beinahe.
Fast entrüstet schaut er mich einen Moment lang an. Dann verfällt sein Gesichtsausdruck wieder in diese traurige Melancholie.
"Die Liebe hält nicht ewig und Freiheit fordert ihren Preis. Auch Bekannte kennen einen, manchmal für eine längere Zeit. Freunde sind immer bei dir. Auch wenn sie sich längst die Freiheit genommen haben, nicht mehr anwesend zu sein, so sind sie doch im Herzen nahe. Damit muss man sich abfinden. Aber ein Traumschiff, das braucht jeder Mensch. Ohne dies gibt er sich mit einer BZ oder einer Bild zufrieden. Und ich denke die ganze Nacht darüber nach, wo es sein könnte. Und wie es zerstört wurde, dieses Lebens- und Liebeselixier. Ich suche, ich warte. Aber es kommt nicht wieder. Ich habe vielleicht schon die Hoffnung verloren, es irgendwo zu finden."
Ich schaue ihn fragend an. Als er sich unvermittelt erhebt und mir zum Abschied die Hand reicht.
"War nett, dich kennen gelernt zu haben", sagt er, ohne sein trauriges Gesicht für einen Moment abzulegen. Ich habe stärker als zuvor das Bedürfnis, ihm mein Mitgefühl durch eine Umarmung auszudrücken. Aber statt dies zu tun, reiche ich ihm ebenfalls die Hand und sage nur kurz: "War mir ein Vergnügen!"
Seine Hand gleitet aus der meinen. Sein Körper verliert sich in harten Konturen, wird zum Schatten und verschwindet letztendlich völlig im Dunkel der steinernen Treppe.
Wenn ich heute daran zurück denke, wünschte ich mich an den Tag vor einem halben Jahr im September zurück. Ich habe viel über das Gespräch nachgedacht. Manchmal verfalle ich sogar der Gedankenspielerei, in der S-Bahn, jemanden mit einer Boulevardzeitung nach seinem Traumschiff zu fragen. Wenn ich manchmal Menschen auf der Straße sehe, die traurigen Blicks in die Welt schauen, frage ich mich, ob sie sich einfach nur verlassen fühlen oder vielleicht auch ihr Traumschiff suchen.
Manchmal wünschte ich sogar, diesen Mann wieder zu treffen. Ich würde ihn fragen, wie das Schiff aussah und was es an Bord geladen hatte. Schließlich auch, wie es den gefräßigen Straßen zum Opfer fallen konnte. Aber die Gelegenheit ist verstrichen. Wenn ich in den Treptower Park fahre, überlege ich, ob nicht heute der Tag wäre, mich am Ostkreuz hinzusetzen und darauf zu warten, dass mich eine bekannte Stimme nach Feuer fragt.
Denise Wolff
Ostkreuz, zweimal täglich
Osten, Süden, Westen, Norden...
Viele Leute haben Sorgen.
U-Bahn, S-Bahn,
manche kriegen einen Wahn.
Wohin nur? Wohin nur?
Oben, unten, links. Rechts...
Nur ein Ausruf: Ächz!
Zur Arbeit! Zur Arbeit!
Dorthin ist's ja noch weit
Ein Kreuz im Osten
Ist immer auf dem Posten.
Verkehrsknotenpunkt der Stadt,
das hat man manchmal wirklich satt.
So viel Betrieb gibt's ja dort.
Versteht man noch sein eignes Wort?
Nach Haus! Nach Haus!
Tag ein, Tag aus
begegnen sich Menschenmassen
kläglich
zweimal täglich.
Sandra Hübner
Luna Rosa
Vorsichtig zog Herr Kiebitz sein Knie weg. Frauen. Nur eine Frau konnte auf die Idee kommen, so etwas zu tragen. Weiß. Ein weißes Kleid, offensichtlich aus nichts weiter als Fusseln bestehend. Er würde sich davon jedenfalls nicht seinen Anzug ruinieren lassen. Nicht heute. Vor allem nicht heute.
Er sah starr aus dem Fenster. Weiße Fussel. Am Knie. Das wäre das ganz Allerletzte. Herr Kiebitz sah den Aufwärtsschwung der erschütterten Augenbrauen seiner Mutter vor sich. Die Furchen, die sich dabei auf ihrer hohen Stirn bildeten.
Seine Finger pressten sich in das Leder der Aktentasche. Die Daumen fuhren hektisch über den weichen Griff. Das beruhigte, das funktionierte immer. Sobald die Haut der Daumenkuppen die sanftwarme Berührung des Leders spürte, entspannte er sich. Hermannstraße erst. Herrgott, dauerte das heute lange. Eigentlich hatte er noch ein bisschen arbeiten wollen, bevor er zum Geburtstag seiner Mutter ..., aber das konnte er wohl vergessen. Gerade heute. Eigentlich hätte er heute ins Fitnesscenter gemusst, wegen seines Rückens, schließlich war Freitag und Freitag war Fitnesscentertag. Aber nein, gerade heute, gerade heute musste seine Chefin noch etwas von ihm wollen, als er schon an der Tür und das Jackett schon zugeknöpft ... Jeden anderen Tag hätte sie sich aussuchen können, was sie ja auch tat, aber heute ...
Herr Kiebitz betupfte sich mit einem gebügelten Taschentuch die Stirn. Irgendjemand hatte ein Fenster geöffnet. Der kalte Luftzug strich hinter seinen Ohren zu seinem Nacken und jagte ihm schweißfeuchte Schauer über den Rücken. Er würde sich erkälten. Konnte nicht jemand das Fenster wieder schließen? Nein, nein, er würde sich natürlich nicht krankschreiben lassen, das kam gar nicht in Frage. Das neue Projekt in der Firma lief auf Hochtouren, die Verträge drückten, die Auftraggeber waren direkt vom Himmel gefallen, die Umsatzsummen waren mit klarem Verstand kaum fassbar und er, er war bei all dem unentbehrlich. Schniefend und hüstelnd sah er sich am Montag wieder zur Bürotür hereinkriechen. Einen Augenblick tat er sich selbst leid. Dann straffte sich sein Rücken wieder.
Die S-Bahntüren schlossen sich. Der zweite Motz-Verkäufer auf dieser Fahrt begann sein langgezogenes Lied zu singen.
Misstrauisch beobachtete Herr Kiebitz das weißbefusselte Knie, das bei den Rückbewegungen und Schlenkern der Bahn immer mal wieder sein eigenes in Gefahr brachte.
Frauen. Er bürstete jeden Abend seinen Kater und rief später noch mal seine Mutter an, wenn sie ihm nicht zuvorkam.
Sonnenallee. Der Motz-Verkäufer hatte kein einziges Exemplar verkauft. Sich umständlich schnäuzend stieg er aus.
Wenn doch jemand das Fenster schließen würde, dachte Herr Kiebitz, dessen Finger immer hektischer am Ledergriff der Tasche rubbelten.
Eigentlich müsste er den Bericht noch schreiben und ins Büro mailen. Das ging überhaupt nicht, dass das bis morgen warten sollte. Konnte er den Geburtstag seiner Mutter als Ausrede gelten lassen? Und das war es doch, eine Ausrede, oder etwa nicht? Natürlich war es das. Schon halb sieben. Herr Kiebitz erstarrte, drückte sich das feuchte Taschentuch vor den Mund und atmete schwer ein und aus. Die Blumenläden würden geschlossen sein!
Treptower Park. Das Weißbefusselte verschwand, dafür quetschte sich etwas sehr, sehr Breites gegen ihn. Eingekeilt zwischen Fleisch und Außenwand, gab es für Herrn Kiebitz kein Entkommen vor dem Luftzug aus dem offenen Fenster mehr. Sein Aktenkoffer wurde ihm vom Knie geschoben und das Taschentuch fiel ihm aus der Hand, als er ihn zu halten versuchte. Die Breite neben ihm entschuldigte sich, und bevor er es verhindern konnte, bückte sie sich, wurde dabei noch um einiges breiter, schob ihn fast endgültig direkt durchs Fenster aus dem Zug und kam schließlich mit hochrotem Kopf wieder zum Vorschein, um ihm lächelnd sein schmutzstarrendes Taschentuch zu überreichen. Herr Kiebitz machte eine Hand frei, schaffte noch ein Nicken, was sie als Dank auffassen konnte, für ihn aber lediglich ein Beweis war, dass er überlebt hatte, und stieß sich vom Sitz hoch.
Ostkreuz. Die Bahnhofsuhren zeigten fünf nach halb sieben. Das Essen bei seiner Mutter war um sechs angesetzt gewesen.
Sich mit beiden Ellenbogen zwischen den hastenden Leibern hindurchdrängelnd, kämpfte sich Herr Kiebitz zur Treppe vor, von der mal wieder die eine Hälfte gesperrt war, weil irgendwelche geheimnisvollen Balken auf den Stufen nachgezogen wurden. Blödsinn, dachte Herr Kiebitz. In spätestens zwei Wochen sah die sowieso niemand mehr. Trampelnd steckte Herr Kiebitz im Stau.
Er hatte keine Blumen. Nicht die kleinste Entschuldigung hatte er.
"Ich kann nicht", hieß schon immer: "Ich will nicht". Der Spruch stammte von seinem Vater, so zumindest lautete der Bericht seiner Mutter. Ein redlicher Mann, und wenn der Krieg nicht gekommen wär ...
Herr Kiebitz wuchs mit jedem einzelnen der Buchstaben dieses Satzes auf. Sie waren in einer krakelig, verschnörkelten Schrift auf einen Wandbehang gestickt, der gerahmt über dem Sofa seiner Kindheit hing und ihm praktisch den Vater ersetzte. Er brauchte ihn nicht auswendig zu lernen, aus diesem Satz bestand die Hälfte seiner Gene.
"Das halbe Leben besteht aus Sparsamkeit", hatte seine Mutter gesagt, und manchmal auch "Das halbe Leben besteht aus Ordnung". Bis Herr Kiebitz vierzehn Jahre alt wurde, glaubte er, das Leben wäre also zweigeteilt, zur einen Hälfte Sparsamkeit, zur anderen Ordnung. Das war beruhigend, weil überschaubar. Und wer nicht wollte, der konnte auch nicht. Wer vor allem nichts wollte, aus dem wurde auch nichts.
Mit angehaltenem Atem hastete er über den uringetränkten Treppenabsatz und dann weiter über den brüchigen Bodenbelag neben dem Ostkreuz. Wich Schlaglöchern aus, umging metertiefe Pfützen, die Aktentasche fest an die Brust gedrückt. Er sprang beiseite, als der Obsthändler vom Mittelbahnsteig mit einigen Paletten Äpfeln im Arm an ihm vorbeiwankte. Nein, heute war nicht einmal Zeit, einen Blick auf das alte Backsteinhaus zu werfen, dessen Dach voriges Jahr abgebrannt war und das leer stand und bei dessen Anblick Herr Kiebitz sich trotzdem jeden Tag kurze, zaghafte Träumereien erlaubte. Einmal morgens, einmal abends.
Heute nicht. Nein. Das hatte er nicht verdient. Er kam zu spät. Er hatte keine Blumen und den Bericht konnte er auch vergessen.
Mit vorgerecktem Kopf stürmte Herr Kiebitz den Weg entlang, überholte jeden, der vor ihm ging, keuchte und schwitzte und noch nie waren ihm die fünfzig Meter bis zur Straße so lang erschienen. Ein LKW versperrte den Weg. Herr Kiebitz hastete um ihn herum, musste sogar noch auf den hohen Bordstein ausweichen, wo er wiederum einer Gruppe von kichernden Teenies auswich und plötzlich stieß sein Fuß gegen eine Vase, in der sich blaue Hyazinthen duckten. Einen Augenblick glaubte Herr Kiebitz an eine Sinnestäuschung. Fieber. So schnell ging das also. Er sah Hyazinthen. Blau. Mitten auf dem Ostkreuz. Er blieb stehen, wischte sich über die Augen, befühlte seine Stirn. Sah noch einmal zu seinen Füßen hinunter. Da waren sie immer noch. Hyazinthen, keine Frage. Und daneben Tulpen, rote, weiße Rosen. Kleine Sträuße mit einem Potpourri an bunten Blumen, umrahmt von fleischigen, grünen Blättern. Riesige weiße Lilien. Sein verwirrter Blick entdeckte eine Bretterbude, die ehemals gelb gestrichen, jetzt mit verblassenden Graffitis bedeckt war. Herr Kiebitz stürzte auf die kleine Fensterfront zu und hämmerte an das Glas. Er presste die von den Händen abgeschirmten Augen fest an das Glas. In der kleine Hütte bewegte sich langsam ein dunkler Schatten. Zwei Scheiben wurden auseinandergeschoben und ein gutmütiges Altmännergesicht sah ihn erstaunt und amüsiert an.
"Guten Abend", sagte der Alte und widmete sich wieder einem Blumengebinde in seinen Händen.
"Schnell", keuchte Herr Kiebitz. "Schnell doch, ich brauche Blumen!"
Der Alte wickelte weiter an seinem Strauß. Wahrscheinlich war er schwerhörig.
Herr Kiebitz zwängte seinen Kopf zwischen die Scheiben und schrie: "Hallo! Hören Sie mich? Blumen!"
Der Alte zuckte erschrocken zusammen, sah das hochrote Gesicht in seine Bude ragen, begann erst zu kichern, um dann mit hüpfendem Bauch loszulachen. Die Blumen in seinen Händen wippten mit den Köpfen.
"Blumen! Schnell doch!", bettelte Herr Kiebitz, der jetzt nicht mehr nur am Gehör, sondern auch am Verstand des Verkäufers zweifelte.
Der Alte gluckste noch ein bisschen.
"Blumen, ja? Klar doch. Sollen Ihre Blumen haben. Klar doch. Was soll's denn sein? Tulpen? Sind ganz frisch heute Morgen ..."
"Nein!", schrie Herr Kiebitz und stieß sich vor Aufregung den Kopf an der Budenöffnung. "Nein, nein, nein! Keine Tulpen! Es muss etwas Besonderes, verstehen Sie, etwas ganz Besonderes muss es sein!"
"Hmm", brummte der Alte. "Lassen Sie mich mal nachdenken. Wofür soll's denn sein? Für Sie? Für die Gattin?"
"Nein, nein, nein!", kreischte Herr Kiebitz und fing fast an zu strampeln vor Ungeduld. Er setzte die Aktentasche ab, betupfte sich mit dem Taschentuch die Stirn, fuhr sich mit der Hand durch das dünne Haar und atmete tief durch.
"Nicht für die Gattin, ich verstehe", seufzte der Alte, zog kopfschüttelnd etwas Faden von einer Rolle, schnitt ihn ab und begann seinen Strauß sorgfältig zu binden.
"Wissen Sie, das ist eigentlich schade. Keiner will mehr Blumen für die Gattin. Mir fällt das auf, ich hör's einfach immer seltener. Und was kann es denn Schöneres geben, als der Angebeteten Blumen mitzubringen, hm?"
"Hör'n Sie, bitte", stöhnte Herr Kiebitz, "Blumen. Etwas Besonderes. Einfach etwas Besonderes, bitte."
"Ja, aber nicht für die Gattin. Und noch nicht einmal für Sie selbst. Das wär doch auch mal was, wenn Sie sich selbst so eine kleine Freude machen würden. Würden sich ein paar Blumen hinstellen und ..."
"Für meine Mutter!", rief Herr Kiebitz, entgeistert von diesem faseligen Verkäufer. "Sie hat Geburtstag!"
"Hmm", machte der Alte und schlug einen eleganten Knoten um den Strauß, schüttelte ihn ein wenig und betrachtete ihn zufrieden von allen Seiten.
"Für die Mutter also. Wie ist sie denn so, Ihre Mutter?"
"Was?", hauchte Herr Kiebitz entnervt.
"Wie sie so ist, Ihre Mutter. Ist sie eine sanfte Frau, eine energische, eine verträumte?"
"Nein. Hören Sie, das geht Sie überhaupt nichts an. Ich sagte, ich will besondere Blumen und damit Schluss. Also was ist nun? Verkaufen Sie, oder soll ich woanders hingehen?"
Ein Bluff. Herr Kiebitz wusste sehr gut, dass er nirgendwo anders hingehen konnte. Der Alte lächelte still.
"Wissen Sie, das ist schon komisch mit Ihnen", sagte er nachdenklich. "Alles beginnen Sie mit einem energischen Nein."
Herr Kiebitz sank in sich zusammen. Warum musste er gerade heute an diesen Verrückten geraten? "Wie bitte?", stöhnte er.
"Nein. Sie sagen als erstes immer Nein. Versuchen Sie es mal mit einem kräftigen Ja!"
Herr Kiebitz starrte den Alten entgeistert an.
"Na gut, lassen wir das. Blumen. Für die Mutter. Trotzdem müssten Sie sie schon kurz beschreiben. Wie soll ich sonst wissen, was Ihre Mutter als besonders empfinden wird?"
Herr Kiebitz straffte sich und donnerte los: "Sie wird heute 75 Jahre alt. Ihr Leben lang hat sie hart gearbeitet, jawohl. Ihr Mann ist im Krieg gefallen und seitdem hat sie nur für ihren einzigen Sohn gelebt, und dieser Sohn bin ich, und ich bin ihr, verdammt noch mal, Dank schuldig und ein paar Blumen an ihrem 75. Geburtstag!"
Die letzten Worte hatte er zackig gebrüllt und jetzt, als wieder Ruhe war und zwei Passanten kopfschüttelnd an ihm vorbeihasteten, sank sein Kopf wieder zwischen die Schulterblätter, dahin, wo er seit Jahrzehnten weilte.
"Ach so", sagte langgedehnt der Alte. "Daher weht der Wind." Er sah sich in seiner Bude um, rieb die Hände an der blauen Schürze und murmelte: "Ein schwieriger Fall. Keine Frage."
Der Alte ging in seiner Bude hin und her, hielt mal die eine, mal die andere Blume sanft zwischen seinen knorrigen Fingern, schüttelte jedes Mal den Kopf und murmelte etwas, kicherte ein bisschen und schüttelte wieder den Kopf. Herr Kiebitz spürte den Schlaganfall nahen.
"Vielleicht doch Rosen?", fragte der Alte nachdenklich. "Ich habe hier diese tiefroten, aber nein, ich sehe schon, nein, tiefrot ist ja absolut ..., nein. Für eine solche Frau. Ihre Mutter ist ein wenig resolut, nehme ich an?"
"Nun ja, wie gesagt", wand sich Herr Kiebitz. "Wie gesagt, sie hatte es nicht leicht, auch mit mir nicht."
"Mit Ihnen? Sie sehen doch so aus, als hätten Sie es zu etwas gebracht, oder irre ich da?"
"Ja sicher. Aber alle Möglichkeiten nutzt man doch nie, nicht wahr?"
Der Alte sah ihn traurig an und schüttelte langsam den Kopf.
"Nun, also kein Tiefrot. Wie wär's mit etwas Leichtem? Und, sagen Sie, für Ihre Frau wollen Sie nichts mitnehmen?"
"Ich habe keine Frau."
"Oh ja, natürlich", sagte der Alte schnell, drehte sich um und murmelte: "Das dachte ich mir schon."
Er streichelte noch hier und da eine Blüte, bis er hinten in der Bude verschwand und mit einem Siegerlächeln wieder auftauchte.
"Hier!", sagte er zufrieden. "Ich hab's!" Er streckte seine Hand mit einem langen Blumenstengel vor, der oben mit kleinen, weißen Knospen mit rosagehauchtem Rand bestückt war. Herr Kiebitz hatte so eine Blume nie zuvor gesehen.
"Luna Rosa", lächelte der Alte. "Na? Was sagen Sie?"
"Luna Rosa?", murmelte Herr Kiebitz erstaunt.
"Ja, ich muss zugeben, ich habe diese Blume heute zum ersten Mal gekauft, ich kann Ihnen also weder sagen, wie sie erblüht, noch wie sie riecht oder wie lange sie hält. Aber dem Preis nach zu urteilen ..."
"Gut, gut. Der Preis ist völlig nebensächlich. Packen Sie mir sieben davon zusammen."
Der Alte zog umständlich sieben lange Stiele aus einer Bodenvase, legte sie vorsichtig zusammen und band und pfiff vor sich hin. Als Herr Kiebitz das Geld und der Alte die Blumen durch das Fenster geschoben hatten, sagte er: "Hören Sie, es wäre nett, wenn Sie einmal vorbeikommen und mir sagen könnten, wie sie so sind, die Blumen. Also wie sie geblüht haben und so weiter. Würden Sie das bitte tun?"
Herr Kiebitz versprach es und rannte los.
Seine Mutter öffnete die Tür mit zusammengepressten Lippen, schüttelte wortlos den Kopf, stellte die Blumen in eine Vase und redete den ganzen Abend kein Wort mit ihm.
Am nächsten Morgen klingelte um halb sieben das Telefon.
"Was hast du dir dabei gedacht?", schrie seine Mutter.
Herr Kiebitz, noch im Tiefschlaf, verstand kein Wort.
"Sie stinken! Die Blumen! Sie stinken wie, wie, wie Pisse! Die ganze Wohnung stinkt!", gellte es aus dem Hörer. "Das hast du mit Absicht gemacht! Alles machst du falsch! Alles. Zu nichts bist du nutze!"
Herr Kiebitz erwachte langsam, hörte noch einen Augenblick zu, hielt den Hörer etwas von sich gestreckt, betrachtete ihn erstaunt, als sähe er ihn zum ersten Mal. Dann legte er auf und zog den Stecker heraus.
Am Montag klopfte er pfeifend an die Scheibe der Blumenbude.
"Guten Morgen!", flötete er dem Alten zu.
"Ah! Guten Morgen", lächelte der.
"Ich wollte Ihnen von den Blumen berichten."
"So? Dann schießen Sie mal los."
"Also, ich nehme an, sie blühen ganz wunderhübsch. Ich habe sie noch ein bisschen aufgehen sehen. Kleine, weiße Blüten mit rosa Rand. Aber da gibt es noch etwas."
"Ja?"
"Sie stinken." Herrn Kiebitz Gesicht überzog ein feines Lächeln. "Ja, also, sie stinken wie, wie Pisse." Und dann brach er in ein freies und übermütiges Lachen aus, setzte die Aktentasche ab und hielt sich den Bauch, und lachte Tränen.
Der Alte sah ihn verschmitzt an.
"Tatsächlich? Das tut mir leid", sagte er und grinste.
"Oh nein, das muss es nicht", lachte Herr Kiebitz. "Und bitte, stellen Sie mir einen Strauß Hyazinthen zusammen. Ich komme um kurz vor sechs wieder vorbei und hole ihn ab."
Der Alte nickte, Herr Kiebitz stopfte sich die Tasche unter den Arm, grüßte und schritt pfeifend den Kopfsteinpflasterweg entlang. Blieb stehen, um das rote Backsteinhaus zu betrachten, seufzte einmal tief, lächelte, und schlenderte pfeifend weiter zum Bahnsteig.
Sabine Küster
Der Ostkreuz-Wächter
Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat.
Ein Penner vermutlich oder einer der jungen Junkies, von denen ich nicht weiß, ob ich sie zu den Pennern dazu zählen soll oder ob sie eine ganz eigene Spezies bilden.
Wie wird ein Ort eigentlich zum Sammelbecken aller möglichen Aussteiger ?
Während ich mich diesen und anderen philosophischen Abstraktionen hingebe, kommt Leben in das Bündel Mensch.
Hoch rappelt sich eine Gestalt in langem roten Ledermantel, mit Perücke und Spazierstock. Eine alte Transe erster Güte.
Irgendjemand hat mal was über ihn erzählt.
Er nennt sich Ostkreuz-Wächter. Warum Wächter und nicht Wächterin bei der Aufmachung - das weiß vermutlich niemand außer ihm selbst.
Der Ostkreuz-Wächter fixiert mich mit einem langen unergründlichen Blick, schnaubt dann etwas von Sonntags-Touri und schleppt sich dabei langsam die Treppe hoch zum Bahnsteig.
Ja, ich komme nur Sonntags hierher. Zum Frühstücken in die Sonntagstraße - was sonst.
Ich blicke der Transe nach und kann mir ein überhebliches Grinsen nicht verkneifen.
Dies wird registriert und sogleich auch kommentiert von einem älteren Herrn, der sich selbst und den Hund ausführend wohl gerade auf dem Weg in den Treptower Park befindet.
"Das ist ja eine ganz arme Figur- traurige Geschichte, sie wissen schon..."
Nee, nichts weiß ich, aber da eine notorische Neugierde mich auszeichnet, nicke ich dem offensichtlich gesprächsbedürftigen Herrn ermunternd zu...
"Das war mal ein ganz hohes Tier, noch zu DDR-Zeiten."
"Die Transe ?"
"Der Ostkreuz-Wächter, ja. Wurde mal kurze Zeit als hoffnungsvoller Kandidat für den Verkehrsministerposten gehandelt. Ende der 80er. Kurz vor der Wende."
"Und seitdem bewacht er das Ostkreuz ? Nimmt ihm doch niemand weg" - ich bin in Blödelstimmung.
Der Herr runzelt die Stirn - seiner Meinung nach sollte ich vermutlich ernst bleiben und genauer nachfragen. Ich tu ihm den Gefallen.
"Also, was hat es jetzt mit diesem Wächter auf sich?"
"Nun ja wie gesagt, hohes Tier, Parteikarriere, Vorzeigefamilie usw. Wohnte damals in Grünau und fuhr zum Arbeiten nach Pankow... Immer übers Ostkreuz. Tag für Tag, Woche für Woche usw. Und dann passierte diese komische Geschichte. Die mit der Frau im roten Ledermantel."
"In dem Ledermantel ?" frage ich ungläubig.
"Nun unterbrechen Sie mich doch nicht dauernd. Also diese Frau stieg häufig am Ostkreuz zu. Immer im roten Ledermantel. Er kannte sie schon vom Sehen. Sie hatten sich ab und an zugelächelt - mehr nicht. Und an diesem einen Tag kommt sie plötzlich durchs Abteil auf ihn zu und drückt ihm einen Packen Zettel in die Hand. Bevor er was sagen konnte, hastete sie auch schon wieder durch das Abteil zur nächsten Tür und verschwand beim nächsten Halt.
Hätte er die Papiere mal einfach liegen gelassen, dann sähe es heute anders um ihn aus. Oder, was meinen Sie ?"
"Ich - was soll ich denn dazu meinen - was stand denn drin in den Papieren ?"
"Ja, das weiß ich nicht. Weiß niemand. Er soll sie gelesen haben, noch in der Bahn, haben später Zeugen ausgesagt. Und dann ist er wohl irgendwann ausgestiegen und weg."
"Weg ?"
"Ja, von da an hat man ihn fünf Jahre nicht gesehen. Weder auf Arbeit noch Zuhause ist er wieder aufgetaucht. Weg eben. Große Fahndung damals in den Zeitungen, im Fernsehen, alle haben ihn gesucht."
"Ja und dann ???"
"Na ja, Jahre später ist er dann eben wieder aufgetaucht, hier am Ostkreuz, so wie sie ihn eben gesehen haben.
Wie gesagt, 'ne arme Figur.
So ich muss dann mal wieder. Schönen Tag noch."
Jetzt lässt der mich doch tatsächlich hier stehen mit dieser dubiosen, halbfertigen Geschichte.
Ich glaub es ja nicht - Begegnungen sind das hier.
Wie muss das denn erst werktags sein, wenn die Massen hier durchströmen.
Ostkreuz zweimal täglich oder so.
Nee, nee, nee...
Heli Lichtstral
Rummi das Rummelsburger See-Ungeheuer
Treffen am Wasserturm (S-Bhf. Ostkreuz)
Skizze
Frager: | Wir stehen hier inmitten des tosenden Verkehrs. Der S-Bahnhof Ostkreuz. Im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain. Unweit des Berliner Ostbahnhofes. Nahe der Straßenverkehrstraßen Lichtenbergs. Wie der Hauptstraße. Zwischen Bussen der Linie 194 und Tramwagen der Linie 21. Ein weithin sichtbares Symbol für diese Region: der denkmalgeschützte Wasserturm der Deutschen Bahn AG. Ein guter Treffpunkt - für eine Begegnung mit einem Ungeheuer... Guten Tag... Sie sehen gar nicht aus, wie ein Ungeheuer... abstoßend. Eher sogar recht ansprechend... fröhlich, möchte ich fast sagen... Wie darf ich Sie ansprechen??? |
Rummi: | Tach'chen. Und danke für das Kompliment. Sag ruhig Du zu mir. Ich bin Rummi. Sag Du und einfach Rummi. |
Frager: | Dann sag auch Du - du zu mir. |
Rummi: | Gut, du. |
Frager: | "Rummi". Woher stammt dieser Name? |
Rummi: | Er ist uralt und abgeleitet von dem Gewässer, in dem ich seit vielen Jahrhunderten lebe. |
Frager: | Rummi, welches Gewässer meinst du? |
Rummi: | Wenn ich nicht wüsste, dass es keine dummen Fragen gibt. Na, den Rummelsburger See, natürlich! |
Frager: | Rummelsburger See, also. Rummi, wie Rummelsburg. Da hättest du eigentlich auch "Rummel" heißen können...??? |
Rummi: | Wollt ich ja! Ich wollt ja Rummel heißen! Aber meine Familie war dagegen. |
Frager: | Deine F a m i l i e ...??? Du hast Familie...??? |
Rummi: | Na, klar. Tabaluga zum Beispiel ist ein entfernter Verwandter. Und Nessie, vom Loch Ness, war besonders gegen "Rummel"! Nessie wollte, dass die Verwandtschaft zu ihm in meinem Namen mitschwingt..., also wurde ich "Rummi-e" genannt. Aber das e hab ich mir wenigstens abschminken können... |
Frager: | Mach dir nichts draus. Rummi klingt wirklich sehr lieb. Vielleicht ein bisschen lieber, als "Rummel" z. B. |
Rummi: | Ich fand "Rummel" aber schöner...!!!! |
Frager: | (lenkt ab) Rummelsburger See, also. Hab ich noch nie gehört. |
Rummi: | Da geht's dir leider wie Vielen. |
Frager: | Liegt er weit außerhalb der Stadt? |
Rummi: | Von wegen. Mitten in Berlin! |
Frager: | Mitten in Berlin...??? Du meinst die Stadt Berlin..??? |
Rummi: | Selbstverständlich meine ich "die Stadt Berlin". Oder hältst du Lichtenberg, Friedrichshain oder Treptow für Bezirke Münchens??? |
Frager: | Nee, Lichtenberg, Friedrichshain und Treptow sind echte Innenstadtbezirke Berlins. |
Rummi: | Na siehst du... |
Frager: | Und mitten in der Stadt soll ein See liegen, der so ein, verzeih mir, Ungeheuer beherbergen könnte...??? |
Rummi: | D r e h d i c h d o c h m a l u m . |
Frager: | Ein Fußballplatz. Und? |
Rummi: | Sparta. Weiter rechts. Flaschenturm. |
Frager: | Stralau! Das kenn ich. Da fuhr doch sogar mal 'ne Bahn unter der Spree.... |
Rummi: | Die Geschichte kennt wohl jeder...und jetzt wieder 'n Stück nach links. |
Frager: | Tatsächlich, Wasser. Ein See. |
Rummi: | Endlich. Aber immer schön der Reihe nach...also: hat sich die Halbinsel Stralau herausgebildet. Und der ehemalige Spreearm ist zum Rummelsburger See geworden! |
Frager: | Und wie kommt's, dass das so wenig Leute wissen? |
Rummi: | "Betriebsgelände! - Betreten verboten!" |
Frager: | Was soll denn das nun wieder...??? |
Rummi: | Mit solchen Schildern war der größte Teil des Ufers lange Jahre gekennzeichnet. Und wer dem Betrieb nicht angehörte, der kam nicht ans Ufer. |
Frager: | Und wie kommt es, dass man heute an das Ufer herankommt? |
Rummi: | "Wasserstadt"! |
Frager: | Wasserstadt??? |
Rummi: | (singt) Die Wasserstadt, die Wasserstadt, die so treue Hände hat.... Ich hör lieber auf. |
Frager: | Wieso singst du nicht weiter, du hast eine schöne Stimme. |
Rummi: | Danke. Aber beim Thema Geld, da werd ich immer so traurig... |
Frager: | Die Wasserstadt ist also eine Einrichtung der Stadt? |
Rummi: | Auf der Ebene heißt die Stadt auf einmal Land. Land Berlin. |
Frager: | Und das Land Berlin hat eine Wasserstadt. |
Rummi: | Ja, doch. Und im Auftrage der Stadt, des Landes also, hat die Wasserstadt das Gebiet entwickelt. |
Frager: | Ein städtisches Entwicklungsgebiet des Landes Berlin, also???!!! |
Rummi: | Aber nicht so laut. Im Moment sollte man mit dem Thema keine Wellen machen, (singt fast unhörbar...) Wenn jetzt noch jemand Wellen macht, dann Wasserstädtchen, gute Nacht... |
Frager: | Wenn ich noch folgen kann, dann hat sich die Wasserstadt so lange entwickelt, bis der Stadt, äh, dem Land, das Wasser bis zum Halse steht... |
Rummi: | Und wenn du da Wellen machst, kann es sein, dass es noch weiter steigt und wichtige Leute ihr Gesicht verlieren... |
Frager: | Komische Vorstellung... Erinnert mich ein bisschen an Goethes "Zauberlehrling"! So richtig versteh ich das Ganze nicht... |
Rummi: | Nee, das versteht keiner... Ach, der olle Jöthe... Auf jeden Fall haben sie sich ums Ufer gekümmert! Und tolle Sachen gemacht! Einen phantastischen Uferweg zum Beispiel. |
Frager: | In das ehemalige Betriebsgelände??? Ist das nicht gefährlich??? |
Rummi: | Natürlich haben sie die ehemaligen Betriebsgelände saniert, bevor sie den Weg angelegt haben. |
Frager: | Schließlich sollen ja auch Kinder auf dem Weg entlanggehen, die ab und an mal was in den Mund stecken... |
Rummi: | Eben. |
Frager: | Eben. Apropos "In den Mund stecken", eh wir weiter reden, woll'n wir uns nicht ein hübsches Café hier an der Bucht suchen, wo wir nett sitzen können und eine Kleinigkeit essen und trinken können? |
Rummi: | (schweigt verbissen) |
Frager: | Ein anderes Thema. Rummi, sag mal, wo du nun schon wieder aufgetaucht bist, was wirst du am bzw. im Rummelsburger See machen? |
Rummi: | Gemütlich werde ich's mir machen. Und hier und dort ein bisschen rumrüsseln. |
Frager: | Rumrüsseln??? |
Rummi: | Na ja, meinen Saugstutzen mal überall reinstecken, so um die Rummelsburger Bucht herum....reinriechen, sozusagen. Es hat sich ja 'ne Menge verändert! |
Frager: | Deshalb sagt man wohl auch: der steckt seinen Rüssel aber auch überall hinein... |
Rummi: | Woher weißt du...??? Das Sprichwort. Ist vor zweihundert Jahren von mir abgeleitet worden...Exakt war das am 23. Juni 1798...Da hatte sich folgendes begeben... |
Frager: | Soll das eine Z e i t r e i s e werden? |
Rummi: | Warum nicht? |
Frager: | Weil mich im Moment die Gegenwart mehr interessiert! |
Rummi: | Aber du musst mir versprechen, dass ich dir die alten Geschichten mal erzählen darf! |
Frager: | In Ordnung. Sag mal, bist du außer mir schon mal jemandem begegnet? Hast du vielleicht sogar Freunde? |
Rummi: | Na klar, sonst könnt ich gar nicht an Land! Könnte nicht überleben! |
Frager: | Wie das??? |
Rummi: | Alle zwei Stunden muss ich an den Tropf! Ich bin doch eine A m p h i b i e . |
Frager: | Mein Gott! |
Rummi: | Keine Angst. Es gibt hier ein altes Wasserpumpwerk. Dort kann ich jederzeit meinen Saugstutzen anschließen. Und tief Wasserholen. |
Frager: | Ein altes Wasserpumpwerk..., als Intensivstation für ein Amphibien-Ungeheuer!!?? |
Rummi: | Quatsch. Ich bin doch nicht krank. Ich brauche nur ab und an mal 'ne Spülung... sauberes Wasser....und da ist das Pumpwerk genau das richtige... |
Frager: | Ein Wasserpumpwerk nur für dich... und deine Spülungen...??? |
Rummi: | Quatsch! Das gehört der Deutschen Bahn, verstehst du? |
Frager: | Der Deutschen Bahn? Was woll'n denn die mit 'ner Wasserpumpe? |
Rummi: | Verkaufen. |
Frager: | Die Pumpe? |
Rummi: | Das Wasser. Das heißt, so genau wissen die Bahner auch nicht mehr, ob jemand das Wasser noch kauft... |
Frager: | Wie das? |
Rummi: | Na, es gab mal eine Zeit, da durfte die Eisenbahn sich nicht aus dem öffentlichen Wassernetz versorgen. Und da haben sie eben ihre eigenen Einrichtungen bauen müssen..., wie ein Netz, ein eigenes Versorgungsnetz. Und deshalb heißt der Teil der Deutschen Bahn AG, der das Wasserpumpwerk betreibt, auch DB Netz AG. |
Frager: | Und heute? |
Rummi: | Heute versorgt sich die Deutsche Bahn schon lange aus dem öffentlichen Netz! |
Frager: | Dann wird das Wasserpumpwerk ja gar nicht mehr benötigt!!! |
Rummi: | (schweigt verbissen) |
Frager: | Wieso schweigst du? Wieder ein "heißes Thema"??? |
Rummi: | Wie man's nimmt. |
Frager: | Wie "wie man's nimmt"??? |
Rummi: | Weil sie... es nicht... wissen... |
Frager: | Wie??? Die Deutsche Bahn AG weiß nicht, ob das Wasserpumpwerk noch gebraucht wird??? |
Rummi: | (schweigt verbissen) |
Gabriele Mittelhaus
Geschichte vom Ostkreuz-Kiez
Ich bin jetzt 43 Jahre alt und eine echte "Berliner Göre". Die Frankfurter Allee und der Raum Ostkreuz waren damals meine Spielplätze. Am liebsten mochte ich den Boxhagener Platz. Dort konnte man auch baden, denn ich bin auch eine Wasserratte. Ich bin seit nun mehr 24 Jahren glücklich verheiratet und möchte Ihnen folgende lustige Geschichte erzählen.
Als wir im September 1977 das Aufgebot für die Hochzeit bestellten (dieses dauerte früher zirka ein halbes Jahr!), stellten wir auch gleichzeitig einen Wohnungsantrag bei unserer kommunalen Wohnungsverwaltung. Wir wollten schnell eine Wohnung haben, da wir bei meinen Eltern wohnten und mit ihnen gemeinsam ihr Schlafzimmer teilten. Unter diesen Umständen, so erklärten wir es auch den Angestellten des Wohnungsamtes, könnten wir keine Kinder zeugen.
Kinder waren, das muss man in diesem Zusammenhang erklären, in der DDR damals das höchste Gut und deshalb wurden junge Ehen immer gefördert und unterstützt.
Im Februar 1978 habe ich dann meinen Hasi geheiratet und als wir aus den Flitterwochen kamen, hatten wir schon ein Angebot für eine Wohnung vorliegen.
Diese befand sich in der Lasdehner Straße. Wir mussten uns die Wohnung mit einem Studenten teilen, was meistens sehr lustig war. Toilette und Flurbenutzung waren gemeinsam und innerhalb der Wohnung befand sich unsere - separate - Haustür. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen! Aber es hat funktioniert, denn wenn man jung ist, sieht man ja viele Dinge sehr locker.
Wir packten also unsere Sachen bei meinen Eltern für den Umzug zusammen. Natürlich mussten wir auch einiges aussortieren und entrümpeln. In diesem Zusammenhang hatten wir beschlossen, unsere Liebesbriefe gleich mit wegzuschmeißen. Wir beauftragten eine Transportfirma und die holte am Freitagabend den ganzen Plunder ab.
Am Sonnabend zogen wir dann um und am Sonntag kochte meine Mutter noch einmal etwas Leckeres für uns. Kurz vor dem Mittagessen klingelte es an der Wohnungstür. Als ich aufmachte, standen zwei Polizisten davor.
Früher hatten wir noch Respekt vor den Ordnungshütern!
Sie stellten sich vor als Leutnant Schulz und ABV (Abschnittsbevollmächtigter!) Hinze, entschuldigten sich für die Störung und fragten mich, ob ich Gabriele Schuster sei.
Ich antwortete mit ja und teilte ihnen mit, dass ich jetzt verheiratet sei und Mittelhaus heiße. Daraufhin wollten sie von mir wissen, ob Herr Carsten Mittelhaus auch da sei. Ich rief meinen Hasi und sie fragten ihn, ob er in Stahnsdorf gedient hätte. Wir waren beide baff und wollten nun unsererseits erfahren, woher sie denn das wüssten.
Tja, und nun kam das Ding:
Sie erzählten uns, dass unsere Liebesbriefe auf der ganzen Gryphiusstraße verteilt rum liegen und wollten wissen, wie sie dorthin gekommen seien. Wir konnten uns das gar nicht erklären, bis wir auf die Transportfirma kamen.
Der Typ hatte das Geld eingesteckt und unseren Rapeiken wahrscheinlich in den nächsten leeren Müllcontainer entsorgt. Da dieser dann mit unserem Gerümpel so voll war, und er den Beutel mit Briefen wahrscheinlich als letztes oben auf legte, fiel dieser dann heraus und wurde von dem Wind auf der ganzen Straße verteilt. Sie baten uns, die Briefe sofort dort einzusammeln und anderweitig zu entsorgen.
Uns war das mächtig peinlich! Jeder kennt sicher Liebesbriefe und was da alles so drin steht!
Nach dem Essen gingen wir dann sofort zur Gryphiusstraße, und dort flogen unsere Liebesbriefe wirklich in allen Himmelsrichtungen herum! Damals war diese Straße zum Glück sehr unbelebt, nur ein paar Kinder rannten unseren Briefen hinterher. Wir sammelten also alles auf und steckten die Briefe auch wieder in die nächste Mülltonne. Danach haben wir nie wieder etwas von unseren Liebesbriefen gehört, oder - haben SIE einen gefunden???
Michael H. Zimmermann
Treffpunkt O.
oder Wunder gibt es immer wieder
Vor vielen Jahren wurde in Berlin, der Hauptstadt der "Ehemaligen", eine Musikgruppe gegründet. Schon nach wenigen Monaten eilte das Ensemble zwischen der Insel Rügen und dem Erzgebirge erfolgreich von einem Konzert zum anderen. Für die Abreisen verabredeten sich die Musiker an verschiedenen Treffpunkten. Für die Fahrten in die südlichen und westlichen Landesteile wurde der S-Bahnhof Ostkreuz gewählt. Betrachtete man die Wohnorte der Musiker, schien das nicht abwegig: Der Kapellenleiter, der einzige glückliche Kraftfahrzeugbesitzer, und ein weiterer Mitwirkender lebten im Stadtbezirk Mitte. Sie starteten mit einem Drei-Elfer Wartburg mit abgeschnittenem Trabant-Kombi-Hinterteil als Anhänger unweit des Bahnhofs Jannowitzbrücke. Ein Musiker kam aus Prenzlauer Berg, und der vierte im Bunde residierte in Friedrichshagen. Die mitwirkenden Kollegen ohne "fahrbaren Untersatz" fuhren einfach mit der S-Bahn nach Ostkreuz. Die Autofahrer mussten nur einen kleinen Umweg machen. Die territorialen Kenner der geografischen Gegebenheiten werden dies bestätigen können.
Welche verabredungstechnischen Herausforderungen die Musiker in der "Ehemaligen" auf sich nehmen mussten, ist für die junge Generation kaum nachvollziehbar. Keine Vernetzung! Keine Verkabelung! Mobiltelefone und SMS waren völlig unbekannt, wahrscheinlich noch nicht einmal erfunden. Keiner der Mitwirkenden gehörte zu den privilegierten Inhabern eines ganz einfachen Telefonanschlusses. Die kommunikativen Schwierigkeiten im "fünfjahresgeplanten Dasein" deuteten sich bei kurzfristig anberaumten Konzerten an. Das kam tatsächlich häufiger vor.
Das persönliche Überbringen von Botschaften war natürlich wegen der Entfernungen zu zeitaufwändig und unsinnig. Aber das Telegrafieren hatte sich doch schon seit über einem Jahrhundert erfolgreich bewährt, werden technisch Versierte an dieser Stelle einwerfen! Wie stand es damit?
Natürlich war das gute alte Telegramm die Lösung. Allerdings brachte die Übermittlung und die Zustellung, wegen technischer und menschlicher Unzulänglichkeiten, einige Unwägbarkeiten mit sich. Aber dem Absender war die Möglichkeit gegeben, Einfluss auf die Zustellgeschwindigkeit zu nehmen. Teuer zu stehen kamen die rot geränderten, so genannten Blitz-Telegramme. Aber im Grunde genommen war es egal, wie viel Geld über den Tresen des Postschalters geschoben wurde, es beeinflusste die "Laufzeit" der Depeschen nicht in angemessenem Maße.
Im innerstädtischen Verkehr dauerte die Zustellung vielleicht zwei bis drei Stunden. Wenn alles gut ging und der Empfänger das Telegramm persönlich in die Hand gedrückt bekam. Kürzere Zeiten waren rekordverdächtig, längere durchaus möglich. Beim lieblosen Hineinstopfen in einen angerosteten Briefkasten im Hinterhof stand der tatsächliche Erhalt der Nachricht in den Sternen. Aber meist klebte dann ein kleiner Hinweiszettel mit roten Buchstaben am Kasten, manchmal auch an der Wohnungstür. Dazu kam, dass die Boten meist Aushilfskräfte waren. Sie wurden weder "materiell stimuliert", die Telegrammanlieferung zu beschleunigen, noch besaßen sie so etwas wie eine Berufsehre.
Im Nachhinein scheint die fehlende Beflissenheit verständlich: Man erinnert sich dunkel, dass man selbst auf der Suche nach jemandem in zwei bis drei Quergebäuden und Seitenflügeln bis unter die Dachböden gestapft ist. Nur Leistungssportler hätten beim schnelleren Auffinden von Bewohnern in Hinterhäusern etwas bewirken können. Leider galt das Motto "Schneller - Höher - Weiter" woanders.
In der Praxis musste mit weiteren unliebsamen Überraschungen gerechnet werden. In Altbauwohngebieten gab es weitestgehend keine Klingeln und Wechselsprechanlagen. Dieser Mangel machte die Zustellung von Telegrammen aufgrund verschlossener Haustüren nach 20.00 Uhr unwahrscheinlich. Aber nur böse Zungen berichten von über vierundzwanzig Stunden Zustellzeit.
Das Telegrafieren wurde häufig in Anspruch genommen. Aber jedes Wort kostete bares Geld. Um die Unkosten der Musikgruppe niedrig zu halten, fielen die Informationen des Kapellenleiters stets kurz und knapp aus.
So ereignete es sich, dass der in Prenzlauer Berg wohnenden Musiker an einem Wintertage gegen 13.22 Uhr mit einem Telegramm beglückt wurde. Unvermittelt versuchte sich der Empfänger zu erinnern, ob ihn in der vierten Etage des zweiten Hinterhofs jemals eine persönliche Zustellung ereilt hatte. Der Musiker war schon drauf und dran, dem netten und freundlichen Boten einen Kaffee anzubieten. Er verwarf aber diesen Gedanken, bedankte sich ein wenig gerührt und blickte gewohnt lässig auf die spärliche Botschaft: "Treff O. - 14.00Uhr - R. K."
Ein heftiger Adrenalinstoß durchfuhr den Körper des Musikers. "Was, um 14.00 Uhr??" stieß der Ahnungslose hervor.
Die gefühlte Zeit half nichts. Nur achtunddreißig Minuten bis zur Abreise von Ostkreuz. Auf ein Taxi zu spekulieren hatte keinen Sinn. Es gab zu wenig davon und sie waren nur selten greifbar, wenn man sie dringend benötigte. Die Musikgruppe wurde straff geführt und deshalb zog das unpünktliche Erscheinen eine Zahlung in die Kapellenkasse nach sich. Wegen der Kürze der Zeit in diesem Falle, hätte man dem betroffenen Kollegen wahrscheinlich die Geldbuße erlassen.
"Mit einem straffen Wanderschritt zum Bahnhof! Die 39er S-Bahn schaffen! Falls sie pünktlich ist, komme ich rechtzeitig an! Beim Packen muss ich mich überschlagen", schoss es dem stets bedächtig agierenden, in Mecklenburg geborenen Musiker blitzartig durch den Kopf.
Dann raffte er in rekordverdächtiger Geschwindigkeit alle erforderlichen Noten zusammen, stopfte die benötigten Instrumente in Hüllen und Koffer, kritzelte einige kommentierende Worte zu seiner Flucht auf ein Stück Papier, obwohl das Beweisstück Telegramm für die in eine Beziehung verwickelte Mitbewohnerin gereicht hätte.
Dem überfallenen Musiker jagten die Gedanken im Zehntelsekundentakt durch den Kopf:
"Ersatzsaiten einpacken! Zahnbürste, Handtuch! Überhaupt, übernachten wir irgendwo? Wo geht die Reise eigentlich hin? In ein gutes Hotel muss ich kein Handtuch mitnehmen! Gebügeltes weißes Hemd greifen! Gott sei Dank ist noch eins gebügelt! Päckchen Karo nicht vergessen! Wie dumm, ich hab' die Wäsche nicht aufgehängt und den Abwasch nicht erledigt! Saugen sollte ich auch noch! Ich hör es schon wieder: Musiker schlafen immer bis zum Mittag. Und was tun sie dann bis zum Abend?
Gas aus! Licht aus! Bügeleisen ist aus! Die Fenster sind zu! Die Öfen auch! Die Fische müssen bis heute Abend durchhalten! Noch kein Mittag gegessen! Vielleicht wird es eine lange Fahrt! Notmahlzeit im Auto: Kanten Brot ins Gepäck! Mist, kein Schnittkäse mehr greifbar! Wurst, nur noch ein Zipfel! Wäre ich bloß vormittags einkaufen gegangen! Für die Notstulle, falls das Konzert länger dauert, reicht es kaum noch!"
Für die Uneingeweihten: Die Notstulle war eine der wichtigsten Überlebensutensilien des in der "Ehemaligen" herumreisenden Musikers, neben der starken filterlosen Zigarette Karo, die es außerhalb von Berlin nur als "Knieware" gab. Dafür benötigte man Beziehungen oder ein Tauschobjekt. Musiker hatten da wenig zu bieten.
Der Wunsch, nach der Beendigung der Konzerte noch feste Nahrung zu "erstehen", erfüllte sich selten. Das geflügelte Wort "Küche aus!" oder das unübersehbare Schild mit der Aufschrift: "Küchenschluss: 22.00 Uhr" oder noch früher, machten es landauf und landab einfach, die "schlanke Linie" zu halten.
13.59 Uhr und 30 Sekunden zeigte das Weihnachtsgeschenk des Westonkels als der Musiker aus Prenzlauer Berg am Treffpunkt in Ostkreuz eintraf.
"Na bitte, geschafft", entfuhr es dem pünktlich Angekommenen. Doch schon nach wenigen Minuten wich die Erleichterung des Musikers dem Aufkommen banger Fragen.
"Wo waren die Kollegen? Bin ich falsch? Gut, die Batterie des Drei-Elfers konnte "herunter" sein. Hänger ab und anschieben! Zu dritt ging das immer locker! Mit nur einer Person, schlecht möglich! Und wo blieb der Friedrichshagener? Ist die S-Bahn ausgefallen?"
Ein steifer Nordostwind wehte. Die Temperatur lag unter dem Gefrierpunkt. Nach zehn Minuten regten sich beim Wartenden Zweifel am Telegrammtext: "War es vielleicht Treff P? Aber wie kann man P mit O verwechseln? 14.00 Uhr war es auf jeden Fall! Weiteres gab es nicht! Was sollte da schief gehen? Wie dumm, das Schriftstück liegt zu Hause!"
Der Musiker versuchte seine Hände in den Manteltaschen zu wärmen. Die Füße des Wartenden hatten fast die winterliche Außentemperatur angenommen. Der Kiosk mit Kaffeeausschank hatte wegen Krankheit geschlossen.
"Treppauf und treppab zum Kiosk an der Sonntagstraße ging nicht. Jeden Augenblick konnten die Kollegen um die Ecke biegen" dachte der Musiker entmutigt. "Und wie soll ich dann beweisen, dass ich pünktlich war?" Es blieb ihm verwehrt, sich an diesem Tag über die Ankunft der Kollegen zu freuen.
Der "Feingefrostete" fuhr irgendwann nach Hause und nahm noch einmal das Telegramm zur Hand. Am Text lag das Scheitern der Verabredung nicht. Die vermerkte Aufgabezeit, erhellte der Tatbestand schlaglichtartig. Das Telegramm wurde um 13.12 Uhr aufgegeben.
Am nächsten Tag klappte alles wie gewohnt und das Konzert wurde wieder ein Erfolg.
Was könnte diese Geschichte dem Leser sagen? Wunder gibt es immer wieder, nur heute sind es andere.
Erika Reichelt
Das (R)Ostkreuz, geliebt und gehasst
Das Ostkreuz, schon 120 Jahre alt,
hat viel im Bestehen gesehen,
hat harte Zeiten und Gewalt
aber auch schöne Zeiten gesehen.
Der Gänsemarkt mit seinem Geschnatter
übertönte damals das Rädergeratter.
100 000e steigen hier um, ein oder aus,
doch Behinderte bleiben besser zu Haus.
Rolltreppen, Fahrstühle hat es nie gegeben,
wie sollen Behinderte damit leben?
Oft wurden schon Pläne darüber gemacht
doch immer wieder in Schubladen verbracht.
Ein Wasserturm steht schon 90 Jahre daneben.
Er kann gut den Ostkreuzsuchenden das Ziel angeben.
Wir, die wir hier wohnen, haben uns daran gewöhnt,
doch von Touristen wird er oft verhöhnt.
Graffity und Rost, und, und, und, und...
sind bei Benutzern in aller Mund.
Ein wichtiger Bahnhof in Berlins Osten
sollte saniert werden und nicht mehr rosten.
Wir wollen ihn gern als Ostkreuz behalten,
doch sollte man sein Aussehen besser gestalten.
Kiez, junge Leute und viele Restaurationen
würden einen Besuch im Umkreis lohnen,
wenn man, sich einig und überlegt,
über die Verschönerung sich bewegt.
Wasser, z. B. die Rummelsburger Bucht
ist doch das, was man zum Wohlfühlen sucht.
Pünktlichkeit der Bahn wird hier groß geschrieben,
trotzdem gibt es wenige, die den Umsteigebahnhof lieben.
Treppauf und treppab, meist ohne Puste,
als ob man das nicht schon vorher wusste,
benutzt man den Bahnhof; Augen zu und durch.
Ein Stück Nostalgie in Berlin und Brandenburch.
Katrin Lippmann
Der Wasserturm
1
"Einen wunderschönen guten Morgen, meine Dame! Erschrecken Sie nicht, wir machen hier eine Umfrage über Berliner und ihre Bahnhöfe ..."
Ich bringe ein halbwegs höfliches Grunzen à la "Lassen Sie mich bloß in Ruhe" zustande und mache, dass ich wegkomme. Diese Heiterkeit am frühen Morgen ist der reinste Hohn. So etwas müsste man verbieten!
Ich haste die Treppen hinunter, die Bahn nach Spandau fährt gerade ab. Verflixt. Da kann ich wieder ewig auf die Nächste warten. Missmutig fällt mein Blick auf Ditsch. Ditsch riecht saugut und hat nicht zufällig hier einen Stand aufgebaut. Mein Magen knurrt und ich linse begehrlich auf die Brezeln. In mir grummelt Joghurt pur und in meiner Handtasche träumt ein Butterbrot mit fadem Käse Marke "extraleicht" vor sich hin. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, als ich die Laugen-Käse-Stangen erblicke. Kurzentschlossen drehe ich mich weg und haste zum Ende des Bahnsteigs, möglichst weit weg von jeder Versuchung. Oh ja, der Duft, der aus den geöffneten Toilettenfenstern dringt, lässt meine Innereien freudig hüpfen. Der Hunger ist erst mal weg. "Einen wunderschönen guten Morgen, meine Dame ..."
Diese Meinungsforscher sind die reinste Pest. Schmeißfliegen und mindestens ebenso hartnäckig. So, als würden sie es persönlich nehmen, dass mir völlig egal ist, was Berliner von ihren Bahnhöfen halten. Wenn es nach mir ginge, wäre ich jetzt lieber im Bett. Dort würde man wenigstens nicht von der Seite angequatscht.
Die nächste Bahn kommt. Wer hätte es gedacht, Westkreuz. Haha. Abklingeln; der Bahnsteig ist fast leer. "Einen wunderschönen guten Morgen, ..."
Mir kommt jetzt wirklich gleich die Galle hoch. Eiligen Schrittes stolpere ich zwischen den Klos und der Treppe vorbei zum anderen Bahnsteig und gehe geschäftig auf und ab. Unter Lebensgefahr, versteht sich. Das Kopfsteinpflaster ist eine Erfindung des Verderbens und ich vermute, ein Mann hat sie gemacht. Anders kann ich mir nicht erklären, wie Tausenden von Frauen tagtäglich Unmengen kleiner unangenehmer Steine in den Weg gelegt werden. Immer wieder bleibe ich mit den Hacken hängen, weiche Huckeln und Löchern aus. Da will man nun hübsch sein, etwas aus sich machen und schon wird man boykottiert. Das sollten die mal aufschreiben. Wieder eine Bahn. Spandau. Na endlich. "Einen wunderschönen ..."
Manchmal liebe ich es, wenn die Bahn abklingelt.
2
Ostkreuz. Ich hüpfe aus der Bahn. Freudig lächelnd will ich mir vom Gemüsehändler an der Treppe zwei Schalen frische Erdbeeren holen. Kein Gemüsehändler! Ich bin entsetzt. Ich bin verzweifelt. Ohne Erdbeeren ins Bett ist unmöglich. Verdutzt schaue ich mich um. Noch mal Glück gehabt, bin nur auf dem falschen Bahnsteig gelandet. Die Erdbeeren gibt es gegenüber.
Ich setze im eiligen Trippelschritt, um jedes Löchlein einen Bogen machend, meinen Weg zur Treppe fort, die Erdbeeren im einen Auge, das Schild für den nächsten Zug nach Gesundbrunnen im anderen. "Entschuldigen Sie bitte ..." Als erstes bemerke ich den riesigen Fotoapparat. Aha, Tourist. Ein Anzug, adretter Haarschnitt wie einst Cary Grant und ein Lächeln, bei dem selbst die Zahnpastaindustrie mit megasuperwäscheweiß verblassen würde. Hin und weg hauche ich mein freundlichstes "Ja ...?" und stelle mir vor, wie die weißen Zähne aus dem Mund perlen. Wie wär's mit einer neuen Kette? Okay, die wäre etwas kurz, aber egal. Er lächelt so schön.
"Wo geht's denn hier zum Wasserturm bitte?" Wasserturm? Was soll das denn sein? Nie gehört. Da fährt man nun täglich S-Bahn, steigt 2 x täglich Ostkreuz um und dann kann man so eine banale Frage wie die nach dem Wasserturm nicht beantworten. Aber nun geht es um die Ehre! Bloß keine Unsicherheit zeigen, immer so tun als ob. Schließlich sind wir Profis, nach 15 Jahren Berlin. "Ähm, Moment mal. Da muss ich mich erst mal orientieren ..." Da nützt alles Orientieren nix! Ich schaue Löcher in die Luft und siehe, wie eine Fata Morgana erhebt sich gleich hinter dem Bahnsteig in Sichtweite - ein Wasserturm. Ich deute freudestrahlend hinüber: "Dort, sehen sie?" Er nickt, aufrichtig erfreut und fast so erleichtert wie ich. Dann sieht er mich erwartend an. "Und?" "Was und?" "Wie komme ich da hin?" Ich bin verwirrt. Wie kommt er dahin? Selbstbewusst und konsequent deute ich die Treppe zum anderen Bahnsteig hinauf. "Gehen sie erst hier hoch und dann nach rechts die Treppe, dann müsste es ausgeschildert sein." Lieber Gott, lass es ausgeschildert sein oder ganz schnell eine Bahn kommen, damit ich mich nicht dafür verantworten muss. Er schenkt mir noch ein strahlendes Lächeln zum Abschied. "Danke schön. Und einen schönen Tag noch!" Ich nicke erleichtert und mache mich ebenfalls auf den Weg nach oben. Zu meinen Erdbeeren.
Verdammt, ich muss mir unbedingt eine Tube Perlweiß extra superstark besorgen.
3
"Und jetzt kommt noch einer mit oder nicht?" Ich schaue müde in die Runde und sehe in lauter triefnasige Gesichter. Die Mädels haben eindeutig ein paar Gläser Mumm mit Aperol zuviel getrunken. Also keiner. Ich sollte eigentlich sauer und bedient sein, denn so war das nicht ausgemacht, aber ich habe auch etwas zuviel getrunken. Allerdings - gerade gehen kann ich noch. Denke ich jedenfalls. Doch. Nur auf Toilette muss ich ständig.
Zum Glück fährt der Zug von Witzleben nach Landsberger Allee durch. Ich haste also den Kaiserdamm hinunter, stolpere die Treppen zum Bahnhof hinunter und schaue auf die Uhr. Dann auf den Fahrplan. Gutes Timing, nur fünf Minuten warten und in knapp 40 Minuten bin ich zu Hause. Juhu.
Bahnhof Ostkreuz, der Zug hält. "Bitte alles aussteigen. Der Zug endet hier. Fahrgäste in Richtung Gesundbrunnen warten am selben Bahnsteig. Der nächste Zug fährt bis Frankfurter Allee und von dort zurück nach Ostkreuz ..." Blabla. Das kann doch nicht wahr sein! Mein Blick klebt an der großen runden Uhr mit den langsamen Zeigern.
Eine Minute. Naja, der Zug wird hoffentlich bald kommen. So weit ist es ja nicht bis Frankfurter Allee.
Drei Minuten. Ich lehne mich an das Treppengeländer und hoffe immer noch, dass die Bahn gleich kommt. Wäre ja blöd, wenn man hier ewig warten müsste. Schließlich gibt es ja so etwas wie Fahrpläne.
Fünf Minuten. Okay, meine Beine tun etwas weh. Ich musste aber auch ausgerechnet neue Schuhe zur Bürofeier anziehen. Ich Kamel!
Sieben Minuten. Mit schmerzenden Füßen lehne ich hilflos zusammengesunken am Geländer. Auf dem Bahnsteig werden es langsam mehr Leute. Finstere Gestalten - würde meine Oma jetzt sagen. Ich ziehe meinen Rock etwas tiefer und verschränke die Arme vor der Brust. Bin ich paranoid?
Zehn Minuten. Das geht auf keine Kuhhaut! Diese blöden Penner! Wäre ich nur mit der U-Bahn gefahren. Dort wäre es warm und gemütlich. Und Pendelverkehr gäbe es auch nicht! Warum passiert so was immer mir? Ich stampfe ärgerlich mit dem Fuß auf. Der Mann neben mir wirft mir einen langen Blick zu und leckt sich verstohlen die Lippen. Ein Augenzwinkern. Der meint doch bitte nicht mich! Ich drehe mich weg, nicht ohne noch einen bitterbösen Blick in alle Richtungen zu schießen. Für alle Fälle.
Zwölf Minuten. Ich geh am Stock! Das kann doch alles nur ein Scherz sein. Ich friere, mir tun die Füße weh und außerdem habe ich das Gefühl, fast nackt auf dem Bahnhof zu stehen. Und das nicht nur wegen des dünnen Mantels. Klick, klack, klick, klack. Sämtliche Blicke - inklusive meinem - starren auf die Treppe. Herauf kommt mit schwingenden Hüften ein engelsgleiches Wesen. Fortan bin ich gerettet. Man nimmt mich einfach nicht mehr wahr. Bin ich jetzt sauer oder bekloppt oder beides?
Fünfzehn Minuten. Die Bahn kommt. Ich könnte sie küssen; im übertragenen Sinn natürlich. Welche Erleichterung, für zwei Minuten hinsetzen und aufwärmen bis Frankfurter Allee. Und dann wieder zehn Minuten warten, mindestens.
So ein Weiberabend ist Scheiße, wenn man nicht mit dem Auto abgeholt wird. Ich werde zu Hause mal beiläufig fallen lassen, dass ein Auto die männliche Attraktivität enorm steigert.
Guntram Hagen
Vollring über Ostkreuz
Die Geschichte spielt in den fünfziger Jahren, als ein junger Mann im Berliner Glühlampenwerk (BGW) als Mechaniker anfing. Er war leidenschaftlicher Schachspieler. Darum ist er dort in den bestehenden Schachverein eingetreten. Diese Mitgliedschaft brachte für seine Entwicklung nicht nur Vorteile.
Was viele Leser nicht wissen, ist, dass der Schachsport ein Mannschaftssport ist. Eine Mannschaft besteht aus 8 Spielern, die wie beim Fußball mit Startnummern als Stammspieler bzw. Ersatzspieler agieren. Trainer, Mannschaftsleiter und Schiedsrichter sind selbstverständlich. Das besondere ist, dass alle Spiele in Deutschland, damals wie heute, am Sonntag um 9:00 Uhr beginnen. Heute werden in Berlin in 62 Vereinen die Schachuhren zum Start gedrückt.
Aber zurück zu unserem jungen Mann. Der wollte eine Freundin kennen lernen. Eine verständnisvolle "Sie" im Schachverein gab es nicht. Er hatte Probleme. Welches Mädel geht mit einem Jungen, der an dem einzigen freien Tag (es wurde am Sonnabend bis 13:00 Uhr gearbeitet) am Sonntagmorgen um 4:00 Uhr sich verabschiedet: "Ich muss beim Schach meine Mannschaft unterstützen!"
Spielsaison und Winterhalbjahr trafen unglücklicherweise mit den Großveranstaltungen des BGW zusammen, z.B. der stadtbekannte Karneval. Wer also suchte und jemand kennen lernen wollte, musste einfach dabei sein. Diese Wochenenden führten vor allem die jungen Schachspieler in Versuchung, am Sonntag nicht anzutreten. Es kam immer wieder zu dem Duell Hormone gegen Charakter. Darum besuchte auch der Trainer die Kultursäle und achtete darauf, dass kein Bier zuviel getrunken wurde und mahnte die Pünktlichkeit an.
Da Schachspieler berechnend sind, sollte ihre Freundin gut aussehen, großes Verständnis für Schach haben und, ganz wichtig für unseren Mann, sie sollte in der Nähe vom Ostkreuz wohnen.
Unser Schachspieler hatte sein Elternhaus in Ahrensfelde. Da nur alle drei Stunden ein Zug mit einer Dampflok fuhr, musste er in der Stadt bleiben. Treffpunkt mit anderen Sportfreunden war der Sonntagmorgen um 5:12 Uhr am oberen Bahnsteig Ostkreuz. In der S-Bahn als Vollring angezeigt, gab es viele Vorteile. Es war warm, man konnte schlafen. Ein Umlauf dauerte ca. 1 Stunde.
War eine kürzere Zeit geplant (Spielort), hatte man die Möglichkeit, auf einem Ringbahnhof in den Gegenzug zu wechseln. In der ersten Zeit waren wir so müde, dass wir den Spielbeginn verschlafen haben. Abhilfe schaffte unser Mechaniker. Die Lösung war eine alte Blitzuhr, in die ein Gong eingebaut wurde. Sie stand auf einem Bord am Fenster der S-Bahn und konnte wie ein Wecker gestellt werden. Als Nachteil stellte sich heraus, viele Fahrgäste dachten durch das tickende Geräusch an eine Zeitbombe (Kalter Krieg) und weckten uns.
Manchmal werden Wünsche wahr. Hier ist die gute Nachricht. Der leidenschaftliche Schachspieler hat eine Frau gefunden! Sie steht seit 35 Jahren um 6:00 Uhr auf und kocht den Kaffee. Sie trägt alle Höhen und Tiefen im Schachsport mit. Sie hat einen untrüglichen Blick dafür, ob ein Spiel verloren wurde, wenn er am Sonntag um 15:00 Uhr geschafft nach Hause kommt. Sie kann gut trösten und motivieren. Es ist die liebe Gerti, die im Kiez Ostkreuz wohnt. Sie kann nicht Schach spielen. "Und das ist auch gut so!", würde man heute sagen.
Erfahrungen sagen, dass Eheleute alle Konflikte am Schachbrett lösen. Kurz gesagt: Wenn beide auf Hobby machen, bleibt die Arbeit liegen.
Aber den Damen, die einen Partner oder Freund suchen, kann man Hoffnung machen. 3000 Berliner Spieler sind intelligent, zuverlässig und haben weitere gute Charaktereigenschaften, vor allem sind Nichtraucher im Angebot. (Beim Spielen ist Rauchen verboten!)
Die Anregung für diese Geschichte war durch die Sanierung unserer Wohnung gegeben. Meine Frau bat mich, nun endlich den Keller aufzuräumen. Dort lagerte viel "Unnützliches", was der gelernte DDR-Bürger doch immer wieder brauchen könnte. So kann ich die uralte Blitzuhr leider nicht mehr vorzeigen. Aber sie war der Anlass für meine Geschichte für das Thema Ostkreuz.
Lothar Besescheck
Ostkreuz, zweimal täglich
In Friedrichshain bin ich geboren und aufgewachsen. Hier lebe ich noch heute. Die Gegend um den Bahnhof Ostkreuz ist mir seit meiner Kindheit gut vertraut. Noch als Schüler habe ich für viele Jahre eine Tanzschule besucht, die nur wenige Minuten vom Bahnhof entfernt lag. Es war eine relativ unbeschwerte und schöne Zeit.
Ganz in der Nähe war auch ein Antiquariat, das ich mit Cousins oder Freunden fast jede Woche aufsuchte. Oft standen wir auf hohen Leitern und kramten in den Bücherreihen. Der Trödler, wie wir den Inhaber nannten, musste uns manchmal ermahnen: "Na, meine Herren, es ist Feierabend, ich will schließen."
Später bin ich dann von Ostkreuz aus zur Arbeit gefahren und im Urlaub oder am Wochenende nach Grünau oder Treptow.
Meine Großmutter wohnte, bis sie 1969 im 92. Lebensjahr starb, in der Sonntagstraße, in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs. Ich habe sie dort regelmäßig besucht.
Einige Erlebnisse, die direkt mit dem Bahnhof Ostkreuz zusammenhängen, sind mir noch in guter Erinnerung geblieben.
So nahm ich als Schüler einmal am Ferienlager teil. Die Schüler vieler Schulklassen lagen tagsüber im Treptower Park auf dem Rasen. Wir amüsierten uns und spielten und wurden dort auch verpflegt. Es muss 1947 gewesen sein, denn es wurden gerade umfangreiche Arbeiten für die Anlage des Sowjetischen Ehrenmals ausgeführt. Eines Tages zog ein Unwetter auf. Die Lehrer merkten es rechtzeitig und schickten uns nach Hause. Aber es war doch nicht rechtzeitig genug. Ich kam nur bis zum Bahnhof Ostkreuz. Als ich den Ausgang Markgrafendamm erreicht hatte, regnete es in Strömen. Ich kam nicht mehr weiter und stand - wie viele andere Fahrgäste - frierend in einer Eingangsunterführung, gegen den Regen etwas geschützt, aber einem furchtbaren Gewitter ausgesetzt, wie ich es selten zuvor und auch später erlebt habe. Wie froh war ich, als ich nach vielleicht einer halben Stunde endlich nach Hause konnte.
Als Schüler und auch in den ersten Jahren meiner Berufstätigkeit ging ich regelmäßig in eine Bibliothek, die sich in der Sonntagstraße befand, um mir Bücher auszuleihen, die ich dann aber meist nicht gelesen habe, weil mir Zeit und Muße dazu fehlten. Einmal gefiel mir dort ein weiblicher Lehrling. Ich rief sie an und lud sie zu einer geschlossenen Tanzveranstaltung ein, zu der ich Karten hatte. Wir trafen uns am Ostkreuz und tranken erst einmal in einer kleinen Gaststätte vor dem Bahnhof auf unser gegenseitiges Wohl.
Auf dem Ringbahnsteig hat sich später eine Episode mit dem "Zwanzigjährigen" abgespielt. Der Spitzname kam daher, dass ich eines Tages zu meiner Mutter sagte: "Heute besucht mich ein Freund. Der ist aber schon 20." Ich muss etwa 18 Jahre alt gewesen sein. Kennen gelernt hatte ich ihn in der Tanzschule. Er erschien dort zu einer Übungsstunde mit einem weiblichen Wesen, das ein cremefarbenes Tuchkleid trug. Merkwürdig, dass man sich mitunter solche Nebensächlichkeiten merkt. Beide wogen etwa 100 - er in Pfund, sie in Kilo. Ich hielt den "Zwanzigjährigen" zunächst für einen Draufgänger, und er tat auch so.
Später sagte er mir, er habe seine Begleiterin mitgebracht, um sie dort loszuwerden. "Sie steht mir bis hier", meinte er und fuhr sich mit der Hand an den Hals. Er war Vollwaise, wohnte allein in einer kleinen Lichtenberger Wohnung und war von Beruf Zahntechniker.
Wir trafen uns des öfteren in der Tanzschule, gingen gemeinsam ins Kino, manchmal kam der "Zwanzigjährige" auch zu mir, fast immer auf einem Rennrad und in einer Sportkluft.
In der Tanzschule war er scharf auf ein Mädchen, das ich Silberfisch nannte, was mit dem Muster ihres Kleides zusammenhing. Aber er war zu schüchtern. Mitunter ging er auch allein tanzen und berichtete dann von seinen Erlebnissen. Dabei gab es zwei Grundkonstellationen. Entweder er lernte ein Mädchen kennen, mit dem er sich gut verstand. Dann stellte sich plötzlich heraus, dass sie katholisch war. Das kam mehrmals vor, und der "Zwanzigjährige" suchte bei meiner Mutter Rat. "Was mache ich nur? Das kann doch nicht gut gehen bei dem anderen Glauben."
Oder das Mädchen war nicht sonderlich an ihm interessiert. "Aber bei ihrer Mutter habe ich den besten Eindruck hinterlassen", sagte er dann.
Da er ständig auf der Suche nach einer Frau war, draufgängerisch tat, aber doch schüchtern war, kam ich auf die Idee, ihm einen Streich zu spielen.
Ich erzählte ihm, dass ein anderer Tanzschulkumpel, mit dem ich längere Zeit gut befreundet war, der mich aber später enttäuschte, viele Mädchen kenne, die Herrenbekanntschaften suchten. Er brauche nur seine Wünsche zu äußern und sein Ideal zu beschreiben, was er auch tat. Als wir dann mit diesem Kumpel, Wolfgang R. hieß er, zusammenkamen, sagte der: "Dann käme nur eine in Frage." Er hatte auch nur diese eine "zur Verfügung", war wohl früher einmal mit ihr befreundet. Es wurde ein Zeitpunkt vereinbart, an dem die "Übergabe" auf dem Bahnhof Ostkreuz gegen eine Vermittlungsgebühr in Höhe von 5 Mark erfolgen sollte. Bei Reklamation innerhalb einer Woche konnte das Geld zurückgefordert werden.
Ich erinnere mich noch, dass wir auf dem Ringbahnsteig standen und auf den Zug warteten. Aber der kam und kam nicht. Plötzlich musste der "Zwanzigjährige" niesen, und in dem Moment fuhr der Zug ein. "Seht Ihr, ich habe geniest, und schon kommt der Zug." Die junge Frau quittierte diese Feststellung mit der Bemerkung "Wie albern".
Die beiden stiegen ein, und wir wünschten ihnen viel Spaß. Als ich den "Zwanzigjährigen" einige Tage später sah, sagte er siegessicher: "Die Puppe steht." Aber sie stand nicht lange. Eine Reklamation wäre allerdings schwer möglich gewesen; denn Wolfgang war während dieser Zeit nur selten zu Hause anzutreffen.
In all den Jahrzehnten habe ich den "Zwanzigjährigen" nur noch einmal gesehen. Aber im vergangenen Jahr rief er mich überraschenderweise an. Er wohnt nicht mehr in Berlin. Im März müsste er übrigens 68 Jahre alt geworden sein. Ja, wir werden älter, und der Bahnhof Ostkreuz wird es auch.
Anne Helmer
Forelle Blau
In einer rostigen Gondel paddelte er mit seiner Ausrüstung Richtung Ostkreuz. Die venezianische Atmosphäre übte einen besonderen magischen Reiz auf ihn aus; vorbei an den kleinen grauen, von der Spree umspülten Häuschen und den unzähligen Kakteenhainen ließ er sich treiben. Trotz des neuen, reichlich unbequemen UV-Schutzanzuges, den der Bezirk jährlich verteilte, genoss er die sonnigen Strahlen und das Glitzern des rabenschwarzen Gewässers. Genüsslich fuhr er ins Bahnhofsgelände ein, als plötzlich eine störende Stimme, die rasch näher zu rücken schien, die Harmonie unterbrach. Das immer lauter werdende Gekreische durchhämmerte seinen Schädel, bis es ihn fast aus dem Boot fegte.
"Sag mal, träumst de schon wieder?" kreischte es. "Weeßte eijentlich wie schwer dein Scheiß hier is!" Heinz ließ gereizt die Ausrüstung auf den Asphalt plumpsen. "Bei dir quassle ick mir noch den Mund fusslig", maulte er. Stumm zog sich Paul die Handschuhe von den Gelenken und rotzte vorwurfsvoll in ein Taschentuch. Es war einer dieser kalten trockenen Novembermorgen. Man sah den warmen dampfenden Qualm aus ihren Mündern kriechen, als sie bei einer Zigarettenpause verschnauften. Wenig später war die Ostkreuzstation erreicht. Mühsam schleifte der bullige Heinz den großen schwarzen Sack die Treppen hinauf; der neben ihm auffällig schmächtig wirkende Paul beförderte unterdes das Angelgerät und ein Geschoss nach oben.
Pustend platzierte Heinz den Sack neben die Gittersitze, die sich in der Mitte des Bahnsteiges gruppierten. "Na denn, viel Spaß beim Fischen", grölte er und bekräftigte seine Aussage mit einem kameradschaftlichen Klopfer auf Pauls schmale Schultern, der dabei unweigerlich in einen der Sitze knallte. Nach der stürmischen Verabschiedung postierte Paul die Angel auf den schwarzen Sack. Nur das Geschoss, eine gewaltige Furcht einflößende Harpune, verschloss er eisern zwischen seinen Fäusten. Er schaute sich um.
Auf dem Bahnhof herrschte hektisches Treiben. Fleißig wie die Bienchen eilten die grauen Alltagsgesichter hinein in die Bahn oder die Treppen hinab zu ihren Arbeitsstätten. Einige Blicke verirrten sich zu dem bärtigen Mann mit der viel zu großen Harpune.
Nach dem ersten neugierigen Mustern wendeten sich die meisten zügig ab oder belächelten ihn kopfschüttelnd, wenn es ihr Zeitplan zuließ. Fest entschlossen wartete Paul mit ernster Miene auf die Westhafenbahn, als sich eine fein gekleidete Dame neben ihn aufs Sitzgitter gesellte. Verwundert starrte sie auf die Harpune. "Ist was?" fragte Paul genervt. "Das ist aber ein wunderbares Stück, was Sie da haben", redete sich die Frau heraus, "mein Onkel besitzt auch so eine, er setzt sie sogar gelegentlich beim Hochseefischen in Portugal ein. Sie verreisen bestimmt, nicht wahr? Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber sind Sie zur Zeit arbeitslos?" "Ja, das bin ich", entgegnete Paul verdutzt; doch bevor er diese merkwürdige Frage enträtseln konnte, plapperte die Madame weiter: "Ja dann haben Sie sich hoffentlich auch ordnungsgemäß bei Ihrem zuständigen Amt abgemeldet. Ach, Sie wissen ja gar nicht, was mir da schon alles untergekommen ist, nur weil die Leute zu faul waren, sich abzumelden", jammerte sie. "Das ist wirklich das Wichtigste, wenn man als Erwerbsloser in Urlaub fährt, glauben Sie mir, ich arbeite schließlich schon seit fast zwanzig Jahren als Sachbearbeiterin beim Sozialamt." "Aber ich fahre doch bloß zum Angeln ans Spreeufer", unterbrach er. Überrascht strich sie sich eine Locke aus dem Gesicht und runzelt vornehm fragend die Stirn: "Und wozu führen Sie dann diese riesige Harpune mit sich?" "Ich habe gelesen, dass sich ein Hai in die Spreegewässer verirrt hat und da habe ich mich kurzerhand entschlossen das Tier zu erjagen", unterrichtete Paul trocken die ungläubig dreinschauende Paragraphenreiterin. Ihre Augen standen nun weit offen, genauso wie ihr Mund, der die Gestalt eines Karpfenmauls annahm. Regungslos verharrte sie einige Sekunden in der Grimasse. Dann entfloh sie ruckartig dem Zustand des Erstaunens und kramte verbissen in ihrer Handtasche, bis eine silbern glänzende Taschenuhr zum Vorschein kam. Erschrocken schielte sie aufs Zifferblatt und verglich es mit dem der Bahnhofsuhr. "Um Gottes Willen, nun muss ich mich aber beeilen, ich glaube meine Uhr ist stehen geblieben, ich bin einer der pünktlichsten Mitarbeiter bei uns auf dem Amt. Es muss ja alles seine Ordnung haben." Hastig rannte sie mit ihren fleischigen, absatzverzierten Haxen und dem viel zu engen Rock die Treppen hinab. Ein unverabschiedeter Paul blickte entgeistert auf die Zuganzeige seines Gleises. Heinz hatte Recht, dachte er bei sich, das Ostkreuz birgt wirklich ein Sammelsurium der absonderlichsten Gestalten.
Wieder hielt eine Bahn der Gegenfahrtrichtung, füllte das Bahngelände und entließ ein Gewusel von schnellen Schritten und unbefriedigten Gähnern. Gegenüber von Paul hockte sich ein kräftiger Kerl hin in Arbeitskleidung und mit einem für einen Drei-Tage-Bart viel zu stoppligen Gesichtspelz. Mit einer ungeöffneten Büchse Bier zwischen seinen Pranken beschnupperte der Malocher den schwarzen Sack und die gewaltige Harpune. "Is ja irre", rief er staunend herüber, "ist dat da wirklich 'ne echte Haifisch-Wumme? Vor 'nem Jahr wäre ich fast auch mit so 'nem Ding unterwegs gewesen, um eine von den Bestien zu erledigen. Leider musste ich meine Mietschulden blechen und dann bestand meine Olle auf dem versprochenen neuen Fernseher mit DVD-Player und Boxen, ein dolles Gerät, wat fürs Leben; bloß war dann halt nüscht mehr mit Haifischsafari!" Er stoppte die Wortattacke, um seiner Dose den Verschluss zu entzerren und bot seinem Helden einen Schluck zur Stärkung an. Verneinend schüttelte Paul den Kopf und ließ seinen trockenen Speichel die Speiseröhre hinuntergleiten. "Prost", prollte der Trinker, "ein Hoch auf 'ne erfolgreiche Jagd und die Siegertrophäe!" Zügig belöschte er seinen Brand an der wehrlosen Dose und entsorgte das leere Blechteil unbekümmert auf einem der Gittersitze. Ein letztes Mal erhob er für Paul die Hand zum Gruß und trabte hustend die Stufen hinab.
Ungeduldig starrte Paul erneut auf die Anzeige. "Mein lieber Gott, wenn es dich gibt, dann lass bitte die Bahn gleich kommen", fluchte er, "ich glaube, ich werde sonst noch verrückt in diesem Irrenhaus!" Verächtlich beäugte er den nächsten Gittersitzbesetzer, der sich unmittelbar zu seiner Rechten niederließ. Der neue Besucher machte einen eleganten, fast adeligen Eindruck, ein schwarzer Anzug aus feinstem Tuch schmeichelte seinem graziösen Körper, seine schlanken Greifer waren mit noblen Lederhandschuhen überzogen und hatten gerade eine Havanna entzündet. Neben ihm auf dem Sitz stand ein aquariumähnliches Glasgebilde, das von einer Vielzahl glitschiger dicker Würmer besiedelt wurde. Verstohlen und ängstlich, wie ein kleines armes Regenwürmchen, das bald als Dessert einer gefräßigen Amsel enden sollte, streiften Pauls Augen den Käfig, bis ihn blitzartig eine sträfliche Erkenntnis erleuchtete. Verdammt, da wollte er einen so großen Fisch an Land ziehen und hatte doch tatsächlich vergessen, sich einen Köder zu besorgen. Das war ihm jetzt aber peinlich, welcher Hai würde sich schon an einer Angel vergreifen, wenn an ihrem Haken nicht eine einzige kümmerliche Ölsardine baumeln würde? Doch wo zum Teufel sollte er jetzt für seinen atlantikverwöhnten Hai einen Eimer Fische herbeizaubern? Nachdenklich starrte er auf die speckig glänzenden Würmer und nahm dabei all seinen Mut zusammen, um die Herrschaft im schwarzen Einreiher anzusprechen. "Entschuldigen Sie bitte", stotterte er zaghaft, "ich befinde mich in großer Not und ich bin davon überzeugt, dass Sie mir helfen können!" "Natürlich", entgegnete der Adlige zuversichtlich, "wenn es in meiner Macht steht, furchtbar gerne." "Wissen sie, ich fahre gleich zum Spreeufer um einen Haifisch zu angeln," verhaspelte er sich aufgeregt, "doch dummerweise habe ich meine Köder vergessen, könnte der Herr mir vielleicht mit einigen seiner Würmchen aushelfen?" "Nun ja", grübelte er und ließ den letzten Zug seiner Havanna verstreifen, um sie in einer silbernen Blechdose zu entsorgen. "Das, was Sie da sehen, sind aber ganz besondere Tierchen", betonte der Gentleman energisch, "ich benötige sie zu Forschungszwecken. Diese kleinen hungrigen Zwerge haben wir vor zirka einer Stunde einem Leichnam entnommen. Sie wandern ca. vier Wochen nachdem der Tote in die Erde bestattet wurde, in seinen halbverwesten Leib ein. Hier leben sie, gebären ihre Larven, ziehen ganze Generationen groß, die sie vom toten Fleisch nähren, es sind wirklich ganz nützliche kleine Helfer", schwärmte er. "Das ist ja spannend," bewunderte Paul ihn interessiert, "sind Sie etwa Gerichtsmediziner?" "So was ähnliches," lächelte er ihn an, "wissen Sie, eine Hand voll Wurm kann ich bestimmt für ihren Hai entbehren, die besten Freunde des Menschen sehen es sicherlich nicht so eng, wenn sie einem so exquisiten Fisch als Leckerbissen dienen." Gelassen griff der Ehrenmann in den Madensalat und entließ exakt eine Hand voll davon in Pauls Plastiksack. Überglücklich himmelten Pauls schmale Lippen seinen Retter an. "Zu gütig von Ihnen", bedankte er sich gerührt. Fasziniert fixierten seine Augen die Winzlinge durch die halb geöffnete Tüte. Einer der kleinen Racker schlummerte gerade friedlich am Plastikrand. Keine Spur davon, dass solch ein possierliches Ding sein Leben in einem Leichnam begonnen hatte. Und überhaupt, dass diese unscheinbaren Wesen sich von seiner Gattung nährten, das störte Paul seit den letzten Begegnungen am Ostkreuz herzlich wenig. Sein Herz schien in die Tüte gerutscht, seine neu erworbenen Lieblinge erweckten väterliche Beschützerinstinkte in ihm. Doch noch ehe er den Gedanken spinnen konnte, seine Tierchen auf dem nächsten Friedhof auszusetzen, rauschte die Bahn nach Westhafen ein. Verträumt und verloren betrat er den Zug.
Sein neuer UV-Schutzanzug kratzte immer noch etwas unangenehm auf der Haut. Nachdem sich die Eisentüren luftdicht verriegelten, drehte er die Sauerstoffzufuhr ab und streifte sich schweißtreibend die Gasmaske vom Kopf. Er verstaute sein Gepäck unter den superergonomischen Wassersesseln und bettete behutsam den Madenbeutel neben sich. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich im Panzerglas, als seine sensible Nase einen unangenehmen Geruch wahrnahm. Der fischige Gestank stammte vermutlich von dem dunkelhaarigen Mann direkt vor ihm, der ihn mit seinen Revolverzähnen verschmitzt anblitzte. Rechts neben sich hatte er ein aquariumähnliches Glasgefäß bugsiert, in dem sich fleischige Brocken stapelten. In seinen mit eleganten, hauchdünnen Lederhandschuhen überzogenen Greifern hielt er eine Angelrute. Gelangweilt linste Paul in das Glasgefäß um die Fleischstücke zu analysieren. Dabei biss sich sein Blick in einem weiter hinten liegenden, unscheinbaren gammeligen Brocken fest, der sich zu einer Hand formte. Ein seichtes silbernes Glitzern umschlang einen der zarten, halbzerfallenen weiblichen Finger, vermutlich bezeugte es ein vor Jahrzehnten abgegebenes Liebesversprechen. Menschenteile, schoss es Paul durch den Kopf, der hat ja Menschenteile im Glas!
"Na, geht's auch zum Angeln?", unterbrach ihn die dunkle kultivierte Stimme seines Gegenübers. Rasend vor Angst versuchte Paul einen gelassenen Eindruck vorzutäuschen und nickte wortlos den tiefen schrägen Augenhöhlen mit den wild wuchernden Brauen zu, als ihn der Geruch einer frisch entzündeten Havanna erreichte. Nervös versuchte er sich von dem mysteriösen, elegant gekleideten Herrn abzulenken und vergrub seine Blicke rasch in seine Würmertüte. Nach endlosen Sekunden vernahm er die rettenden Lautsprecher der Bahn: "In wenigen Minuten erreichen wir die Ostsee-Treptow-Mündung. Wir bitten, die Gasmasken anzulegen und die Sauerstoffzufuhr wieder anzuschalten." Pauls Nachbar machte sich bereit zum Aufbruch. Er entsorgte die Havanna in einer silbernen Blechdose und steckte sie in die untere Tasche des Einreihers, der seinem hohen graziösen Körper enorm schmeichelte. Dann grinste er Paul noch einmal an, schnappte sich die Angel und drehte sich um. Gebannt verfolgte Paul seine Schritte zur Eisentür und rieb sich dabei verlegen die Augen, um sicherzugehen, dass es kein Traum war. Aus dem Rückenteil des schicken schwarzen Anzuges ragte eine riesige Flosse hervor, so eine, wie sie für gewöhnlich nur einem Haifisch entwachsen konnte.
"Ostsee-Treptow-Mündung, bitte aussteigen", dröhnte es aus den Boxen.
"Bitte aussteigen!" Doch Paul stieg nicht aus.
Karin Maak
Meine Geschichte zum Ostkreuz
Karin erwachte. Trotz der noch geschlossenen Lider registrierte sie, dass es ein trüber Morgen war. Sie fragte sich, ob ihr heute wieder ein einsames Wochenende bevorstand, wie schon so oft. Aber da durchfuhr sie die Erinnerung daran, dass sie ja heute, am 2. Mai 1981, um 18 Uhr, eine Verabredung hatte. S-Bahnhof Ostkreuz war der vereinbarte Treffpunkt. S-Bahnhof Ostkreuz? Den kannte sie lediglich als Umsteigebahnhof: verwirrend, grau, nicht gerade einladend. Gab es da eigentlich ein Wohngebiet? Und Geschäfte, Restaurants?
Den Tag vertrödelte Karin mit vielen unwichtigen Beschäftigungen. Dann machte sie sich so hübsch wie möglich und begab sich zum Bahnhof Ostkreuz - pünktlich 18 Uhr!
Ziemlich einsam fühlte sie sich dort, denn Hans war nicht da. Viele Menschen gingen an ihr vorbei, aber nicht der Mann, auf den die Beschreibung passte: Bart, Brille, hellbraune Lederjacke.
Karin beschloss, erst einmal das Restaurant aufzusuchen, wo man gemeinsam den Abend verbringen wollte - die Lenbachstube. Auf dem Weg dorthin stellte sie fest, dass es eine kleine Parkanlage mit Spielplatz gegenüber dem Bahnhof gab, sowie viele alte Häuser, deren Schönheit und interessante Fassaden man aber erst nach sehr genauem Hinschauen erkennen konnte. Sie erschienen grau, waren aber teilweise mit Stuck, Ornamenten, Figuren und sogar einer - leider unleserlichen - Inschrift versehen. Alle hatten mindestens einen Hinterhof, in denen sogar Bäume oder kleine Sträucher wuchsen.
In der kleinen Lenbachstube erfuhr sie, dass ein Tisch zu 19 Uhr bestellt war. Hatte sie bei der Verabredung nicht richtig hingehört? Neugierig geworden auf diese - für sie unbekannte - Gegend, beschloss sie, trotz des ungemütlichen Wetters, ihren kleinen Erkundungsgang fortzusetzen. Bis 19 Uhr hatte sie ja noch ein bisschen Zeit.
In der Sonntagstraße (welch ein hübscher Name) entdeckte sie kleine Geschäfte, Handwerksbetriebe, gemütliche Kneipen und ähnliches auch in der Boxhagener Straße, Wühlischstraße und in der Neuen Bahnhofstraße. Ihr besonderes Interesse erregte ein großer Wohnkomplex, der von der Sonntagstraße, Gryphiusstraße, Simplonstraße und Holteistraße eingerahmt wurde. Das war der Helenenhof. Sie dachte, dass man hier bestimmt gemütlich wohnen konnte.
Inzwischen schien auch die Sonne und alles wurde gleich viel freundlicher.
Ihr Erkundungsgang endete wieder am S-Bahnhof Ostkreuz, und ihr Warten wurde durch ein Naturereignis belohnt: Ein herrlich leuchtender Regenbogen in seiner ganzen schimmernden Farbpalette spannte sich riesengroß über dem Bahnhof Ostkreuz. Karin sah darin ein gutes Omen für den weiteren Verlauf des Abends.
Um 19 Uhr betrat sie entschlossen die kleine gemütliche Lenbachstube und wer saß dort an einem der runden Tische? Es war Hans, und der lächelte so nett und auch ein bisschen hilflos, dass sie völlig entwaffnet war.
Sofort spürte sie eine starke Sympathiewelle zwischen ihnen beiden und es wurde ein sehr interessanter Abend, der ziemlich spät endete ...
Inzwischen gab es viele Male den 2. Mai und immer zog es Hans und Karin an diesem denkwürdigen Datum in die Lenbachstube - solange sie existierte.
Karin zog vom Prenzlauer Berg in die Sonntagstraße, wurde heimisch und erlebte mit Freude die langsame Veränderung im Kiez - gehörte doch das Haus, in dem sie nun wohnte, zu den ersten, die einen schönen hellen Anstrich erhielten.
Jetzt lohnt sich ein Spaziergang durch das Gebiet um den S-Bahnhof Ostkreuz und es lohnt sich auch, ein bisschen länger vor den inzwischen restaurierten und rekonstruierten Häusern aus der Gründerzeit zu verweilen, um ihre Schönheit auf sich wirken zu lassen.
Und der Bahnhof selbst ist für Karin auch nicht mehr unübersichtlich, sondern praktisch, wichtig, lebhaft - mit einem gewissen Flair.
Nur so einen wunderschönen Regenbogen hat sie niemals wieder gesehen.
Helgard Gebhardt
Preiswert nach Paris
Samstag 17 Uhr: Ich fahre mit dem Auto zum Büro des Busreisen-Billganbieters, für den ich als Stewardess arbeiten will. Die Probefahrt habe ich schon hinter mir. Nun soll es richtig losgehen.
Kurz vor 18 Uhr: Ich bin da und bekomme die Papiere für die Fahrt ausgehändigt. Weil es meine erste Tour allein ist, hilft mir der Dispatcher. Wir gehen gemeinsam zum BVG-Hof, wo die Busse stehen. Der Fahrer ist schon im Bus und begrüßt uns. Ich muss als erstes die Sitze umbauen. Der Bus ist 15 Meter lang. Es gibt 66 Sitzplätze. Die Hälfte davon, auf der Seite rechts des Ganges, wird zu Schlafplätzen umgebaut. Das heißt, es entstehen 28 etwas unebene Doppelstockliegeflächen mit 20 cm hohen Abgrenzungen dazwischen. Alles wird TÜV-gerecht verschraubt.
Ich habe noch nicht das rechte Raumgefühl für den Bus und stürze beinahe die Mitteltreppe hinunter.
Bei der Probefahrt hatte ich versucht, auf einer der unteren Liegen ein bisschen zu schlafen. Als mir der Dispatcher nun erzählt, dass, wenn die Lager aufgeschlagen sind, die oberen Liegen manchmal während der Fahrt abstürzen, beschließe ich, nur noch oben zu schlafen. Danach nehme ich die Getränke und Snacks für meinen Cateringservice an Bord. Ich müsste eigentlich alles nachzählen. Aber das schaffe ich nicht mehr. Ich muss auch noch die 8 Mülleimer des Busses mit Tüten versehen und die Gardinen auf der Liegenseite zuziehen. Schließlich noch Klopapier in die Toilette und schon setzt sich der Bus in Bewegung zur Einstiegsstelle für die Passagiere am Ostkreuz.
Ich fülle den Bordkühlschrank mit Getränken und Schokoriegeln. Die übrigen Getränke verstecke ich unter meinem Sitz, da mich Busfahrer und Dispatcher wiederholt vor Dieben im Bus warnen. Bifis, Kekse, Chips usw. kommen in die obere Ablage, die eigentlich für das Handgepäck und die Jacken der Passagiere bestimmt sind. Der Busfahrer muss sich noch an einer Taxischlange vor dem Bahnhof hinten anstellen. Ich bringe derweilen schon die Tasche für einen anderen Steward ins Busreisebüro im Bahnhof. Es ist 19 Uhr und wir beginnen mit dem Einchecken. Ich muss jeden Passagier anhand seines Tickets auf meiner Liste abhaken. Manche lösen den Schlafplatz für 10 Euro nach und wollen mit 50-Euro-Scheinen bezahlen. Ich kann nur den Ersten wechseln. Von der Firma bekomme ich kein Wechselgeld. Privat wollte ich nicht so viel mitnehmen, da ich auf der Probefahrt mehrfach vor Taschendieben unter den Kunden gewarnt wurde. Ich bin zu langsam und die Abfahrtzeit droht sich zu verzögern. Der Dispatcher hilft mir. Ich muss von mehreren Passagieren die Kreditkartennummern vergleichen und eine Unterschrift einholen. Außerdem muss ich Umbuchungsgebühren abkassieren und Studentenausweise wegen der Ermäßigung kontrollieren. Das alles ist bei 57 Passagieren nicht in einer Stunde zu schaffen und schließlich rollen wir mit 5 Minuten Verspätung um 20.05 Uhr los.
Ich mache meine Ansagen über Reiseziele und Ankunftszeiten, über Gepäckbeförderung, Sicherheitsbestimmungen, Nichtraucherbus, Bustoilette und Cateringservice in drei Sprachen: Deutsch, Englisch und Französisch. Das sind jeweils immer ca. anderthalb DIN-A4-Seiten. Es ist z. B. im Bus Pflicht, sich anzuschnallen. Natürlich macht das niemand. Ich muss aber trotzdem jedem erläutern, dass sich die Sicherheitsgurte unter den Sitzen befinden, damit die Firma abgesichert ist.
Danach versuche ich Getränke zu verkaufen. Wie vom Dispatcher empfohlen, stelle ich von jeder Sorte eins auf ein Tablett und jongliere damit durch den Bus. Durch die umgebauten Schlafliegen ist der Mittelgang jetzt furchtbar eng. Der Bus schlingert und mehr als einmal droht mir mein Tablett samt Büchsen und Flaschen umzukippen. Da es auch einen Fahrgast treffen könnte, finde ich das verantwortungslos und gehe beim nächsten Mal nach einer halben Stunde nur noch mit drei Getränken (Cola, Bier und Saft) in der Hand los.
In der Ansage wird der "Cateringservice: Getränke, Sandwiches und Snacks zu moderaten Preisen" angeboten. Das heißt zum Beispiel, eine kleine Büchse Bier zu 1,50 Euro, eine kleine Flasche Apfelschorle zu 1,20 Euro, eine Minitüte Erdnüsse oder Chips zu 0,90 Cent. Es gelingt mir trotzdem, einige Sachen zu verkaufen. Dabei kommt mir auch die inzwischen im Bus herrschende Wärme zu Hilfe. Am größten ist der Umsatz bei Wasser, wovon ich auf der ganzen Hinfahrt 6 Flaschen verkaufen kann, davon zwei an den Busfahrer. Der zahlt aber nur den Einkaufspreis, also habe ich gar nichts davon.
Ein junger Mann möchte ein Wiener Würstchen à 1,60 Euro. Ich müsste ein Glas mit 6 Würstchen aufmachen und eine ganze Packung Toastbrot anreißen. Die angefangenen Packungen kann ich nach der Fahrt nicht an die Firma zurückgeben. Ich könnte die Reste mit nach Hause nehmen. Aber dann habe ich die Schlepperei zusätzlich zu meinem Gepäck und natürlich kriege ich die Würstchen und Toast bei mir im Aldi billiger. Nachdem eine Umfrage per Mikro im Bus ergeben hat, dass niemand sonst Wiener möchte, gelingt es mir, den jungen Mann zu einem Bifi zu überreden.
Noch auf der Hinfahrt sind die vier Keksrollen ausverkauft. Die sind zwar auch Mini, aber wenigstens ein bisschen sättigend und nicht mehr so Durst erregend.
Zwischen den Verkäufen versuche ich, die Tickets zu zählen und zu ordnen. Ich bin dabei sehr unsicher. Der Steward, der mich auf der Probefahrt anlernen sollte, ein Afrikaner aus Gambia, war äußerst verschlossen. Ich musste ihm jedes Wort aus der Nase ziehen und freiwillig erklärt hat er mir nur wenig. Sonst war er nett und versuchte mir seine verschlossene Art damit zu erklären, dass er vielleicht als Moslem es nicht so toll fand, dass ich als Frau hier arbeiten wollte.
Die normalen Tickets kommen gezählt in einen Umschlag. Die Sonderfälle, wie Zahlung mit Karte, in einen anderen. Dann fülle ich noch den Statistikbogen aus, überprüfe den Inhalt meiner Tasche, was ich schon längst hätte machen sollen, aber bisher kam ich nicht dazu. Zum Glück stimmt alles. Ich habe noch 8 Blanko-Tickets. Zwei von zehn habe ich in Berlin am Bus verkauft. Wir können am Bus noch Fahrgäste mitnehmen, wenn es der Platz erlaubt.
Ich lese mir die zwei Seiten Rundschreiben durch, die ich in der Tasche finde.
Ich gehe mehrfach durch den Bus, prüfe, ob alle gut sitzen oder liegen. Einige Passagiere mit bezahltem Liegeplatz wollen eine Decke, aber ich habe keine mehr. Für 28 Liegeplätze gibt es nur ca. 15 Decken. Zum Glück finde ich weiter hinten im Bus noch eine unbenutzte für eine Mutter mit Kleinkind.
Ich verteile die Speisekarten mit unseren Drinks und Snacks und die kostenlosen Tageszeitungen, die wir von der Firma zum Cateringservice mit bekommen.
Das hat der Steward bei der Probefahrt nicht gemacht. Er hat mir eine Zeitung angeboten und selbst eine gelesen und den Rest dann komplett als Bündel weggeschmissen. Spätestens in Paris wird mir klar, warum. Hier muss ich den ganzen Bus sauber machen und die Mülleimer leeren. Überall liegen Zeitungen und Speisekarten, die wenigsten davon im Mülleimer.
Aber bleiben wir mal auf der Fahrt zwei Stunden nach Berlin. Die meisten Fahrgäste schlafen oder dösen jetzt. Ich versuche es nochmals mit Getränkeverkauf, werde aber nichts mehr los. Statt dessen laufe ich Gefahr, die Fahrgäste durch die Enge im Gang nur zu stören.
Ich versorge noch den Busfahrer mit dem Nötigsten (Aschenbecher, Flasche Apfelschorle und seine Tasche in Griffnähe) und da er nichts dagegen hat, beschließe ich, mich noch für ein knappes Stündchen auszuruhen.
Im Stewardessenhandbuch der Firma steht auf jeder zweiten Seite fett gedruckt: "Die Schlafkabine oder Sleeperseat ist nicht für die Busbegleiterinnen."
Ich esse mein mitgenommenes Abendbrot, dann suche ich einen Platz zum Beine hochlegen. Schließlich sind wir frühestens um 10 Uhr morgens in Paris und ich habe noch die ganze Nacht vor mir.
Ich will in der Nähe des Busfahrers bleiben. Die vorderen oberen Liegen sind beide belegt. Also gehe ich doch auf eine der unteren. Es ist extrem eng. Neben mir legt sich ein junger Mann hin, der Sleeperseat gebucht hat. Ich kann natürlich nicht schlafen. Bei jeder Bewegung der beiden Mädchen oben bekomme ich Angst, dass sie bald runterkrachen könnten. Durch die Ritzen rieselt mal ihr Taschentuch nach unten, mal lassen sie von oben ihre Taschen auf meine Füße fallen. Ich bin trotzdem froh, noch ein bisschen die Beine auszustrecken und nicht so eng sitzen zu müssen.
23 Uhr: Wir sind kurz vor Hannover. Ich mache meine dreisprachige Ansage. Passagiere nach Paris können im Bus bleiben. Die nach Amsterdam, Brüssel oder London müssen in den gegenüber haltenden Bus umsteigen und dabei ihr Gepäck selbst mitnehmen. Für die ganze Transaktion ist max. eine Viertelstunde eingeplant.
Als bei mir alle Umsteiger raus sind, beginne ich sofort mit der Ticketkontrolle der aus Hamburg kommenden Zusteiger nach Paris. Ich muss wieder alle auf meiner Liste finden oder nachtragen. Da ich glaube, von jedem Kunden einen Beleg haben zu müssen, reiße ich bei manchen das eigentlich für den Kunden bestimmte Ticket heraus.
Ich bin gerade fertig mit Einchecken, da kommt der Steward von meiner Probefahrt (der, aus Hamburg kommend, jetzt nach Amsterdam und Brüssel fahren soll) in meinen Bus gestürmt und meckert mich an: "Was machst du denn? Du machst ja alles falsch! Du hast die Kundentickets mit rausgerissen!" Ich bin natürlich erschrocken, aber wir kommen gar nicht dazu, uns weiter auseinanderzusetzen.
Denn da sehen wir beide das nächste Problem: Der Bus ist zu voll. Einige Neueinsteiger stehen im Gang, was natürlich nicht zulässig ist.
Der Steward schickt mich los, die Fahrgäste auf den Liegen alle noch mal zu kontrollieren. Wer sich aus Sitzplatzmangel hingelegt hat, soll 10 Euro nachzahlen. Inzwischen räumt er die vorderen vier Sitze leer, stellt meine Cateringgetränke teilweise in den Gang, einiges kommt noch in die obere Ablage. Später finde ich die Sachen nur schwer wieder bzw. habe keine Kontrolle mehr, ob mir was geklaut wird. Mein Paket kostenlose Zeitungen für die Rückfahrt entsorgt er, ohne mich zu fragen, komplett in den Müll.
Es gelingt mir, noch vier Fahrgäste zur Nachzahlung von 10 Euro zu nötigen, obwohl sie ja eigentlich nichts dafür können, dass keine Sitzplätze mehr frei sind.
Wer partout nicht nachzahlen will, den lasse ich in Ruhe. So hat es mir der Dispatcher vor der Fahrt gesagt. Natürlich sollen das möglichst die anderen Fahrgäste nicht merken. Also fange ich an, in die Ohren zu flüstern.
Als endlich alle liegen oder sitzen, sind noch eine Reisetasche und ein Koffer übrig, die auf dem Busbahnsteig stehen. Wir haben die vorgesehene Viertelstunde Aufenthalt schon längst überschritten. Der Steward versucht, durch Ansagen in beiden Bussen und Hochzeigen der Gepäckstücke, die Besitzer zu finden.
Schließlich meldet sich in unserem Bus ein Mann, der offensichtlich taubstumm ist. So konnte er die Ansagen nicht verstehen. Aber da er umsteigen muss, ist er schließlich froh, dass der Steward so aufmerksam war.
Der dadurch bei uns frei werdende Sitzplatz wird kurz darauf von einem Mann belegt, dem der Koffer gehört. Er hatte vergessen, aus dem anderen Bus zu uns umzusteigen. Ich spreche ihn auf Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch und Rumänisch an. Das sind alle Sprachen, die ich kenne. Aber er antwortet mir immer nur mit: "Paris". Na, wenigstens wird er da dank des Stewards bald auch ankommen.
Die Busfahrer drängen auf Weiterfahrt, denn jede Verspätung geht von ihrer Schlafenszeit ab. Mein Steward von der Probefahrt meckert mich wieder an, weil ich die Leute mit Liegennachbuchung angekreuzt habe. Ich müsse doch wissen, dass ich da ein L wie Liege in der Liste vermerken müsste. Ich bin jetzt endgültig sauer auf ihn, denn auf der Probefahrt erfuhr ich fast nichts von ihm und jetzt kommt er und macht mich nieder.
Er bleibt in unserem Bus, denn sein Bus ist inzwischen abgefahren. Die Fahrer verständigen sich über Telefon, dass er an der letzten Raststätte, bevor sich die Wege nach Paris und Brüssel trennen, umsteigen kann. Diese kommt in etwa einer Stunde. Bis dahin haben wir auch noch einen zusätzlichen Busfahrer an Bord. Er versucht sich auf dem Stewardsitz vorn ein wenig auszuruhen, da er dann die ganze Strecke bis Paris fahren muss.
Ansonsten sind auch ausnahmslos alle Plätze belegt. Der Steward und ich können nur noch im Gang stehen oder sitzen, wo auch noch ein Teil der Getränke den Platz versperrt.
Wir kommen ohnehin zunächst nicht dazu. Durch Ansagen und mehrmaliges Laufen durch den Bus verteilen wir alle von mir irrtümlich eingesammelten Kundentickets wieder. Ich lerne, dass ich in Hannover alle Neuzusteiger in meine Liste eintragen muss, aber nur von manchen einen Ticketabschnitt nehmen kann.
Ich sage dem Steward, warum ich sauer auf ihn bin. Er ist auch nicht so gut zu sprechen auf mich, weil ich "seine Paristour" habe und er dafür auf die andere Route wechseln musste. Der Dispatcher hatte es so geändert, damit ich auf meiner ersten Fahrt allein nicht auch noch mit Fahrzielen zu kämpfen habe, die ich noch gar nicht kenne. Wir sprechen uns aus und vertragen uns schließlich wieder. Ich bedanke mich für seine Hilfe und wünsche ihm an der Raststätte eine gute Weiterfahrt nach Amsterdam und Brüssel. Wir werden uns erst auf der Rückfahrt in Hannover wieder treffen.
Ich beschließe, an der Raststätte noch die Getränke aus dem Gang in ein Gepäckfach außen am Bus umzulagern. Einen ganzen Karton Bierbüchsen klemme ich dort zwischen zwei Kisten. So komme ich zwar während der Fahrt nicht mehr ran, aber ich habe ja einen guten Vorrat im Bordkühlschrank. Jetzt ist der Gang wieder frei und ich habe sogar einen Sitzplatz, vorn den Klappsitz neben dem Busfahrer.
Ich mache mich mit dem neuen Busfahrer bekannt. Er ist Russlanddeutscher und kommt aus Kasachstan. Dann heißt es wieder Tickets zählen, Statistik ausfüllen, Getränke anbieten. Das ganze bisher eingenommene Geld hänge ich mir um den Hals, damit es mir nicht geklaut wird. Der Fahrer drängt mich, unbedingt die Passagiere genau zu zählen, damit wir später keinen an seiner Raststätte vergessen. Ich zähle in der Liste. Ich zähle im Bus und das mehrmals. Es bleibt dabei: Wir haben zwei zuviel an Bord! Ich erzähle es niemandem, denn natürlich glaube ich, dass wieder ein Fehler von mir dahinter steckt.
Vor Hannover hatte ich nicht durchgezählt, denn wer in Berlin zu spät kommt, hat Pech. Ein Zug wartet auch nicht auf jeden zu spät oder vielleicht gar nicht kommenden Fahrgast.
Schließlich haben sich alle, so gut es geht, zur Ruhe gebettet. Ich quatsche noch mit dem Fahrer, versorge ihn mit allem Nötigen. Keiner möchte mehr Snacks oder Getränke. So beschließe ich, mich mit Einverständnis des Busfahrers ein wenig in seiner Schlafkabine auszustrecken, die sich quer unter der Fahrerkabine befindet. Ich nehme meinen Schlafsack mit. Trotzdem ist es kalt dort unten. Draußen sind Minusgrade.
Es gelingt mir nicht, zu schlafen. Ich mache mir über alles Mögliche Sorgen: Der Streit mit dem Steward, zwei Passagiere zuviel, wir haben Verspätung.
Außerdem male ich mir aus, was mit meiner Schlafkabine passiert, wenn der Bus bei einem Unfall umkippt oder zusammengequetscht wird. Zusätzlich kracht es von Zeit zu Zeit mächtig unten im Bus. In meiner Phantasie sind es die Bierbüchsen, die sich im Gepäckraum selbständig gemacht haben und nun durch die Gegend knallen.
Schließlich endet das einförmige, beruhigende Autobahnfahrgeräusch und wir fahren über holpriges Pflaster und scheinen sogar an Ampeln anzuhalten.
Später erzählt mir der Fahrer, dass ein Stück Autobahn gesperrt war, weil dort ein Film gedreht wurde. Dadurch haben wir noch mehr Verspätung.
Schließlich bin ich vielleicht doch ein wenig eingenickt. Ich wache Viertel vor Vier auf, weil wir halten und klettere aus der Kabine. Der Fahrer hat schon auf Deutsch durchgesagt, dass wir hier bis 4.15 Uhr Pause machen. Ich wiederhole es auf Englisch und Französisch und bitte alle, pünktlich zu sein.
Der Fahrer bittet mich, die Schlafkabine hinter ihm zuzuklappen, und ihn genau um Viertel nach Vier zu wecken. Keiner kauft meine kalten Getränke. Manche holen sich Kaffee an der Tankstelle. Ich könnte an Bord auch welchen machen, bin aber mit der Technik der Bordküche nicht vertraut. Auf meiner Probefahrt war die Kaffeemaschine kaputt und bisher war bei der ganzen Hektik keine Zeit und Gelegenheit, es mir von irgendjemand erklären zu lassen.
Nun gibt es im Hostessenhandbuch eine siebenseitige Bedienungsanleitung für die Bordküche, aber ich beschließe, es früh um Vier nicht damit zu versuchen. Schon der Bordkühlschrank ist gefährlich genug. Stellt man ihn kälter als Stufe Eins, explodieren die Flaschen darin. Davon steht natürlich nichts in der zweiseitigen Bedienungsanleitung, die sogar Stufe 7 für eine maximale Kühlung empfiehlt.
Ich vertrete mir ein bisschen die Beine, gehe mal vernünftig auf Toilette und wecke dann pünktlich den Busfahrer. Der sieht sehr müde und verschlafen aus. Er ist irgendwie auch sehr gereizt. Durch sein kleines Nickerchen haben wir weitere Verspätung. Erst auf der Rückfahrt erfahre ich, dass dadurch sein kostenloses Frühstück an einer Raststätte kurz vor Paris ausfällt, welches auch eine halbe Stunde gedauert hätte.
Jedenfalls droht er mir, dass ich das Taxi bezahle, falls wir bei der Rast einen Fahrgast vergessen und zurückfahren müssen. Ich bin immer mehr erstaunt und erschrocken über die Gepflogenheiten bei diesem Busunternehmen. Mir ist es lieber, er kommt über seine Gereiztheit hinweg, denn auch ich bin morgens um Fünf nicht mehr taufrisch und ausgeglichen. Vor dieser stressigen Nacht war ich gut ausgeschlafen und habe gestern eine Stunde Mittagschlaf gemacht.
Nachdem er damit einverstanden ist, krieche ich nochmals in die Kabine. Natürlich habe ich jetzt noch ein paar Sorgen mehr. Haben wir auch keinen Fahrgast irgendwo vergessen? Warum droht er mir mit so was? Wie schlimm ist die Verspätung? (Ab einer halben Stunde aufwärts müssen wir alle Verspätungen dem Dispatcher melden.)
Ich falle schließlich in ein Dösen, kann Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden, glaube ein dreimaliges Klopfen zu hören und eine weibliche Stimme, die meinen Namen ruft. Schließlich schreckt mich der Selbsterhaltungstrieb hoch, nachdem wir vom Geräusch her eine Weile auf dem Seitenstreifen fahren. Ich vermute, der Busfahrer war eingeschlafen und ist nun glücklicherweise wieder aufgeschreckt.
Jedenfalls halten wir gleich darauf, und zwar diesmal an der Raststätte in Belgien, die eigentlich geplant war. Ich kenne sie schon von der Probefahrt, wo wir gleich von Hannover bis dahin durchgefahren sind.
Der Fahrer geht sofort Kaffee trinken. Als ich von der Toilette komme, meckert er mich an, warum ich auf sein Klopfen nicht reagiert habe. Ich entschuldige mich. Jetzt weiß ich, was es bedeutet. Von der Stimme muss ich offensichtlich geträumt haben.
Er bittet mich, ihn auf der weiteren Fahrt zu unterhalten, da er heute Probleme mit dem Wachbleiben hat. Als wir uns ein bisschen kennen gelernt haben, erzählt er mir, dass er sich sonst von 18 bis 22 Uhr hinlegt, wenn er um 23 Uhr losfahren muss.
Gestern war er statt dessen bei der Geburtstagsfeier seines Bruders. Er war tatsächlich am Steuer eingenickt, aber zum Glück gibt es diese aufgerauten Randstreifen.
Als nächstes ist die Bustoilette verstopft. Ich lasse mir vom Fahrer zeigen, wo die Handschuhe liegen. Er erklärt mir kurz, wie es geht, denn auch davon fiel auf der Probefahrt kein Wort. Schließlich versuche ich, den Schieber zu ziehen, damit alles nachrutscht, aber es gelingt mir nicht. Ich habe eher das Gefühl, dass ich den Schieber gleich abbreche. Nach nochmaligem Beraten mit dem Fahrer gelingt es mir beim dritten Versuch. Gleich Klopapier nachfüllen und dann wieder den Fahrer wach halten.
Wir erleben gemeinsam den Sonnenaufgang. Ich bin schon sehr übernächtigt, kann es aber noch genießen. Auch die leuchtend gelbe Farbe der blühenden Forsythienbüsche an der inzwischen französischen Autobahn. Jetzt wirkt alles besonders intensiv, nachdem vorher die Nacht alle Farben verschluckt hat. Außerdem bin ich froh, in Frankreich angekommen zu sein, wo ich alle Schilder lesen und dem Fahrer sagen kann, dass jetzt 18 km Baustelle kommen.
Hat man einmal Verspätung, ist diese nur schwer wieder aufzuholen. Der Bus darf maximal 100 km/h fahren. Manchmal gibt es auch Grenzkontrollen, diese aber meist bei der Einreise in Deutschland, also erst auf der Rückfahrt.
Inzwischen rollen wir auf der Ringautobahn von Paris. Der Verkehr ist zum Glück flüssig. Das ist er aber auch nur am Sonntagmorgen wie heute. Sonst ist hier an allen Tagen mit Stau und somit Verspätung zu rechnen. Ich schaffe es, zwei Schoko-Croissant und Multivitaminsaft an die Mütter der beiden mitreisenden Kinder zu verkaufen. Ich mache meine halbseitige Ansage bei Ankunft in den bekannten drei Sprachen. Diesmal fett gedruckt: "Wir übernehmen keine Haftung für verloren gegangene Gegenstände!"
Gegen 9.30 Uhr Sonntagmorgen parken wir vor dem Gare Montparnasse in Paris.
Ich nehme meine Jacke und gehe gleich durch die vordere Tür an die frische Luft, die ich jetzt dringend brauche. Mir fallen zwei Afrikaner auf, die im selben Moment durch die Mitteltür aussteigen und sich völlig ohne Gepäck sofort mit dem Rücken zu mir rasch entfernen. Ich werde sie erst später wieder mit den zwei Reisenden in Verbindung bringen, die ab Hannover zu viel im Bus waren.
Der Fahrer verteilt die Gepäckstücke. Ich steige wieder in den Bus, um den Müll und die Decken einzusammeln. Da kommt eine junge Frau kreidebleich und mit geschwollenem Gesicht auf mich zugewankt: "Mir ist schlecht." Ich schiebe sie auf den nächsten Sitz und gebe ihr Wasser zu trinken. Danach legt sie sich auf die Liege gegenüber. Ich sage dem Busfahrer Bescheid. Wir überlegen, ob es im Bahnhof vielleicht eine Rot-Kreuz-Station gibt.
Zum Glück geht es ihr nach einer Weile wieder besser und sie schafft es allein.
Ich sammle einen großen blauen Sack halb voll Müll. In die Mülleimer kommen gleich wieder neue Tüten. Der Fahrer macht die Toilette sauber. Wenn ich das machen müsste, hätte ich den Job wahrscheinlich nicht genommen.
Ich lege noch alle Decken zusammen auf einen Haufen neben mir auf den Sitz.
Der Fahrer hat mir empfohlen, nur je eine Decke auszugeben, wer auch wirklich Sleeperseat gebucht hat. So kann ich später die leichter erkennen, die sich illegal hingelegt haben und noch nachzahlen müssen. Das will ich auf der Rückfahrt probieren.
Gegen 10 Uhr schließlich haben wir Feierabend und verlassen den Bus. Das heißt, ich bin jetzt 16 Stunden für die Firma unterwegs. Ich rechne die drei Stunden ab, die ich gelegen, gedöst oder geschlafen habe. Bleiben 13 Stunden, für die ich brutto 56,50 Euro gezahlt bekomme. Das ist ein Stundenlohn von 4,35 Euro vor Steuerabzug für all den Stress der letzten Nacht. Wir sind im Reich der Billiglöhne!
Kein Wunder, dass hier fast nur Afrikaner ohne Ausbildung arbeiten.
Ich bin jetzt 27 Stunden auf den Beinen abzüglich einer Stunde Mittagschlaf im Bett und zwei Stunden dösen im schlingernden Bus. Trotzdem ist es noch nicht wirklich schlimm. Ich kann mich auf dem Weg zum Appartement am erwachenden, sonntäglichen Paris, an dem Blick auf den Eiffelturm und den gelb, weiß und rosé blühenden Bäumen und Sträuchern ringsum erfreuen. An einem Platz spielt ein Leierkastenmann.
Ich kaufe unterwegs ein Baguette und gegen 10.30 Uhr kommen wir an.
Das Appartement ist eine renovierte Altbauwohnung im fünften Stock. Knarrendes Parkett, ein kleiner Flur, links die Küche, geradeaus das Bad. Außerdem rechts das Wohnzimmer nach Süden zur Straße und links das Schlafzimmer nach Norden zum Hof. Der Fahrer kriegt generell das Zimmer zum Hof, denn wenn er nicht ausgeschlafen ist, kann es für viele Beteiligte gefährlich werden. Wir essen das köstliche, frische Baguette mit Honig und Marmelade, trinken Tee, duschen und ziehen uns gegen 11 Uhr in unsere Zimmer zurück. In meinem steht ein knarrendes Bett mit Matratze und ein Klappstuhl, sowie eine Stehlampe, die nicht funktioniert. Ich breite meinen Schlafsack aus.
Nach dem Duschen trifft mich die Müdigkeit jetzt wie ein Schlag. So schlafe ich trotz der Sorgen, die ich mir schon wieder mache, schnell ein. (Mein Zimmer ist nicht verschließbar, wird mich der Busfahrer bald überfallen? Stimmt meine Abrechnung mit der Liste überein? Dummerweise habe ich mir nicht gemerkt, wie viel privates Geld ich einstecken hatte).
Nach einer Stunde weckt mich ein Krankenwagen, der mit dem üblichen Tatütata in das gegenüberliegende Krankenhaus will. Ich gehe auf Zehenspitzen zur Toilette, höre den Fahrer in seinem Zimmer gleichmäßig schnarchen. Ich versuche, weiterzuschlafen. Es gelingt mir nicht. Das ganze alte Haus ist jetzt erwacht. Oben knarren die Dielen genauso wie bei uns. Kinder schreien, Türen fallen ins Schloss, Wasser rauscht hinter der Wand in die Katakomben von Paris.
Ich zähle meine Einnahmen. Sie entsprechen zum Glück in etwa den Cateringverkäufen. Ich sortiere französische, niederländische, spanische und österreichische Euro-Münzen für meine Kinder aus.
Als ich eine Stunde später noch immer nicht richtig wieder einschlafen kann (unten hupt gerade einer minutenlang), beschließe ich, mich ein bisschen müde zu laufen.
Ich schaue auf den Stadtplan. Der Park Montsouris ist in der Nähe. Ich packe meinen Rucksack und schleiche mich hinaus. Den Schlüssel nehme ich mit, ziehe die Tür leise hinter mir zu.
Die Luft ist herrlich frühlingshaft. Ich laufe durch kleine Seitenstraßen immer links und rechts an einem tiefer liegenden Gleis entlang. Seine Umgebung ist furchtbar verdreckt und ein Zug scheint schon seit Ewigkeiten nicht mehr lang gekommen zu sein. Da ich leichten Hunger verspüre, kaufe ich mir ein Baguette mit Ei, Käse, Tomate und Basilikum. Eine Wasserflasche habe ich im Rucksack dabei.
Die Sonne verwöhnt das sonntägliche Paris in seiner Ruhe. Und doch ist es viel geschäftiger als in Berlin, denn alle Bäcker haben offen und bis Mittag auch die Fleischer.
Nach einer halben Stunde bin ich am Square Montsouris, einer idyllischen Privatstraße unmittelbar am Parkeingang. Wirklich alte oder auf alt gemachte Architektenhäuser vom Feinsten und blühende Magnolien, Forsythien, Pfirsich- und Kirschbäume in den Vorgärten.
Der Park ist ebenfalls voller Blüten, Enten und ein schwarzer Schwan im Teich, Bänke in der Sonne und Kunst in Statuenform. Die Besucher sind wirklich zahlreich und liegen jetzt Anfang März schon auf dem Rasen. Ich setze mich auf eine Sonnenbank, merke, dass ich einschlafen könnte und beschließe, es doch lieber im Appartement zu tun.
Also laufe ich noch eine Runde und dann wieder zurück, kaufe ein Baguette, drei Bananen und schleiche mich wieder in die Wohnung, in welcher der Fahrer gleichmäßig schnarcht. Ich schlafe noch von 16 bis 18 Uhr. Nach einer fast durchwachten Nacht bringe ich es also auf drei Stunden Tagschlaf. Ich hätte nie gedacht, dass es Nachtschichtler so schwer haben.
Um 18 Uhr piept der Wecker des Fahrers. Ich setze Tee auf und packe meine Sachen. Wir essen Baguette mit Margarine und Hüttenkäse, trinken grünen Tee dazu. Noch schnell die Wohnung sauber machen, den Müll einsammeln. Um 18.30 Uhr laufen wir los, eine halbe Stunde bis zum Bahnhof. Die ersten Fahrgäste warten schon.
Um 19 Uhr beginne ich mit dem Einchecken. Ich verkaufe noch insgesamt 8 Tickets am Bus. Damit habe ich keine Zeit mehr. Zum Glück kommen nur noch Kunden mit vorher erstandenen Tickets. Um 20 Uhr ist Abfahrtzeit. Als wir gerade anfahren, erscheint ein Kunde von hinten im Dauerlauf und klopft an den Bus. Wir halten, der Fahrer steigt aus, hilft beim Gepäckeinladen. Als wir nun losrollen, stellt sich der nächste Zuspätkommende vor den Bus. Wieder das gleiche Spiel, um 20.10 Uhr geht's richtig los.
Ich habe 30 Passagiere auf der Liste und beim Durchzählen im Bus. Sie scheinen ihr Geld schon in Paris ausgegeben zu haben, denn auf der gesamten Rückfahrt verkaufe ich 2 Wasser, 2 Saft und einen Bifi. Das angenehmste Ereignis des zweiten Teils der Tour kommt an der ersten Raststätte hinter Paris. Der Fahrer lädt mich zum warmen Abendessen ein. Er hat zwei dieser Karten, mit denen Busfahrer kostenlos essen können. Wir machen eine halbe Stunde Pause und lassen uns Fischfilet mit Möhrengemüse und Baguette schmecken. Dazu einen Tee bzw. Kaffee.
Bei jedem am Bus von mir ausgeschriebenen Ticket nach Hannover (insgesamt waren es drei) hatte der Busfahrer "Scheiße!" gesagt. Nun verrät er mir endlich, warum. Bis Hannover sind nur wir zwei im Bus und es erfolgt höchst selten eine Kontrolle der Firma.
Ich hätte also pro Person statt offiziell 48 Euro nur 35 verlangen können und dafür kein Ticket ausstellen. Somit hätten wir bis Hannover drei Schwarzpassagiere mit relativ geringem Risiko und jeder von uns beiden 52,50 Euro bar in der Tasche. Da macht der ganze Stress doch erst Sinn!
Nach Hannover wird es dann zu riskant, denn der Fahrer wechselt und ein anderer Steward steigt zu. Ich gestehe dem Fahrer, dass ich mir eigentlich ein paar der nachbezahlten Liegen in die eigene Tasche wirtschaften wollte, aber das hat mir der Steward auf der Hinfahrt gründlich vermasselt. Auf der Rückfahrt hat kein einziger Gast für Liegen nachbezahlt. Der Fahrer erzählt mir, dass gerade dieser Steward so gut wie immer Schwarzfahrer mitnimmt, aber nicht mit den Fahrern teilen will und deshalb sehr unbeliebt ist. Wir fahren weiter. Beim Durchzählen habe ich jetzt einen zuviel. Ich zähle nach. Es bleibt dabei. Na, wenigstens keiner zu wenig, denke ich. Haben wir einen blinden Passagier, der sich an der Raststätte eingeschlichen hat? Oder ist er schon seit Paris im Bus und hat sich auf dem Klo oder sonst wo versteckt? Ich weiß es nicht und werde es nie erfahren.
Von einem anderen Passagier habe ich das ausgerissene Ticket verbummelt. Ich hatte mal so einen Windstoß von draußen an meinem Platz. Vielleicht ist es dabei weggeweht worden. Nach dreimaligem Zählen und Statistik ausfüllen und Getränke anbieten und Busfahrer versorgen krieche ich gleich in die Kabine, denn später am Abend und den ganzen Morgen soll ich wieder den Fahrer wach halten.
Ich liege da und so unausgeschlafen wie ich bin, überwältigen mich die Sorgen. Was ist das für ein blinder Passagier? Bestimmt hatten wir auf der Hinfahrt ab Hannover zwei Leute an Bord, die beim Steward schwarz bezahlt hatten. Sein Meckern könnte ein geschicktes Ablenkungsmanöver gewesen sein. Eigentlich müsste ich sofort alle nochmals kontrollieren und den blinden Passagier rausschmeißen. Aber die meisten schlafen schon und ich traue mich nicht. Ich könnte genauso gut einen Strich in der Liste vergessen haben bei der Hektik beim Einstieg.
Ich liege keine fünf Minuten, da klopft es und ich muß wieder rauskriechen. Einem Fahrgast klappert die lose aufgesteckte Abgrenzung zur nächsten Liege zu sehr. Ich montiere sie ab und lege sie unter die Sitzreihe. Eine Frau beschwert sich, dass sie ihre Jacke nicht oben ablegen kann, weil da meine Cateringsnacks den Platz versperren.
Dann döse ich noch ein Stündchen in der Kabine, bis der Fahrer klopft. Wir sind jetzt kurz vor der Einreise nach Deutschland und er glaubt, dass wir kontrolliert werden. Die Beamten sitzen in einem Container und wenn der Reisebus vorbeifährt, springen sie in ihre Autos. Sie verfolgen uns und stoppen uns an der nächsten Ausfahrt.
Aber heute passiert nichts dergleichen. Wir können weiterrollen und werden somit vielleicht keine Verspätung haben.
Bei der nächsten Rast trinkt der Fahrer einen Kaffee und raunzt mich an, dass ich nicht die ganze Fahrt pennen kann. Ich bin überreizt und fauche zurück, dass ich dafür in Paris nicht schlafen konnte. Außerdem kriegt man in der Buskabine eher ein Schleudertrauma, als dass man da unten gut schlafen kann.
Jedenfalls bleibe ich dann bis Hannover oben sitzen. Wir kriegen uns beide wieder ein und unterhalten uns. Er glaubt, dass fast alle Stewards von Schwarzzahlern profitieren. Bei ernsthaften Kontrollen würde die Firma auf einen Schlag fast ihre gesamte Stewardschaft verlieren.
Ich trage meist durch "Hm" zum Gespräch bei. Ansonsten geht es mir echt dreckig. Meine Gedanken kreisen nur noch um ein Bett zum Schlafen. Meine Hände fangen an zu kribbeln. Der Kreislauf will nicht mehr. Ich lege die Beine hoch. Lieber ein Kreislaufkollaps, als dass der Fahrer einschläft und wir sind alle tot.
Ich finde, dass es an Folter grenzt, sich zwei Nächte hintereinander solchem Stress auszusetzen.
Der Fahrer stellt mir in Aussicht, dass ich mich ab Hannover bestimmt wieder hinlegen kann. Allein das hält mich aufrecht und der Gedanke, dass ich mir schnellstens einen anderen Job suchen muss.
Gegen 5 Uhr ist Ankunft in Hannover. Der andere Bus ist schon da. Ich reiße diesmal die Tickets von den Zusteigern richtig ab. Der Steward von der Hinfahrt kommt, lauthals mit dem neuen Fahrer streitend, in den Bus. Er schnauzt mich als erstes an: "Nun lass doch mal die Leute hier rein!" Er will meine Liste haben. Ich nehme sie ihm wieder weg und sage, dass ich mich bei Fragen lieber ans Büro wenden will.
Dann fängt er wieder mit dem neuen Fahrer an zu streiten. Ich gehe ein paar Lungen Frischluft schnappen und mich von dem Fahrer mit den Einschlafproblemen am Steuer verabschieden.
Jedenfalls, als ich bei der Weiterfahrt meine Passagieranzahl auf der Liste mit der im Bus vergleiche, haben wir zwei zuviel an Bord. Es sind zwei Fahrgäste, die beim Steward schwarz bis Berlin bezahlt haben. Darum geht auch der Streit mit dem Busfahrer, denn der Steward wollte nicht teilen. Das alles habe ich so richtig erst nach der Fahrt begriffen, als ich wieder ausgeschlafen war. Aber Ihnen kann ich es ruhig gleich erzählen.
Ich beschließe, schnellstens etwas für meinen Kreislauf zu tun. Der neue Fahrer ist munter und hat nichts dagegen, dass ich mich in der Kabine ausstrecke. Zumindest geht das Kribbeln in den Armen weg, wenn ich auch nicht schlafen kann. "Gottseidank ist das alles bald vorbei", denke ich.
Den tiefsten Punkt der Fahrt hatte ich zwischen Grenze und Hannover. In Berlin läßt mich einzig die Aussicht auf das baldige Ende zügig weitermachen. Ich spreche meine dreisprachige Schlussansage ins Mikro. Diesmal fett gedruckt: "Wir hoffen, dass Sie uns mal wieder beehren. Ciao und bis bald!"
Wir halten am Bahnhof Ostkreuz. Die meisten warten nicht auf den Fahrer, sondern nehmen sich ihre Gepäckstücke gleich selbst aus dem Bus. Als alle weg sind, läuft ein junger Student erschrocken von einer Seite zur anderen. Seine schwarzbraune Reisetasche ist verschwunden. Der Fahrer telefoniert, ob sie vielleicht im Bus nach Hamburg gefunden wurde. Ich durchsuche noch mal unseren ganzen Reisebus. Ohne Erfolg für den jungen Mann. Ich finde eine Strickmütze, ein Nackenkissen, einen Kuli, eine Miniflasche Wodka mit Feige, zwei Schuhspanner, ein Kinderspielzeug und 20 Cent. Letzter sind den Gästen beim Liegen aus den Hosentaschen gekullert.
Der Steward beginnt, die Liegen in Sitzplätze zurückzuverwandeln. Ich sammle allen Müll in einen blauen Sack. Dann helfe ich ihm. Durch die große Müdigkeit bin ich so ungeschickt, mir zwei Wunden an der linken Hand zu reißen.
Wir sind kaum auf dem Betriebshof angekommen, da stürzt ein älterer Kollege herbei und will alle Cateringartikel aus dem Bus gereicht haben. Ich kam noch nicht dazu, zu zählen, wie viel noch übrig ist. Er sagt, das kann ich in der Halle zählen und nimmt alles mit. Auch die Bierbüchsen unten im Gepäckfach sind unversehrt. Die schlagenden Geräusche in meiner Kabine waren Steine, die von außen gegen den Bus geschleudert wurden.
Der Steward wirft mir vor, dass ich gepennt habe, statt mein Cateringzeug zu zählen. Ich habe keine Nerven mehr und bedanke mich grimmig für seine guten Ratschläge. Dann ziehe ich wütend ab, den Kollegen in der Halle suchen. Ich finde ihn nicht und somit auch nicht die Sachen zum Zählen. Der Busfahrer ist in der Kantine und der Steward ganz abgehauen. Ich packe meine Sachen und stehe hilflos auf dem Platz. Da winkt mir der Fahrer und bringt mich nach seiner Currywurst zum Cateringverantwortlichen. Dieser wartet schon und wir zählen alles gemeinsam durch. Ich weiß genau, dass ich weder Mars, noch Twix verkauft habe, trotzdem fehlen von jeder Sorte zwei. Und das aus einer verschlossenen Plasteschachtel, die während der Fahrt ständig im Kühlschrank war. Der Fahrer würde sofort bemerken, wenn jemand an die Kühlsachen geht, während ich mich ausruhe.
Also sehr merkwürdig und ein Verlust von 3,60 Euro für mich zusätzlich zum äußerst mageren Verdienst.
So "aufgeheitert" komme ich zum Bus zurück und muss erfahren, dass ich noch die Fensterscheiben zu putzen habe. Das steht nirgends und war auch auf der Probefahrt nicht der Fall. Der Fahrer kann nichts dafür. Er muss selber zusätzlich den Bus saugen und meint, dass alle schnell nach Hause wollen. Wahrscheinlich ist die Reinemachekraft krank oder in Urlaub und nun wird es ohne Bezahlung auf uns abgewälzt. Also den Ärger möglichst beim Putzen ausarbeiten und nicht am Fahrer ablassen.
Fix und fertig gehe ich mit meinem Gepäck gegen 10 Uhr zur Abrechnung ins Büro. Ich bräuchte eine Dusche und ein Frühstück. Aber auf beides würde ich verzichten, wenn ich gleich ein ruhiges Bett haben könnte.
Im Büro kommt eine ausgeschlafene, sicher auch geduschte und abgefrühstückte junge Dame und erklärt mir, welche Tickets und Listen ich neuerdings nicht mehr in den, sondern in einen anderen Umschlag stecken müsste. Ich hatte gehofft, sie würde sich alles in Ruhe an ihrem Schreibtisch sortieren und mich dann vielleicht anrufen, wenn etwas noch nicht ganz korrekt war. Aber so einfach komme ich nicht davon. Trotz meines Einwandes, dass ich z.Zt. kaum noch aufnahmefähig bin, wird alles bis zum letzten Ticket umgetütet. Dabei sinkt mein Stundenlohn weiter. Danach liefere ich meine Einnahmen ab, immerhin 659 Euro.
Den Termin für meine nächste Fahrt, der mich wirklich interessiert hätte, kann ich nicht erfahren. Dafür muss ich noch eine teure Handynummer anrufen. Aber nein, der Dispatcher ruft mich an. Zum Glück erst, als ich ausgeschlafen bin. Jetzt, als alles vorbei ist, erzählt er mir auch "das Gerücht" von den Schwarzfahrern. Er glaubt, dass einige Aushilfsbusfahrer die Stewards dazu anstiften. Na, da kennt er aber seine Stewards schlecht!
Schreibwettbewerb 2016 - "Legenden vom Ostkreuz"
Schreibwettbewerb 2014 - "Die Sirenen vom Ostkreuz"
Schreibwettbewerb 2013 - "Schönes neues Ostkreuz"
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