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Kultur- und Nachbarschaftszentrum

Die Sirenen vom Ostkreuz

Eine Anthologie

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Herbert-Friedrich Witzel
Bunter Morgen in Berlin

 

Lolas Lockbräute vom Kreuz des Ostens
trällern ein Ständchen in Ulys Ohr:
"Auf jedem Schiff, ob's dampft, ob's segelt,
ist einer, der die Putzfrau vögelt!"

So klang das. Es war einmal.
Alle andern außer ihm saßen da
mit Wachs im Gehör und
Wowis Hartz-4-Vagina vor der Nase
zum Furze uffriechen. Sie riefen:
"Dies ist ein Ruderboot,
hier wird nicht gesegelt!"

"Bindet mich los, Ihr Kanaillen!"
brüllte Ulüsses;
"Ihr Dummbärte, ich
bin gar nicht geil auf Weiberfleisch, ach was!
Ich will doch nur Messungen machen
fürs Statistische Bundesamt!"

Doch so isses, Ulisses:
Alle sind am Rudern und Rudern
für die 4-Viertel-Mehrheit aus
Bankenviertel Medienviertel Brüsseler
Beamtenviertel Berliner Regierungsviertel.

Und sie rudern und rudern hin und weg
von Tempelhof zum BER und
sie flüstern sich zu
durchs Oropax vom Parlament:
"Lasst ihn nicht los, das Schwein
will fliegen."


 

Cornelia Wriedt
Ostkreuz-Sirenen

 

Man muss sie nicht lange suchen. Vom Ostkreuz aus ist es gar nicht weit zu ihnen. Man braucht nur eine Zeitlang geradeaus zu gehen, dann rechts - da findet man sie. Doch nicht am Tage, denn im Hellen, zwischen Autoschlangen und Touristenströmen zeigen sich solche Vögel der Nacht nicht. Erst im Dunkel fliegen diese Wesen herbei und bleiben, die ganze Nacht über.

Verlässlich ist es vor allem, das heidnische Völkchen. Preußisch pünktlich erscheinen die Sirenen, sommers wie winters, alltäglich, und passen sich dezent dem Arbeitnehmerdasein guter Christen an, denn Freitag- und Samstagnacht sind sie länger da. Ihr Haus lockt merkwürdig an, herausgeputzt wie es ist, mit seinen gelben Baldachinen über den Fenstern, mit roten Jalousien und Lichterketten, mit den Riesenbuchstaben in Weiß auf blauem Grund. Schwaden steigen von hier aus auf, von Parfüm, Rauch, Schweiß, Alkohol. Und eine Musik, deren Bässe heftig wummern, die lauter, mänadenhafter wird, desto mehr sich die Nacht mit Stille umhüllen will. Wenn ringsherum alles schläft, wenn der stets überfüllte Italiener ums Eck und die Napster-Bierbar nebenan längst geschlossen haben: Hier wird die Musik noch mal aufgedreht. Odysseus' Gefährten half es angeblich, sich Wachs in die Ohren zu gießen, heute gibt es gewiss kein Mittel mehr gegen diese Art der Verführung. Selten nur verlassen die Sirenen das kleine Inselreich. Und wenn doch eine auftaucht, dann stolziert sie als Königin der Nacktheit, Schokolade und eine Tüte Milch in der Hand, über die klebrige Bierlache des ortsansässigen Bettlers hinweg. Ein Inder beäugt sie, rückt am Turban und bewacht weiter sein Lokal. An Zulauf fehlt es nie. Wer die Gesichtskontrolle durch den Spion am riegelbewehrten Eingang besteht, kommt rein zu den Frauen, ob er nun bloß einen Leinenbeutel dabei hat oder Anzug trägt. Der Abenteurer Odysseus, ein antiquierter Held, der Sage nach stark und mannhaft, der widerstand dem eigenartigen Sirenen-Gesang. Helden des 21. Jahrhundert bestehen ihre eigenen Gefahren, beim Tabledance der modernen Sirenen scheinen sie sich davon zu erholen. Solche Zauber-Gesänge klingen weit. Sie verführen den pensionierten Dahlemer Juristen zu den wildesten Odysseen, weil der sich umwelt- und gesundheitsbewusst mit dem Fahrrad nach Friedrichshain durchschlägt und dafür seine altgewordene Penelope und die efeubewachsene Villa kurz im Stich lässt. Und Publicity hat die spitzige Insel im glattgespülten Meer der Klamottenläden und Szenefriseure sowieso genug. Der Berliner Kurier brachte längst eine Serie über die Orte der Berliner Sex-Industrie, danach zählten in Wowereits angeblich so armer deutscher Hauptstadt die Friedrichshainer Sirenen schon damals zu den gefragtesten, sie gehörten zu den ersten ihrer Zunft in Ostberlin nach 1989. Ohne Zweifel: Sie sind die Sirenen, denn sie waren überhaupt die ersten hier, noch ehe Touristen, Kneipenwirte und Kreative, Immobilienmakler und Schwaben, Studenten und Hausbesetzer den kiezigen F-Hainer Boxi erfanden und dazu beim Späti-Türken an Club Mate leckten und Veggieburger geil fanden. Die Puff-Portale der Netzwelt informieren heute schnell und breit über das "Deluxe"-Bordell, das früher als "Lord G." sein Rotlicht mit der Dekadenz des britischen Adels überzuckern wollte - und dass eine der Ladies im englischen Upperclass-Auto vorfährt, passt dazu. Etwas unterscheidet sie immerhin von ihren mythologischen Schwestern, sie bringen doch irgendwie Glückhaftes, obgleich als schnell vergängliche, schlüpfrige Illusion, die man für 80 Euro kauft. Glücklich auf Dauer werden andere, nämlich die Besitzer des Inselreichs. Die wechseln oft, denn der Job, wo man Freier, Weiber und Nachbarschaft in Schach hält, bringt schnelles Geld, das bald für ein hübsches Häuschen auf der Insel Hiddensee reicht.

Sie verschwinden frühmorgens. Als ob ihr ewiges Musikgedröhn den Tag herbeigehämmert hätte. Nach so einer Nachtschicht fliegt keiner mehr, die letzten Federn reißt das erste Licht weg. Sie schlurfen raus aus dem muffigen Lokal auf ihren Pumps, saugen an der nächsten Zigarette. Das Taxi langweilt sich mit knurrendem Motor, gerade hört der Ventilator auf zu scheppern. Manchmal werden die Kippen auch vor so einer Riesenkarre mit dunklen Scheiben fallengelassen. Autotüren knallen, mit quietschenden Bremsen und aufheulendem Motor rasen sie fort, hinein in die erwachenden Häuser. Letzter Laut der Ostkreuz-Sirenen.


 

Andrea Ingeborg Collins
Modern Siren Movement

 

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Wenn sie mich holen werde ich springen. You can never evict a movement. 02.09.2014, Flüchtlingswohnheim, Gürtelstraße, 07.09.2014
Wenn sie mich holen werde ich springen.
    You can never evict a
      movement.

 


 

Anhang

1: s.o.

2: 09.05.2014, Markgrafendamm

3: 27.08.2014 Markgrafendamm,
www.Stars in concert.de am 28.08.1014

4: 28.06.2014, Markgrafendamm

5: 06.07.2014, Markgrafendamm

6: 10.07.2014, Corinthstraße

7: s.o.

8: 12.05.2014, Markgrafendamm

9/9A: 06.07.2014 Markgrafendamm
www.mmb-berlin.de/presse/kinderstationen.html am 29.08.1914

10: 02.05.1924, Markgrafendamm

11: 27.08.2014, Markgrafendamm

12: s.o.

13: 27.08.2014, Corinthstraße

14: 27.08.2014, Corinthstraße

15: 27.08.2014, Markgrafendamm

16: 27.08.2014, Markgrafendamm

17: s.o.

18: 10.07.2014, Markgrafendamm

19: 22.05.2014, Modersohnstraße

20: 06.07.2014, Markgrafendamm

21: s.o.

22: 27.08.2017, Laskerstraße

23: 10.07.2014, Markgrafendamm

24: 27.08.2014, Markgrafendamm

25: 19.06.2014, Markgrafendamm

26: s.o.

27: 02.06.2014, Markgrafendamm

28: 27.08.2014, Markgrafendamm

29: s.o.

30: 27.08.2014, Markgrafendamm

31: 27.08.2014, Markgrafendamm

32: 27.08.2014, Markgrafendamm

33: 27.08.2014, Markgrafendamm

34: s.o.

35/35A: 27.08.2014, Markgrafendamm

36: 27.08.2014, Markgrafendamm;
www.am.fischzug.ziegert-immobilien.de am 29.08.2014

37: s.o.

38: 29.06.2014, Markgrafendamm

39.: s.o.

40/40A: Markgrafendamm, 29.06.2014

41/41A: Warschauer Str., Litfaßsäule, 07.09.2014


 

H. J. D. Kleinschmidt
Bombastische Erinnerungen

 

Genau SIE haben mich mit ihrem Gesang umgeworfen, was sage ich, sogar mein nüchternes Denken umnebelt. Sie haben die mir innewohnende Angstphobie ans Licht des Tages gezerrt. Das bedeutet die Zwangshandlung, beim Ertönen einer Sirene meine Schulmappe, in der sich wichtige Familiendokumente befanden, greifen zu wollen, um mich sofort in den Luftschutzkeller zu begeben.

So geschah es am Sonnabend, dem 20. Januar 1944, um neunzehn Uhr zum zigsten Mal. Unsere Eltern und acht Kinder, vom einem bis achtzehn Jahre. Außerdem Natascha, ein junges Mädchen aus der Ukraine, welches meiner Mutter als Haushaltshilfe zugeteilt war.

Wir hatten kaum unsere vorab festgelegten Plätze im Luftschutzkeller auf den Luftschutzbetten und den Sitzmöbeln eingenommen, als wir auch schon die Bombenexplosionen hören konnten. Ja, wir mussten leider feststellen, dass sich die schrecklichen Geräusche rasch näherten. Der Jüngste lag im Kinderwagen. Unsere Mama saß seitlich auf dem Luftschutzbett. Sie beugte sich über meine beiden jüngsten Schwestern und mich, streichelte uns abwechselnd und sprach beruhigend auf uns ein.

Plötzlich hörten wir ein markdurchdringendes, lang anhaltendes pfeifendes Geräusch. Dann für Sekundenbruchteile Totenstille, dann setzte das Inferno ein. Ein Knall von solch einer Lautstärke, wie ihn die Menschen im Keller noch nie zuvor gehört hatten. Gleichzeitig tobte eine ungeheure Druckwelle gegen die Rückseite des Hauses und ringsherum. Dann hörte man das Zerbersten der Fensterscheiben, außerdem Klappern und Knirschen von Dachziegeln und Gebälk. Im nächsten Moment polternde Geräusche von einstürzendem Mauerwerk, die Grundmauern bebten. Von der Kellerdecke fielen Mauerziegel und Putz herunter. Wir durchlitten die beängstigende Wahrnehmung, als würden uns von der durch das zerstörte Kellerfenster eindringenden Druckwelle die Organe, Herz und Lunge, zerquetscht und die Augen aus den Höhlen hervorgepresst. Es befiel uns eine bisher nicht gekannte Todesangst. Die Kinder und Natascha beteten laut zum lieben Gott. Als unsere Mama sich einen Augenblick aus der über die Kinder gebeugten Haltung aufrichtete, hörten wir, wie die Scherben der zersplitterten Kellerfensterscheibe von ihrem Rücken herunter zu Boden fielen. Sie hatte ihren Körper als Schutzschild für die Kinder eingesetzt.

Unser Papa erkundigte sich nach unserem Befinden. Er wollte, da die elektrische Stromversorgung total ausgefallen war, die oberen Etagen inspizieren, obwohl die Entwarnungssirene noch kein Signal gegeben hatte. Als er die Tür zum Erdgeschoss öffnete bekam er ein Stück Mauerziegel an den Kopf, dabei holte er sich eine Beule und eine kleine Risswunde.

Er wurde sofort von Mama verarztet. Dann lief er hinauf in die obere Etage und sah dort die Bescherung: nach oben schauend sah er den Sternenhimmel. Die Zimmerdecke, der Dachboden, der Dachstuhl samt der Dachziegel waren zerfetzt von der Druckwelle und den Bombensplittern und in alle Winde verstreut. Die hintere Giebelwand war von der Druckwelle nach innen gedrückt, auf die Zwischendecke geworfen worden und hatte diese durchschlagen und mit allen Möbeln in das Zimmer darunter gestürzt. Welch ein Glück, dass die Kellerdecke diese riesige Last getragen hatte. Denn sonst wäre unser Luftschutzkeller auch der Sarg für elf Menschen geworden!

Es branne fast überall. Papa versuchte zu löschen. Eine schwierige Aufgabe, denn es handelte sich darum, dass die Brände von phosphorgefüllten Brandbomben ausgingen. Die Brände konnte man nicht mit Wasser löschen. Meine großen Schwestern und mein Bruder schleppten Sand aus dem Keller in die obere Etage zum Löschen. Dann sollten sie alle noch gebrauchsfähigen Gegenstände und Sachen in den Vorgarten hinaustragen. Wolfgang trug gerade einen Karton mit Sachen hinaus, als er wieder so ein schreckliches Pfeifen hörte. Er warf sich sofort flach auf den Boden. Der Pechvogel fiel mit dem Gesicht auf ein Büschel abgetrockneter Herbstastern und stieß sich einen Stiel davon in die Nase. Er wurde vor Schmerz fast ohnmächtig. Nachdem die Detonation der Luftmine zum Glück in weiterer Entfernung erfolgt war, rannte er in den Keller. Unsere Mama musste nun ihn verarzten. Der trockene Asternstiel war ihm durch das Nasenloch in die Nebenhöhle eingedrungen. Eine schmerzhafte Prozedur, diesen wieder herauszuziehen.

Endlich heulte die erwartete Entwarnungssirene. Unser Papa verteilte an Mama und die fünf Kleinen angefeuchtete Tücher und schickte sie zur Einquartierung in einen Luftschutzbunker. Als wir aus dem Keller auf die Straße kamen, erkannten wir den Zweck der Tücher. Es bot sich uns ein Schauspiel besonderer Art. Wie bei einem Großfeuerwerk war alles ringsum von den brennenden Häusern hell erleuchtet. Zusätzlich trieb der Wind einen Funkenregen durch die Straßen, der alle brennbaren Dinge entzündete. Die kleine Gruppe musste sich auf dem Weg ständig gegenseitig von den herabfallenden Funken befreien, um nicht selbst in Brand zu geraten. Papa, mein Bruder, meine Schwestern und Natascha versuchten weiter gegen das Feuer anzukämpfen und aus den Trümmern zu retten, was eben möglich war.

Dieses Ereignis bedeutete nun die Trennung der großen Familie. Mama mit sechs Kindern und Natascha gingen per Evakuierung nach Westpreußen. Papa und die beiden großen Mädchen blieben wegen der Arbeit und der Ausbildung in Berlin. Sie bekamen eine Wohnung zur Untermiete.

Zum Zeitpunkt dieser erschreckenden Ereignisse war ich acht Jahre alt. In all den vergangenen Jahren litt ich unter den geschilderten Angstzuständen. Das bedeutet siebzig Jahre kriegsgeschädigt. Aber ich denke auch demütig an all die vielen Menschen, die infolge der ständigen Bombardements ihr Leben verloren haben.


 

Doris Lautenbach
Get Physical

 

Das Jahr nähert sich dem Ende.

Und damit auch wirklich keine Zweifel aufkommen, kauen die unsäglichen Jahresrückblicke noch mal schön alles durch, womit man so zurechtkommen musste. Silvester an sich ist ja völlig bedeutungslos. Und maßlos überschätzt, wenn man ihn fragt, was natürlich keiner tut.

Ein willkommener Anlass, Party zu machen, mehr nicht, aber dazu gibt es gewissermaßen eine Pflicht. Zeig, dass du noch Leben in dir hast. Gib dir kompromisslos die Kante und vor allem: Amüsier dich gefälligst. Denn das ist der einzige Ausweg.

Doch häufig sausen die Silvesterraketen eben nicht fröhlich Funken sprühend Richtung himmlische Gefilde, sondern fliegen müde Schleifen in Richtung blutergussfarbenes Firmament, bevor sie anschließend mit einem unerfreulichen Pfft! im nächstbesten Geäst hängenbleiben. Und weil das alle wissen, die Realität aber trotzdem bitte einen glamourösen Anstrich bekommen soll, wird kurzerhand zu diversen Hilfsmitteln gegriffen.

Alex ist jetzt 22 Jahre alt und mit dem Thema durch. An Alkohol hat er nie wirklich Gefallen gefunden, mal einen Cocktail vielleicht, aber nur auf Gin Basis, und dann und wann mal einen Pfeffi, auch ganz gut, aber Bier zum Beispiel hatte für ihn, abgesehen vom Wampen-Faktor, irgendwie diesen ekeligen Altherrentouch. Und wie sein Vater, der sich Abend für Abend mit seinen Hopfenkaltschalen, so nannte der das wirklich, vor der Glotze entspannte, wollte er nun ganz gewiss nicht werden.

Aber da natürlich das Schicksal auch Alex nicht nur glitzernden Sternenstaub ins Leben gepustet hat, gab es eine Zeit lang auch bei ihm das ganz dringende Bedürfnis, sich auszuklinken und ganz weit wegzuballern.

Am zuverlässigsten hatte das ja immer noch mit XTC funktioniert. Oder "X".
MDMA halt.

Alex schämt sich jetzt immer ein bisschen, wenn er an das superpeinliche Gequatsche von damals zurückdenkt.

"Es heißt, man stirbt am Tod. Aber das stimmt nicht. Man stirbt an Langeweile und Gleichgültigkeit."

Diese Weisheit stammt angeblich von einem gewissen Herrn Pop und ziemlich lange stimmte Alex da ganz mit Iggy überein.

Lästig war im Grunde nur, dass die Pillen auf Dauer Langeweile und Gleichgültigkeit eben nicht mehr vertrieben, sondern sich diese Gefühle binnen kürzester Zeit vertausendfachten.

Im Gepäck trugen sie, die Gefühle, außerdem einen hübschen Haufen neuer, bis dato unbekannter Ängste. Und die gab es dann noch gratis obendrauf.
Die Spaßdroge, die keinen Spaß versteht. Haha.

Im Übrigen nervte Alex auch gewaltig, dass plötzlich Hinz und Kunz Drogen zu nehmen schienen.

In Berlin ja sowieso. Aber anscheinend wollten sich alle wild, gefährlich und individuell fühlen und so wurde die Stimmung eben auch auf Feuerwehr- und Maibaumfesten in der Provinz entsprechend befeuert.

"Meide alles, was der Masse gefällt."

Das war Alex' Lebensmotto. Unbewusst wohl seit frühester Kindheit und höchstwahrscheinlich hat ihm diese Einstellung später auch den Arsch gerettet.

Wurde sowieso Zeit, andere Wege zu beschreiten. Lange genug schon balancierte er schließlich hochkonzentriert und auf Zehnspitzen durch sein sogenanntes Leben, das sich die meiste Zeit für ihn eher wie ein Minenfeld anfühlte.

So richtig glücklich war er wohl nur bis zu seinem dritten Lebensjahr. Also, was heißt schon glücklich, aber doch, irgendwie schon.

Jedenfalls konnte er sich als Kind stundenlang alleine beschäftigten. Er saß auf dem grünen Teppich in seinem Kinderzimmer in der Laskerstraße und war sich selber genug. Er brauchte einfach niemanden.

Endlos hörte er die immer gleichen Kassetten und erfand Abenteuergeschichten für sich, seine Phantasiegefährten und für seinen heißgeliebten Stoffhund Schoko.

In dieser Phase seines Lebens mochte er noch die ganze Welt.

Und dann zack! kam erst der Kindergarten, wo es noch so halbwegs funktionierte. Obwohl er auch dort schon am zweiten Tag nicht mehr hingehen wollte und sich deshalb beinahe die erste Ohrfeige von seinem Vater eingefangen hätte.

Er gewöhnte sich irgendwie an den neuen Tagesablauf. Eines Tages erschien dort eine junge Erzieherin, Maria hieß die. Sie war nett und lustig und knuddelte die Kinder ganz oft und brachte seiner Gruppe außerdem ein brandneues Singspiel bei:

"Die Feuerwehr, die Feuerwehr, die hat 'nen langen Schlauch"
(dazu musste man mit den Armen einen langen Schlauch zeigen)

"Der Hauptmann von der Feuerwehr, der hat 'nen dicken Bauch"
(mit den Händen einen dicken Bauch zeigen)

"Tatütata Tatütata tatütatatataaaaa"
(mit den Händen wie ein Blaulicht kreisen)

"Tatütata Tatütata tatütatataaaa"

Alex war Feuer und Flamme, er sang und spielte das Lied bei jeder Gelegenheit, was seine Eltern sich zu Hause natürlich nicht bieten ließen, und es nun auch tatsächlich Ohrfeigen hagelte.

Doch so richtig begann der Alptraum erst mit der Einschulung.

Den ganzen Sommer davor hatten seine Eltern ihm eingetrichtert: "Du hast so ein Glück, darfst in die Schule gehen. Unser großer Junge! Schau dir doch bloß mal den feinen Ranzen an! Ganz viele tolle Dinge wirst du dort lernen."

Die Schule wurde zum Drama.

Seine Lehrer runzelten die Stirn, bestellten die Eltern ein und schrieben ihm das Mitteilungsheft voll. Seine Mutter heulte, der Vater brüllte. Oder es war umgekehrt, sie schrie und er sagte nichts.

Beide so zu sehen machte ihn nur noch unglücklicher. Aber was sollte er tun? Was sollte er ihnen sagen? Immer wenn er den Mund aufmachte, wurde es noch schlimmer. Seinen Eltern fiel nichts anderes ein, als immer wieder nur: "Du musst mehr lernen! L-E-R-N-E-N!"

Er hätte ja gerne mehr gelernt. Dann hätten sich vielleicht auch seine Eltern wieder besser verstanden. Das Problem war nur, es gelang ihm nicht. Alles, was in der Schule vor sich ging, kam ihm vor wie chinesisch. Zum einen Ohr rein, zum anderen raus. Zu Hunderten von "Fachleuten" wurde er geschleppt: Augenärzte, Vertrauenslehrer, Logopäden, Experten.

Völlig sinnlos. Man hätte ihn nur einmal zu fragen brauchen. Die Wahrheit war simpel: Die ganze Schule interessierte ihn nicht. Nullkommanull.

Er war sechs Jahre alt und hatte schon alles satt.

Als dann irgendwann feststand, dass er die Klasse würde wiederholen müssen und seine Eltern sich jeden Tag nur noch anbrüllten, was, wie er damals glaubte, einzig und allein seinem kläglichen Versagen geschuldet war, retteten ihn schließlich die Großeltern.

Der unsägliche Kreislauf von Magenschmerzen und Schulangst sollte ein Ende haben.

Opa tauchte eines Abends kurz vor den Sommerferien bei ihnen auf, redete zwei Stunden mit den Eltern und drückte Alex zum Abschied lange an sich: "Die Sommerferien verbringst du bei Oma und mir in Caputh. Wir freuen uns schon ganz doll auf dich! Vorher haben wir beide aber noch einen Termin hier in Berlin".

Bei diesem wurde dann eine Hochbegabung festgestellt. Was auch immer das heißen mochte, Alex war es herzlich egal, denn er verbrachte im Anschluss die glücklichsten sechs Wochen seines Lebens in Brandenburg.

Jeder bekommt in seinem Leben Gelegenheiten, die er in Glück verwandeln kann. Die Kunst ist es, diese Gelegenheiten zu erkennen und zu nutzen.

Alex genoss jeden einzelnen Tag auf dem Reiterhof neben dem Haus seiner Großeltern. Er striegelte die Ponys, mistete aus, schleppte Strohballen und Säcke voller Hafer und durfte Reitstunden nehmen. Oma und Opa hatten nichts dagegen, im Gegenteil, sie ermutigten und spornten ihn an.

"Vor Tieren muss man sich nicht fürchten. Dann schon eher vor den Menschen", war Großmutters Standardspruch.

Nach den Ferien wechselte er auf eine neue Schule, die auf seine Fähigkeiten ausgerichtet war. Seine Eltern beruhigten sich und Alex fühlte sich nicht mehr komplett fehl am Platz.

Das Wichtigste in seinem Leben waren jetzt ohnehin Pferde und Reiten. Seine Eltern erlaubten ihm, auch in Berlin weiterhin Unterricht zu nehmen.

Mittlerweile ist er mit der Schule fertig und hat vor einem halben Jahr die Ausbildung zum Reittherapeuten in den Reitsportanlagen am Olympiastadium begonnen.

Er liebt seine Arbeit mit diesen besonderen Kindern.

Einfühlungsvermögen, Geduld, Disziplin und Konzentration sind unbedingte Voraussetzungen für den Beruf. Kein Problem mehr für Alex. Er fühlt sich speziell den Kindern mit Down-Syndrom sehr nahe.

Deren Entwicklungsmöglichkeiten ja lange Zeit sträflich unterschätzt wurden.

Im Prinzip genau wie bei ihm.

Gemeinhin gelten Menschen mit Trisomie 21 als "eingeschränkt", dabei besitzen sie doch eine der wohl kostbarsten Gaben überhaupt: Sie sind nämlich zu grenzenloser Liebe fähig. Zu einer Liebe ohne Wenn und Aber.

Alex braucht sich ja beispielsweise den fünfjährigen Leo nur anzugucken.

Wie der Kleine selig seine Arme um den Hals der sanftmütigen Haflingerstute schlingt, glucksende Glückslaute von sich gibt und dabei sein Gesicht in die weiche Pferdemähne schmiegt. Und wie er kichert und strahlt, wenn ihm seine große Schwester Julia, die ihn häufig zu den Therapiestunden begleitet, von der Tribüne aus Kusshände in die Reithalle zuwirft.

Liebe pur ist das. Rein und unverfälscht, findet Alex.

Der ist übrigens ebenfalls hingerissen. Und zwar von der siebzehnjährigen Julia. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er wirklich verliebt. Und sie glücklicherweise auch. Ganz langsam und behutsam lassen sie es angehen, mehr als Händchen halten, küssen und stundenlanges Reden war noch nicht.

Die erste gemeinsame Nacht werden sie Silvester verbringen.

Oh, wie anders war das noch bis vor einigen Jahren. Mit der Schule lief es zwar einigermaßen, Leere und Sinnlosigkeit hatten sich dennoch, trotz des Reitens, wieder in Alex' Leben geschlichen.

Das Gefühl, völlig unverstanden zu sein, beherrschte alles.

An seiner Zimmertür hing jetzt ein Schild mit der Aufschrift: Hier verblödet ein Genie.

Das erste Mal XTC hatte er in einem Club mit seinem damaligen Kumpel Maik genommen.

Alex war ein bisschen nervös gewesen. "Und wie ist das so? Kannst du mir sagen, wie es wirkt?"

Maik hatte gegrinst.

"Das Coole daran ist ja gerade, dass die Wirkung ungefähr so kalkulierbar ist wie 'n Kampfhund auf 'nem Kindergeburtstag. Nämlich eher gar nicht. Klar ist nur, es wird geil, versprochen."

Zuerst wirkte die Pille ziemlich stark und Alex wurde flau.

"Nicht dagegen ankämpfen, Alter", hatte Maik geraunt, "lass sie kommen".

Dann spürte Alex es.

Zuerst in den Armen, der Wirbelsäule, schließlich im ganzen Körper. Prickelnd. Aufschießend. Die Musik, die zuvor noch extrem genervt hatte, weil sie hektisch und abgehackt klang, drang jetzt von allen Seiten in ihn ein, schien förmlich durch seinen Körper zu rauschen. Elektro mit irgendwelchen Balkaneinflüssen, dazu Holzbläser. Oder so.

Wahnsinn. Er hatte das Gefühl, sein Gehör ruhte satt und zufrieden in seiner Muschel. Er sah das auch ganz genau vor sich.

Auf dem Weg zur Toilette, er wollte sich unbedingt im Spiegel betrachten, schien es ihm, als würde er nicht gehen, sondern in seiner eigenen mystischen Aura dahinschweben.

All diese bildschönen Menschen lächelten ihn an, sie sahen exakt aus, wie er sich fühlte. Das Zeug knallte jetzt rein, ihm flog die Schädeldecke weg, er schäumte über vor Energie und brillanten Einfällen.

"Auf XTC kannst du auch super Sex mit völlig Fremden haben. Ohne Drogen ist so was gar nicht möglich."

Hatte Maik ihm gesagt. Stimmte auch.

Alex konnte nahezu jedes Mädchen dazu bringen, mit ihm ins Bett zu gehen. Damals war es ausschließlich die Eroberung, die ihn reizte. An echter Hingabe oder Seelenverwandtschaft war er rein gar nicht interessiert.

Maik hatte er schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen, bis sie sich vor zwei Wochen zufällig über den Weg liefen.

Der verkauft jetzt Drogen im größeren Stil und dämmert ansonsten so vor sich hin.

Maik quatschte über Frauen, Funktion One Soundsysteme, über "neue herrlich verspulte Läden".

Alex unterdrückte ein Gähnen, hörte gar nicht richtig hin.

"Und du so? Läuft bei dir was? Gibst immer noch Mongos Reitunterricht?"

Alex hätte am liebsten zugeschlagen.

Maik sah völlig unverändert aus, von weitem noch ganz gut, beim Näherkommen entdeckte man dann aber sofort die fahle Haut, den flackernden Blick und die schlechten Zähne.

Silvester.
Alex' und Julias großer Tag.

Der Plan: Sie werden den Abend und die Nacht bei Julia und Leo zu Hause verbringen. Deren alleinerziehende Mutter wird bei ihrer Schwester feiern und dort auch übernachten.

Als Alex um neunzehn Uhr bei Hausers klingelt, ist er schweißgebadet.

Hätte er sich doch bloß nicht darauf eingelassen. Wieso hat er sich auch von diesem Scheiß Maik bequatschen lassen? Einen riesigen Beutel voller Zeug für ihn aufzubewahren, weil Maik irgendeinen Stress hat und die Ware zur Zeit nicht in seiner Wohnung lassen kann.

In knapp einer Stunde wird er sich kurz mit ihm am Annemirl-Bauer-Platz treffen, an der Kirschlorbeerhecke haben sie gesagt. Zur Übergabe.

Die Grünanlage liegt direkt bei Julia um die Ecke und nicht weit von der Wohnung von Alex' Eltern, komisch, dass sie jahrelang beinahe Nachbarn gewesen sind, ohne von einander zu wissen.

Jedenfalls wird Alex von Maik 300 Euro bekommen, fürs Aufpassen auf das Zeug, und davon wird er Julia zu einem Paris-Wochenende einladen. Paris. Dafür kann man schon mal einen kleinen Schweißausbruch in Kauf nehmen.

Und Maik wird heute Nacht das Geschäft seines Lebens machen. Glaubt er.

Puh. Die ganze Zeit, und vor allem eben in der U-Bahn, hat dieser verfickte Plastik- Beutel Alex beinahe in den Wahnsinn getrieben und ihm förmlich ein Loch in seine Jackentasche gebrannt. Aber ist ja nichts passiert, niemand hat ihn unterwegs verhaftet.

Die Mutter ist schon gegangen.
Leo, der bis eben auf dem Wohnzimmerboden mit Playmobil gespielt hat, stürzt Alex zur Begrüßung in die Arme.

Julia lächelt das spezielle Julia-Lächeln, ihr hübsches Gesicht ist jung und weich. Alles ist gut.

"Guck mal, Leo, habe ich alles für unsere Feier mitgebracht."
Alex wirft seine Jacke auf den Sessel und zieht Luftschlangen, ein Set zum Bleigießen sowie ein großes Kuchenpaket mit Pfannkuchen aus seinem Rucksack.

"Und hier. Raketen. Die feuern wir um Mitternacht ab. Weißt du, wieso man das macht, Leo? Damit sollen die bösen Geister vertrieben werden."

Er drückt den Jungen kurz an sich.

Julia zieht Alex in die Küche. Er soll ihr bei dem Nudelauflauf helfen, während sich der Kleine solange im Wohnzimmer mit den Luftschlangen beschäftigt.

Wenn hier jemand Geister vertreiben kann, dann du, denkt Alex, als er Julia von der Seite beim Käsereiben beobachtet. Meine Dämonen nämlich und die ganze beschissene Vergangenheit gleich mal mit.

Der Auflauf duftet im Ofen.
Julia sitzt auf seinem Schoß, sie lümmeln auf der Bank am Küchentisch und er schnuppert gerade an ihrem Haar, als es im Nebenzimmer plötzlich unheilvoll poltert.

Beide springen auf, Alex ist zuerst im Wohnzimmer.
Der kleine Leo krümmt sich auf dem Teppich. Seine Augen sind weit aufgerissen, Schaum läuft ihm aus dem Mund. Der geöffnete Plastikbeutel liegt auf dem Tisch.

Die bunten Pillen mit den unterschiedlichen Motiven liegen überall verstreut.

Das Sirenengeheul mischt sich unter das Silvestergeknalle und der Krankenwagen trifft fast gleichzeitig mit Maiks SMS ein:
Wo bleibst Du? Die Leute wollen Party machen :D


 

Christian Gajewski
Sie nannten ihn Paulchen
oder
Wie die Berliner Stadtbahn ihre Unschuld verlor

 

In unserer kleinen Geschichte geht es um die Zeit der 30er/40er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Für einige ist es die Zeit der Kindheit und Jugend, für andere wiederum ist es bereits graue Vorzeit.

Um die Vergangenheit etwas klarer vor Augen zu haben, begeben wir uns auf eine kleine Zeitreise und kommen an im Jahr 1939, wo am 17. August die Eröffnung des Bärenzwingers am Köllnischen Park stattfand.

Die ersten Bewohner hießen Jule, Lotte, Urs und Vreni.

Da hatte der Berliner mal was zu lachen, da kam Freude auf.

Doch die währte nicht lange, denn kurz darauf, am 1. September 1939, begann der 2. Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen.

Bereits am 2. September wurde das Abhören von Feindsendern unter Strafe gestellt.

Zu der Zeit lebten in Berlin weit mehr als vier Millionen Menschen, davon rund 340 000 im Bezirk Friedrichshain, der von 1933 bis 1945 "Horst-Wessel-Stadt" hieß.

Der Bahnhof Ostkreuz war auch damals schon stark frequentiert.

Wo heute Neubauten stehen rund um die Sewanstraße, lagen damals, begrenzt durch die S-Bahnstrecke Richtung Erkner, endlose Laubenkolonien.

Zwischen den Bahnhöfen Ostkreuz und Karlshorst kam auch ein tüchtiger Reichsbahner zum Einsatz, der von seinen Kollegen und Vorgesetzten einfach nur Paulchen genannt wurde.

Ihn zog es wie viele aus der Provinz in die Reichshauptstadt.

1934 suchte der damals 22-jährige sein Glück dort beim Gleisbau.

Über die Stationen Schlesischer Bahnhof (heute Ostbahnhof) sowie Karlshorst kam er zum Rangierbahnhof Rummelsburg, wo er sogar zum Weichensteller ausgebildet wurde.

Wir schreiben mittlerweile das Jahr 1940.

Am 1. April dieses Jahres wurde in Deutschland erstmalig die Sommerzeit eingeführt.

In der Nacht vom 25. zum 26. August warfen britische Flugzeuge erstmals Bomben über Berlin ab. Betroffen waren Reinickendorf, Pankow, Malchow und Wartenberg.

Die so genannten Luftschutzkeller wurden im weiteren Kriegsverlauf mehr und mehr zum wichtigsten Zufluchtsort der Berliner Bevölkerung.

Auch die Bahn ergriff Maßnahmen zum Schutz vor nächtlichen Bombenangriffen. Eine davon war die Verdunklung der Züge und der Bahnhofsgebäude.

Auch die damit einhergehende Energieeinsparung wurde in den Folgejahren immer wichtiger.

Durch diese Maßnahme und die damit verbundene Sichtbehinderung kam es in der Folge zu immer mehr tödlichen Unfällen.

Mit diesen Gefahren mussten alle Berliner leben.

Die jüdische Bevölkerung Berlins litt zudem noch unter ganz anderen Repressalien.

Neben dem Verbot für jüdische Kinder, öffentliche Schulen zu besuchen, kamen ab 1940 Erlasse über den Einkauf von Lebensmitteln nur noch zwischen 16 und 17 Uhr, sowie der Kündigung aller Fernsprechanschlüsse bis zur Pflicht, einen gelben Stern auf der Kleidung zu tragen.

Den Höhepunkt dieser Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung bildeten die ab dem 18. Oktober 1941 durchgeführten Deportationen, denen auch die Familie Obermann aus der Bödiker Straße 9 zweiter Hinterhof zum Opfer fiel.

Der Kleine Simon lebte dort mit seinen Eltern. Die Mutter war Hausfrau und der Vater hatte einen kleinen Gemüsestand am Bahnhof Ostkreuz, zu dem er jeden Morgen mit einem hölzernen Handwagen zog.

Es hieß, sie würden umgesiedelt in Richtung Osten.

Als sie mit ihren paar Habseligkeiten das Haus verließen, standen alle anständigen Mieter aus der Nachbarschaft unten auf dem Hof und verabschiedeten sich von den Obermanns.

Es war ein Abschied für immer.

Nach dem Krieg wurde bekannt, dass man sie in Auschwitz ermordet hatte.

Von diesen Entwicklungen weitgehend unbeeindruckt, freute sich unser Paulchen auf das schöne Leben nach dem Endsieg.

Er fühlte sich wohl in seiner gemütlichen Wohnung in der Dorotheastraße in Karlshorst, von wo aus er es nicht weit hatte bis zu seiner Arbeitsstelle.

Im Winter ging er die Strecke zu Fuß, im Sommer fuhr er mit dem Fahrrad, so war er immer an der frischen Luft.

Aber auch nach getaner Arbeit wurden in Berlin, zumindest in den ersten Kriegsjahren, nicht die Bürgersteige hochgeklappt.

Es gab Tanzveranstaltungen, Konzerte und vor allem unzählige Kinos.

Neben Propagandafilmen wie Jud Süß gab es auch Kinofilme wie "Bel ami", "Die Geierwally" und "Quax der Bruchpilot".

Die Stars hießen Heinz Rühmann, Emil Jannings, Marianne Hoppe und Willy Fritsch, sie brachten den Berlinern für ein paar Stunden Ablenkung und Zerstreuung.

In der "Deutschen Wochenschau" wurden zu Anfang noch die Erfolge der Wehrmacht bejubelt, doch bald wendete sich das Blatt.

Viele Menschen spürten und ahnten, was kommen wird, andere glaubten noch an den Endsieg, als die Rote Armee auf den Straßen schon Suppe und Brot verteilte.

Der weitere Fortgang der Geschichte ist bekannt.

Wer den Krieg überlebt hat, fand sich in einer endlosen Trümmerwüste wieder. Es fehlte den Menschen an allem.

Die Versorgung mit Nahrungsmitteln blieb noch über Jahre hinaus eines der dringlichsten Probleme der Berliner.

Doch einer brauchte sich um all diese Dinge keine Sorgen mehr zu machen.

Einige werden es längst erraten haben: Es war unser Paulchen. Er fiel nicht etwa an der Front, er gehörte auch nicht zu den Spätheimkehrern, die erst 1955 wieder deutschen Boden betraten.

Er war auch nicht als vermisst gemeldet, wie so viele andere in dieser Zeit.

Doch was war geschehen?

Unser Paulchen wurde, soviel ist bekannt, am 25. Juli 1941 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Doch warum?

Hörte er vielleicht Feindsender ab, war er Jude, Kommunist oder hat er als Widerstandskämpfer Flugblätter verteilt?

All das kann wohl entschieden verneint werden.

Paul Ogorzow verübte von August 1939 bis Juli 1941 8 Morde, 6 Mordversuche sowie 31 Sittlichkeitsverbrechen.

Seine Tarnung war perfekt. Er war Parteigenosse, Reichsbahner und SA- Mann.

Knappe 2 Jahre brauchte die Berliner Polizei zur Ergreifung des Berliner S-Bahn-Mörders.

Der Fall ist in der Berliner Kriminalgeschichte ohne Beispiel – und so soll es auch bleiben.


 

Barbara Bellmann
Schwarz und Weiß

 

Sorgfältig legte sie die Kuchengabeln auf die roten Servietten, welche sie neben die weißen Teller drapiert hatte. Die Kaffeemaschine gab gurgelnde Geräusche von sich und der Duft von Kaffee machte sich breit. Die Nachmittagssonne schien in das in hellem Holz eingerichtete Wohnzimmer. Kein Staubkorn oder achtlos hingelegter Gegenstand störten die perfekte Ordnung. Gerlinde lächelte fröhlich und strich ihre weiße Bluse glatt. Ihr Ehemann war bei einem geschäftlichen Termin und bis sie ihre beiden Söhne vom Tennis abholen musste, blieben sicherlich noch zwei Stunden Zeit. Sie freute sich auf einen gemütlichen Kaffeeklatsch mit ihrer Freundin Birgit. Gewöhnlich fuhr diese mit dem Fahrrad aus Schöneberg bis zum Südkreuz, um dann mit der Ringbahn das Ostkreuz zu erreichen. Dann brauchte sie nur noch wenige Meter mit dem Rad zurücklegen, um bei ihr in der Hischberger Straße anzukommen. Den Kuchen kaufte Birgit immer bei dem gleichen Bäcker im Ostkreuz. So machten sie das seit Jahren. Beide hatten mit fünfundzwanzig Jahren ihre zukünftigen Ehemänner kennengelernt als sie zusammen im "Clärchens Ballhaus" tanzen waren. Eine perfekte Freundschaft und zwei wundervolle Ehen seit nun mehr über zehn Jahren. Birgit und Paul hatten keine Kinder, dies wunderte Gerlinde immer etwas. Aber über unangenehme Themen sprach sie nicht gerne, deswegen hatte sie auch nie nach dem Grund gefragt. Endlich klingelte es und Gerlinde öffnete in freudiger Erwartung die Tür. Doch schon bei der Begrüßung bemerkte Gerlinde, dass etwas nicht stimmte. Birgit war fahrig und aufgewühlt. Irritiert und ärgerlich über die Störung des Normalzustandes überging sie den Zustand ihrer Freundin. Doch schon kurz nach dem Hinsetzen brach es aus Birgit heraus. "Ich werde mich von meinem Ehemann Paul trennen. Ich habe mich in meinen Kollegen Dirk verliebt. Du kennst ihn. Wir werden es wagen neu anzufangen. Ich kann das alles nicht mehr!" Gerlinde stockte der Atem. Ihre perfekte Welt kam ins Wanken. "Das kannst Du nicht machen! Ich dulde das nicht! Was sollen die Leute denken!" Sie schrie Birgit geradezu ins Gesicht. "Bitte Gerlinde. So verstehe doch. Paul ist sowieso..." "Ich will, dass du sofort meine Wohnung verlässt. Du bist eine Ehebrecherin!", brüllte Gerlinde. Fluchtartig verließ Birgit die Wohnung. Die Tür schlug mit einem Krachen ins Schloss. Die plötzliche Stille in der Wohnung führte bei Gerlinde zu einer plötzlichen Unruhe. Diese ließ nicht nach. Sie zog sich ihre Jacke an und ein unbestimmtes Gefühl zog sie auf die Straße. Da hörte sie Sirenen. Sie kamen aus Richtung Ostkreuz. Das flaue Gefühl in ihrer Magengrube nahm zu. Sie rannte los und die Sirenen wurden immer lauter. Ihre Beine flogen über den Asphalt. Sie folgte dem Klang der Sirenen und schon bald sah sie Polizeifahrzeuge und einen Krankenwagen. Die Beamten machten betretene Gesichter. Eine Traube aus Schaulustigen hatte sich gebildet. Am Nachmittag war das Ostkreuz immer voll mit Pendlern und Heimkehrenden. "Die Arme, das Taxi hat sie voll erwischt. Sie hatte keine Chance, aber warum hat sie auch nicht rechts und links geschaut als sie von der Straße abgebogen ist zum Taxistand?", murmelte ein alter Mann. Gerlinde wurde schlecht. Sie bahnte sich den Weg durch die Menschenmenge. Die Sirenen dröhnten in ihren Ohren. Dann sah sie Birgit. Der Körper unnatürlich verdreht und eine große rote Pfütze hatte sich auf dem Boden gebildet. Die Augen blickten starr nach oben. Gerlinde schrie und verlor das Bewusstsein. Das Letzte, was sie hörte, waren die Sirenen und das Bremsen der Ringbahn, welche gerade das Ostkreuz erreichte. Die kommenden Tage vergingen wie in Zeitlupe. Gerlinde umfuhr das Ostkreuz. Auch auf dem Weg zu Birgits Beerdigung fuhren sie einen Umweg. Sie hoffte, dass Birgit Paul noch nichts von ihrer Affäre erzählt hatte. Nach der Trauerfeier trafen sie Paul. Hand in Hand stand er dort mit einem Mann. Auf Gerlindes fragenden Blick sagte Paul: "Das ist Tom, mein Freund. Wir sind seit fünf Jahren ein Paar. Gerlinde wusste davon und hat es akzeptiert, solange ich bei ihr bleibe und wir offiziell eine intakte Ehe führen. Ich verstehe nicht, warum meine sonst so kontrollierte Ehefrau an diesem Tag so unkonzentriert war!?" Gerlinde wurde wieder schlecht. Der Boden unter ihren Füßen fing gefährlich an zu schwanken. Sie hörte wieder die Sirenen vom Ostkreuz. Der Klang in ihren Ohren wurde noch stärker, als sie Dirk mit einer roten Rose mit einem fahlen, weißen Gesicht am Grab von Birgit stehen sah. Die Sirenen vom Ostkreuz hatten alles verändert. Ihre innersten Strukturen wurden aufgebrochen. Es gab nicht nur schwarz und weiß sondern auch eine Fülle von Graustufen. Der Klang der Sirenen wurde ein fester Bestandteil ihres ganzen Lebens. Nie wieder setzte sie einen Fuß auch nur in die Nähe des Ostkreuzes, denn seit diesem Augenblick war nichts mehr gewesen wie es war.


 

Sonja Meggers
Spielzeug-Feuerwehr

 

Die Sirene des kleinen Spielzeug-Feuerwehrautos lässt ihn hochschrecken.

"Papa, warum schläft der Mann denn auf der Bank?", hört er einen kleinen blonden Jungen fragen. Die Antwort des Vaters versteht er im Lärm der einfahrenden S-Bahn nicht. Und er hätte sie auch sicher nicht verstehen wollen.

Alexander setzt sich auf der Bank auf, die ihm in den letzten Nächten als Bett, Wohnzimmer und Küche gedient hatte und streicht sich beschämt seine alten Kleider glatt.

Blitzschnell katapultiert die kleine Sirene ihn zurück in eine Zeit, in der ihm nie in den Sinn gekommen wäre, dass das alles einmal so hätte kommen können.

Vor seinem inneren Auge erscheint das Weihnachtsfest 1979. Er war gerade fünf Jahre alt und hatte seine erste Spielzeug-Feuerwehr bekommen. Zutiefst beeindruckt von ihren akustischen Finessen ließ Alexander die Sirene wieder und wieder aufheulen. Irgendwann aber begann Mutter zu schreien. Er schien sie mit der Sirene so geärgert zu haben, dass sie mit Vater in Streit geriet. Sie schrien einander an und unter Tränen schwor er, die Sirene nicht mehr zu benutzen, doch es half nicht. Ab diesem Tag stritten sie ständig. Meist klang es, als würden sie wegen Kleinigkeiten streiten, aber jahrelang glaubte er, dass die Sirene seines Feuerwehrautos der Auslöser für all die schrecklichen Dinge war, die bis zur Scheidung seiner Eltern sechs Jahre später passierten.

Gemeinsam mit Vater blieb Alexander in dem kleinen Haus auf dem Land wohnen. Mutter zog zu ihrem neuen Lebensgefährten in die Stadt. Während Vater anfing zu trinken, brach der Kontakt zu Mutter fast vollkommen ab. Über Verwandte hörte er, dass sie noch ein Kind bekommen hätte. Das Mädchen sei hochbegabt und würde eine teure Privatschule besuchen.

Alexander blieb zweimal sitzen. Nicht, weil er dumm gewesen wäre, nein, das war es nicht. Eigentlich fiel ihm vieles sogar sehr leicht. Aber immer häufiger musste er sich um Vater kümmern. Mal stürzte dieser betrunken die Treppen hinunter, mal geriet er mitten am Tag in eine Schlägerei und musste vom Polizeirevier abgeholt werden. Um den Haushalt kümmerte Vater sich schon lange nicht mehr und auch die Rechnungen zahlte er nicht. Alexander musste sich um alles kümmern und war vermutlich der einzige in der Klasse, der mit 15 schon mit einem Gerichtsvollzieher gesprochen hatte.

Trotz allem schlug er sich durch. Schaffte mit Ach und Krach einen Schulabschluss und begann eine Lehre zum Tischler.

Mit dem Meister verstand er sich gut und seine Leistungen waren hervorragend. Immer noch wohnte er bei Vater und kümmerte sich aufopfernd um den immer hilfloser werdenden Mann.

In einem Stadium der zunehmenden Verwirrung tauchte Vater dann immer häufiger im Betrieb auf. Anfangs saß er nur da und schaute den Tischlern bei der Arbeit zu. Später aber begann er dann zu randalieren. Erst einmal, dann immer häufiger. Jeder Versuch, ihn nach Hause zu bringen, scheiterte, weil er schon nach kurzer Zeit wieder auf der Matte stand.

Alexander wunderte sich immer, dass Vater, der in der Wohnung nicht einmal mehr wusste, wo sein Morgenmantel war, immer wieder den Weg in den Betrieb fand.

Ein halbes Jahr vor der Gesellenprüfung zerschlug Vater dann in einem unerklärlichen Anfall von Wut den halben Betrieb und Alexander verlor seine Arbeit.

Es dauerte lange, bis er eine neue Lehrstelle fand. Der Meister in diesem Betrieb war ein herrschsüchtiger rotgesichtiger Kerl, der ihn endlose Überstunden schieben und nur die niedersten Arbeiten erledigen ließ. Alexander sagte Vater nie, wo er jetzt arbeitete und so schaffte er mit unermüdlichem Einsatz tatsächlich seine Gesellenprüfung. Sofort danach suchte er sich eine neue Stelle und lernte Susanna kennen. Nur ein Jahr später heirateten sie. Susanna war seine Traumfrau gewesen. Hübsch, klug und geduldig. Lange Zeit kümmerte sie sich hingebungsvoll um Vater. Dieser wurde zunehmend anstrengender. Zu all den alkoholbedingten Ausfällen kam letztlich auch noch eine akute Demenz. Egal wie sehr Alexander und Susanna sich bemühten, immer häufiger gerieten sie über Vater in Streit. Eine Zeit lang hatte er das Gefühl, dass ihre ganze Ehe sich nur noch um Vater drehen würde.

Als im Winter vor sechs Jahren sein Sohn geboren wurde, schöpfte Alexander Hoffnung, dass sich nun doch noch alles zum Guten wenden würde.

Da Vater eine Gefahr für das Neugeborene darstellte, entschieden sie, ihn in einem Pflegeheim unterzubringen. Sie hatten lange gesucht und waren mit ihrer Entscheidung letztlich sehr zufrieden.

Mit 35 Jahren hatte er kurzzeitig das Gefühl, all die Ereignisse der Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben. Er hatte einen guten Arbeitsplatz, eine Frau, einen gesunden, klugen und aufmerksamen Sohn und auch Vater war gut untergebracht. Trotzdem schien etwas nicht zu stimmen. Immer und immer wieder geriet er mit Susanna aneinander. Es waren immer nur Kleinigkeiten. Weihnachten 2009 kam es dann zum großen Krach. Sein Sohn war genau fünf Jahre alt. Er hatte ein Feuerwehrauto bekommen. Eines mit einer echten Sirene.


 

L. Gelpke und T. Djmaudrinowicz
Ulli Zeetzens abenteuerliche Reise zum Ostkreuz

 

Kapitel 1: Aufbruch

Es war einmal ein segelndes Restaurant-Schiff, das sollte in Berlin zu Füßen des Ostkreuzes, am Paul-und-Paula-Ufer der Rummelsburger Bucht, vor Anker gehen, an einer bereits zu DDR-Zeiten angelegten Pier, um dort einen Restaurant-Betrieb zu eröffnen und dann endlich die nach besonderen lokalen Spezereien dürstenden Berlinerinnen, Berliner und alle anderen Menschen in und um Berlin herum mit der gehobenen Kost der lokalen Fischküche erfreuen und laben zu dürfen. Allein, die verantwortlichen Berliner Verwaltungsbehörden, strotzend vor Stolz und ohne jeden Anflug von Demut über die ihnen obliegende Macht, verlangten den Nachweis der Schiffbarkeits- und Segel-Tauglichkeit der alten Hanse-Kogge, bevor diese die Genehmigung erhalten sollte, als "Restaurant-Segelschiff" und damit als neues Leuchtfeuer und Gourmet-Magnet der einfallsreichen Berliner Erlebnis-Gastronomie firmieren zu können.

Aus diesem Grund waren die Gourmet-Freunde angehalten, den Nachweis zu erbringen, dass die doch immerhin zweimastige "Gote Wind" unter eigenen Segeln innerhalb eines 13 Stunden offenen Zeitfensters von Friedrichshagen am Großen Müggelsee bis zum Paul-und-Paula-Ufer am Fuße des Ostkreuz-Wasserturms schippern möge – selbstverständlich unter strenger behördlicher Aufsicht. So begab es sich, dass am späten Nachmittag eines ottonischen Oktobers, kurz vor Aufgang des Vollmondes, der frühneuzeitliche Zweimaster — der Nachbau einer veritablen Hansekogge aus dem späten vierzehnten Jahrhundert — von der Hafenmole in Friedrichshagen ablegen sollte und die Reise nach der Rummelsburger Bucht unter eigenen Segeln begänne, nur unterstützt von einem behördlich genehmigten Zugeständnis, einem kleinen Außenbord-Motor mit sechs Pferdestärken, der die Manövrierfähigkeit der Hanse-Kogge unterstützen durfte. Vor Antritt des behördlich befohlenen Segeltörns war noch eine kleine Mahlzeit erlaubt, um die gemischte Besatzung aus künftigen Restaurant-Segelschiff-Betreibern und einer Abordnung aus kontrollierenden Verwaltungsbeamten der involvierten, zur Genehmigung des künftigen Betriebes ermächtigten Berliner Behörden ausreichend verköstigen zu können.

Zu diesem Behufe kletterte der Kombüsen-Junge am Nachmittag über die Reling an Land, nur ausstaffiert mit zwei großen Bastkörben und einem verwaltungsbeamtlich limitierten, sehr schmalen Budget. Seine Aufgabe war nun, auf dem nahen Wochenmarkt in Friedrichshagen eine ausreichende Menge an Eiern und anderen Zutaten für ein karges, doch hinreichend nahrhaftes Omelette-Gericht zu besorgen, damit die gemischte Crew nach sarrazinscher Manier gestärkt und leidlich wohlbestallt die lange Flussreise antreten könne.

Der Markt zeigte sich schon in Auflösung begriffen, als der unerfahrene und ortsunkundige Kombüsenjunge endlich den Marktplatz erreichte, nachdem er sich mühsam orientiert und immer wieder vorbeieilende Passanten nach dem Weg zu fragen sich nicht gescheut hatte. Die meisten Marktstände wurden bereits abgebrochen, überall herrschte emsiges Treiben, niemand beachtetete den kleinen unerfahrenen Kombüsenjungen, der bald verzweifelt nach einem Stande Ausschau hielt, welcher ihm die geeigneten Lebensmittel für das Omelette verschaffen könnte. Erst ganz am Ende des Marktplatzes, in einer versteckten Ecke, tauchte plötzlich ein altes, verhutzeltes Kräuterweiblein aus der Deckung, erregte sogleich die Aufmerksamkeit und irgendeine geheimnisvolle Kraft zog den Schiffsjungen sogleich in seinen Bann, denn an seinem zierlichen Mifa-Klapprad baumelten noch vier wohlbefüllte Marktkörbe im steifer wehenden Spätnachmittagswind. Sogleich zückte er seine Matrosenmütze und sprach behände die alte Dame an: "Sagen Sie, werte Marketenderin, darf ich mir erlauben, Sie zu fragen, ob Sie noch einige geeignete Lebensmittel mitsamt nützlichen Zutaten für ein großes Schiffsomelette zur Labsal einer allzeit hungrigen Crew übrig hätten?" Das Hutzelweiblein lächelte ihn sogleich sybillinisch an und wandte sich in einem ungewohnt klingenden , weil selten zu Gehör gebrachten, Oberschlesisch an den Jungen mit den maritimen Bastkörben: Sie käme ja gerade noch rechtzeitig vor Marktschluss aus den Müggelbergen auf den Markt geflogen, um ihm frisch gesammelte Wildenten-Eier anzubieten, und obendrein sei sie auf dem Rückweg ganz zufällig in einen Trupp delikater Marktpilze geraten, sie wisse gar nicht, wie ihr geschah, junge Röhrlinge und einige andere wohlschmeckende Arten, die da in einem großzügigen Hexenring versammelt in der Zwischenzeit aufgeschossen waren. Auf dem Hinweg zu der Wildenten-Kolonie war von den Spitzhüten noch kein Lebenszeichen zu vernehmen gewesen, jener Sippe von Wasservögeln, bei denen sie einmal wöchentlich zur Eier-Musterung ihre Aufwartung mache. Von den herrlich wohlschmeckenden jungen, rotstieligen Hexenröhrlingen und Artverwandten sei da auf dem Hinweg noch keine Wittergung ausgegangen, selbst für die so fein ausgebildete Nase der erfahrenen Sammlerin nicht. Alles in allem, mit den ausgezeichneten Gewürzen versehen, welche sie ihm obendrein anbieten könne, ergäben die frisch ausgeschobenen Schwämme zusammen mit den gerade gelegten Eiern ein herzhaftes Wildpilz-Omelette vom Allerfeinsten, das die ganze Besatzung für die weite Reise von Friedrichshagen zum Paul-und-Paula-Ufer an der Rummelsburger Bucht ausgezeichnet rüsten könne, dies in ihrer gutturalen Phonetik sprechend, zwinkerte sie ihm schalkhaft-verschmitzt zu, übergab die stattliche Menge an Jungpilzen, den reich gefüllten Korb mit Eiern, und die geheimnisvoll duftenden Gewürze aus fernen Landen rieselten in seinen Mitgebrachten, hinzufügend, der Smutje werde daraus einen ausgezeichneten Eierschmaus braten, da sei sie sich ganz sicher. Komisch, wandte sich der Schiffsjunge mehr an sich selbst, woher weiß die ehrwürdige alte Dame denn so genau, wohin die Reise gehen möge? Dachte dies mehr bei sich und übergab das sarrazinisch zum Reißen knapp kalkulierte Alimentations-Budget an die Respektsperson. Bevor er nun vernehmlich nachfragen konnte, hatte sich das alte Kräuterweiblein schon erstaunlich geschmeidig und flugs wie der auffrischende Abendwind auf sein gut geöltes Mifa-Klapprad geschwungen und war in einem Hui schon außer Sicht- und Hörweite in dem dichten Gedränge des sich auflösenden Marktes. Das ging so geschwind, dass sich der Schiffsjunge etwas verdattert und nachdenklich auf den Rückweg zur Mole am Hafen in Friedrichshagen aufmachte. Als er dort schließlich ankam, hatte er jedoch das Geschehen auf dem Markt in seinem jugendlichen Überschwang auch wieder verdrängt (es handelt sich hierbei um ein eher modernes Märchen) und machte sich sogleich mit dem Schiffskoch an die Arbeit der Zubereitung des gewaltigen Pilzomelettes für die doch recht disparat zusammengewürfelte Crew.

So war der folgende Schmaus rasch zubereitet, dank der lässigen Routine des Smutjes, welcher auch kaum Zeit damit vertat, den Schiffsjungen zu nunmehr vorgerückter Stunde in ein Kreuzverhör zu nehmen angesichts der etwas ungewöhnlichen Wahl der in dem Korbe sich findenden Pilzarten. Hier vertraute er souverän der bekanntermaßen sprichwörtlichen Akribie der amtlich bestallten Wochenmarkt-Kontrolleure zu Berlin, in Anbetracht der ablaufenden Frist, nach der die "Gote Wind" laut Behörden-Plan dann endgültig ablegen sollte und ihre ungewisse Reise in die bald von einer gigantischen, tiefroten Vollmondnacht illuminierten Spree-Gestade antreten würde.

 

Kapitel 2: Das Gericht und der Stich in den Fluss namens Spree

Ist es nun Zeit vom raunenden Imperfekt sich abzukehren und in die Sphäre des verheißungsvollen Präsens zu wechseln – was hieße: jetzt "Action"? Schließlich verhandelt das Sujet die mögliche Begegnung mit genuinen oder wenigstens semantisch umgewidmeten Sirenen – und in welchem Tempus besang Homer einst seine odysseeischen Verse? Es wäre doch naheliegend, das dort verwendete Tempus als Landmarke zur Orientierung einzusetzen. Oder kümmert das heute eh kein lesendes Wesen mehr...? -- Allerdings – mit Hexametern möchte ich jetztmals nicht dienen können; das hat schon mein Knan (in etwa: der Papa) weiland in der Schulzeit, der meinigen, versucht (als mein unberufener Ghostwriter) und mir damals ein glattes "Mangelhaft" wegen möglichen Betrugsversuchen eingehandelt bei einer zu Hause auszuführenden Aufsatz-Arbeit. Zunächst nun zurück zum bewährten und natürlich raunenden Imperfekt: ...

Aufgrund der behördlich angeordneten Eile ward das Pilzgericht in depeschierter Form zubereitet — und zuletzt bot sich gerade für die Goumet-Fraktion an Bord (auch hier ein durchaus gemischter Haufen an deutlich genussorientierten Langsam-Essern, bestehend sowohl aus Teilen der künftigen Segelschiff-Restaurant-Betreiber-Fraktion als auch wohlgesprenkelt mit subordinierten Berliner Beamten vor allem aus der Kostenstelle, Abteilung "Prospektive Stadtplanung"), nun, letztselbige Abgesandten fanden in der Zwischenzeit von Minute zu Minute mehr Gefallen an dem zu prüfenden Objekt insgesamt, je länger sie pars pro toto Messer und Gabel durch das Omelette furchen ließen, da Selbiges trotz der gebotenen Schnelle durchaus wohlfeil zubereitet war; und je länger sie es auf den Tellern mit kontemplativer Ziemlichkeit hin- und herwendeten, daran zärtlich knabberten, schnoperten, ja den aufsteigenden Duft genussvoll durch die Nüstern einsogen, um angemessen den Eros der Aisthesis zu laben angesichts eines solch unverhofft servierten Meisterstücks, denn nicht nur das Auge isst bekanntermaßen immer wieder gerne mit, begannen die fruchtkörperdurchwirkten Teile der auf den Tellern schwebenden Gaumenfreude im von Kerzen nur matt illuminierten Restaurantraums im Schiffsbauch der famosen Hansekogge allmählich sanft in Blau, Lila, Purpur, Orange und Türkis zu pulsieren wie kosmische Quasare. So recht konnte sich das keine anwesende Dienstperson zu explizieren, man schrieb es insgeheim der dürftigen Beleuchtung zu,  in Form eines stillen Konsens', und mancher Insasse der gewöhnlichen Crew wollte das auch schon gar nicht mehr so ausdrücklich zur Kenntnis nehmen, denn das alte Piratenschiff von Klaus Störtebeker hatte ihnen so manches unverhoffte Abenteuer auf der langen Fahrt von der kurischen Nehrung nach Berlin beschert, das eines jeden kritischen Betrachters bekannte Schulweisheit in große Erklärungsnöte gebracht hätte; deshalb verschob so mancher das farblich changierende, pulsierende Glimmen, das wie späte Glut im Lagerfeuer am besten zu umschreiben gewesen wäre, in den Bereich einer schlichten optischen Täuschung. Allein Kapitän zur See Ulli Zeetz, vom Restaurant-Dienstleister pflichtschuldigst zeitnah angeheuerter Inhaber eines antik zu nennenden Schiffsführer-Patents, welcher es eigentlich nicht länger vorhatte, derart windig zu nennende Aufträge anzunehmen, aber eben, neuzeitlich sorgt nur das liebe Geld für Lebensmittel, Dach über dem Kopf, bezahlt Wasser und Strom, ihm kam das Phänomen dann doch durchaus spanisch vor, hatte er doch schon vor Gibraltar Gelegenheit gehabt, am äußersten Rand der Scheibe jener damals bekannten Welt, mehr oder weniger erfolgreich gegen die dortig ansässigen Hispanier mit eibenhölzernem Pfeil und eisernem Bogen zu kämpfen. (Aber das wäre jetzt eine ganz andere Geschichte und würde diese schmale Episode lediglich ein weiteres Mal sprengen – zum Leid der auch einmal zu Ende kommen wollenden JurorInnen der hier einstweilen noch bevorstehenden Sirenen am Ostkreuz.)

Als die "Gote Wind" am frühen Abend dieser denkwürdigen Nacht endlich von der Pier in Friedrichshagen ablegte, war bereits ein zum Bersten voller, ja deutlich in ein Übergroßes tendierender Mond am Firmament aufgegangen und beleuchtete verschmitzt grinsend die Abläufe unten auf der Erde, das etwas umständlich, da schusselig ausgeführte Ablege-Manöver des Segelschiffes. So schien dies zumindest dem Schiffsjungen an Bord vorzukommen, welcher von dem großartigen Omelette leider gar nicht oder erst ganz spät satt geworden war, da die Hauptzeit des Mahles ja mit dem Servieren und dem Aufrechterhalten des Getränkeservices beschäftigt. In der Zwischenzeit hatte auch der Wind beträchtlich aufgefrischt und erschwerte das jeweils nötige Segelumsetzen weg von der Pier und in Fahrtrichtung, ausgeführt von der behäbig hantierenden Besatzung, erheblich. Im Grunde wirkte der Wind wie bestellt, denn er blies, wie in den Lokalnachrichten im Radio bereits angekündigt, aus Ost-Nord-Ost nicht mit fünf, in Böen gar sechs bis sieben Windstärken, sondern schon jetzt mit einer strammen, runden 7, ganz abgesehen von den Böen, welche schon zu dieser frühen Stunde der Reise bequem volle Sturmstärke erreichten. In Anbetracht dieses beträchtlichen Rückenwindes konnte Ulli Zeetz als verantwortlicher Schiffslenker zumindest für das Erste getrost auf den läppischen Außenborder verzichten. Umso mehr gefragt jedoch waren die Segelkünste der insgesamt sieben Mann zählenden nautischen Crew, die es für diesen exzentrischen Törn in Richtung Innenstadt nun mit eher gemischten Gefühlen in die Wanten des Zweimasters trieb angesichts der deutlich mehr als gewogenen Unterstützung durch das luftige Element. Hören Sie, wussten Sie eigentlich schon, werte Lesende, wie hoch die Wellen reichen können auf dem Preußischen Meer, derart nahe gelegen an einer zivilisiert wirkenden Großstadt wie Berlin (Meinen Sie wirklich, gibt es da noch ein anderes, sehr viel imposanteres preußisches Meer)? Zwei bis drei Meter höchstens, meinen Sie ..., so wie in der Ostsee? Ha, weit gefehlt, Sie machen sich ja keinen blauen Dunst – bedenken Sie nur, dass aufgrund der oftmals begrenzten, da befestigten Ufer die Wellen sich ja gar nicht ausschaukeln, sondern im Gegenteil, sich immer nur weiter aufschaukeln müssen, je höher der Seegang infolge des einwirkenden Sturmwindes sich aufzutürmen können!

Das ist der berühmte Badewannen-Effekt; einige Seeleute mit beträchtlicher Erfahrung, welche auch schon Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts den Müggelsee mit ihren kohlebeladenen Lastkähnen regelmäßig zu überqueren hatten, berichteten von wahren Kavenzmännern, von regelrechten Wänden aus Wasser, die da mit elementarer Gewalt über ihren offenen Kohle-Lastkahn-Kolonnen zusammengeschlagen wären bei längerer Sturmdauer, so ab Windstärke 10, und damit so manchen erfahrenen Flussbären derart überfordert hätten, dass auf dem tiefen Grund des Müggelsees bis heute so manches gewaltige Schiffswrack ruhen würde. Zum Glück passierten die Männer auf der "Gote Wind" nur den äußersten Rand des bald sturmumtosten Meeres und gelangten zügig in die ruhigeren, jedoch dafür von heftigen Böen umso stärker heimgesuchten Gewässer des Spreeunterlaufs. Rasant kam die Hansekogge voran, sie segelte zugegebenermaßen mit dem Wind, welcher meist aus östlichen Richtungen bald nun auch orkanartig blies, mit berauschender Geschwindigkeit passierten sie Köpenick, Spindlersfeld, Johannisthal, Nieder- und Oberschöneweide, die Königsheide und bald den Plänterwald, so dass kaum zweieinhalb Stunden vergangen waren, bis sie den Bullenbruch erreichten, ein kleines Eiland auf Höhe der Nalepastraße, gleich gegenüber des ehemaligen Gebäudes, in der weiland dem Fall der Mauer der Rundfunk der DDR seine wohlbehütete Heimat gefunden hatte.

 

Kapitel 3: Die Liebesinsel im Strom und nächtliches Treiben

Doch was war das? In regelmäßigen Abständen stießen große Kanus vom Ufer der Insel im Strom ab, sich darin duckend schwarz vermummte Gestalten, welche das Haupthaar unter weiten Kapuzen verbargen. Wie eine lange Perlenkette schmückten bald die Kanus schon die mondglänzende Spree und durchpflügten den Flusslauf stromabwärts. Bald war die Hansekogge umringt von den hölzernen Langbooten, deren Insassen wohlgeübt im symmetrischen Gleichschlag back- wie steuerbords die Stechpaddel mit großer Kraft eintauchten und so die hölzernen Boote vorwärts stießen. Kein menschlicher Laut zu vernehmen, nur das Rauschen der Wälder, das Tosen des Windes, das Plätschern und strudelnde Glucksen des Wellenschlages begleitete die seltsame Armada auf der Reise in Laufrichtung der Mündung des Flusses.

Im weiteren Verlauf des Abends fanden sich bald der Schiffsjunge und Kapitän Ulli Zeetz gemeinsam am Schiffsbug wieder, obschon sie da ja beide recht wenig zu suchen hatten. Der eine sollte sich eigentlich unter Deck in der Kombüse um den allfälligen Abwasch kümmern, der andere jedenfalls nicht am Bug zu finden sein, denn er war ja für das Wohl und Wehe der Besatzung verantwortlich, und deren Schwerpunkte befanden sich im Moment in jedem Falle vermehrt unter Deck bzw. auf der Brücke hinter dem Hauptmast der wohlgefälligen Kogge. Dennoch, die beiden befanden sich aufgrund gemeinsamer, vor allem sozialer Intelligenz und geteilter Neugier am Bug des Schiffes, um Ausschau nach der Richtung zu halten, die die Perlenkette aus wacker von wohlgeführten Stechpaddeln bewegten Kanus wohl einschlagen würde. Allein es half nichts: einer musste hinauf in den Ausguck, um nach dem Rechten zu sehen und sagen zu können, wohin denn die vermummten Gestalten ihre Reiseroute lenkten, denn keinem der beiden ließ es Ruhe, weder dem Ältesten noch dem Jüngsten an Bord, bis nicht klar geworden wäre, was die ganze Prozession für einen Weg folgen würde.

Über die Wanten stieg der Schiffsjunge in das so genannte Storchennest. Mittlerweile befand sich die "Gote Wind" auf der Höhe der breitesten Stelle des Flusses auf seinem langen gemächlichen Lauf in die Havel. Ganz links lag klar im Mondschein sichtbar die Insel der Tugend, durch die bogenförmige Abteibrücke mit den Gestaden des Treptower Parks verbunden. Ganz zur rechten Hand begrenzte das Sichtfeld der Hafen auf Lichtenberger Seite mit dem dahinterliegenden Gelände der ehemaligen Nylonstrümpfe-Produktion der AGFA-Werke, auch diese unternehmerische Tat vergessen und längst zur Industrie-Geschichte geronnen. Spätestens bei einer der Bombennächte des Zweiten Weltkriegs war hier Schicht im Schacht gewesen. Umso interessanter die Gegenwart, dachte sich der Schiffsjunge: Ungefähr auf Höhe der Mitte des Panoramas, leicht backbordseitig der Spundwand als Zufahrt zur Rummelsburger Bucht vorgelagert, auf der Steuerbordseite des Kratzbruchs, einem winzigen Ödland von irgendeinem gewaltigen Sturm der Landspitze der Halbinsel Stralau abgerissen, das die Abgabelung zwischen dem Hauptlauf der Spree und dem alten versandeten Seitenarm, der heute die Rummelsburger Bucht ist, markierte, lag die Liebesinsel, ein üppig mit Vegetation ausgestattetes Eiland. Genau dort landeten die Kanus an und wurden flugs über die Uferböschung gezogen, verschwanden im unsichtbaren Bereich der über und über von Vegetation beflorten Insel. Zwischenzeitlich war Kapitän Zeetz seiner Aufsichtspflicht folgend doch einmal unter Deck gegangen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Die meisten Personen hatten eine seltsame Abart der hinlänglich bekannten Seekrankheit befallen, das heißt, sie waren nicht die ganze Reise über damit beschäftigt, in ein Außen, das heißt über Bord, die Fische zu füttern mit dem überaus köstlichen Omelette vom Friedrichshagener Markt, sondern es schien ein jeder für sich ganz massiv, still und leise mit so einer Art Innenschau beschäftigt zu sein, viele wirkten als kaum ansprechbar. Was so ein bisschen hoher Seegang in so einer sturmdurchpeitschten Nacht nicht alles bewegen kann? Kapitän Zeetz schien es, als würde das gerade den hohen Beamten einmal ganz recht tun, so eine stille und leise Innenschau, welche ihm auch gar nicht so fremd schien, denn auch er hatte nach und nach während der Reise immer wieder die Gelegenheit ergriffen und sich mit interesselosem Wohlgefallen der Kontemplation hingegeben angesichts dieser herrlichen mondbeschienenen Sturmnacht auf dem Weg in das Herz einer so schönen großen pulsierenden Stadt wie Berlin.

Vom hohen Ausguck hatte der Schiffsjunge einen wirklich imposanten Panoramablick über die ganze Szenerie zu seinen Füßen. Allmählich zeichnete es sich endgültig ab, wohin die Kapuzenmenschen in den hölzernen Nachen strebten, wirklich auf die Liebesinsel. Ismael hatte nicht halluziniert, obschon ihm schien, dass es gegenwärtig eine gewisse Tendenz im Sinne seiner Wahrnehmungsfähigkeit zugunsten einer Abwandlung oder Veränderung der Sinneseindrücke gab. Er zumindest ging mit diesen sich verändernden Sinneskanälen und der darauffolgenden Unsicherheit recht souverän um. Oben am Storchennest war eine Signallampe angebracht. Innerhalb einer Minute schickte der Junge aus der Kombüse wohlgeübt im Morsealphabet die Nachricht an den Steuermann, der schläfrig und noch immer mit der metabolischen Verarbeitung des Omelettes beschäftigt über sein Schiffsruder gelehnt lag; allein, er erhielt auch noch den Hinweis, sich wegen weiterer Instruktionen an den Käpt'n zu wenden, aus den Augenwinkeln bekam dies der geschulte Seemann gerade noch mit. Ein vorbeischwankender Maat war schnell beauftragt, Ully Zeetz zurück an Deck zu holen. Kaum wieder oberhalb der Wasserlinie, ließ dieser den Kurs neu anpassen. Nahziel war jetzt die Backbordseite der Liebesinsel, die mit gerefften Segeln und dem Schleppanker ausgeworfen ans Tau geklinkt zur deutlichen Verlangsamung des Schiffs im Gegen-Uhrzeigersinn zu umrunden sei. "Wir wollen doch dort einmal nach dem Rechten sehen", sagte Ully Zeetz mehr zu sich selbst, denn ein so starker Sportbootsverkehr bei diesem Sturm und um diese Zeit ließen einen alten erfahrenen und listenreichen Seebären über alle Maße neugierig und erstaunt zurück.

 

Kapitel 4: Nächtliches Treiben am Strand

Von seinem Ausguck bemerkte Ismael, dass überall auf der Insel Fackeln entzündet wurden und sich die Kapuzentragenden in langen Kolonnen auf einen bestimmten Punkt der Insel zubewegten, der durch eine größere Ausbuchtung sogar auf Google Maps spezifizierbar ist. Die Einheimischen sprechen hierbei von der sogenannten Schwanenbucht der Liebesinsel (schließlich war die Tochter der Liebesgöttin, Leda, eine ganze Weile mit einem ganz besonderen Schwan liiert und der Rest ist Mythos, da gehen wir jetzt gar nicht weiter darauf ein). Hoch betagte Ortsansässige erinnern sich sogar noch an ein Restaurant, ein Wirtshaus auf der Liebesinsel, das einst per 6-Personen-Fähre mit dem Festland in regelmäßigem Verkehr stand. Noch können Photographien aus den 1920er Jahren dies bezeugen (ich habe selbst zu Hause einen Abzug davon); bei der ganzen Angelegenheit handelt es sich ja wahrlich nicht um frisch gesponnenes Seemannsgarn, wie Sie sicher auch bemerkt haben. Aber was sage ich, schweife schon wieder ab (Räuspern): Mittlerweile erstrahlte die Insel der bekannten Göttin im milden Glanz der Fackeln, die von Hand zu Hand gegeben, weiter entzündet wurden. Mit deutlich trägerer Fahrt (dank des Schleppankers) hielt jetzt die "Gote Wind" direkt auf die Schwanenbucht zu. Mit einem Male entflammten an den Insel-Stellen, welche die Himmelsrichtungen markieren könnten, vier große Lagerfeuer, vom Schiff aus sehr gut zu sehen, denn es wirkte aus der Totalen der Menschen auf der "Gote Wind" fast so, als ob da auf dem Eiland plötzlich vier große Scheinwerfer angeschaltet worden wären, um endlich mit irgendwelchen lange schon anstehenden, gut vorbereiteten Dreharbeiten mitten in der Nacht beginnen zu können. Aber ... – was ist das? Seit wann können sich solch' große Lagerfeuer in Bewegung setzen (da geht es ja zu wie in Shakespeares "Macbeth", wo gleich ein ganzer Wald herbeiwandert)? Sei es, wie es sei, jedenfalls bewegten sich die Feuer jetzt. Und dann geschah das, womit Kapitän Zeetz insgeheim die ganze Zeit schon gerechnet hatte: Er wusste nur nicht recht, wieso, weshalb, warum und wann. Ein tiefer, kehliger Ton schwoll an wie ein Stausee, der sich allmählich bis zum äußersten Rand füllt, teilte sich auf in drei Stimmlagen, dann wurden viere, fünfe daraus und nach und nach gesellten sich noch mehr dazu. Es klang fast, als würde sich ein vielhundert-köpfiger Chor einstimmen auf ein großes Konzert. Gemächlich trieb es die "Gote Wind" jetzt dicht an die Liebesinsel heran, die Einzelheiten des Geschehens rückten so sukzessive wie bei einer langsamen Zufahrt mit der Filmkamera immer näher, entwickelten Konturen und klare Formen. Die großen, langsam wandernden Scheiterhaufen sind auf fahrtüchtigen Gestellen aufgetürmt und diese werden von je zwölf Fackeltragenden mühsam gezogen. Soviel war mit bloßem Auge vom Storchennest aus deutlich zu sehen. Überall auf dem Eiland strebten lange Kolonnen aus fackelbewehrten, prometheisch wirkenden Gestalten bedächtigen Schritts auf die besagte, einzige Bucht der Insel zu – dabei schwoll der Gesang immer weiter an. Ully Zeetz wusste instinktiv, wenn er jetzt nicht handelte, beschwörte er eine gewaltige Katastrophe für Leib und Leben der ganzen Schiffsbesatzung herauf. Wie vom Blitz gesandt stand ihm ein uraltes, schmerzhaft eingebranntes und regelrecht in das Gedächtnis zurückkatapultiertes Bild vor Augen. "Genau denselben Spuk habe ich an anderer Stelle schon einmal erlebt." Zeetz reagierte geistesgegenwärtig, trommelte in einem Affenzahn seine Leute zusammen, sprich: nautische Crew, und ordnete an, dass sämtliches verfügbares Kerzenwachs an Bord sofort zusammengetragen werde und dazu müssen von den Waschgelegenheiten an Bord alle verfügbaren Wattebäusche und -reste, und daraus solle anschließend sofort Oropax gebaut werden, damit die Ohren aller an Bord befindlicher Personen versiegelt werden können, damit diese das, was zwangsläufig kommen wird, nicht zu hören bekommen mögen, und er selber solle, jetzt subito!, mit den abgefierten Schoten des Focksegels, welches bei dem starken Rückenwind gar nicht gesetzt zu werden brauchte, an den Hauptmast der Kogge gebunden werden, und Pronto! umso fester, desto besser. Leider vergaßen die Seeleute in der gebotenen Eile ausgerechnet die überaus wichtige Person, welche weit oberhalb des Decks ihren Dienst verrichtete: den Schiffsjungen Ismael, der nun gewissermaßen den Feldherrnblick auf das weitere Geschehen in einsamer Zurückgezogenheit genießen durfte. Gerade rechtzeitig waren die Befehle des Kapitäns umgesetzt, da brach auf der Insel das Spektakel los. Wie bei einer Theaterbühne wurde die wandartig wirkende Vegetation einfach beiseite gezogen an der Stelle, an der der schmale Strand der Schwanenbucht sich ins Insel-Innere verjüngte – ganz wie wenn ein Theatervorhang vor der Guckkastenbühne weggekurbelt wird oder in einem großen Kintopp-Saal der 1920er Jahre dies dann schon elektrisch erfolgte, als zum Kinematographen noch 1.000 Menschen oder mehr gingen und Platz fanden in den feudalen Sälen. Hier nun war eine große sandige Fläche, auf die der Blick sich nun öffnen konnte, freigemacht. Alle Kapuzen tragenden Kanufahrer, es mögen mittlerweile auch gegen 1.000 sein, hatten sich an und um die Bucht herum versammelt. Der auf- und abschwellende Laut, koloratorisch mit Ober- und Untertönen polyphoner Art gemischt, verklang -- und Stille herrschte ringsherum. Kein menschlicher Laut zu vernehmen, nur das Rauschen der nahen Wälder, Brausen der Sturmwinde, das Plätschern und strudelnde Glucksen der aufgepeitschten Wellen und das mächtige Flackern, Knistern und Zischen der vier Scheiterhaufen am Strand. Die "Gote Wind" glitt wie in Zeitlupe etwa 20 Meter entfernt auf gleicher Höhe mit der Liebesinsel . Als hätten sie darauf nur gewartet, streiften alle auf der Insel Versammelten gleichzeitig ihre abenteuerliche Vermummung ab und blickten stumm und starr auf das unverhoffte Publikum, das sich auf der "Gote Wind" im mehr oder weniger derangierten Zustand befand. Oftmals schulterlange Haare quollen unter den Kapuzen hervor, andere trugen selbiges eher kurzgeschnitten – nur eines war jetzt klar: Es sind ausschließlich unglaublich viele Frauen, die ihre Stimmen nach einer effektvollen Pause nun erhoben und zu einem mächtig tönenden Choral-Gesang anschwellen ließen. Ully Zeetz ging es wie einst. Er wunderte sich nur, dass aus den ursprünglichen zwei Konzertantinnen über die unzähligen Generationen seit dem siebenten Jahrhundert vor der großen Zeitenwende derer so viele hatten werden können. Er war von der gewaltigen, lockenden Kraft des Gesangs gleich wieder wie verzaubert und fuhr seine Leute an, sie sollten jetzt SOFORT direkt die Insel ansteuern, damit er die nun folgende Zeremonie endlich einmal aus nächster Nähe erleben könne. Selbstredend reagierte die eh stark absente Crew achselzuckend, denn nicht von ungefähr wurden ihnen ja gerade noch rechtzeitig die Ohren mit Wachswatteballen verschlossen. Ohne dass sie viel mehr als ein fernes Grollen und Gellen vernehmen konnten, brandete der Chor aus weiblichen Stimmen nun mächtig auf, vermischte sich mit dem mächtiger werdenden Tosen des Sturmwindes. Dem Schiffsjungen Ismael hoch droben in seinem Ausguck schwante es, dass sich hier nun wirklich der Vollzug eines archaischen Rituals anbahnte, wie er es sich selbst nicht in seinen kühnsten Träumen und Phantasien von matriarchalischem Kultus hatte je ausmalen können. Vom Ausguck nun am besten zu sehen, aus der Mitte des sichtbaren Kreises strebte mächtig und sehr schnell am Stiele etwas pflanzenhaft empor, was aus der Ferne wie ein Stein aussah. Der Stamm wirkte gedrungen, nicht sehr hoch und nicht sehr schlank und hatte an seinem oberen Ende eine Art helmförmige Haube, die sich auch farblich und in der Struktur vom stämmigen Säulen-Stiel deutlich absetzte. Für einen zufällig anwesenden Pilzkundigen, der auch noch mit der örtlichen Topographie vertraut wäre (einer von den Beamten mittlerer Laufbahn an den Bullaugen unter Deck), mutete das Gebilde an wie eine wilde Kreuzung aus einem gigantischen Abbild eines Phállus impudicus, zu Deutsch: die Gemeine Hexenmorchel, und einem formschönen Modell des Wasserturms am Ostkreuz, hier vor Ort als Wahrzeichen und städtische Landmarke hochverehrt. Auf diese höher und höher emporwachsende Chimäre geformt aus Fruchtkörper und Steinartigem wanderten nun die aus allen Himmelsrichtungen heranrückenden mobilen Scheiterhaufen langsam zu. Ully Zeetz bettelte mittlerweile an seinen Mast gefesselt verzweifelt darum, man möge das Schiff noch näher an die Bucht heranmanövrieren, damit er das mythenumrankte Geschehen endlich einmal aus nächster Nähe verfolgen könnte.

Unbemerkt von der nautischen Besatzung hatte sich mittlerweile der Schiffsjunge vom Ausguck herabbegeben und achterwärts der "Gote Wind" den kleinen Außenbordmotor angeworfen, dessen sonores Surren und Blubbern von der fulminanten Geräuschkulisse regelrecht verschluckt wurde. Der Schiffsjunge steuerte nun die Kogge tatsächlich noch näher an die Bucht heran; der Crew selbst war das egal, alle starrten wie gebannt auf das Geschehen an Land. Die vier mobilen Scheiterhaufen erreichten langsam, erbarmungslos langsam den emporgeschossenen Kultstein in der Mitte der kreisrunden Fläche, die wie eine Bühne anmutete, ja wie der Mittelpunkt eines Amphitheaters der klassischen Antike. Die Scheiterhaufen fielen krachend über dem mächtigen Pilzstein zusammen. Wird der gar nun als Götzenbild verehrt? Nun schwoll auch der Gesang der mindestens zwölfstimmigen Frauenchöre bis ins Crescendo furioso an. Die Hitze infolge der ineinander über dem Kultstein verkeilten Scheiterhaufen trieb den schwarz gewandeten Frauen den Schweiß in die Stirn, während sie in beginnender Ekstase sich windend die Skulptur, oder besser Installation, zuckend umtanzten. Die "Gote Wind" schmiegte sich so an den Strand, dass sie gerade noch manövrierfähig blieb. Ully Zeetz war überglücklich und frohlockte, dass er nun doch noch Zeuge des Rituals werden würde. Er grinste wie ein unter Drogen stehender Karmelitermönch nach der finalen Lebensbeichte. Infolge der Hitze begann der im Feuer stehende Pilzstein von innen heraus zu glühen und in wechselndem Farbenspiel zu pulsieren. Das erinnerte Ismael, der von der abgewandten Heckseite aus das wilde Treiben beobachtete, an das Leuchten im Innern der Mehlspeise, die die Besatzung gemeinsam im Schein der Kerzen unter Deck im Bauch des Schiffes zu Beginn des Turns eingenommen hatte. Mit einem Paukenschlage krachte eine gewaltige Explosion mitten durch den Scheiterhaufen, als sei der Pilzstein in 1.000 Stücke zersprungen; die Nacht war nun von gleißender Helligkeit in ständig changierenden Farben erleuchtet; vor den Augen der Männer an Bord begann sich die ganze Szenerie zu fragmentieren, bis zunächst nach der taghell blendenden Helle nur noch vorüberfliegende, gewaltige Schatten wie Scherenschnitte das Dunkel durchmaßen, nur gelegentlich noch zuckten helle Blitze und Lichtspalten auf, darin sich tummelnd Schatten wie riesige Fledermäuse oder um den Faktor 13 vergrößerte Scherenschnitte von Krähenflügeln, und der Gesang der Frauen tönte jetzt kehlig-krächzend wie das vielhundertfach verstärkte Konzert eines Meeres von Rabenvögeln, die sich zu einem Rave in einem gewaltigen Baum – der Weltenesche gleich - auf einer kleinen Insel im Strom versammelt hatten. Und dann schwirrten Vögel, Fledermäuse und amorphes Gekröse mit einem Schlag hinaus und umflatterten die Insel in rasender Geschwindigkeit, ein ohrenbetäubendes Getöse, Geschrei und Gekrächze veranstaltend – bis sie sich auf die Besatzung der "Gote Wind" stürzten, alles in eine dichte Wolke aus wirren Flügelschlägen einhüllend. Das Gewimmel hob sich ab vor einem vollmondbeschienen Nachthimmel und schien so dicht, dass selbst die unter Deck an den Bullaugen klebenden Seekranken kaum mehr erspähen konnten als stroboskopisch vorbeizuckende Schwärze. Den fliegenden Wüsten-Derwischen gleich flatterte und schepperte, krächzte, quietschte, jaulte, holperte und polterte es über Deck. Die verschreckten, tief in ihre eigentümliche Seekrankheit verstrickten Beamten, die ja in der Eile kein Wachs mehr für die Ohren abbekommen hatten, verkrochen sich verängstigt in die hinteren Winkel des Schiffsbauchs. Sie ahnten, dass das, was sich da gerade an Deck ereignete, auch ihnen bald blühen könnte. So wurden sie stille Zeugen der gellenden Schreie der Besatzung, lauschten dem aufgeregten Geflatter, Gewimmel, Gekratze und Geraschel. Wiederholt war das laute Aufklatschen zu hören, wenn eine der Personen an Deck verzweifelt über Bord ging, um sich dem rasenden Gebaren der schwarz gefiederten Mischwesen zu entziehen, alles übertönt vom nun nicht mehr lieblichen, sondern dissonant krächzenden Geschrei der Sirenen, die nicht Halt machten, bis nicht auch der letzte Wurm an Deck ihren mehr als fragwürdigen Reizen gehuldigt hatte, wenn sich nicht rechtzeitig voller Verzweiflung über Bord gestürzt in den tobenden Fluss. Unter Deck umklammerten die Verängstigten bebend vor dem, was sie sich in ihren Fieberphantasien ausmalten über die Begegnung mit dem, was da an Schrecken weit außerhalb jeder Vorstellung des Alltagslebens an Deck stattfand, und das dennoch die langen Schwänze (sprich: Flugfedern) hinter sich herziehend direkt über ihren Köpfen einherstolzierte, die greifbaren Stuhl- und Tischbeine in der großen Kajüte des Restaurant-Segelschiffs. Oben an Deck war es wieder ganz stille geworden. Nur das Plätschern der Wellen, die sich an den Planken der "Gote Wind" brachen, das stetige Tosen des Windes, das unermüdliche Rauschen der Wälder und das strudelnde Glucksen der nahen Brandung am Inselstrand waren zu hören.

In ihren Angeln ächzend knarrte langsam aber unerbittlich die Kajütentüre auf: Hinunter fiel in vollem Mondeslicht der gigantische Schlagschatten einer Fledermaus und müsste sich eigentlich im rückwärtigen verspiegelten Teil der Kapitänskajüte gebrochen haben. Allein: Dort war nur der gleißende Vollmond zu sehen... . Was dann kam, könnte als brüllender Lärm, tobendes Chaos, helle Panik und der volle Galopp der apokalyptischen Reiter durch die verletzlichen Seelen bezeichnet werden – und alles versank im Trauma und vor gähnender Angst in sirrender Todesvorahnung — bis auch der letzte Beamte sich in die rettende Bewusstlosigkeit geflüchtet hatte. Kopf in Sandmännchens Schoß legen immer noch gute Alternative zur Wirklichkeit, sagte man sich für gewöhnlich selbst in höchsten Entscheider-Kreisen.

 

Kapitel 5: Lieber ein Ende voller Schrecken als ein Schrecken ohne Ende

So, und wie soll es jetzt weitergehen? Diese Frage sei mal erlaubt. Nachdem die Besatzung des Schiffs entweder unfreiwillig über Bord gegangen ist, gleich Opfer des Sirenen-Gemetzels wurde oder an den Mast gefesselt oder geistesgegenwärtig genug war, noch rechtzeitig über Bord zu gehen, sich dann an das Tau des Schleppankers zu hängen, um nur mit Stirn und Augenpaar über Wasser aus sicherer Distanz das weitere Geschehen auszuspähen, was bleibt da an lenkbarer Energie noch übrig, um ein Schiff wie die "Gote Wind" vollends zum Paul-und-Paula-Ufer zu segeln? Sollen etwa die Sirenen selber das Schiff weiter in die Rummelsburger Bucht hineinsteuern oder was?!? Und Skylla und Charybdis? Die gehören schließlich als nächste Stationen zur Odyssee auch dazu. Willst du etwa aus den zwei einander gegenüberliegenden Enden der Spundwandkonstruktion als Flussenge und Zufahrt zur Rummelsburger Bucht zwei antike und furchtbaren Schrecken verbreitende Meeresungeheuer klassischen Angst-Ausmaßes zaubern oder was!?! Geht's noch bei dir? Glaubst du, du hast sie wirklich noch alle beieinander oder gibst du jetzt ENDLICH auf mit diesen haarsträubenden Bemühungen, die Sache am Ende doch noch gut ausgehen zu lassen? Alter, das läuft nicht - ...Gut, ich weiß, ich weiß, es ist schon spät..., nun habe ich aber doch noch eine Idee, pass mal auf und hör zu beziehungsweise lies: Die Sirenen fliegen, nachdem sie sich an der gesamten Besatzung gelabt haben, zum Ostkreuzturm als Original jetzt in vergleichender Beziehung – auch blickachsenmäßig (Du verstehst? Blickachse, intellektuell immer wichtig) — zum Götzenbild am Strand en miniature. Dort halten sie jetzt ihren finalen Hexensabbath ab. Das ist in etwa so wie das volle herbstliche Gegenstück zur Walpurgisnacht im Frühling auf dem Harzer Brocken. Ismael und Käpt'n Ully überleben als einzige den Angriff. Aus irgendeinem Grund wurde Zeetz verschont, vielleicht gerade weil er dem Sirenen-Konzert zugehört, sich begeistert gezeigt und sich damit der Macht, dem rauschvergessenen Verlangen der Chimären hingegeben hatte. Ismael hingegen wurde im Wasser nicht entdeckt oder übersehen, denn vielleicht hatte er ja als dreizehnjähriger Schiffsjunge auch noch nicht ganz das Mannesalter erreicht, und das mag dann besondere Gründe der Schonung nach sich ziehen. Sobald beide wieder halbwegs auf dem Mast beziehungsweise vom Mast los sind, jagen sie den Sirenen hinterher, können natürlich aber den Hexensabbath dort an Land nicht aufhalten, das heißt dem Ostkreuz-Turm geht es so wie der Skulptur: Die Sirenen bringen auch ihn mittels ihres betörenden und schaurig-schönen Gesangs zuerst zum Glühen und Pulsieren, dann farbmäßig prächtig Changieren, konventionelles Feuerwerks-Gedöns ein feuchter Dreck dagegen, und die Sirenen treiben da also weiter gründlich ihren mitternächtlichen Schabernack. Kann der alte Wasserturm das Ganze aushalten oder kommt es da am Ende zur großen katalytischen Katastrophe für Friedrichshains altehrwürdiges Wahrzeichen? Kapitän Zeetz wird gemeinsam mit Schiffsjunge Ismael im Dunst des Morgengrauens völlig verstört, mit zerfetzter Kleidung, über und über verkratzt und blutüberströmt auf der am Paul-und-Paula-Ufer gestrandeten "Gote Wind" gefunden. Mit Beginn der ersten Morgenröte war wieder Stille eingekehrt, als der Fundort begangen wurde: Nur das Plätschern der Wellen, die sich an den Planken der "Gote Wind" brachen, das nachlassende Tosen des Windes, das Rauschen der Bäume am Ufer und das strudelnde Glucksen der Brandung am Strand des Paul-und-Paula-Ufers waren zu hören gewesen. Also, was wollt ihr? Das Restaurant-Segelschiff hat wenigstens letztendlich sozusagen den Stresstest bestanden und das Ziel unter eigenen Segeln, nur unterstützt vom spärlichen Einsatz des Außenborders, in der geforderten Zeit erreicht. Das ist schon mal ein Pluspunkt. Einmal aufgefunden, wandern Ismael und sein Kapitän zunächst zur Untersuchung in die psychiatrische Sektion des Urban-Krankenhauses ("Ich mach dich Urban!" endlich mal verwendet in einer überraschenden Wendung...). Und sowohl im Polizei- wie auch im Meteorologischen Bericht von dieser Nacht taucht ein schreckliches Gewitter mit Hagel, Hochwasser, Sturm bis Orkanstärke, mit Kugel- und anderen seltenen Blitzarten der nach oben offenen Gewitter-Eskalations-Skala auf, das in der Stunde zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens über der östlichen Innenstadt getobt haben soll. Schwerpunkt, also Sturmauge offenbar die Gegend um den Bahnhof Ostkreuz in Friedrichshain. Begleitet wurde das Ereignis von zahlreichen entgleisten S-Bahnen, völlig verstörten Gästen im Nah-, Fern- und S-Bahn-Verkehr und auf dem Bahnhof selbst; am Wasserturm des Ostkreuzes wurden erstaunlicherweise erhebliche Hitzeschäden festgestellt, als hätte der Turm in der Nacht tatsächlich gebrannt, zudem sind unzählige neue Risse im Mauerwerk zu den schon vorhandenen dazugekommen, so dass der Turm nunmehr vom statischen Bauamt als erheblich einsturzgefährdet bewertet wird, so oft wurde er von einer Unzahl an Blitzeinschlägen in dieser Nacht zu vorgerückter Stunde getroffen – und einige ältere S-Bahn-Gäste, die völlig verwirrt, verzeifelt und offenbar auch traumatisiert zunächst ebenfalls in der Psychiatrie landeten, berichteten davon, dass sie in dieser Nacht den verheerenden Luftangriff vom 27. Januar 1944 auf Berlin noch einmal wiedererlebt hätten, mit Bombenteppich und ganz schwarz angestrichenen alliierten Jagdbombern, die durch die umliegenden Straßen und über den Bahnhof gewischt seien, um Jagd auf die Passanten zu machen. Und unerklärlich blieb, dass überall auf dem betroffenen Gelände Blut gefunden wurde, an den Kleidern, unter den Fingernägeln und auf den Gesichtern der Passanten und Fahrgäste, am Turm selbst und überall in großen Lachen auf den Bahnsteigen. Das Merkwürdige nur, als die Proben aus den Labors retour gekommen waren, stellte sich heraus, dass es sich meistenteils seltener um Menschen- als vielmehr um Vogelblut handelte. Das aber verschwieg der Polizeibericht geflissentlich.

Sonja Meggers
Spielzeug-Feuerwehr

Legenden vom Ostkreuz

Eine Anthologie

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Ostkreuz
15 Jahre im Literaturwettbewerb

 

Es begann alles in einem kleinen und verlassenen Gemüseladen, in dem schon 1903 Brot und Schrippen gebacken und gleich nach dem Ende des schrecklichen 2. Weltkrieges Wäsche und Gardienen gebügelt und aufgehübscht wurden.

Mit der Wende 1990 verlor der Stadtteil zwischen Spree und Bahngleisen und Warschauer Straße und Ostkreuz etwa 9000 der benachbarten Arbeitsplätze. Viele der Anwohner waren persönlich davon betroffen. Der Kiez rund um den Rudolfplatz sollte und wollte natürlich weiterleben.

Das war auch Anliegen des Berlin- Brandenburger Bildungswerkes. Ein Projekt für die Gegenwart und Zukunft  -  "RuDi der Stralauer Kiezladen" wurde geboren. Lebenshilfe für den Alltag, für Ältere und Junge, für Kiezbewohner mit und ohne Arbeit, für Kinder und Jugendliche aus den benachbarten Schulen, für Bewohner jenseits der S-Bahngleise und für Flüchtlinge vor dem Krieg auf dem Balkan, das war das tägliche Brot, das nun im Kiezladen gebacken wurde.

Wegzug von Gewerbe und weitere Entvölkerung von Ladengeschäften, jahrelanger Straßenbau und böse Sprüche wie "Ostkreuz – Rostkreuz" waren Herausforderung, sich gegen diese Entwicklung zu stemmen. Ein Aufruf zum Fotowettbewerb und der Suche nach historischen Fotos aus Familienalben brachte erstaunliche Ergebnisse und über 20 sehenswert gestaltete Schaufenster. Auch die Politik merkte endlich auf und die vier Wohngebiete um das Ostkreuz in Lichtenberg und Friedrichshain wurden Fördergebiete für Euromillionen aus Brüssel. Urban II hieß nun das Zauberwort.

Ein winziger I-Punkt in dieser Phase, so dachten wir, könnte ein literarischer Schreibwettbewerb werden, vom RuDi initiiert und betreut.

Gemeinsam mit Manfred Bofinger, dem bekannten Karikaturisten, Buchillustrator und Autor, der gerade bei uns Plakate ausstellte, wurde aus der  Idee ein praktikables Konzept. Bofi übernahm, fast selbstverständlich, den Vorsitz der Jury und beglückte uns nach einer "Sonderschicht" für den RuDi mit dem genialen Logo, das auch den aktuellen Umschlag ziert. Er hatte uns offensichtlich in sein großes Herz geschlossen - den kleinen Laden mit den vielseitigen Angeboten und seine Besatzung. Denn gleich um die Ecke hinter der Elsenbrücke am anderen Spreeufer, in der Treptower Plesserstraße, tickte sein Kiez mit ähnlichen Nöten und Sorgen, aber ohne einen RuDi!

"Ostkreuz - zweimal täglich" war 2001 geboren und die Resonanz zum ersten Schreibwettbewerb war für uns so überwältigend, dass aus den Beiträgen unbedingt eine Broschüre für alle Teilnehmer entstehen musste. Bofi zeichnete die Preisträger aus und gab gleichzeitig den Startschuss für Jahrgang zwei. "Ostkreuz 2020" war das hoffnungsvolle Thema.

Auf diese Idee brachte uns Ilse Treue, Drittplatzierte des ersten Jahrgangs, mit ihrem Text "Blicke aus einem Haus, das es nicht mehr gibt". Sie spannte den Zeitzeugenbogen von 1949 bis in die Gegenwart und endete: "Sein Umbau (Bahnhof Ostkreuz) sowie eine freundliche Gestaltung des Wohngebietes würden wir gerne noch erleben." Diesen Wunsch hegt sie mit über 93 Jahren bis heute und ist mit fast ununterbrochener Teilnahme die älteste und treueste Verbündete des RuDi und das gilt nicht nur für diesen Wettbewerb.

Bofi hat die Texte mit Blick in die Zukunft nicht mehr lesen können. Er starb nach langem Ringen mit dem Tod 2006. Seine Lebensfreude, die Begeisterung vor allem für Kinder als Zeichen seiner Kunst wollten und werden wir im RuDi bewahren. Ein Besuch an seinem Grab auf dem Friedhof in Stralau mit der Marmorfigur eines lesenden Kindes ist nicht nur für mich immer wieder Gelegenheit, mich an einen herzensguten und stets hilfsbereiten Menschen zu erinnern.

Stellvertretend führte Helios Mendiburu, ehemaliger Bürgermeister von Friedrichshain, die Arbeit der Jury weiter und bereicherte mit seinen Vorstellungen den Schreibwettbewerb um das Ostkreuz für die nächsten Jahre.

Mit dem nun vorliegenden dreizehnten Band kann sicher von einer Tradition gesprochen werden, die bei Beginn des Vorhabens nicht in unseren kühnsten Träumen zu erwarten war. Es ist immer wieder erstaunlich, wie vielfältig das Leben rund um das Ostkreuz  literarisch beschrieben werden kann.

Gern habe ich der Bitte entsprochen, für diese abschließende Anthologie einen Rückblick zu unternehmen. Mit besonderer Freude las ich noch einmal die Vorworte, fast alle von meinem ehemaligen Kollegen Rainer Fischer, der nach meinem Ausscheiden die Organisation des Schreibwettbewerbes hauptverantwortlich und verdienstvoll weiterführte und ein Garant für den niveauvollen literarischen Anspruch war.

Viele Beiträge aus den Vorjahren erinnerten mich an turbulente Zeiten des politischen Alltags, die Beeinträchtigungen für die Anwohner durch den immer noch andauernden Umbau des Verkehrsknotens Ostkreuz und den Neubau der Modersohnbrücke, das Für und Wider der Verlängerung der A 100, die Neugestaltung des Lebens im Osthafen und  die Sanierung vieler Häuser und Wohnungen verbunden mit dem Zuzug neuer Kiezbewohner.

Und der Schreibwettbewerb hatte noch eine wertvolle Begleiterscheinung: Es bildete sich ein neuer Zirkel für Freunde der Literatur, in dem sich Interessierte trafen und sich gegenseitig und der Öffentlichkeit ihre neuen Texte vorstellten.

Für die lange Reihe der erschienenen Anthologien gilt allen Teilnehmern am Wettbewerb ein besonderer Dank, ohne ihre Texte keine Publikationen. Dank zu sagen ist den Sponsoren aus dem Umfeld des RuDi und der Jury, ohne die solch ein zu großen Teilen ehrenamtliches Projekt nicht lebensfähig bleiben konnte.

Ich wünsche dem jetzigen RuDi Kultur- und Nachbarschaftszentrum viel neue Ideen für eine noch lange und erfolgreiche Existenz und allzeit ein volles Haus mit zufriedenen Nachbarn und Besuchern.

Eberhard Tauchert
Leiter des RuDi von 1996 bis 2006


 

Peter Mannsdorff
Die Legende vom Federlesen

 

Wollen Sie wirklich wissen, was mit Katharina P. in diesem Jahr geschah? An der Nahtstelle vom Winter zum Frühling? Ich könnte Ihnen so viele Einzelheiten über die dunkelhaarige Frau mit den traurigen Augen sagen. Aber nur eine Episode aus ihrem Leben möchte ich preisgeben. Sie handelt von der kolossalen Veränderung, die Katharina erfahren hatte, einer Art magischer Metamorphose.

Sie hatte im letzten Winter Zeiten der seelischen Einsamkeit durchlebt, sie litt unter der Unfähigkeit, aktiv ihren Alltag zu gestalten, erstickte in Lethargie und Passivität. Fantasielosigkeit bestimmte ihr Leben. Sie vergrub sich unter der Bettdecke, verließ ihre Einraumwohnung nur, um das Nötigste zu kaufen: Brot, Margarine und Käse.

Sie war müde, lebensmüde.

Sie hatte keine Kraft mehr, wollte nicht mehr.

Eines Tages aber explodierte es in ihr. Sie hielt es nicht mehr aus. Das konnte doch nicht alles gewesen sein. Dieses bisschen Leben auf der Durststrecke? Katharina wollte unter Leute gehen. Ihre Luft zum Atmen war knapp geworden, sie röchelte nach Freiheit. Sie wollte raus aus dem Angstkäfig ihrer Wohnung. Frische Luft wie Landmilch schmecken, wie Honig kosten, wollte sie.

Es zog sie in die Gegend am Ostkreuz. Oder zum Westkreuz? Eigentlich war es ihr egal. Irgendetwas mit Kreuz müsste es sein. Ein Kreuzweg. Ein Scheideweg.

Sie entschied sich für das Ostkreuz.

Am Ostkreuz hielt sie sich immer gerne auf. Die Schienen trafen sich dort wirklich zum Kreuz; S-Bahnen fuhren in den Bahnhof ein wie Tausendfüßler auf Rollschuhen.

Dort wollte sie jetzt hin.

Sie irrte durch die Straßen, bog wahllos nach links und rechts in Nebenstraßen ein. Bald hatte sie die Orientierung verloren. Sie musste längst in Friedrichshain sein, als sie eine lange Brücke überquerte, die von großen Lampen angestrahlt wurde. Im Scheinwerferlicht hatten Spinnen ihre Netze am Geländer gespannt, schwarze Räuber lauerten auf Beute. Das Wasser der Spree zwirbelte um die Brückenpfeiler. Nächtliches Leben begann. An einem Brunnen saßen junge Leute, spielten Gitarre, sangen. Aber sie saßen in Gruppen. Katharina fand nicht den Mut, sich dazu zusetzen. Allmählich wurde es dunkel. Sie wusste nicht, wo sie war, wohin sie sollte. Wie eine Fremde in der eigenen Stadt irrte sie durch Häuserschluchten. Eine Stadtnomadin, die eine Oase suchte. Verbannt in die eigene Stadt, lebte sie wie im inneren Exil.

Sie verschwand in einem Café, suchte Nähe zu anderen Gästen, wollte mit jemandem reden, einfach nur reden, über Belangloses, Alltägliches. Die meisten Gäste saßen zu zweit an Tischen, sie wagte nicht, sich dazu zusetzen. Jene, die allein saßen, beschäftigten sich mit ihrem Smartphone oder waren über dem Tablet vertieft. Katharina setzte sich an einen freien Tisch. Sie verlangte das Billigste, ein stilles Mineralwasser. Sehnsüchtig blickte sie sich im Café um. Trotz des Wassers, ihr Durst wurde nicht gestillt.

Sie rief den Kellner und zahlte mit einem Fünfeuroschein. Er gab ihr auf fünfzig Euro heraus. Jetzt gehen!? Sie hatte kaum Geld. Das hier war wie ein Lottogewinn. Aber sie wollte ehrlich sein und rief den Kellner zurück. Seine Augen leuchteten auf. "So viel Ehrlichkeit habe ich selten erlebt. Sie haben einen Wunsch frei. Wollen Sie ein Freigetränk?"

Katharina zögerte. "Ich weiß nicht", sagte sie dann. "Gibt es hier in der Gegend nicht etwas mit ... wie soll ich sagen? ... mit mehr zwischenmenschlicher Wärme? Wenn Sie da etwas wüssten, wäre ich Ihnen sehr dankbar."

Der Kellner überlegte einen Moment. "Ich glaube, ich weiß, was du suchst." Er war inzwischen zum Du übergegangen. "Pass auf, ich führe dich hin. Ich nehme mir zehn Minuten frei."

Die beiden machten sich auf den Weg. In die Samariterstraße bogen sie ein. "Geh immer weiter geradeaus, auf der linken Seite findest du eine Buchhandlung. Da bist du richtig."

Katharina folgte der Straße und ging einen leichten Hang hinauf, bis sie an ein beleuchtetes Geschäft kam. An einer Schaufensterscheibe war in großen Druckbuchstaben geschrieben: Litlist – Antiquariat.

Vor der Buchhandlung standen Kisten, voll mit alten Büchern. Das Geschäft hatte noch geöffnet. Hinter dem Schaufenster bewegten sich Schatten von Menschen. Katharina öffnete die Tür und trat ein. Junge Leute saßen in durchhängenden Sesseln, auf alten Sofas, in Schaukelstühlen. Jeder hatte ein Glas Bier oder Wein vor sich, manche einen O-Saft oder einen Milchkaffee. Einige blätterten in Büchern, andere unterhielten sich. Alle Wände waren vollgestellt mit Bücherregalen. Die Borde waren meterhoch, die oberen Fächer nur mit einer Leiter zu erreichen. An Stellen, wo keine Regale standen, waren die Wände bemalt. Kerzen tauchten den Raum in eine anheimelnde Atmosphäre. Gesichter flackerten im Spiel von hell und dunkel; Schatten zitterten durch den Raum und verwandelten ihn in eine Höhle.

Ein junger Mann in schwarzem Rollkragenpullover, den Bart mit einem Schießgummi zu einem langen Zopf gebunden, auf dem Kopf eine dunkelblaue Schiebermütze, schenkte an der Theke Getränke aus und bereitete Käsetoasts zu. Katharina fiel ihm sofort auf. "Einen wunderschönen guten Abend", begrüßte er sie. "Ich bin der Buchhändler, ich heiße Thomas, und du? Willst du etwas trinken, bevor es losgeht?"

"Ich habe nicht viel Geld", sagte Katharina leise.

"Gib, was du entbehren kannst. Wir freuen uns über jede Spende."

Katharina warf einen Euro in ein rosa Sparschwein und bekam dafür ein Glas Wein. Sie wollte wissen, was wann bald losgeht.

"Das Federlesen", sagte Thomas. "Wir treffen uns einmal in der Woche hier im Litlist und lesen uns unsere eigenen Texte vor. Später reden wir darüber. Das ist immer eine sehr spannende Sache. Wir lesen Geschichten, die passiert sind und verweben sie mit Dingen, die nur im Kopf des Autors passiert sind."

"Und warum heißt das Buchgeschäft Litlist?"

"Litlist, das ist der Traum von einem schreibenden Fleckchen Erde. Ein Dorf, in dem alle, Kinder und Erwachsene, Geschichten schreiben. Weißt du, zum Schreiben braucht man nicht viel. Einen LIT - er Lust, viel LIST gegen die Einfallslosigkeit und eine Flasche FANTA – sie."

Das Federlesen begann. Katharina setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Obwohl die Atmosphäre ihr hier so gut gefiel, fühlte sie sich noch immer matt, wie fremdbestimmt. Als wäre nicht sie für ihr Handeln und Denken verantwortlich, sondern irgendjemand anders. Wie eine Marionettenpuppe kam sie sich vor. Sie konnte nicht wie auf Knopfdruck eine andere sein. Trotzdem wollte sie sich konzentrieren und lauschte gebannt der Geschichte des jungen Autors in schwarzen Jeans, die an den Knien zerrissen  waren. Beim Zuhören liefen Bilder vor ihren Augen ab, und ihr war, als guckte sie in ihren Spiegel.

Der Mann las von einer Frau, die unter bösen Depressionen litt und nach ihrem Leben trachtete. Sie wollte sich umbringen. Eines Tages hatte sie einen Traum. Sie wusste nicht, ob es ein schlechter Traum oder ein guter gewesen war. Sie hatte geträumt, dass sie eine Romanfigur war, eine Figur einer ausgedachten Geschichte. Ihr Blut war nicht fließendes Rot, sondern abgestandene Druckerschwärze. Ihr Körper bestand nicht aus Fleisch, sondern aus einer losen Ansammlung von Buchstaben.

Sie war geboren als Idee im Kopf eines Schriftstellers. Der Schriftsteller, der sie aus seinen Rippen geschnitzt hatte, muss düstere Gedanken gehabt haben, als er ihre Geschichte aufschrieb. Blutleer, ohne Lebenslust hatte er sie beschrieben.

Nur wer bitte sehr war ihr Autor?

Sicher war es kein anderer als der Schöpfer. Am Anfang war das Wort ... Sie könnte ihn Gott nennen oder ihn als ein Gesetz bezeichnen, das sich seine eigenen Regeln aufgestellt hat, dem sich jede Kreatur der Schöpfung zu fügen hat. Jetzt hätte dieser Gott ihre Geschichte zu Ende erzählt. Er rief sie. Das fühlte sie. Sie müsste ihr Leben beenden, um in sein Reich einzukehren.

Ihre Geschichte würde zwischen den Buchseiten enden, zwischen Schichten frischer Erde im Grab. Plötzlich stockte die Frau, vielleicht gäbe es auch eine andere Möglichkeit. Hatte sie nicht die Wahl, aus der Geschichte, die ihr Schöpfer für sie aufgeschrieben hat, auszusteigen und sich eine andere, eine bessere Geschichte zu schreiben? Dann wäre ihr Roman nicht zu Ende. Wenn sie morgen aufwachte, bekämen die papierhölzernen Seiten ihres bisher trostlosen Lebens vielleicht Bewegung, würden zu sprudelndem Leben, und sie wäre kein starres Abbild mehr, sondern ein Mensch, der laufen, tanzen, springen könnte wie ein Schauspieler in einem Film.

Katharina P. ging nach dieser Lesung im Litlist mit neuen Eindrücken nach Hause. Auf der Oberbaumbrücke blieb sie stehen. Unter ihr glitzerte die Spree im Mondschein. Die silbernen Wellen des Flusses wurden zum Funkenregen eines Feuerwerks. Wie eine Natter schlängelte sich der Fluss durch Berlin.

Nicht mehr hinabstürzen in die Tiefe wollte sie sich, Katharina P. schaute in den Mond. Ganz deutlich erkannte sie Krater und Meere. Es sah aus, als ob jemand in der gelben Scheibe schlummerte. Vielleicht wirklich der Mann im Mond. Oder Gott? Vielleicht war er wirklich ein Geschichtenerzähler und erzählte jedem Menschen seine Geschichte. Liebesgeschichten, Trauerspiele, Geschichten zum Lachen. Manche gingen gut aus, manche schlecht. Schicksal, sagen die Menschen, wenn sie glauben, Gott habe es so gewollt, dass ihnen nur traurige Dinge widerfahren. Vielleicht aber ist alles ganz anders. Müsste man nicht vielmehr dieses ewige Gejammer beenden und etwas zum Lachen daraus machen? Über sich und seine Wehwehchen lächeln.

Vor einem Geschäft blieb Katharina stehen und spiegelte sich im Schaufenster. Nie hatte sie gewusst, wer sie wirklich war. Jetzt erst erkannte sie sich. Sah in ihre Augen, bemerkte die Falten in ihrem Gesicht. War sie wirklich blind gewesen? Sind alle Menschen in der Stadt blind? Lesen sie denn nicht in jeder Falte, in jeder Narbe des Obdachlosen in der U-Bahn eine Geschichte aus seinem harten Leben? Sehen sie die Falten, die Narben denn gar nicht?

Sollte sie sich wirklich von ihrem winterlichen Tief erholen, würde sie wieder zu einer Frau voll sprudelnden Lebens werden, die in selbstbestimmter Freiheit ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen würde? Und ihr Herz, würde sie es zurück gewinnen? In der Phase der Niedergeschlagenheit hatte sie nicht vermocht zu sehen. Wer kein Herz hat, der ist blind ...

Existierte Katharina in ihrem bisherigen Leben auch gleich einer Romanfigur zwischen den Zeilen auf einer bedruckten Seite? Oder, wenn sie im anderen Bild bleiben wollte, müsste sie ihre Marionettenfäden abschneiden? Egal, wenn irgendeine unsichtbare Macht sie auf einen falschen Weg geschickt hatte, müsste sie diesen Weg verlassen wie man aus einer S-Bahn am letzten Bahnhof vor der Endstation aussteigt.

Allmählich, sehr langsam, fand Katharina wieder ihr seelisches Gleichgewicht und begab sich unter Menschen. Das Litlist fand sie nicht mehr vor, aber es hatte es wirklich einmal gegeben, es war ein zwitscherndes Vogelnest fröhlicher Literaten gewesen, in das sich bald ein finanzkräftiger Laden für Computerzubehör eingenistet hatte. Das Litlist war zu einer lebendigen Legende im Kiez geworden. Dorthin wäre Katharina gerne zurückgekehrt, und mangels dieses verschollenen Antiquariats fand sie mit viel Geduld im Internet das Rudi Nachbarschaftszentrum, eine Heimat für Einsame im Kiez der anderen Art ...


 

Gabriela Spangenberg
Letzter Sommer

 

Im Osten geboren, dem Kreuz so fern,
lag ich plötzlich vor einem Angestellten des Herrn.
Grund war die Treppe, so lang und steil,
unten gelegen, der Fuß nicht mehr heil.
Alles schien plötzlich so unwichtig und weit,
gebremst meine Lebensgeschwindigkeit.
Aufgezwungene Ruhe im kirchlichen Hospital,
dazu der kranke Vater, welch ein Tal.
Ein Seelsorger in der Klinik namens Tim,
sagte, dahinter steckt ein tieferer Sinn.
Nun gut, dachte ich, ich lass mich drauf ein
und lagerte hoch mein kaputtes Bein.
Lange Wochen, nur mein Vater und ich,
die Sonne sehr heiß und er sorgte für mich.
Er vergaß seine Krankheit und lebte auf,
ein schöner Sommer nahm seinen Lauf.
Endlich ging‘s aufwärts, wieder laufen allein,
wie schön konnte doch das Leben sein.
Ostkreuz hatte ich aus dem Kopf verbannt,
vorbei die Zeit, dass ich Treppen gerannt.
Als der Alltag mich wieder eingesogen,
schäumten die sonst so glatten Wogen
und nahmen mir den Vater, das Herz so schwach,
für immer entschwunden mein Beschützerdach.
Und plötzlich im Kopf, die Worte von Tim,
dies war also der tiefere Sinn?
Gegönnt ward mir ein Sommer, nur mein Vater und ich,
die Sonne sehr heiß und er sorgte für mich.

Ostkreuz du bist jetzt mein Lieblingsort,
wie gern bin ich in der Nähe dort.
Du hast mir so wertvolle Zeit gegeben,
mit einer Träne proste ich auf das Leben.


 

Herbert-Friedrich Witzel
Johanna vom Ostkreuz

 

Legenden handeln von Heiligen oder dienen als Erklärung zur Landkarte. Hier kommt beides.

Es geschah am 20. September 2015, dem 16. Sonntag nach Trinitatis, als ich die Heilige Johanna traf beim Blind Date nach dem Motto: "Wer Ohren hat zu hören, der höre."

Meine Lieblingskirchen wurden kreuzförmig zum Licht hin gebaut, mit der Längsachse von West nach Ost, gen Orient also, daher unser Wort Orientierung. Ich wollte mich orientieren, ohne gleich wieder in die Kirche einzutreten, und machte mich deshalb auf den Weg zum Ostkreuz. Jede Menge Volk wie du und ich bewegte sich dort auf der Sonntagstraße, um noch einmal die Ruhe zu genießen, bevor hier doppelgleisig eine Tram langbretterte: "Elegants, Bürger mit der Hausfrau und den lieben Kleinen in Sonntagskleidern, Geistliche, Jüdinnen, Referendare, Freudenmädchen, Professoren, Putzmacherinnen, Tänzer, Offiziere usw."

(E.T.A. Hoffmann.)

 

Die Heilige Johanna vom Ostkreuz 21 hat am Telefon behauptet, das sei in Europa mit der EU wie damals in Frankreich mit den Engländern und sie wolle eine Bresche durch den Schreibtisch schlagen. Ich solle nur am Sonntag in die Sonntagstraße kommen, dann würde ich sie schon sehen und hören bei diesem Lichtbildvortrag zum Thema: "Auferstehung". Und dann legte sie auf mit dem Ruf: "Auf, auf!"

Ich glaubte ihr natürlich nicht, weil ich heute niemandem mehr glaube, wenn es um den EU-Cäsarenwahn geht mit irgendwelchen Lichtbildern von der Nacht-und-Nebel-Lawine, die uns als TÜV-geprüfte Achterbahn verkauft wird. Ich ging auch nur hin, weil es in der Ankündigung hieß: "Eintritt frei", im Gegensatz zu ARD und ZDF. Beim Bezahlen sitze ich nämlich lieber in der dritten Reihe als in der ersten.

Und dann sah ich auch schon diesen Wartesaal, wo ZUKUNFT dran stand, trat durch die Tür und lauschte dem dortigen Talk-Show-Kommando: "Wir shoppen nicht, wir kaufen uns glücklich! Wenn der Sonntag als Ruhetag abgeschafft und zum Einkaufstag gemacht wird, warum sollen wir dann die Sonntagstraße in Ruhe lassen?"

So lautete im Wartesaal das Wort zum Sonntag,  liebe Leserinnen und Leser daheim hinter den Netzhäuten, Netzstrümpfen, Lesebrillen und Kontaktlinsen. Ein mitwirkender Leser hatte seine Brille vergessen, aber dafür seine Klampfe mitgebracht und einen Hut auf. Er rief kurzsichtig in die Runde: "Ist Rita da?"

"Mein Gott, Walterchen", antwortete eine tiefe Stimme, "du hier und nicht im Ballhaus?"
Hilfsbereit fragte ich das Mädchen neben mir, die Augen machte wie Susi Ratlos vom FKK-Chatroom: "Heißen Sie Rita?"

Susi schüttelte den Kopf. "Ich bin Johanna die Heilige vom Schlachthof aus dem Nachbarbezirk. Wir sind für heute verabredet, mein kleiner Guckindieluft." Und dann fragte sie zurück: "Seit wann Siezen wir uns eigentlich? Haben wir schon mal zusammen Schweine gehütet oder Perlen vor die Säue geworfen?"

Erschrocken schüttelte ich nun ebenfalls den Kopf und stellte fest, dass die Bräute von heute immer frecher werden. Am Telefon hatte Johanna noch ziemlich manierlich und ganz zahm geklungen.

"Ich bin Walter von der Vögelweide!", rief dieser Gitarrenmann mit Hut. "Ich bin Minnesänger und hab für Rita einen Minnesang gemacht."

"Rita kommt gleich", bemerkte der Bass. "Sie hat gesagt, du sollst schon mal anfangen."

Walter prüfte kurz nach, ob die Saiten seiner Gitarre stimmten: "1-2-3-4-5-6 — STIMMT! Alle Saiten sind da, die Gitarre ist vollständig." Dann fing er an:

Rita, deinen hellen Klang und dein dunkles Haar
Und deine grünen Augen find’ ich wunderbar.
Du hast ja die schönsten Beine von Berlin!
Magst du vielleicht zu mir zieh’n?

Ich bin gut zu Fuß auf den Straßen dieser Welt,
Denn ich hab keinen Fahrausweis, kein Auto und kein Geld.
Das, was ich dir bieten kann, ist ein 1.000-Sterne-Zelt,
Und ich hab ’nen kleinen Mann im Ohr,
Der zu dir hält.

Bitte, Rita, bitte sei mir gut!
Ich hab dich so lieb,
Lieber noch als meinen Hut.

Du tust grad so, als wär’ ich Luft
Komm, sei nicht so gemein!
Du hast doch so ein großes Herz,
Pass’ ich denn da nicht rein?

Ich lieb dich bis zum Himmel hoch,
Meine Haut mag deine Haut,
Du bist vom ganzen Friedrichshain
Die allerschärfste Braut.

Rita, bitte, schenk mir doch ein Date!
Ich kauf mir auch ’nen Wecker
Und komme nicht zu früh.

Das Lied machte uns alle sehr nachdenklich.

"Johanna", sagte ich dann, "hast du nicht mal in Frankreich eine steile Karriere gemacht bis rauf zum Scheiterhaufen?"

Sie nickte. "Damals hab ich für Frankreich gekämpft und heute trete ich an für unser cooles Friedrichshain." Sie sprang auf. "Alles jubelt, alles lacht,  Johanna hat was mitgebracht!" Damit hielt sie eine Tiefkühltragetasche hoch. "Hier hab ich den Fisch aus unserm alten Bezirkswappen, der immer gegen den Strom geschwommen ist. Deshalb haben ihn die Kreuzberger Grünen entfernt, nachdem sie selber zum Mainstream geworden sind."

"Vorsichtig, Johanna", flüsterte ich, "hör bloß auf, in die falsche Richtung zu stänkern."

Unbeirrt fuhr sie fort: "Dieser Fisch hilft uns gegen den Hunger in der Welt, besonders dort in Afrika und Asien, wo die Armut am größten ist."

"Ich bin auch ganz hungrig", krähte jetzt Walter dazwischen und sang schon wieder:

Johanna, deinen hellen Klang und dein dunkles Haar
Und deine braunen Augen find’ ich wunderbar...

Er sang noch mal das Gleiche in Grün, bis auf die braunen Augen statt der grünen und Johanna statt Rita, und den letzten Vers hatte er aktualisiert:

Johanna, bitte, schenk mir doch ein Date
Und nen neuen Wecker:
Meiner steht.

Die Heilige Johanna ging auf Walters Wunsch- und Brunftkonzert nicht weiter ein, sondern fuhr fort mit Butter bei die Fische: "Fleisch vom Schwein wird Hunger und Eiweißmangel nie besiegen, jedenfalls nicht in muslimischen Ländern. Mit Rindfleisch haben wir ganz schlechte Karten bei den Hindus."

Walters und Johannas Geräusche lockten einen dynamischen mittelalterlichen Sonnyboy in den Wartesaal, mit Laptop in Profischwarz unterm petrolfarbenen Kaschmirärmel. "Ich bin Rudi Raffke von der Banken-Bedarfsgemeinschaft!", rief er dazwischen und zückte seinen Filofax. "Wie heißt denn dieser Fisch?"

"Tilapia", antwortete Johanna dem Kollegen Kaschmirklamotte, "am See Genezareth nennen sie ihn den Petrusfisch. Damit können wir hier in der Alten Welt die Sintflut ausbremsen und drüben in der Dritten Welt Leben retten. Gib dem Hungrigen einen Fisch und er hat zu essen für einen Tag. Hilf ihm, Fische zu züchten, und er wird nie wieder hungern. Tilapia vermehren sich wie die Karnickel. Sie sind Buntbarsche, anspruchslos, kaum anfällig für Krankheiten, und sie fressen alles: Kartoffelreste, Bananenschalen, Reisstroh,  Hühnerkacke. Deshalb heißen sie in Afrika Wasserschwein."  Johanna holte Luft. Walter, der Mann mit den schweinischen Liedern, der jetzt mit dem Hut rumging, sah angewidert aus. Kaschmirix schrieb und schrieb und schrieb.

Johanna redete weiter: "Das Fleisch auf den Gräten ist so edel, dass es Tilapiafilet inzwischen auch in allen Kaufhallen, Discounts und Supermärkten gibt." Sie zückte aus der Tragetüte einen Tiefkühlkostkarton und hielt ihn hoch vor unseren staunenden Gesichtern. "Wenn Sie bitte mal schauen möchten, der Herr Herbert, die Dame Rita und das Schlepptop: Tilapia, küchenfertig vorbereitet mit Basmatireis, Currysoße und Piep und Papp und Pepperoni."

Walter hatte sich wieder erholt, weil Rita jetzt tatsächlich da war. "Und was haben wir davon?", fragte er.

"Wir können dafür sorgen, dass die Speisung der Fünftausend wieder stattfindet"!, rief Johanna mit blitzenden Augen, "aber nicht hier, sondern bei ihnen, bei 12 mal 12 mal Hunderttausend zu Hause. Das einzige, was diese Eiweiß liefernden Tilapia unbedingt zum Leben brauchen, ist Wasser von 18° an aufwärts und das finden wir im Hungergürtel der Erde überall. Wir brauchen bloß ein Loch zu buddeln, am besten 5 mal 10 Meter, und Wasser reinlaufen zu lassen oder die nächste Regenzeit abzuwarten. Dann setzen wir Tilapia in den Teich und ab geht die Luzie!" Sie strahlte vor Begeisterung wie Narva und Osram zusammen.

"Gibt es einen Tilapia Investment Fonds?", schaltete sich jetzt das Kaschmir-Laptop ein. "Und wenn JA, wie hoch ist die Rendite?"

Johanna vom Ostkreuz war überfragt. Sie schwieg.

"Soll das etwa Nulltarif heißen?", erregte sich das Laptop und schaltete den Zahlenblock wieder auf OFF. "Beim Weizen als Hilfsmittel gegen Hungersnöte schöpfen wir Intensivbanker weltweit ein Drittel vom Endpreis ab, Tendenz steigend. Das ist uns nicht geschenkt worden, darauf haben wir hingearbeitet. Und jetzt kommen Sie hier an und wollen uns die Märkte kaputtmachen? Zeigen Sie erstmal Ihr Parteibuch!"

Johanna hielt ein kleines Neues Testament hoch, eins von den Gideons mit Psalter und Sprüchen im Anhang und einem Stichwortverzeichnis als Hausapotheke vorneweg.

Auf einmal öffnete sich das Dach vom Wartesaal wie in der Geschichte des Gelähmten, den Jesus dann geheilt hat, und vom Himmel her geschah eine Stimme: "Du bist meine liebe Tochter, an der ich Wohlgefallen habe. Ich nehm dich zu mir und alle andern können zur Hölle fahren, jeder nach seiner Façon. Mein Wort war nur geborgt."

Als wir das hörten, ging es uns durchs Herz und wir knirschten mit den Zähnen gegenan. Johanna aber, voll heiligen Geistes, sah auf und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehen zur Rechten seines Vaters.

Zuerst flog das Evangelium aus Johannas Hand zurück in den Himmel. Und als das geschehen war, wurde sie zusehends aufgehoben und eine Wolke nahm sie weg vor unseren Augen.

Was soll ich euch sagen? Es gab von diesem Tag an keine Neuen Testamente mehr auf der ganzen Welt, weder gedruckt noch als Dateien. Von allen Kruzifixen verschwand der Gekreuzigte und als man Karl Barth fragte, wie er sich den Teufel vorstellt, da antwortete er: "Wie den segnenden Christus von Thorvaldsen."

Nur dieser Christus blieb nun noch übrig, der nette nach ISO-Norm mit eingebauter Warteschleife. Er stand segnend als billiger Jakob im Stimmen-Einkaufszentrum und rief dauernd: "WILLKOMMEN! WILLKOMMEN!"

Dazu lief die Klimaanlage wie in jedem Einkaufszentrum und sorgte für so pupwarm verbrauchten Mief, dass jede Eiche, jeder Weihnachtsstern und überhaupt jede Pflanze einging außer den Nachtschattengewächsen. Ich wollte schnell raus aus der Hölle, bevor ich auch noch einging. Aber keiner kam mehr raus, weil wir das Wort nicht mehr hatten, das Passwort.


 

Christian Gajewski
Der legendäre Bahnhof

 

Schon lang bevor die Stadt man teilte, ein jeder sich dort sehr beeilte.
Früh um 5 ging‘s zur Maloche - und das 6 Tage in der Woche.
Ab Sonnabendnachmittag um 3, da war man wandervogelfrei.
Ob Buch, Bernau und Müggelsee - Hauptsache man war j.w.d.
Nur selten war er Reiseziel, doch umgestiegen ist man dort viel.

Als dann der Krieg hatte begonnen eben,
hielt er auch Einzug in des Bahnhofs Leben.
Unser Ostkreuz lag hellwach im kriegerischen Bombenkrach.
Blieb dunkel auch des Nachts das Licht, verschont‘ ihn mancher Treffer nicht.

War man nicht ausgebombt und noch am Leben,
so fuhr man voller Dankbarkeit in die nun kommende Nachkriegszeit.
Und so mancher fuhr auf Hamstertour - man wollte überleben nur.
Das Leben ging wieder seinen Gang und unser Ostkreuz mittenmang.

Ob NARVA, Goldpunkt oder Viehhof, zum Umsteigen diente unser Bahnhof.
Stets mit Gewusel und Gedränge schiebt auf und ab die Menschenmenge.
Krieg, Teilung und Vereinigung, noch vielen in Erinnerung.
Geschichten, Storys, Anekdoten werden reichlich hier geboten.

Wie ein Monument liegt unser Bahnhof dieser Tage bereit für weitere 100 Jahre.


 

H. Kleinschmidt
Die Geister, die man nicht rief

 

Berlin, das Gespenst der Legende "Ostkreuz" entstand im Jahr 1871. Diesen seinen Namen erhielt der Bahnhof erst am 15.März 1933 als Pendant zu dem vorher entstandenen Bahnhof "Westkreuz". Der Nahverkehrs-Umsteigebahnhof Ostkreuz gilt als meist genutzter Bahnhof in Berlin. Hier kreuzen sich auf der unteren Ebene die Schlesische Bahn und die Preußische Ostbahn mit der Berliner Ringbahn auf der oberen Ebene. Die Bahnanlage wurde 1872 mittels zweier Verbindungskurven in Richtung Stadt ergänzt. Da noch kein Haltepunkt existierte, fuhren die Züge auf diesen Strecken ohne Halt durch. Auf neun Linien steigen hier täglich an die "100000 Menschen" ein, aus oder um.

Obwohl die Bahnanlagen im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt wurden, konnte der Zugbetrieb schon ab Juni 1945 wieder anrollen.

Die Gefühle, welche uns Bahnreisende bei den Gedankengängen um‘s Ostkreuz bewegen, pendeln zwischen Horror wegen der wuseligen Unübersichtlichkeit des Geschehens und der Begeisterung über das gigantisch-märchenhafte Vorhaben! Ein Wehmutstropfen bringt uns der Verkauf des beliebten Wasserturms an eine Privatperson. Dieses unter Einfluss des Jugendstils stehende, als Baudenkmal eingetragene Wahrzeichen, südlich vom Bahnhof, überragt alle Gebäude. Hier wurden die zahlreichen, verkehrenden Dampfloks mit Wasser betankt. Jetzt spukt der vom Rummelsburger See wegen übermütiger Handlungen hierher strafversetzte Wassergeist "Pitschplatsch" im Turm herum. Der neue Besitzer hat die Absicht, den Turm in eine Gastronomie- und Kulturstätte umzufunktionieren. Das bedeutet Umbau und Entfernen des im Dach eingebauten 400 Kubikmeter fassenden Wasserbehälters. Hier aber hat sich gerade Pitschplatsch gemütlich einquartiert. Neulich kam Herr Privatier von einem Architekten begleitet in den Turm, um die baulichen Veränderungen zu besprechen. Als Pitschplatsch das hörte, bescherte er den Beiden eine Überraschung in Form eines Duschbades. Klitschnass und wütend zogen sie von dannen. Der Herr Privatier bestellte einen Handwerksmeister für Gas-Wasser-Sch--- um den mutmaßlichen Schaden an den Wasserabstellventilen zu beseitigen. Auch nach gründlicher Kontrolle konnte der keinen Schaden entdecken, es war alles dicht.

Der Wassergeist Pitschplatsch lauerte fortwährend und versuchte Veränderung innerhalb des Turmes, um sofort mit Wasserkuren der besonderen Art in Aktion zu treten. Er kann außerdem eine Menge Spukgeräusche imitieren, zum Beispiel Donner, oder quietschende  Bremsen. Allerdings der Umgang mit Wasser gefällt ihm selbst am besten. Immer wenn Herr Privatier im Turm auftaucht, dann taucht Pitschplatsch im Wassertank unter und spukt ihm lautstark Geräusche von plätscherndem, rauschendem Wasser vor. Herr Privatier nimmt dann sofort Reißaus. Ob  Pitschplatsch allerdings die vom Privatier gewünschte Bestimmung des Turmes zukünftig erfolgreich verhindern kann, bleibt abzuwarten. Wenn er es dann zu arg treibt, wird sein großer Vorgesetzter Poseidon ihn wohl oder übel wieder abberufen.

Märchen oder Wahrheit, egal - jedenfalls eine Legende!


 

Sonja Bürgel
Eine Ostkreuz-Legende

 

Vor wenigen Jahren zogen wir nach Stralau. Die Bauarbeiten am Ostkreuz und drumherum waren schon in vollem Gange. Der Radweg, der von der Halbinsel zur S-Bahnunterführung verlaufen soll, war erst zum Teil fertig. Er zielte genau auf eine prächtige Platane zu, die ihm im Weg stand. Beim Vorbeifahren war ich immer wieder froh, dass sie noch da war. Aber wie lange noch? Und dann, wie schön, machte der Radweg einen eleganten Bogen und die Platane blieb stehen.

Bei unserem Umzug waren auch Schwiegermutters Wollreste mitgezogen. Meine Schwiegermutter ist schon viele Jahre tot, aber sie hatte uns gern, ihre guten Ratschläge, ihre klugen Sprichwörter, sind immer noch bei uns. Nun wusste ich einen guten Verwendungszweck für all die aufbewahrten Wollknäuel. Beim Fernsehen klapperten abends meine Stricknadeln und nach und nach wurde ein bunter Schal immer länger und länger. Als ich mit dem Bandmaß einmal nachmaß, war er aber immer noch nicht lang genug. So ein Stamm einer alten Platane hat einen erstaunlichen Umfang. Ich fand auch noch eine Menge gesammelter Knöpfe im alten Nähkasten. Früher wurde eben alles aufgehoben - vielleicht bräuchte man es noch? Das ergab einen Extrasuperschmuck.

Im Winter - zu Muttels Geburtstag - machte ich mich im Dunklen auf den Weg. Ich wollte nicht unbedingt bei meinem etwas seltsamen Tun gesehen werden. Wie es sich für eine gute Geschichte gehört, schien der Vollmond.

Als ich meinen Freundinnen in der Uckermark von meinem "Baumschmuck" erzählte, meinten sie, dass der in Berlin nie im Leben lange halten würde. Sie schätzten irgend etwas falsch ein. Ab und zu, wenn ich an meiner Platane vorbeiging oder fuhr, sah ich nach meiner Handarbeit. Einmal hatte jemand noch ein kleines Häkeldeckchen daran festgemacht, mal war eine Getränkedose dahintergeklemmt … Nach unserem Urlaub war durch lange Regenfälle alles ausgeleiert und hing schlaff und traurig — aber das ließ sich schnell beheben.

Ich habe nicht immer aufgepasst, nach ungefähr zwei Jahren war die Platane wieder ungeschmückt. Ich sah mir die Umgebung an, Gestrüpp und Wild-kräuter. Da waren keine Spuren. Heruntergerissen und liegengelassen war mein Dank an den schönen Baum also nicht. Aber wer brauchte den langen bunten Schal mit seinen vielen altmodischen Knöpfen auf einmal doch?

Das tapfere Schneiderlein?! Dem war Regieren als König, noch dazu mit einer Frau, die nicht viel taugte, langweilig geworden. Er wollte wieder etwas Ordentliches erledigen. Der alte König brauchte einen Schal, kürzer, denn so einen dicken Hals hatte er nicht.

Wenn man ein Stück abschneidet, muss man alles gut vernähen, sonst laufen Maschen. Aber das weiß das Schneiderlein natürlich. Und die Knöpfe? Die man auffädeln und der kleinen Prinzessin über die Wiege hängen. Die klappern schön, wenn Prinzesschen es schafft, dagegen zu grapschen. Da muss sich die Kleine anstrengen. Das wünscht sich der Papa für sein Töchterchen.

Im Wasserturm am Ostkreuz wohnt Rapunzel, das wissen Sie sicher. Und weil dort nicht viel los ist, freut sie sich über jeden, der sie besuchen kommt, es muss nicht mal unbedingt ein Prinz sein. Aber ihr langes blondes Haar ist bei diesen vielen Hangeltouren ziemlich dünn und brüchig geworden. Sie könnte vor zur Elsenbrücke laufen, dort ist ein Friseursalon. Aber wie soll sie das mit der Bezahlung regeln. Der nächste nächtliche Besucher bekommt den Auftrag, ihr zu helfen.

Da fällt mir natürlich gleich der schöne lange Schal ein. An dem er eben bei Vollmond vorbeigeradelt ist. Schon am nächsten Abend ist er wieder da. Er hilft Rapunzel, den langen Schal in ihren Zopf zu flechten. Nun stimmt zwar der Spruch nicht mehr ganz – wirf dein Haar herunter – aber wer fragt bei so einem schönen Stelldichein noch nach der Quelle? So könnte es auch gewesen sein.

Vielleicht ganz anders? Die Spezialisten auf der Ostkreuzbaustelle hatten ihre immer gleichen rotweißen Absperrbänder über. Zur Abwechslung nahmen sie an einem Tag einfach mal: Paketschnüre, Damenschals, Herrenschlipse, und eben den bunten Schmuck der Platane.

Bemerken konnte ich das nicht, meist bin ich mit dem Rad unterwegs. Und die anderen Fahrgäste? Die haben es eilig und sind genervt von den immer wieder geänderten Zu- und Abfahrten. Leider haben sie keine Zeit und keinen Blick für das gigantische Bauwerk. Das wächst und wächst immer besser. Da musst du ein wenig Geduld aufbringen, so schnell ist das nun mal nicht fertig. Aber welcher Berliner hat schon Geduld?

Oder war da vielleicht ein Pärchen in Shade of grace? In der Spätvorstellung? Und nun möchten sie zu Hause noch ein wenig ausprobieren, ob ihnen das auch gefällt. Aber alle Baumärkte sind lange geschlossen, da kann man keine Fesselbänder mehr kaufen. Also war ihnen mein Platanenschal gerade recht?

Du merkst schon, eine endgültige Antwort lässt sich nicht finden – oder doch – wenn jemand diesen Text liest oder hört.

Es hat mir Spaß gemacht, das Stricken, das Beobachten, das Nachdenken und das Aufschreiben.


 

Sonja Meggers
Verkanntes Talent

 

Natürlich wusste ich in jedem Jahr schon vorher, wessen Geschichten als die besten des Wettbewerbs ausgewählt worden waren. Der Autor des Siegertextes war auch klug genug gewesen, meine Hinweise zu verstehen, doch die Gewinnerin des Vorjahres saß doch tatsächlich schon wieder da! Ich war mir nicht sicher, ob sie einfach nur dumm oder doch vielleicht sehr gerissen war, aber nun saß diese dürre Ziege auf dem Platz, auf dem ich sitzen sollte und gab ihre Geschichte zum Besten. Irgendwas von einer bescheuerten Feuerwehr. Eine FEUERWEHR!!! Wie poetisch! Im Jahr davor war es die Geschichte von einer Bekloppten, die sich das alte Ostkreuz zurechthalluzinierte.

Der Fotograf der Zeitung machte Bilder. Er würde, wie im letzten Jahr, einen Artikel über sie und ihre Scheißgeschichte schreiben.

Seit über einem Jahrzehnt arbeite ich an meinem Durchbruch. Lange hat es gedauert, bis die Presse endlich auch Bilder der Gewinner veröffentlichte und somit eine größere Öffentlichkeit ansprach. Jetzt aber ging es richtig los und ich schaute wieder in die Röhre. Wie oft habe ich versucht, einzelne Jurymitglieder zum Aufgeben zu bewegen, um endlich Kritiker zu finden, die den Wert meiner Werke zu schätzen wissen. Immer ohne Erfolg. Aber Aufgeben kam irgendwann auch nicht mehr in Frage, denn ich hatte so viel investiert, dass die Früchte meiner Arbeit in greifbarer Nähe schienen. Aber vielleicht zurück zum Anfang. Der lag im Jahr 2001.

Ein tiefer Blick in die Kaffeedose verriet mir, dass es schon wieder auf das Ende des Monats zuging. Um mich voll und ganz auf meine Karriere konzentrieren zu können, hatte ich meine Stelle in der Senatsverwaltung gekündigt und war dementsprechend nicht ganz so gut bei Kasse. Weil mir zu Hause mal wieder die Decke auf den Kopf fiel, stromerte ich, unter den Begleiterscheinungen des unfreiwilligen Kaffeeverzichts leidend, durch die Straßen. Als ich durch Zufall an dem kleinen Kiezladen vorbeikam, stieg mir der herrliche Geruch von frisch gebrühtem Kaffee in die Nase. Meine Entzugserscheinungen und das Gefühl als Talent wieder einmal verkannt worden zu sein, verleiteten mich zu der wahnwitzigen Idee einen Fuß in die Begegnungsstätte zu setzen. Ich hatte gerade das 52. Mal die Nachricht erhalten, dass man meinen Roman bei der Vergabe der Preise nicht habe berücksichtigen können, man wünschte mir aber "für die Zukunft als junger Autor alles Gute". Solche Sätze sind einer der Gründe, aus denen ich andere Menschen hasse. Außerdem riechen sie oft absonderlich, erzählen permanent nur von sich und wenn sie in Gruppen zusammentreffen lachen sie dümmlich über Dinge, die nicht lustig sind. In diesem Moment aber hatte ich keine Wahl. Ich war der festen Überzeugung, dass ich ohne Kaffee hätte sterben müssen und weil ich vom Hörensagen wusste, dass der Kaffee in solchen Kiezläden meist umsonst war, fasste ich einen wahnwitzigen Entschluss. Vorsichtig öffnete ich die Tür und heuchelte Interesse an einem der Aushänge. Langsam schlich ich den Flur entlang. Immer der Nase nach. Zum Kaffeeduft mischte sich langsam der Geruch von schweren Parfüms in unterschiedlicher Konzentration. Egal was mich erwarten würde, ich brauchte einen Kaffee. Als ich den Raum betrat, drehten sich etliche grauhaarige Köpfe zu mir um. Verlegen lächelte ich. Ich habe das Lächeln später mal zu Hause vor dem Badezimmerspiegel rekonstruiert und mir wurde klar, warum keiner der damals Anwesenden es wagte, mich fortzuschicken.

Die Mischung aus Serienkiller und grenzdebilem Enkelsohn war selbst für mich erschreckend. Stillschweigend nahm ich mir einen Kaffee und setzte mich in die Runde.

Es ging um Fotografien. Scheinbar waren alle begeisterte Hobbyfotografen. Auf ihre Fragen log ich das Blaue vom Himmel. Ich sei gerade erst hergezogen und ja, ich würde auch gerne fotografieren. Zum Glück gaben sie nach kurzer Zeit auf, einsilbige Antworten aus mir herauszuquetschen und so konnte ich in Ruhe meinen Kaffee trinken.

Weil meine finanzielle Lage sich nicht wirklich verbesserte, nahm ich immer häufiger an den unterschiedlichsten Gruppen teil. Neben Kaffee gab es auch Kekse oder Kuchen. Und wie ich erwartet hatte, sprachen die Menschen eigentlich nur von sich. Nur selten wurde eine Frage an mich gerichtet. Da ich zu Hause geübt hatte, nett und freundlich zu antworten, ließen sie mich schnell wieder in Frieden.

Immer wieder versuchte ich abends die Ereignisse des Tages für meinen nächsten Roman zu nutzen. Es gelang mir aber nicht, ein Interesse für andere Menschen zu entwickeln und ihre Geschichten so wiederzugeben, dass sie spannend oder in irgendeiner Weise lesenswert klangen. Meine Romane handelten immer von einem einsamen Helden, der recht viel mit mir gemeinsam hatte, aber natürlich schrieb ich nicht über mich selbst. So etwas machten nur Anfänger und Leute, die mit allem abschließen wollten.

Ich war gerade an dem Punkt, an dem ich zu der Einsicht gelangt war, dass jeder Künstler erst die schmerzhafte Verkennung seines Talents erleiden muss, bevor er in voller Blüte erstrahlen konnte. Mein Talent wartete also nur auf die richtigen Bedingungen.

Natürlich hätte ich einfach selbst einen Verlag gründen können, um nicht immer und immer wieder die traurigen Absagen aus dem Briefkasten hätte ziehen müssen, aber es gab mehrere Gründe, die dagegen sprachen. Zum einen war da die finanzielle Seite. Jene, die mich seit der Jahrtausendwende immer häufiger in den Kiezladen trieb, um wenigstens einen Kaffee trinken zu können. Zum anderen wäre der Moment des Durchbruchs mit einem eigenen Verlag nicht der, den ich mir vorstellte. Ich wollte entdeckt werden. Mit großem Tamtam, mit Musik und Häppchen. So, wie es meinem Talent entsprach.

Irgendwann kam mir also der entscheidende Gedanke: Der Kiezladen, der zwischenzeitlich umgezogen und zu einem Nachbarschaftszentrum geworden war, müsste einen Wettbewerb ausschreiben. Einen, an dem ich teilnehmen und trotzdem die Finger mit im Spiel haben könnte. Jetzt hieß es, klug zu handeln. Einfach während der nächsten Planungsrunde die Idee in den Raum zu werfen, erschien mir deutlich zu platt. Zumal ich natürlich, wenn der Gedanke von mir geäußert worden wäre, kaum an dem Wettbewerb hätte teilnehmen können. Eigentlich weiß ich nicht einmal mehr, wie es mir gelang, meinen Gedanken in die Köpfe der anderen zu pflanzen, aber nach einer netten Unterhaltung auf dem Herrenklo stand der Wettbewerb plötzlich im Raum und dann ging alles ganz schnell.

Schon im Februar des kommenden Jahres sollte es losgehen. Bis dahin war noch eine Menge zu tun. Es galt, Sponsoren zu finden, die Werbetrommel zu rühren und vor allem die Presse zu informieren. Die Sache mit der Presse war die einzige Idee, die ich mit Nachdruck in die Brainstorming-Runde warf. Danach hielt ich mich vornehm zurück und wartete, was passierte. Bloß nicht zu sehr engagieren. Um an dem Wettbewerb teilnehmen zu können, verbrachte ich in den kommenden Wochen weniger Zeit im Nachbarschaftszentrum.

Um die Durchführung des Wettbewerbs unerkannt und doch gezielt beeinflussen zu können, begann ich diejenigen, die an der Planung beteiligt waren, zu isolieren und ihnen meine Gedanken als die eigenen zu verkaufen. Ich bekam schnell heraus, wer sich wann, wo aufhielt, was die Menschen taten und vor allem, an welchen Orten ich mit ihnen ins Gespräch kommen konnte. Und nicht zuletzt begann ich mich zu tarnen. Ziemlich schnell wäre man mir sonst auf die Schliche gekommen.

Falls sie schon einmal versucht haben herauszubekommen, welche Person in ihrer Nachbarschaft ein von ihnen bevorzugtes Instrument spielt, ohne dass sie es durch die Wände ihrer Wohnung hören können, haben sie vielleicht eine Vorstellung davon wie schwierig das alles war.

Ich zum Beispiel liebe Akkordeon-Musik. Ein Instrument, das meines Erachtens viel zu wenig Beachtung findet und so dachte ich mir, dass es nett wäre, wenn meine Siegerlesung von einem Akkordeon begleitet würde. Es hat mich mehrere Wochen der Recherche und Beobachtung gekostet bis ich herausgefunden hatte, dass ein freundlicher Herr mittleren Alters leidenschaftlich das von mir favorisierte Instrument spielt. Diesen Herren dann auch noch dazu zu bewegen, Kontakt zum Nachbarschaftszentrum aufzunehmen, erscheint mir aus heutiger Sicht als eine fast schon Nobelpreis verdächtige Leistung. Aber irgendwann hatte ich es geschafft.

Neben den Rahmenbedingungen musste ich natürlich auch für die thematische Orientierung des Wettbewerbes sorgen. Da meine Geschichten, wie gesagt von einem einsamen Helden im Kiez handelten, war schnell klar, dass der Schreibwettbewerb sich thematisch um das Ostkreuz drehen musste, um meinem Talent gerecht zu werden.

Durch meine frühere Tätigkeit in der Senatsverwaltung wusste ich, dass im Rahmen des Projekts Urban II Fördergelder für den Bereich rund um das Ostkreuz bereitgestellt wurden. In diesem Sinne begann ich ein Informationsblatt über eben jene Ausschreibung von Fördergeldern zu erstellen und ließ dieses wie zufällig in den Briefkasten einer Person gleiten, die im Rahmen des Wettbewerbes für die Akquise von Spenden zuständig war.

Nun hieß es abwarten. Immer wieder verfolgte ich einzelne Mitglieder der Planungsgruppe, um zufällig mit ihnen ins Gespräch zu kommen, meine Ideen unbemerkt einfließen zu lassen und natürlich etwas über die Fortschritte meiner Einflussnahme herauszubekommen. Thematische Begrenzung, Zeitpunkt und Dauer der Ausschreibung, sogar das Rahmenprogramm folgte meinen Ideen. Ich war selbst überrascht, wie gut das Ganze funktionierte. Allerdings gab es auch Dinge, auf die ich keinen Einfluss nehmen konnte und die waren es, die mir im ersten Durchlauf des Wettbewerbes das Genick brachen. Nicht einmal unter die besten drei schaffte es meine Geschichte! Schon meine Großmutter sagte immer: Undank ist der Welten Lohn. Und so war es auch.

Im nächsten Jahr ging ich etwas weiter. Meine Einflussnahme wurde noch geschickter. Meine Verkleidungen besser und: Ich war klug genug, unter unterschiedlichen Namen einfach mehrere Geschichten einzureichen. Und natürlich sorgte ich dafür, dass diejenigen, die den Wettbewerb gewannen, im kommenden Jahr nicht mehr teilnehmen wollten oder konnten. Oft waren es nur ein paar mehr oder weniger nette Briefe, die meine Mitstreiter von einer erneuten Teilnahme abhielten. Wenn die nicht ausreichten, wirkten die Information darüber, dass ihre Siegerblumensträuße vergiftet waren oder zerstochene Reifen Wunder. Nur ein einziges Mal war ich gezwungen, einem der Schreiberlinge die Finger in meiner Kofferraumklappe zu zertrümmern. Keiner meiner Briefe, keines meiner mit Krankheitserregern gespickten Geschenke hatte ihn davon abgehalten an dem Wettbewerb teilzunehmen. Das Auto für meinen Plan hatte ich mir extra leihen müssen, weil ich aufgrund der bereits erwähnten finanziellen Engpässe kein eigenes besaß. Den ganzen Tag harrte ich vor seinem Haus aus. Nach sage und schreibe 6 Stunden und 34 Minuten bog er endlich um die Ecke. Ich sprang aus dem Auto und rannte zum Kofferraum. Dort tat ich an der geöffneten Klappe so als ließe sie sich nicht mehr schließen. Hilfsbereit wie mein Konkurrent war, musste ich nicht lange um seine Hilfe bitten. Es war nur ein kräftiger Schlag mit der Klappe. Dann war es erledigt.

Tja, aber wie man sieht, reichten all die Bemühungen nicht aus. Immer noch gibt es Leute, deren Arbeiten meinen vorgezogen werden. Leute, die sich nicht abhalten lassen, zur Preisverleihung zu erscheinen und die dann mit Musik und Häppchen Bilder für die Zeitung machen lassen.

Eigentlich hatte ich durch den Wettbewerb zu einer Autorenlegende werden wollen, aber nun, nach knapp 14 Jahren, beschleicht mich das Gefühl, dass ich, wenn das alles hier jemals rauskommt, zu einer ganz anderen Legende werde.

Ich schreibe zum ersten Mal über mich und ein Anfänger bin ich nach so vielen Jahren ganz bestimmt nicht mehr.

Sonja Meggers
Spielzeug-Feuerwehr

 

Schönes neues Ostkreuz

-Eine Anthologie-

 

 

 

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Isabel Janke
Brückenkonzert

 

Der alte Bahnhof — in seiner ursprünglichen Form existiert er fast nur noch in der Erinnerung. Die Gleise mit samt den Bahnsteigüberdachungen aus vernieteten Stahlträgern des vorletzten Jahrhunderts wurden schon größtenteils umgelenkt, abgerissen oder erneuert. Auch von den atmosphärischen Backsteinbrücken zeugt keine Spur mehr. Neben dem denkmalgeschützten, nicht sehr schönen aber charismatischen Wasserturm mit Pickelhaube, das weithin sichtbare Wahrzeichen unseres Kiezes, wächst nahezu stündlich eine riesige verglaste Bahnhofskuppel aus stützenden Stahlsegmenten. Des Nachts, wenn die Großbaustelle in weißes Flutlicht getaucht ist, vermischt sich metallisches Schlagen mit dem dünnen Elektromotorengebrumm der dinosaurierhaften Kräne zu einer futuristisch-surrealen Nachtmusik. Den menschlichen Gesang dazu liefern die Kommandos in verschiedenen Sprachen und deren weittragende Echos aus den Mündern der behelmten Bauarbeiter.

 

Am Tage pulsieren hier zwischen langen Spanplattenwänden die vielen S-Bahnreisenden und an diesem Knotenpunkt umsteigenden Passagiere umständlich in blinden Trichtern in Richtung der unübersichtlich ausgeschilderten Behelfsbrücken. Eine dieser Brücken mündet in den allerletzen, von Modernisierung noch verschonten Teil dieses alten Bahnhofsreptils.

 

Abgetretene, bucklige Pflastersteine lassen diesen Ausgang des Ostkreuzbahnhofes fast dörflich erscheinen. Die riesigen Pfützen, die zum Ärgernis der eilig mit ihren Rollkoffern Vorbeihastenden und zu Badeseen der Berliner Spatzen werden, reflektieren müde die dunkle Unterseite der letzten, eine alte Gleisführung ins Nirgendwo tragenden Brücke. Beinahe märchenhaft wölbt sie sich als Schleusengang zwischen alter und neuer Welt über das Ende der Sonntagstraße. Diese Seite ist für mich noch immer der schönste Eingang zum Ostkreuz. An der baufällig wirkenden Brücke hängt in einem riesigen grünen Kreis ein weißes Neon-S, das schon zu DDR-Zeiten den Bahnhof markierte.

An beiden Seiten der Brückenmauern klebt eine zentimeterdicke Schicht alter und neuer Veranstaltungsplakate, die zum Teil in großen Fetzen von der dunklen Mauer herabhängt oder von Punks als notdürftige Sitzunterlage, auf den von Zigarettenkippen gesäumten Bordsteinkanten gelegt wurde. Vor Jahren stand hier die Baracke eines Blumenverkäufers vor einer provisorischen Eingangshalle. Zur vollen und halben Stunde ist heute ein Anwachsen von Wartenden an dieser ins Friedrichshainer Vergnügungsviertel mündenden Unterführung zu beobachten. Haben die Suchenden die Wartenden gefunden, verteilen sie sich gemeinsam in der angrenzenden Parkanlage oder in den unzähligen neuen Kneipen und Cafés der Straße.

 

Genau hier, an eine der Mauern der alten Brücke gelehnt, warte auch ich auf meinen Gitarristen. Es ist ungefähr zwanzig Uhr und ein Gewitter liegt schon den ganzen drückenden Sommertag über in der Luft. Der Himmel ist verhangen und seit einigen Minuten höre ich starken Wind in den von der Bahn-AG noch ungefällten Pappeln. Unter der Brücke verabredet, unter der ich jeden Tag mehrmals eilig entlang gehe, werde ich jedoch heute Abend nicht weiter ziehen, sondern genau dort stehen bleiben, der guten Akustik und des Regenschutzes wegen. Ich habe die Geige dabei und bemerke, es kostet mich etwas Überwindung, meinen Rucksack und den Geigenkasten an die alte dreckige Wand mit ihrer dicken Patina zu lehnen, irgendwie verströmen diese Wände die urbane schwitzende Feuchtigkeit von Brücken, die sonst über große städtische Flüsse führen.

Dieser Fluss hier ist nur eine endende Straße. Ich betrachte amüsiert eine Sternburgwerbung und denke an die Punks, die hier sonst mit diesem Bier hocken. Es wird immer windiger und dunkler. Plötzlich quietschen Fahrradreifen neben mir und es kommt der Mann mit der Gitarre auf dem Rücken zum stehen. "Na, traust du dich hier?" sage ich und die Frage ist mehr an mich selbst gerichtet. Die Ecke ist ein bisschen versifft, findet auch er aber sie hat durchaus ihren Charme. "Du wolltest ja unbedingt hier spielen!" antwortet er mir. Ja, ich wollte unbedingt mein Ostkreuz mal von dieser Seite kennenlernen, mich ihm aussetzen mit dem Instrument in der Hand. Voilà!

 

Als wir die Instrumente ausgepackt haben und zum ersten Lied ansetzen wollen, kommt ein Plakatierer mit seinem Leimeimer und einem Arm voller Plakate um die Ecke. Wir sehen uns schon mit vollem Schwung und mitten in der musikalischen Bewegung an die Wand gekleistert, als er uns zunickt und zuerst die gegenüberliegende Brückenseite plakatiert. So fangen wir an, während die Leute an uns vorbeihasten, ohne in ihrer Eile Notiz von unseren anfangs noch recht zarten Gitarren- und Geigenklängen zu nehmen. Ein paar Wartende sehen in unsere Richtung, vertiefen sich dann aber gleich wieder in ihr Gespräch oder in ihre Mobilfunkkonferenz. Manche Partyleute verströmen große Coolness und ich fühle mich sehr unpassend und aufgerieben in diesem lauten ignoranten Treiben. Das Musizieren fühlt sich hier rauer an als in den von uns sonst aufgesuchten Museumsstadtteilen, in denen eher ältere Bildungsbürger oder trödelnde Touristen umherschlendern. Hier aber fühlen wir den Puls der Straße, hier ist der rüde Alltag, hier wirken die Leute müde, genervt oder auf Härteres aus. Ich erinnere mich an eine Jungsband, die vor einigen Tagen mit Verstärkern und E-Gitarren auch hier stand und an Lautstärke einen dem Ostkreuz angemesseneren Pegel verursachte. Zarte Klänge werden wohl in den Straßenstaub getreten, vielleicht aus diesem Grunde verfremdete an dem Ort im letzten Herbst bei jedem Wetter ein Cellist sein Spiel mit einem Verzerrer. Egal.

Ich sehe meinen Gitarristen an und wir spielen einfach. Es geht gut und ich mag die Akustik sehr, manchen Passanten laufe ich ein Stück hinterher, was einige zu irritieren scheint. Ich habe meinen Spaß dabei. Der Plakatierer sieht ab und zu mutmachend zu uns herüber, er ist dann auch der Erste, der uns ein bisschen Kleingeld zusteckt.

Ich freue mich schon auf den versprochenen Regen und die Blitze und bin ganz wild darauf, unsere Musik in diese Begleitung hinein zu spielen und so die Verwandlung der Atmosphäre zu erleben. Doch das Gewitter lässt auf sich warten. Auch die Passanten sind auf einmal vom Erdboden verschwunden. Wir haben das Gefühl, hier doch nicht ganz richtig zu sein, als ein Mann auftaucht, der uns im Vorbeigehen Komplimente auf Englisch macht.

In diesem Moment dreht sich irgendetwas. Es ist plötzlich sehr ruhig. Und so fühlt sich die Musik mit einem Mal platzierter an. Wir spielen mal ruhige, mal feurige russische und osteuropäische Weisen, die uns von den dunklen Wänden zurückgeworfen werden. Irgendwann fängt der Gitarrist leise an zu singen und das - ist schön.

Der Ort verzaubert uns und wir übertragen das wieder zurück auf den Ort. Die Resonanz hat begonnen, die Schwingungen übermitteln Energien. Leute bleiben kurz stehen oder wenden sich uns zu, manche lächeln, als sie uns mit Kleingeld bedenken. Eine Mutter schiebt ihren, für den Kinderwagen schon zu großen Jungen, ganz nah an uns heran. Er beobachtet uns scheu, steigt dann sehr bedächtig und vorsichtig aus seinem Gefährt heraus, legt seinen Luftballon sorgfältig wieder hinein und kommt langsam die zwei Schritte auf uns zu als kostete es ihn ungeheure Überwindung und Konzentration. Er ist dennoch zielstrebig und wirkt sehr interessiert, als er seine Münze auf die Gitarrentasche legt. Ich knie mich vor ihn hin und bedanke mich. Dann steigt er wieder ein und die Mutter fährt ihn mit einem leichten Gruß in unsere Richtung weiter über das Holperpflaster.

Im nächsten Moment stellt sich ein junger Mann vor uns hin und erklärt auf Englisch seine Begeisterung über Berlin und sein Hiersein, sein Bei-uns-sein und dass er den ganzen Weg aus Schweden gekommen sei, um uns zu hören. Er hat ein Bier dabei und schüttet uns — ein paar Groschen vor die Füße, bevor er auf dem gegenüberliegenden Bordstein Platz nimmt. Wir spielen jetzt für ihn — unser Publikum — und verbeugen uns demonstrativ nach seinem Applaus in seine Richtung.

Indes schwimmen zwischen unseren Ufern wieder Ströme von Menschen, die die S-Bahnen ausgespuckt haben und die nach Hause oder die nächste S-Bahn erreichen wollen. Als wir ein besonders bekanntes russisches Lied spielen, halten drei Bauarbeiter im Feierabendmodus und ebenfalls mit Bierflaschen vor uns an und singen strahlend mit. Sie klatschen und tanzen und wirken überrascht und glücklich, als sie uns danken. Berührungen. Hier unter unserer Ostkreuzbrücke bekommen die Menschen plötzlich für mich ein anderes Gesicht. Einigen von ihnen wäre ich unter anderen Umständen sicher aus dem Weg gegangen. Metamorphosen. Manche Leute wirken inspiriert, manche lachen und winken herüber, danken uns auf verschiedene Art. Wir haben zu danken. Andere sehen sehr widerwillig und abschätzig auf uns und den Schweden von gegenüber herab, der uns inzwischen in Gesellschaft eines zweiten Biertrinkers zujubelt.

Das Gewitter bleibt aus, der Wind hat nachgelassen und nach einer Stunde Straßenmusik verabschieden wir uns von den Menschen unter der Brücke und gönnen uns von dem geschenkten Kleingeld ein Getränk im Park. Als wir eine Stunde später noch einmal hier vorbeikommen um das Fahrrad des Gitarristen abzuholen, hatte ein anderer Plakatierer schon wieder komplett neue Plakate über die vorherigen geklebt. An der Stelle, an der wir gestanden hatten, liegen jetzt die Scherben einer zersplitterten Bierflasche. Ephemere Welt. Doch der halb herunter hängende Plakatfetzen, der vorhin schon immer hinter dem Rücken des Gitarristen in unsere Richtung winkte, wird auch jetzt noch von einem leichten nächtlichen Luftzug bewegt. Wie ein Echo hallt uns dieses Bild entgegen, bis das Flutlicht der Großbaustelle eingeschaltet wird und wir in verschiedenen Richtungen in der Nacht verklingen.


 

Christa Block
Es wär so schön gewesen...

 

Nach langen Jahren trafen wir uns wieder. Einst waren wir Schulfreundinnen, später gingen wir gemeinsam in die Tanzschule, trafen uns ab und an zu gemeinsamen Unternehmungen, verliebten uns auch mal in den gleichen Jungen, dann fanden wir den richtigen Mann, heirateten, bekamen Kinder, hatten unsere Arbeit und der Kontakt verlor sich.

Oft hatte ich Fotos hervorgekramt und trauerte der alten Freundschaft nach. Aber wie sollte ich sie finden, ich wusste nicht einmal mehr ihren Nachnamen und nicht jede in meinem Alter war im Internet zu finden. Solange ich noch meinen Mann hatte, die Kinder und Enkel in meiner Nähe waren, ich mit meinen Nachbarn nett verkehrte, konnte ich auf die Kinder- und Jugendfreundschaft auch verzichten. Ich hatte genügend Menschen um mich herum.

Doch das Leben bleibt nicht wie es ist, wie es war. Jetzt bin ich allein. Nein, ich fühlte mich nicht alleingelassen, noch sind ja die Kinder und Enkel da, wenn wir uns auch nicht ständig sehen, aber wir telefonieren miteinander, schicken E-Mails hin und her und damit ist weder Hamburg noch Texas näher dran, als man denkt.

Doch dann sahen wir uns wieder. Anita und Anja saßen wieder zusammen beim Kaffeetrinken. Der Zufall war es. Aber sind es nicht die Zufälle, die das Leben verändern, schöner machen? Ich war zu einem Treffen in einer Begegnungsstätte. Ab und zu zog es mich dahin, vor allem, wenn es Musik und Gespräche gab. Wir saßen am gleichen Tisch und keiner von uns beiden erkannte die andere. Wir quatschten und wie es oft bei uns Alten so ist, hechelten wir unsere jungen Jahre durch. Was, wir beide gingen in die gleiche Schule? Hatten die gleiche Lehrerin? Auch sie hat getanzt? Nun sahen wir uns richtig an, tiefer in die Augen. Immer noch kein Erkennen. Wir nannten unsere Namen, die zwei A's. Waren wir es wirklich? Mein Gott, wie hatten wir uns verändert. In den fünfzig Jahren, in denen wir uns nicht gesehen hatten, wurden aus blonden und braunen Haaren graue. Die damals so schöne glatte Gesichtshaut war nun faltig, fleckig. Ja, wir zwei hatten uns sehr verändert, nichts war mehr von unserem damaligen Aussehen übrig geblieben.

Aber wir hatten uns wieder! Und bald saßen wir etwas abseits an einem anderen Tisch und redeten, redeten und frischten unsere gemeinsamen Erinnerungen auf. Wir waren die letzten, die die Begegnungsstätte verließen. Doch wir nahmen nicht Abschied von einander; der nächste Termin für ein Treffen stand schon in unserem Kalender, die Adressen und Telefonnummern waren ausgetauscht. Unsere alte und so schöne Freundschaft konnte ihren Lauf nehmen, konnte in eine neue Phase treten und wir waren heiß darauf. Und dann besuchten wir uns gegenseitig in unseren Wohnungen. Ich empfing sie in der Frankfurter Allee und besuchte sie am Nöldnerplatz.

Sie war in dieser Gegend wohnen geblieben, hatte nie das Bedürfnis, irgendwo anders hinzuziehen. Ja, auch ich wollte nie aus Friedrichshain weg, lebte aber später dann um die Frankfurter-, Karl-Marx-Allee herum.

Gemeinsam betrachteten wir immer wieder die alten Fotos, Schulbilder, Erinnerungen an die miteinander verbrachten Ferien auf dem Grundstück ihrer Oma. Dann die späteren, die unserer Hochzeiten, unserer Kinder und, und, und . . .

Nach wenigen Wochen hatten wir das Gefühl, nie getrennt gewesen zu sein. Alles war wieder da und unsere Gespräche füllten die Lücken, die sich gebildet hatten.

Ich hatte so manchmal meine Mühe mit den Besuchen bei ihr. Stets musste ich am Bahnhof Ostkreuz umsteigen, immer musste ich die dämlichen Treppen hinauf und herunter laufen. Dieser Bahnhof ärgert mich, solange ich ihn kenne. Das fing mit meiner Berufsausbildung und späteren Arbeit an – immer ging es über Ostkreuz. In den ersten Jahren meiner Ehe wohnte ich ja in ihrer Nähe und täglich ging es über Ostkreuz. Mit dem Kinderwagen, mit Reisegepäck, Treppen hoch und Treppen runter. Wie oft habe ich das schlechte Wetter verflucht, Regen und Wind von allen Seiten. Schneegestöber!

Anja tröstete mich. Du siehst doch, dass man baut, bald wird alles besser. Ja, ich sah es. Man baute und baute und baut noch immer. Und noch immer muss ich mit meinen nunmehr siebenundsiebzig Jahre alten Beinen die Treppen hinauf und hinunter. Was hilft mir da die große, viel zu große Überdachung des Ring-Bahnsteiges, was hilft mir da die Zukunftsmusik von einem schönen neuen Ostkreuz.

Irgendwann schien meiner lieben Freundin mein Gejammer über diesen Bahnhof wohl zu viel geworden sein. Vielleicht hatte auch sie genug davon, wollte es nur nicht so eingestehen. Sie hatte eine Idee, eine Idee für die Zukunft meinte sie. Oft genug habe ich ihre schöne große Drei-Zimmer-Wohnung mit dem Balkon bewundert. Viel zu groß für eine Person, dachte ich. Schließlich muss man ja in seiner Wohnung auch etwas tun, alles sauber halten, Fenster putzen usw. Nein, ich war mit meiner wesentlich kleineren Behausung sehr zufrieden.

Aber nun zu Anjas Idee. Ich sollte zu ihr ziehen! Sie bot mir ihr größtes Zimmer an und dort sollte ich wohnen. Küche und Bad können wir gemeinsam nutzen, meinte sie. Wir werden uns schon verstehen. Haben uns doch immer verstanden. Wir brauchten nicht mehr durch die Gegend zu fahren, um uns zu besuchen. Wir können täglich miteinander frühstücken, gemeinsam kochen, gemeinsam fernsehen, quatschen über Gott und die Welt, gemeinsam spazieren gehen. Alles gemeinsam? Na ja, meinte sie nach meinem Einwurf. Natürlich kannst du auch die Tür hinter dir zumachen, allein sein, wenn dir so ist. Wir müssen nicht ununterbrochen zusammenhocken. Aber schön wäre es doch, wir zwei beide unter einem Dach. Und billiger wäre es auch. Wir teilen uns die Miete und die Nebenkosten und mit dem Gesparten können wir dann Kaffee trinken gehen, kleine Reisen machen.

Nachdenklich verließ ich sie nach diesem Vorschlag. Mit Mühe kletterte ich die die S-Bahn-Treppe hoch und wieder runter. Ja, das bliebe mir erspart. Ich müsste nicht wieder, wie heute, den Regenschirm aufspannen und trotzdem nass werden. Und das mit der Miete, die ja in letzten Jahren auch immer höher stieg, wäre ja auch nicht zu verachten.

Auch in den nächsten Wochen sahen wir uns regelmäßig. Sprachen auch oft über dieses geplante, nein, noch nicht geplante, nur angedachte Vorhaben des gemeinsamen Wohnens. Plötzlich sah ich sie, meine langjährige Freundin mit ganz anderen Augen an. Beobachtete ihre Gewohnheiten, entdeckte Macken, die mir nicht gefielen, die mich nervten. Stellte mir vor, dass sie mich vielleicht oder wahrscheinlich genau so betrachtete. Doch sie schien mit mir und meinem Leben keine Probleme zu haben, denn so oft kam sie auf ihren Vorschlag zurück. Sie wusste auch schon, wie sie ihr Zimmer leer machen wollte, unterbreitete mir Vorschläge, welche Möbel ich mitbringen sollte. So weit war ich noch lange nicht. Noch hatte ich auch mit meinen Kindern über dieses Vorhaben nicht gesprochen. Ich wusste natürlich, dass sie nichts dagegen haben würden. Wie so oft, würden sie mich bei meinen Vorstellungen unterstützen.

Und so schob ich eine endgültige Entscheidung immer wieder auf und stellte auch manchmal fest, dass mir regelmäßige Treffen mit meiner Freundin eigentlich auch ausreichten.

 

Dann kam der Tag, wo wir meinen eventuellen Einzug in ihre Wohnung erst einmal aufschieben mussten. Anja war gestürzt, lag zwei Wochen im Krankenhaus, ging anschließend zu einer Reha-Kur. In der Zeit kümmerte ich mich um ihre Wohnung, goss die Blumen auf dem Balkon, buddelte die Frühlingsblumen aus und ersetzte sie durch Geranien. Fühlte ich mich nicht schon wie zu Hause in dieser Wohnung? Ich putzte ihre Fenster und bereitete alles auf ihre Rückkehr vor. Ja, da war sie wieder. Aber es war nicht mehr die alte bewegliche und unternehmungslustige Anja. Die Hüfte, das Knie, Gehen am Stock, weitere physiotherapeutische Maßnahmen. Ich tat alles, um sie zu unterstützen. Ging einkaufen, kochte Mittag, sorgte für Sauberkeit und Ordnung. Mehrmals wöchentlich quälte ich mich durch den schönen neuen Bahnhof Ostkreuz.

Inzwischen war auch ihre Tochter aus Dresden da. Die hatte extra ihren Urlaub genommen, um der Mutter zu helfen. Es war schön anzusehen, wie gut die zwei sich verstanden. Schön war es auch für mich, dass ich vorerst nicht mehr so oft zum Nöldnerplatz musste. Eines Tages wurde ich überrascht. Die beiden besuchten mich. Keine Anfahrt mit der S-Bahn, nein, das wäre nicht gegangen. Eine Taxe und die Fahrstühle in ihrem und in meinem Haus machten es möglich. Wie freute ich mich, kochte Kaffee für den Überraschungskuchen, den sie mitgebracht hatten. Wie besorgt schob ich ihr den Stuhl zur recht, damit sie es ja bequem beim Sitzen hatte, wie gut tat uns diese gemeinsame Runde. Wenn sie mich jetzt gefragt hätte, ob ich bei ihr einziehen wolle, ich hätte laut und freudig "Ja!" gerufen. Doch es kam keine Frage. Es kam ganz anders. Anja würde nach Dresden ins Haus ihrer Tochter ziehen. Dort erwartete sie ein kleines Zimmer, gleich daneben Dusche und Toilette – alles zu ebener Erde und ohne Behinderungen zu erreichen. Ich war ein wenig erstaunt. Hatte sie nicht oft darüber gesprochen, dass sie nie bei ihren Kindern wohnen wolle, dass sie nie der Familie zur Last fallen wolle. Auch ich hatte diese Meinung oft vertreten. Eher in ein altersgerechtes Wohnen, eher in ein Heim, aber nicht zu den Kindern oder Enkelkindern.

Ich sah die beiden an. Glücklich sahen sie aus. Beiden schien diese Entscheidung zu gefallen.

"Du kannst mich ja dort auch besuchen kommen. Dann musst du nicht über das schöne Ostkreuz, kannst mit der U- und S-Bahn bis zum Hauptbahnhof fahren, dort gibt es jede Menge Rolltreppen und Fahrstühle, steigst in den Zug und fährst ganz bequem bis Dresden. Dort wirst du mit dem Auto abgeholt und bei uns im Haus findest du auch ein Bett und alles, was du brauchst." Ihre Tochter unterstützte die Einladung noch mit vielen Worten und Beschreibungen von Haus und Garten.

Dann war ich wieder allein, überdachte all das Gehörte. Nein, ihre Zufriedenheit über die Entscheidung zum Umzug zur Familie, war kein Moment des Glücks, es ging über den Moment hinaus. Es war ein guter Entschluss für die Zukunft von beiden Seiten, von Mutter und Tochter. Und da gibt es keine Gegenargumente, kein Dafürhalten, dass man das Alleinsein aufgibt und sich in eine Familiengemeinschaft einfügen muss. Es war die richtige Entscheidung.

Natürlich dauerte es mit dem Umzug, dem Auflösen der Wohnung noch ein paar Wochen, in denen ich regelmäßig über meinen ungeliebten Bahnhof Ostkreuz zur Freundin fuhr. Fleißig half ich beim Aussortieren, Einpacken, Verpacken und bei all den Kleinigkeiten, die so eine Haushaltsauflösung mit sich bringt.

 

Der Abschied von einander fiel uns nicht leicht, wenn wir auch froh waren, die Plackereien der letzten Wochen hinter uns zu haben. Die Wohnung war schon so gut wie leer, den Rest würde eine Firma erledigen. Anja stieg mit ihrer Tochter ins Auto und ich winkte ihnen hinterher. Ich winkte wohl noch, als sie schon um die nächste Ecke gebogen waren.

Und dann stand ich auf dem schönen neuen Bahnhof Ostkreuz mal wieder im Regen, denn ich stand unten und nicht oben auf dem viel zu großen überdachten Bahnsteig, hatte immer noch kein Dach über dem Kopf, und so wird es hier wohl auch noch eine Weile sein,. Aber ich muss ja nun auch nicht mehr hier aussteigen, meine Träume hatten sich zerschlagen – es wär so schön gewesen.


 

Christine Kahlau / Andreas Monning
Zweimal Ostkreuz und zurück

 

Andreas: Weißt du Christine, was ich denke? Wenn wir zusammen über das Ostkreuz schreiben wollen, sollten wir vielleicht Positionen beziehen. Um es für den Leser spannend zu machen meine ich.

 

Christine: Nee, ich habe nämlich keine Position – jedenfalls keine, die mir auf Anhieb einfällt. Das entwickelt sich doch, denke ich mal, in unserem Dialog, über Ostkreuz. Überhaupt, was ist'n dieses OST KREUZ??? Kreuz des Ostens? Was kreuzt sich denn da überhaupt und seit wann? Und stimmt das heute überhaupt noch so...?

 

Andreas: Fragen über Fragen, die ich mir so ehrlich gesagt auch noch nie gestellt habe. Ich frage mich vielmehr, warum es neben Ost-, West- und Südkreuz eigentlich kein Nordkreuz gibt. Aber das führt hier vom Thema weg. Deinen Einwand kann ich jedenfalls schon verstehen. Du hast keine Position, und ich auch nicht, also wäre das etwas künstlich. Es geht wohl eher um die verschiedenen Bezüge. Soll ich mal mit einem Anfangen?

 

Christine: ...

 

Andreas: Das Ostkreuz kam neulich in einem meiner Karriere-Artikel für die Berliner Morgenpost vor. Es ging um den derzeitigen Großbauten-Boom in Berlin und die Jobchancen, die der mit sich bringt. In dem Fall also Baubranche, Architekten, Facility Management und so weiter. Ich habe dann unter anderem das Architekturbüro besucht, dass das neue Ostkreuz entworfen hat und dort eine Mitarbeiterin interviewt. Man kann von deren Besprechungsraum aus direkt auf das Ostkreuz gucken. Die Früchte der eigenen Arbeit quasi täglich vor Augen.

 

Christine: Oh, die Ärmste! Ob die sich wohl wünscht, da selber zu wohnen? Wobei, die Umgebung ist ja schon Spitze...! Ich frage mich oft, ob es in Berlin vielleicht eine geheime Absprache gibt, daß nur möglichst Hässliches gebaut werden darf? Angeblich ist ja alles, was schöner wäre, immer nicht bezahlbar... Also, eine Art Verschwörung, Berlin auf die Art "klein" zu kriegen... Na, ja, mein Geschmack ist es jedenfalls nicht, abgesehen davon, daß es dann trotzdem noch teuer ist!

Aber, zurück zu uns: Fragen auf zu werfen, ist doch gut. Da kann sich die werte Leserschaft die Antworten entweder selbst geben, oder aber losgehen und die Antworten selbst herausfinden. Also, ich sehe mich hier weniger als Faktenlieferin sondern vielmehr als... Moment, Vorsicht! Falle: keine Position einnehmen (obwohl, hab ich ja bereits)... als emotionale Seismografin für das, was Ostkreuz auch ist, vielleicht...

 

Andreas: He, Christine, sehr geehrte Seismographin, ich glaube wir müssen uns mal kurz verständigen: Ist Ostkreuz jetzt die S-Bahnstation - oder die Gegend? Von wegen wohnen!? Im Hauptbahnhof sind Büros, aber in der S-Ostkreuz soweit ich weiß nicht, auch keine Wohnungen. Obwohl es jetzt, wo ich es sage, nach einer tollen Idee klingt. Sagen zu können: Ich wohne im Ostkreuz! Und sehe von oben herab die Bahnen in alle Himmelsrichtungen entgleisen. Oder sagt man davongleisen? Jedenfalls könnte man kaum verkehrsgünstiger angebunden wohnen.

Apropos verkehrsgünstig und wohnen: Bei unserer Ortserkundung letztens hatte ich schon stark den Eindruck, dass das aufgepeppte neue Ostkreuz wohl was mit den vielen schicken Neubauten an der Rummelsburger Bucht zu tun hat. Von wegen Entwicklungsbedarf, Aufwertung, Infrastruktur pipapo. Umso famoser so gesehen, dass wir am Markgrafendamm – das Ostkreuz vis-à-vis – im Sandkasten des Technoclubs gesessen haben, wo ganz klar noch nix von neu und teuer zu spüren war. Obwohl... Um die Ecke gedacht könnten das natürlich genau die Vorboten des neuen Schicks sein. Die als Raumpioniere die Gegend aufwerten und so lange bleiben dürfen, bis das Kapital Interesse anmeldet. Und dann: Wie Magnet und Knaack auf dem Prenzlauer Berg. Prrrt!

 

Christine: Lieber Andreas, mitnichten bestand und besteht (das?) Ostkreuz nur aus Bahnhof! Dafür spricht z. B. was es hier – parallel neben investorischem Begehren und Gebaue — so alles an bürgerschaftlichem Engagement gibt, und das reicht bis hin zur Rummelsburger Bucht! Übrigens wurde hier landeseigenes Gelände verschachert — für das Neue Wohnen am Wasser, inmitten Berlins! Also, noch aufgewerteter geht es wohl kaum... Zu Deiner Idee, in nem Bahnhof zu wohnen fällt mir ein, was mir ein älterer Schwuler mal erzählte: zu Ostzeiten, als der Bahnhof Ostkreuz schon alt und ziemlich runter war, gab es dort ein Klo auf dem unteren Bahnsteig. Wenn ich mich recht erinnere, musste Frau sich den Schlüssel bei der Bahnaufsicht holen. Was an sich schon umständlich war, erst recht, wenn man mit kleinen Kindern unterwegs war, die plötzlich ganz schnell mal mussten, "groß" natürlich... Auf dem Männer-Klo dagegen ging es – offensichtlich ohne Schlüsselzwang – zu manchen Zeiten dafür hoch her, nach der Beschreibung. Auf die genaueren Details dieses Schnell-Befriedigungs-S-Bahn-Kreuz-Herrganges habe ich dann lieber verzichtet.

 

Noch etwas zum Seismografischen: Ich denke die Gegend um Ostkreuz tatsächlich immer mit. Wenn man lange genug in einer Stadt verbleibt, bekommt man auch die regionalen Veränderungen dort mit, ob man will oder nicht. In meinem Leben gibt es zahlreiche Bezüge zum Ostkreuz, zu den verschiedensten Zeiten. Und egal von welcher Seite ich mich dieser Region nähere, es hat sich grundlegend gewandelt. Und - es lässt mich auf jeden Fall nicht los, dieses Ostkreuz, warum auch immer...

 

Andreas: Oha. Während ich also aus dem Fenster meiner Bude mit Bahnhofsblick gleisenden Bahnen zusehen könnte, würde sich geisterhaft das An- und Abbahnen sexueller Entgleisungen am Toilettenhäuschen der Männer manifestieren. Zumindest wenn man als spirituell, um nicht zu sagen: als esoterisch beeinträchtigter Mensch zu so einer Sichtigkeit neigt.

 

Ich sage nur "die Geister die ich rief". Eine Toilettenrechnung habe ich nämlich auch mit dem Ostkreuz. Ich weiß nicht ob man sagen kann: eine beglichene. Wenn ich mal aus dem intimen Nähkästchen plaudern darf, gab es bei mir zuletzt eine längere Phase herausfordernden Blasenstresses. Was bedeutet hat, dass ich oft akut pinkeln musste, egal wo ich grade war. Da ich in der Phase zufälligerweise oft das Ostkreuz als Umsteigebahnhof hatte, kam es vor, dass ich dort aus der S-Bahn gestiegen bin – und nur noch wenig Zeit hatte, mir einen Pinkelort zu suchen. Ich habe ehrlich gesagt immer noch keine Ahnung, ob es am neuen Ostkreuz offizielle Toiletten gibt, denn danach zu suchen hätte mir viel zu lange gedauert. Stattdessen habe ich herausgefunden, dass es ein Bahnsteigende gibt, das so weit aus dem Bahnhof ragt, dass dort gefühlt schon eine neue Welt beginnt. Eine Outdoor-Welt, in der Raucher rauchen dürfen und man ungestört durchs Geländer ins Gleisbett pinkeln darf. Das hat mich sehr beruhigt — und mit dem neuen Bau versöhnt. Mein Dank den Architekten, die das (unbewusst) berücksichtigt haben. Solche Freiräume hatte ich bis dahin nämlich eher den alten, freundlich maroden Stationen zugeschrieben. Also: Es ist auch Raum für Menschlichkeit im neuen Ostkreuz!

 

Christine: Ist ja allerhand! So erfahren wir also noch etwas über das Verhältnis sich hypermodern gebender Großstadtbahnhofsarchitektur zur allermenschlichsten Bedürftigkeit. Die Angebote dort etwas zu Konsumieren sind ja unübersehbar, die Bedürfnisanstalt dagegen hat man gut versteckt, wie es scheint. Aber, Problem clever gelöst, wie ich finde!

 

Ich hielt mich übrigens schon früher nicht all zu gerne auf am Bahnhof Ostkreuz, musste ich aber, wollte ich nach Karlshorst, Strausberg oder bis nach Erkner fahren. Ich fühlte mich oft so verloren auf diesen tristen, zugigen Bahnsteigen. Heute bin ich immer noch froh, wenn ich Ostkreuz hinter mir lassen kann – inzwischen wegen der kantigen Beton-Glas-Ästhetik und des unübersichtlichen Fahrgastgewusels darin. Aber nun gelingt es rascher wegzukommen, weil zum Glück die Zugabfahrtszeiten heute kürzer getaktet sind.

 

Aber um mal wieder wegzukommen von diesem Bahnhof – einer der Bezüge, die ich mit Ostkreuz verbinde, war mein erster und einzig wirklich gut bezahlter Job als Soziologin, gleich nach meinem Diplom. Leider währte er nur kurz, nämlich ein halbes Jahr, dann wurde ich gefeuert. Es war die Zeit der Sanierungen der Häuser rund um den Bahnhof Ostkreuz. Ich betreute im Sozialplanverfahren, die von der Sanierung betroffenen Mieter. Niemand von uns ahnte damals den Hype, den dieses Friedrichhainer Viertel einmal als Vergnügungsmeile ereilen würde.

 

Andreas: ...

 

Christine: Da Du hier schweigst, will ich noch ergänzen: Hätte ich damals in diesem Job verbleiben können, so hätte ich eine überaus sinnvolle Tätigkeit, einen Einblick in die Wohnraumbewirtschaftung Berlins und vor allem ein sicheres Einkommen – zumindest für einige Zeit - gehabt. Doch meine durchwachsene Arbeitsbiografie und meine damalige Unerfahrenheit mit dem innerbetrieblichen Klima in Zeiten neoliberaler Dienstleistungsgesellschaften, haben dies dann eben verhindert.

 

Andreas: Mein Schweigen waren stille Zustimmung und Einvernehmen. Und eine Denkpause, in der mir folgendes eingefallen ist: Einen Katzensprung vom Bahnhof Ostkreuz Richtung Alt Strahlau stand mal etwas, was mir Bekannte als ehemalige "Glaserei" verkauft haben. Ob das stimmt weiß ich gar nicht. Jedenfalls war es eine mordsmäßige Fabrikruine, ein düsterer und doch irgendwie freundlicher Tempel des Verfalls. In den wir begeisterten Jünger natürlich nicht rein sollten, in den es aber trotz aller vermauerten, verschweißten und vernagelten Türen und Fenster immer wieder neue und zum Teil halsbrecherische Zustiege gab, zuletzt an der Fassade rauf und über die Vordächer rein.

 

War man dann drinnen, begrüßte einen magisches Halbdunkel, eine seltsam postapokalyptische Atmosphäre. Keine Maschinen mehr, nur Trümmer und zerbrochenes Fensterglas in riesigen Hallen und Räumen, in denen es zog und durch das eingestürzte Dach reinregnet. Und überall waren unendlich viele und zum Teil bemerkenswert künstlerische Graffitis. Meistens haben wir in dem Koloss dann auch entweder Sprayer getroffen – oder Fotografen, die um die Endlichkeit aller schönen Dinge wissend die bizarre Welt im Bild festgehalten haben.

Ein Freund und ich sind aber vor allem zum Industrieklettern gekommen. Das heißt: zum üben. Denn für uns beide waren es die Anfänge des Kletterjobs, und in der gigantischen Ruine gab es natürlich genug herausfordernde Struktur, um Kletter- und Sicherungstechniken zu üben. Wenn wir zu zweit waren, war das zwar berufsgenossenschaftlich immer noch nicht okay, aber zumindest in der Hinsicht vorbildlich, dass ein Kletterer den anderen aus einer Notlage hätte befreien können. Wenn mein Kletterfreund keine Zeit hatte, bin ich manchmal aber auch alleine dorthin. Um im Dämmerlicht beispielsweise durch das turmhohe Gerippe eines Lastenaufzugschachtes zu steigen. Manchmal habe ich mir vorgestellt, dass ich abstürze und mich erst ein Sprayer oder Fotograf in den Trümmern findet. Dann hätte das Ostkreuz eine tragische Geschichte dazu bekommen. Der unbekannte tote Kletterer.

 

Mittlerweile ist unser Abenteuerspielplatz für Großstadtjungs allerdings längst sanierter Teil eines Neubauensembles. Wer nicht weiß, dass dort eine riesige Fabrik stand, erkennt nichts Ungewöhnliches mehr. Das alte Gerippe ist fast komplett umbaut. Nur für Leute, die eine intime Verbindung zu dem Ort aufgebaut haben, ist klar zu erkennen, dass Fassadenteile noch von der alten Fabrik stammen. Statt meines Absturzes ist das also die Tragödie: das stille Verschwinden dessen, was diese Stadt einmal einzigartig für mich und viele andere gemacht hat. Der sanft entschlummerte Fabrikkoloss, inmitten eines Birkenwäldchens.

 

Die neuen Wohngebäude sind modern und eigentlich ganz hübsch. Wer das Gebiet nicht von früher kennt, wird hier vermutlich nichts anstößig finden.

 

Christine: Hm. Ich sehe dort bloß nichts Modernes, sondern nur kastenartige Ausführungen von my home is my castle style und das ist doch eher Schnee von gestern. Jeder bleibt für sich und damit sich selbst der Nächste. Hat dabei zwar einen tollen Ausblick, joggt am – sehr schönen – Ufer entlang, führt den Hund aus... Wer also die Kohle hat, kauft bzw. mietet sich dort ein – der Rest kann ja dahin ziehen, wo es für die Investoren zu unattraktiv ist. Ist das jetzt Fortschritt oder nicht eher Rückschritt? Und wo bleibt dabei die Poesie und Dichtung am Bau? - um mal Mies van der Rohe (sehr frei) zu zitieren...

 

Aber, der Annemirl-Baur-Platz auf der anderen Seite vom Bahnhof Ostkreuz gefällt mir! So offen nach allen Seiten, weitläufig, verspielt, ringsum mit bequemen Sitzmöbeln versehen... ein guter Ort für klein und groß. Überhaupt scheint in diesem Teil Ostkreuz das die Sanierung begleitende Sozialplanverfahren vor allem für die Bewohner Positives bewirkt zu haben! Das Quartier wirkt lebendig, geradezu quirlig und ist dabei trotzdem gemischt. Nur der Touristenandrang würde mich persönlich wahnsinnig machen...

 

Mich beschäftigt, wie man Altes, auch Überholtes losläßt und neue, kreative Akzente setzt, ohne dabei all das, was die Besonderheit eines Ortes, seinen unverwechselbaren Charme ausmacht, zu zerstören. Und ohne dafür ein Museum, eine Art Disneyland der guten alten Zeit schaffen zu müssen. Das Atmosphärische, meinethalben Authentische eines Ortes braucht Zeit, um sich zu entwickeln und entsteht doch vor allem durch die Menschen, die darin leben...

Andreas: Na weißt du, mein "modern" war eigentlich nicht positiv gemeint, sondern mehr im Sinne von... neu!? Obwohl doch, irgendwie schon auch mit so einer Art, sagen wir mal: Anspruchs-Architektur, durch die sich solche Neubauten von denen ohne jeden Anspruch unterscheiden. Vielleicht könnte man sagen: Gebäude mit einer erkennbaren gestalterischen Idee im Gegensatz zu wirklich gesichtslosen Wohnklötzen, die man den sozial Schwachen zumutet.

Deine Beschreibung hat mir aber vor allem in Erinnerung gerufen, dass ich mit meiner aktuellen Ausbildung zum Gesundheitscoach auch in so einem modernen Bau hocke, für den vermutlich ein sanierungsfälliger Altbau weichen musste. Boxhagener Ecke Holtei, gefühlt noch im Intimbereich des Ostkreuzes. Da zu Beginn meiner Ausbildung der schneeweiße Neubau mit schwarzen Farbbomben beworfen war, vermute ich, dass nicht alle mit der Veränderung einverstanden waren. Da haben sich entweder die Kiezbewohner oder die mobilen Gentrifizierungsgegner der Sache angenommen.

 

Kann ich als alter Ruinenkletterer einerseits natürlich bestens verstehen. Andererseits sitze ich da nun regelmäßig in dem Bau und genieße eine sehr gute Ausbildung. Ich meine, schon klar, für die hätte kein Wohnhaus platt gemacht werden müssen, das hätte man woanders auch anders organisieren können. Aber irgendwie ist das wohl genau der gängige Zwiespalt: Dass die einen auf das abkotzen, womit andere aus völlig anderen Gründen zufrieden sind. Weil sie es wie ich ausschließlich von der positiven Seite erfahren. Und nu?

 

Christine: Das Beste daran ist noch, wenn Altes, noch Funktionierendes weg geknallt wird, das Neue aber eine gute, sinnige Nutzung zulässt. Ich denke da an den Abriss intakter, alter Wohnviertel in den Siebzigern, in Berlin-West, wo dann dafür Neubausiedlungen entstanden sind, mit einer eigenen, unabhängigen Infrastruktur - ganz ähnlich übrigens der Entwicklung im Osten Berlins. Da wurde auch kurzerhand nebenbei mal Geschichte beseitigt und zu betoniert. So empfand ich früher die Plattenbausiedlungen in Ostberlin immer als böse Zumutung. Heute dagegen staune ich über die damalige Weitsicht der DDR-Architekten, die die verschiedenen Bedürfnisse der Bewohner bei ihrer Planung sehr wohl im Blick hatten: viele Grünflächen, eine gute Infrastruktur, viele Kindereinrichtungen, oft gute Kunst am Bau... Manches offenbart seine Qualitäten eben erst nach einer Reihe von Jahren. Apropos Zukunft: Hast Du nicht Lust auf eine kleine Zeitreise, sagen wir, Ostkreuz im Jahre 2053? Ich beginne schon mal:

 

Es ist früh am Morgen, B. räkelt sich und beschließt, heute vor dem Dienst, ein Morgenbad in der Spree zu nehmen, die vor ihrer Haustür liegt. Seit dem das Ufer vor einigen Jahren bepflanzt wurde – dazu wurde die alte Uferbegrenzung aus Beton beseitigt und weicher, weisser Sand aufgeschüttet – gönnt sie sich hin und wieder das Vergnügen. Sie trifft dabei Nachbarn aus dem eigenen oder einem der anderen Blocks. Manche sind mit dem Hund spazieren – es gibt etliche Ältere darunter, die schon lange hier wohnen und immer wieder begeistert von den Entwicklungen des Viertels in den letzten Jahrzehnten schwärmen. Seit sich die hier Wohnenden vor Jahren der Transition-Town-Bewegung angeschlossen haben, hat sich das Leben grundlegend verändert. So wurden anstelle des privaten Eigentums, Wohngenossenschaften mit Mitspracherecht gegründet, die Selbstversorgung mit Wind- und Solarenergie vorangebracht und Gärten angelegt, in denen die saisonale Versorgung mit Obst, Gemüse und Blumen sicher gestellt wird. Und Infrastruktur wurde vor Ort geschaffen, mit kleinen Läden für alles Lebensnotwendige, einigen Dienstleistern und mehreren Kindereinrichtungen. Weiterhin gehören inzwischen auch eine kleine öffentliche Bibliothek, einige Mehrgenerationenhäuser sowie ein Nachbarschaftszentrum dazu. Die Wohnungen im Viertel sind sehr gefragt, zumal die Mieten hier sozial gestaffelt sind, je nach dem Einkommen der BewohnerInnen.

B. holt sich nach dem Bad einen Kaffee aus der Bäckerei und trinkt ihn in der Morgensonne. Danach geht sie nach oben, zieht sich um und schnappt ihre Tasche. Sie nimmt anschließend die S-Bahn, die sie von Ostkreuz nach Weißensee bringt, zu ihrem Arbeitsplatz, einem mittleren Unternehmen für Umwelt- und Stadtsoziologie...

 

Andreas: Mensch, Christine, entschuldige, aber deine sozialromantische Skizze provoziert mich zum dystopischen Gegenentwurf. Kann daran liegen, dass ich gestern Oblivion gesehen habe, in dem Tom Cruise als Held und technischer Facility Manager die Ausbeutung des verwüsteten Planeten Erde betreut. Wer den Streifen gesehen hat, wird die Zitate erkennen. And here we go:

 

D. E. wacht verkatert auf, quält sich aus dem Bett und zündet sich als Erstes eine Zigarette an. Nach einigen tiefen Zügen setzt er sich an sein Kommunikationsmodul, an dem schon seit langem die Ruflampe blinkt. Als er auf Empfang schaltet, wird ihm die Order des Tages entgegengequäkt: Eines der Kraftwerke, für das er zuständig ist, meldet einen Betriebsfehler und muss sofort inspiziert und repariert werden.

 

D. E. verlässt sein Quartier, dass in einem provisorisch instand gesetzten Dachgeschoss eines fünfstöckigen, ehemaligen Wohnhauses untergebracht ist. Ansonsten liegt das Viertel nahe dem ehemaligen Berliner Bahn­knotenpunkt Ostkreuz fast vollständig in Trümmern, die Straßen sind menschenleer. Nach einem gespenstischen Fußweg an Schuttbergen und menschlichen Hinterlassenschaften vorbei, erreicht D. E. die Spree. Über dem Wasser schweben in einer endlosen Reihe gigantische Konstruktionen, die Tag und Nacht Gigatonnen Wasser ansaugen und in Energie verwandeln.

 

Als D. E. sich auf den Weg zu dem defekten Kraftwerk 0777 machen will, bleibt sein Blick an einem der Trümmerberge hängen. Aus dem Schutt zieht er ein Buch und klopft vorsichtig den Staub ab. Der Titel lautet Schönes neues Ostkreuz. D. E. blättert behutsam die Seiten um, stoppt bei einer Geschichte von Christine K. und fängt an zu lesen. Die Autorin beschreibt eine wunderschöne Utopie der Gegend, in der D. E. heute alleine lebt. Als der Techniker zu Ende gelesen hat, steckt er das Buch vorsichtig in seine Umhängetasche und schaut die Reihe der unablässig arbeitenden Kraftwerke entlang. Eine Träne läuft ihm über die Wange.

 

Christine: B. ist in ihrem Campus angekommen – durch die neue S-Bahnverbindung spart sie etliche Minuten Zeit – und betritt ihr Büro. Sie gehört zu einer Gruppe junger Sozialwissenschaftler, die sich mit den Auswirkungen nicht sichtbarer Phänomene beschäftigen, wie dem Auftreten von Energieströmen in menschlichen und tierischen Gehirnen und Organen, in Pflanzen sowie in anorganischer Materie. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Veränderung menschlicher Verhaltensweisen. Die inzwischen sehr gute Messbarkeit und damit Darstellbarkeit solcher Energien leitete bereits vor Jahren eine neue Ära in Forschung und Gesellschaft ein. So hat die vor Jahren gegründete WOMPES (World Organisation for Maintenance and Preservation of the Earth's Surface) eine Studie in Auftrag gegeben, die den Zusammenhang erforschen soll zwischen den Gedanken von Menschen auf ihr Leben und ihre unmittelbare Umgebung. B. entdeckt auf dem Tisch ihres Kollegen R., der noch nicht eingetroffen zu sein scheint, ein abgegriffenes, vergilbtes, einfach gebundenes Buch. Vom Titel ist nur noch das Wort OSTKREUZ zu entziffern. B. schlägt es neugierig auf. Es handelt sich dabei offensichtlich um einen Roman. Sie beginnt gerade die Beschreibung eines düsteren Weltuntergangsszenariums zu lesen, geschrieben von einem Andreas M., als R. das gemeinsame Büro betritt. B. zuckt ertappt zusammen. Doch ihr Kollege begrüßt sie freundlich und sagt grinsend: Die Schwarte hab ich neulich auf dem Dachboden meines Hauses gefunden, stammt aus dem Jahre 2013. Wirklich spannend geschrieben, diese Zukunftsgeschichte über Ostkreuz. Etwas apokalyptisch zwar, aber auch anregend! Ich mag so was hin und wieder als Ablenkung und Entspannung. B. klappt das Buch zu und betrachtet ihren Kollegen gedankenversunken. Sie hat gerade das Gefühl von einem Déjà-vu...

 

Andreas: Na, wenn jetzt hier nicht doch der Positionenkampf entfesselt ist. Und ich bin der dunkle Tintenritter, der böse Dystop? Denkste! Ich will was ganz anderes beisteuern, es hat sich nämlich schon wieder neues Material zum Ostkreuz ergeben. Im Nachhall des scientologie-verdächtigen Cruise-Streifens Oblivion hat es mich am nächsten Abend gleich noch mal ins Open-Air-Kino gezogen. Dieses Mal: The Master, der Film über den Scientology-Gründer Hubbart. Ort: Das kleine aber superfeine Freiluftkino Pompeji, ein Babykatzensprung entfernt vom Ostkreuz. Fantastisch war das, super großstadtromantisch, zusammengedrängt in dem engen, alten Hof zu sitzen und diesen bildgewaltigen Streifen zu sehen. Die Pappeln rauschen, die Sterne funkeln, auf dem Weg zum Pompeji die lange Schlange vor dem benachbarten Club... Magische Momente. Jetzt ist auch das für mich Ostkreuz.

 

Christine: Einverstanden, bleiben wir im Hier und Jetzt, in Ostkreuz. Ist doch schön, oder schrecklich, je nach dem wie man es gerade betrachten will oder kann. Also, was Du gerade beschreibst - es gibt Orte, die wollen noch entdeckt sein, im Ostkreuz. So, wie ich neulich die Mühlenstraße entlang radele und mir plötzlich das Andreashaus auffällt und welches zur Katholischen Skt. Andreas Kirche gehört. Inmitten dieser lauten und stark frequentierten Vergnügungsmeile an der Spree, ein Zufluchtsort der Kirche, oder gerade dort? Überhaupt, Kirchen in Ostkreuz. Was stellen sie dar: historisch, architektonisch, aktuell? Beispiel Friedhofskapelle Boxhagener Straße, ein wahrhaft transformierter Ort...

 

Andreas: Du meinst die Theater-Kapelle, richtig? Aber weißt du was: Mich beschleicht das Gefühl, mit den Kirchen lenkst ab. Von was eigentlich? Und ich habe noch ein Gefühl: Dass ich nämlich nach all unseren Runden zu meinem Eingangsgefühl zurückkehre, dass das Ostkreuz für mich keine Gegend, sondern eine S-Bahnstation ist. Und zwar eine, in die ich mich mittlerweile fast verliebt habe. Ja, du hörst richtig. Ich habe mich vorletzte Woche von der Frankfurter Allee getrennt und das Ostkreuz zu meiner Ein- und Aussteigestation gemacht, wenn ich zur Ausbildung fahre. Der Charme des Unschönen hat mich mal wieder gekriegt, würde ich sagen. Wie schon damals das triste Bochum, das ich zum Unverständnis vieler auch sehr gerne gehabt habe. "Ostkreuz ich komm aus di-i-ir, Ostkreuz ich häng an di-i-ir"... Ich glaube Grönemeyer würde mich verstehen.

 

Christine: Und schwuppdiwupp, beziehst Du hier astrein eine Position - zu Ostkreuz: der romantische Schwärmer vom Bahnhof Ostkreuz... Aber ist okay! Wirklich. Und ich brauche gar nichts dagegen zu halten – denn Ostkreuz ist für mich alles: Bahnhof und Umgebung! Und hält mir so vieles bereit, das noch entdeckt werden will. Entdecke Du nur weiter Deinen Bahnhof – ich streife lieber durch die Straßen, Plätze, Kirchen, dabei immer wieder auf Neues, Unbekanntes stoßend... Hin und wieder schaue ich mal rüber, zum Bahnhof, dem gläsernen Ungetüm und denke an Dich und zurück an die schöne Zeit, als wir uns zusammen so unsere Gedanken machten, über Ostkreuz...

 

Andreas: Liebe Christine, warnst du mich freundschaftlich vor dem Bahnhofstunnelblick? Vielleicht zu Recht, denn eigentlich kenne ich mich. So schnell wie ich verliebt bin, kündige ich Beziehungen auch wieder auf. Aber hey, zu meiner Ehrenrettung: mehr als oberflächliches Verknalltsein bietet der schnieke Bau einfach auch nicht an! Oder? Am Ostkreuz quietschen und kreischen seit einigen Tagen jedenfalls die Rolltreppen: Erst die bergauf, dann kam die Reparaturpause. Jetzt die bergab. Zack, Peng! bin ich genervt – und denke an meine gute alte Frankfurter Allee. Kann sein, man wird mich schon in Kürze erzählen hören "Ich hatte da mal was mit dem Ostkreuz".

 

Christine: Das ist eben der Unterschied zwischen Verliebtsein und Liebe. Das man dem anderen auch über eine gewisse Zeit hinaus seine kleinen Fehler und Schwächen nachsieht, weil man ja weiß, was man an ihm, an ihr hat. Was stört da schon ein Quietschen oder ein Schnarchen, hier eine Funktionsstörung, da eine Unvollkommenheit...? So gewinnt man auch einen Ort irgendwann lieb, in dem man ihn immer wieder und in unterschiedlichen Stimmungen und Situationen erlebt. Und, es ist doch eher weniger das Perfekte und Vollkommene, was sich uns einprägt. Aber, obwohl mein Herz tatsächlich an einem anderen Stadtteil hängt, kann ich doch Ostkreuz mittlerweile einiges abgewinnen.

 

Andreas: Gewinnen und zerrinnen. Ich glaube, dass mir Berlin dieses schnelle Einlassen und Loslassen beigebracht hat. In dieser Stadt verändert sich so schnell so viel, da heißt es doch in einer Tour "Guten Tag" und "Auf nimmer Wiedersehen". Notwendige Anpassung könnte man meinen. Und die Veroberflächlichung der Beziehungen ist halt eine Nebenwirkung.

 

Christine: Das schon – aber das ändert nichts daran, daß es unterschiedliche Qualitäten von Beziehungen gibt und das seinen Sinn und Wert hat. Flexibilität ist wichtig und auch gut, wird aber meiner Meinung nach grad massiv überbewertet. Außerdem kann man hier und da auch gegensteuern: Verstetigung, Entschleunigung, Lebensqualität.... Huch, schon wieder wird hier Position bezogen...!

 

Andreas: Allerdings! Aber falls ich dich mit meinen Äußerungen dazu getrieben haben sollte, tut mir das Leid. Pass auf, ich habe einen Vorschlag: Wir gehen noch mal zum Ostkreuz, einer nimmt die S41, einer die 42, und dann fahren wir in unsere unterschiedlichen Richtungen... bis wir uns in der Mitte treffen, wo auch immer die ist. Und falls wir es nicht schaffen, rechtzeitig auszusteigen, dann winken wir uns im Vorüberfahren zu – und drehen noch eine Runde, und noch eine, so lange bis...

 

Christine: Andreas, das wäre ein neues Projekt! Nichts dagegen. Aber zuerst wünsche ich mir, mit Dir noch mal ne Runde durch Ost-Kreuz zu drehen. Treffen meinetwegen am Bahnhof, dann schlendern durch den Kiez: Eis essen und vom Ufer aus in die Spree spucken oder Freiluft-Kino gucken, Tee schlürfen in der Strandbar zu Technoklängen... alle Überlegungen mal beiseite lassen und einfach nur genießen — Ostkreuz...

 

Epilog

Und so geschah es, und gemeinsam trugen sie ihr Ostkreuz und klagten nicht, sondern waren es zufrieden.


 

OscarTheFish(pak)
Der (letzte) Ostkreuzritter

 

"Mein Kind, ich treffe ständig Leute / Die auf der Suche sind in dieser Welt
Doch hantier ich nicht mit Suchmaschinen
Ich bin im Fundbüro noch angestellt!"

So hört man ihn / Den Mann mit der Tasche
Der als klassisch-mediane Bevölkerungsflasche
Sein Leben fristet / Ungelistet an der Bank der Klage
Mit ihren Policen für ein Leben hinter Gittern
In die so viele im freien Fall, dem Casus liber, schlittern
Was ihnen ohne Liebe lieb nicht ist.

Keine Frage / Wann all die Hoffnungen starben;
Sie fahren nicht nur schwarz, weiß und in Farben
In die Hölle täglich / Hin und zurück
Reingefallen auf den Trick vom Glück
Nadelnder Eliten aus rostigen Nieten parteigegelt gestanzt

Die versuchen zu verstören / Mit Möhren am Bande in der Ferne

Ausgekernt und ausgeseelt verwanzt / Die Beute auszujagen

Bis der Widerstand in Ohm und Macht
Gebrochen ist und alle jene Ja und Amen sagen
Zu dem, was sie zu tragen haben
An Last der Schuld, Geschichte und Entbehrung
Und wer nicht spurt, wird ausgelacht

Sondern aus der Haut heraus / Wie aus dem Leben.

Bleiern ist dieses Schweben;
Wie ein Schwein den Trüffel / Erschnüffelst du den Büffel
Mit Moschusduft in dieser Luft zum Schneiden
Denn das Volk per pedes soll den Erstickungstod erleiden
Perfide / Durch all die Mon- und Dioxide der Kohlen
Die nicht mehr zu holen sind / Gestohlen
Von eben diesen Welchen;
Ein geöffnetes Fenster schon / Könnte das Risiko erhöhen /
Auch zu erleiden
Eine Infektion durch Bakterien des Winds.
Wäre es das alles wert / Unter dem Schwert des Fluchs
Unserer Welt der Haltung eines Buchs
Der gähnenden Leere der Betriebswirtschaft?

Abgeschlaff geschafft und ohne Kraft / Gönnt man der Leutemeute
Als Geschenk zum heiteren Vergessen / Zum Kühlen der Nerven
Sowie zur Stillung aller Schmerzreserven / Ein geistiges Getränk.
So wird die emsig Arbeitsbiene / Mit arg verhärteter Felssteinmiene
Progressiv gelockert wie eine Schraube / Zu Hause, in Schänken oder in der Gartenlaube

Und nach und nach ganz dröge und versiert
In legalem Rausch poröse mit Heiterkeit entpetrifiziert.
Zudem wird sie noch schonend schon / Im Zeichen der Ersatzradreligion
Durch Spirituosen spirituell.

Die Fahne / Flattert im Wind der Weichen / Zwischen Spuren gekleckert und geklotzt
Angemahnt durch Bremsspurstreifen / Unreifen Früchten abgetrotzt.
Denn durchgemacht ward letzte Nacht / Die durchgebracht den Horizont verkleinert
Obwohl 'ne Lücke im Gedächtnis klafft / Wird krampfhaft fokussiert
Sich so noch etwas Übersicht verschafft.

Im Sinne von Visionen / Reizen Muskat-Spieler aus anderen Dimensionen
In den Reihen der Versicherungs- und Volksvertreter
An Eides Statt ein heißes Blatt.
Es steht der Ehre viel / Auf dem – lokal – verbotenem Spiel / Mit illegaler Farbe:
Westkreuz am Ostkreuz!
Und später – im Verlauf – nach rockendem Zocken
Das hätte niemand so erwartet / Gehen beide Gegner platt
Ganz plötzlich Knall auf Fall / Erschien doch unerreichbar der Grand-mal
Mit ganz viel Glück auf Stoß gestrickt / Ohne jeglichen schmutzigen Trick
In subito [sic] pro rege!
So kam mit Damen, Buben, Ass und Nebelkrähen statt Kerzen
Als hätten sich die Gegner voll versehen / Im Spiel der Kippe noch die Wende
Das nimmt man sich zu Herzen / Und führet mit Kalkül
Unter progredienten Magenschmerzen / Zur Zerstörung von Werten im Selbstgefühl.

So konnte nur der Sieger sagen am bittren Ende
Denn die Stimmen der Straße der Verlierer / Wurden über leise vollends stumm:
Ex sartore ego sum – ich bin aus dem Schneider! [sic]

Nun komm endlich ich ins Spiel
Doch diese, jene, welche sie sollten sich gedulden
Bis der neue König aller Spieler / Und Lehnsherr aller Spielverlierer
Vergeben wird / Die bis dato angehäuften Schulden.

Unaufgeregt und leise / Führt meine Zeitenreise
Nach Einwurf einer ebensolchen Kapsel / Im Flugzug
In unreifen Schleifen / Auf tosend unruhiger Welle
An den Ort der Verzögerung:
Einer hart umkämpften Bahnhofsbaustelle.
Hier kommt man nur Zug um Zug voran ...
Jeder kommt dran / Angeblich / Jeder dieser passageren Passagiere

Die Frage ist nur: Wann?
Vor allem im Winter / Wenn nichts mehr fährt
Außer den Winden der Därme / Angespannt gelassen durch die Hosen
Deren Wärme das Leiden des Wartens lindert / In bolusartigen Dosen
Dann fühlst du dich versetzt / Wie du da frustran fröstelnd stehst
In eine kleine Kinorolle / In "Vom Darmwinde verwest"!

De cerebello Gallico! / Aufmarsch der Nervenheilkunden
...
Warum gibt es statt Oxygarum / Der Offizialsdelikatesse
Nur einfache Fischbrühe / Ohne Finesse?

Mindset and attitude – Geist, Salz und Attitüde
Sie sind müde des Überziehens der Konten
Am Steuer der hinterzogenen Lottozahlen
Im Strahlen sprechender Füße gemahlener Boni
Und heute? / Tee oder Kaffee zum grauen Schnee?

Unter dem vorgezogen-verzogenen Strich
Setze, stell und leg ich fest: / Ich spinne, also bin ich ich! [sic]
Nicht nur aus Vanille / Vielleicht ein Eis / Zwei Eisen
So lande ich auf den Gleisen / Des kreuzenden Bahnhofs Ost
Mit seinen Streckenkeilen unter Oberflächenrost
Als Vorbote verbotener Botschaften / Gegen Seile auf den Schienen
Dem sogenannten Netzwerk aus Beziehungsvitaminen
Die reserviert sind nur für Güterzüge
Aus der Bande der Barone der politischen Lüge.

Mittelohr und Mitternacht
Fallen zusammen am Tisch des Systems / Am Fuße des biblischen Turms zu Babel.
Im Gewand einer märchenhaften Fabel / Eile ich herbei
Sowohl ornithosymbolisch frei / Durch Kick-Download der Abgesandten
Zypriotischer Hilflosdienste / Auf fleischfressenden Elefanten
Als auch transzendent im Transport der Transmitter
Als einer der letzten / Aus dem guten Geschlecht
Der noch echten Ostkreuzritter!

Im Schweinerotlauf der Hähne Drang
Liegen die Waffen des Intellekts ganz ohne Zwang
Im leisen Lesen zur Steigerung innerer Stärke
Folgender – aus meiner Sicht – wichtiger drei Werke:
    "1984" und
    "Farm der Tiere"
    von George Orwell
sowie
    Aldous Huxleys
    "Schöne neue Welt".

Da begreift man schnell wie es bestellt ist / Um die Realität der sogenannten
Der von virtuellen Konstrukten überrannten
Spiegelbühne der Glückseligkeit.

Für jeden Kandidaten eine Nummer / Zur Ideenflucht aus dem Alltagskummer.
Das ist Demokratie: / Die Demonstration der Dämlichkeit
Und damit verdient man in dieser Welt / Nicht unerheblich, sondern reichlich Geld.
Denn das Geld liegt auf der Straße / In Salz und Pfeffer hingegen nur der Hase.

Die Beschäftigung des Einzelnen / Führt zur Beschäftigung der Masse!
Das ist im Prinzip schon ganz gut und klasse / Da durch den Druck der Nöte
Das Volk nach fremder Flöte tanzt und hechelt
Und in der Kunst des klaren Gedankens schwächelt
Abgelenkt im Trubel des Konsums der billigen Genüsse
Die da schützen vor den Wellen / Mächtiger Gedankenflüsse;
Aber nicht den einzelnen privaten Krieger
Sondern die Gruppe rekrutierter Kadaversieger:
Den dressierten Pseudobesten
In ihren schwarzen und nicht mehr weißen Westen.

Und jede Ablenkung zählt!
Da wird beeinflusst / Wer was bei Wahlen wählt
Unter Berieselungen von Klängen / Dann gewinnt das Geld um Längen
In säglicher Unsachlichkeit ...
Denn auch die Sozialisten in dieser unschön neuen Welt
Stehen nur auf frisches fremdes Geld;
Und bei all dieser Hektik / Wird von Ochs' und Esel nicht so schnell gerafft
Dass in der Ruhe liegt die Kraft!

Zeit zum Selberdenken, Fühlen, kognitiv Erkennen
Das ist des Glückes Schlüssels Schluss / Von dessen Schlüsselbrett oft Welten trennen
Und die Katzenstreu vom Weizen.

Geboren sich zu verheizen / Schnell und gleichförmig individuell
Das wird viel zu häufig angenommen
Und als Pseudosinn des Lebens verschwommen
Sowie in dioptrienären Doktrinen verkommen
Nachgemacht und plagiiert / Unbedacht und ungeniert
Doch niemand wird uns retten / In Untertassen mit ganz netten
Aliens und Eisprüngen in der Schüssel / In Rettungsgassen noch ungebildet.

Ode an die Schadenfreude!
Alpha est et Epsilon / Was weiß ich eigentlich schon?
Ich weiß Bescheid / Über das Leid der Menschen in der Zivilisation
Deren parlamentarischer Thron / Jenseits der Bäume
Vernebelt durch Wolkenträume dahinverschlummert.

Einigen geht es doch noch gut. / Doch die neu gewählte Miss Mut
Von den Männern der Sternenbannersender / Sieht hinaus über die Tellerränder
Bis in andere Länder und Sitten / Und es bleibt unbestritten
Etwas in Korrektur zu ändern
Gegen die Blindheit auf eigener Rinde
So zu tun als stünde angeblich ...
Doch es steht schon so viel auf dem Spiel
Ja, sogar so sehr / Dass im Rahmen der Nöte Wehr
Der Barytraum beendet werden muss und sollte
Im Sinne einer konstruktiv geläuterten Revolte!

Alea glaciei iacta est – der Eiswürfel ist gefallen
Ist es das Ende / Der gebundenen Hände?
Wir haben die Wahl! / Beenden wir die Höllenqual der Beute
Nicht unterlegen / Sind wir doch in Überzahl
Und überwinden als Zeichen unserer Zeit
Zuerst die vorherrschende Erlernte Hilflosigkeit
Dann die Trübheit unserer Mienen / Als hätte die Sonne immer für uns geschienen.
Und wird das Lachen wieder stärker und graziös
Wandelt es sich zum Feuer, wird ansteckend und infektiös
Zur Fackel in unseren Nächten
Sowohl zur Stärkung der Guten als auch zur Schwächung der Schlechten
Als Geschenk an uns und die nächste Generation
Und mahnende Quell' zur Erneuerung unserer Zivilisation.

Ohne Wille bleibt Stille / Ohne Dampfdruck kein Kampf!
Doch fangen die Tränen an zu brodeln / Wird greifbar der nötige Sieg
Dann spreiz deine staubigen Flügel / Heb ab ganz erhaben und flieg!

Ich öffne die Augen und murmel zu mir leise
Das war eine schöne, intensive Zeitenreise
Die mich stärkt und meinen Willen weckt
Sowie helfend mir die großen Ziele steckt.
Und im Namen der Macht all meiner Transmitter
Steh ich zu dem, was ich sag, zu jedem Gedankensplitter
Den Resten der Hoffnung meiner Tugend / Sowohl von heute
Als auch aus meiner Kindheit und Jugend.
Denn obwohl ich am ganzen Leibe zitter
Bin ich wohl einer der letzten / Aus dem guten Geschlecht
Der noch echten Ostkreuzritter!

Ich denke – also bin ich / Im Kampfe gegen die Intrigen
Endlich bereit / In Lernprozessen zu obsiegen.
Die Augen offen / Mit Pupillen eingestellt und weit
Wohl begreifend:

Das wird jetzt / Unsere gemeinsame Zeit!


 

H. J. D. Kleinschmidt
Bankgeheimnisse

 

Ostkreuz, eine S-Bahn Richtung Lichtenberg fährt in den Bahnhof ein. Im Vorbeifahren sehe ich eine Bank, auf der ein Pärchen sitzt, welches sich engumschlungen hält. Sie küssen und liebkosen sich. Die Welt um sie herum scheint versunken, keine Wirklichkeit zu sein. Ein Philister, oder Neidhammel der beim Zuschauen missgünstige Gedanken wälzt! Der Platz ist gut gewählt. Denn die Bank befindet sich am Ende des Bahnsteigs. So ist das Bild für die Optik des Betrachters nur eine Momentaufnahme, denn auch der letzte Wagen des Zuges rollt an dem Tatort vorbei.

In stiller Andacht lehne ich mich zurück, schließe meine Augen und ein Lächeln der Erinnerung umspielt meine Mundwinkel. Vor meinem geistigen Auge entsteht ein Bild, auf diesem erscheint ein Pärchen am selben Ort, in gleicher Position und Situation. Das Mädchen war zu dem Zeitpunkt des Geschehens erst siebzehn Jahre alt und getraute sich deshalb nicht ihren Eltern die Existenz ihres Herzallerliebsten zu beichten. Wie man aber feststellen musste, findet die Liebe immer einen Weg zu ihrer Erfüllung, im Notfall mit solch einer Improvisation. Die Geheimniskrämerei dauerte dann immerhin noch fast ein ganzes Jahr bis zur Offenbarung. Allerdings führte sie danach wie gewünscht in den Hafen der Ehe. Der Weg bis dahin gestaltete sich zeitweise als Kopfsteinpflaster und wir Betroffenen mussten lernen ohne zu stolpern selbstsicher voranzuschreiten. Im Rückblick können wir stolz feststellen, dass wir es gemeinsam gut gemeistert haben, denn wir feierten im Januar diesen Jahres bereits die Goldene Hochzeit.

Glücklicherweise bleibt die Zeit nicht stehen. Die Architekten, Statistiker, Spezialisten und Bauarbeiter bemühen sich, mit all ihren Möglichkeiten des Wissens und der Technik, wenn auch für uns Reisende im Zeitlupentempo ein schönes neues Ostkreuz Wirklichkeit werden zu lassen.

Der kleine "Schreiberling", also meine Wenigkeit, wünscht sich so sehr ein schönes neues Ostkreuz, welches ganz viel Menschlichkeit und wie zu Beginn geschildert alle Romantik der Welt zulässt!

Nun mag eine gute Fee wirksam werden, um alle Wünsche zu erfüllen.


 

Andrea Collins
Waldkita

 

Ab in den Wald

 

Öfter mal was Neues

Die Rolltreppe endet auf dem Asphalt des Bürgersteigs. Davor ist das "Blaue Monster", die Krake aus Rohren, umgeben mit blauer Folie. Wozu ist dieses Industriekonstrukt da?

Täglich ist das Ostkreuz neu. Es ist nicht, wie es war. Wir werden sehen, was bleibt.

Wer hier wohnt, wartet auch ein bisschen auf das, was städtebautechnisch kommt.

 

Es kann nur besser werden.

Thomas sagt: "Das Ostkreuz wird untertunnelt." Er weiß es genau. Er ist Vermessungstechniker und bekommt die Stadtbauentwicklungen mit.

 

Make over

Derzeit endet die A 100 hinter dem neu gebauten Autobahndreieck Neukölln an der provisorischen Anschlussstelle Grenzallee. Der Weiterbau der A 100 bis zur Frankfurter Allee ist geplant und der Abschnitt bis zum Treptower Park soll von 2013 bis 2020 realisiert werden. [5] Dabei führt ein Bauabschnitt (BA 16) entlang der Ringbahn und am ehemaligen Güterbahnhof Treptow vorbei bis zur AS Am Treptower Park. Der BA 17 führt von dort aus zum großen Teil unterirdisch bis zur Frankfurter Allee. Dort soll die Autobahn vorerst enden.1

 

Easy does it.

Am Alex gibt es ein Plakat, auf dem der Tunnelbohrer-Maulwurf abgebildet ist, hiesig Bärlinde genannt. "Fünfmal so schnell wie ein konventionelles Miniergerät durchwühlt die Krupp-Fräse die Erde, oft bis zu 300 Metern unter der Oberfläche. Die mächtige Bohrmaschine - Länge: 24 Meter; Gewicht: 75 Tonnen - dringt mit jeder Arbeitsstunde durchschnittlich fünf Meter tief ins Gestein - bis zu 50 Meter pro Tag. Dirigiert wird das Monstrum von einem einzigen Techniker."2 Laut Plakataussage mit Bild hinterläßt Bärlinde einen beeindruckenden fertigen Tunnel mitsamt Bahngleisanlage.

 

Das Beste aus allem machen.

Einladung über E-mail zu einem Flashmob gegen den Weiterbau der Autobahn: "A100 stoppen! Wir legen uns quer! Für alle, die keine Autobahn vor ihrer Wohnung haben wollen. Mitmachen mit Spaßfaktor!"

Das letzte mal wurde mit Gasmasken vorm Gesicht auf der Straße demonstriert.

 

Mut zur Veränderung

In dem Ostkreuz Infopunkt wurde 2012 gesagt, dass die Autobahn unterirdisch gelegt und der Markgrafendamm stillgelegt werden wird. In dem Ostkreuz Info-Punkt wird 2013 gesagt, dass der erste Spatenstich für die Autobahn gemacht wurde, geplant ist sie bis zur Elsenbrücke, dann "werden sie sehen, dass es ein Verkehrschaos gibt und sie werden die Autobahn unterirdisch weiterbauen. Der Markgrafendamm wird bis zur Hauptstraße hin vierspurig ausgebaut; er wird auf keinen Fall stillgelegt."

In dem Ostkreuz Infopunkt wird 2014 vielleicht etwas anderes gesagt werden.

 

For better or worse

Der Bau dieser kurzen Autobahnstrecke ist der Grund, weswegen die SPD nun mit der CDU zusammen Berlin regiert und die Grünen in der Opposition sind. 3,2 km Fahrtstrecke...3

 

Eile mit Weile

Das schöne neue Ostkreuz wird nicht 2016 fertig, steht im Berliner Anzeiger. Jetzt ist die Planung auf 2017 hin angelegt. "Die historische Fußgängerbrücke soll sogar erst 2018 wieder aufgebaut werden... Mit 411 Millionen Euro sei man weiter im Kostenplan; allerdings kommen für die nachträglichen Arbeiten am Ostbahnhof weitere sechs Millionen Euro hinzu."4

 

Ein Schritt nach dem anderen.

Die Jungs mit ihrem Webdesign Laden sind an den Markgrafendamm gezogen als die Straße für 2 Jahre stillgelegt war. Jahrelang hatte die Ladenfläche im Erdgeschoss VH zur Straße hin leergestanden; Gewerberäume vermieten sich in dieser Gegend schlecht. Als den Jungs die Miete erhöht werden sollte, nachdem die Straße wieder in Betrieb genommen war, gingen sie gegen die Mieterhöhung an und kamen damit durch.

Sie sind sehr beeinträchtigt durch den Lärm und jeden Tag lagert sich schwarzer Ruß bei ihnen im Raum ab, den sie besser wegputzen.

 

Worauf du dich verlassen kannst.

"Das atmen wir hier alles ein." Der schwarze Staub lagert sich in der Lunge ein. 300 Meter muss man mindestens von der Straße entfernt wohnen, um nicht von der Luftverschmutzung gesundheitlich beeinträchtigt zu sein.

 

Mit der Zeit gehen

"Wir warten, dass die Straße stillgelegt wird", meinen die Jungs vom Webdesign Laden. Umziehen ist nicht so wirklich mehr möglich, bezahlbare Wohnungen gibt es kaum noch.

 

Immer mit der Ruhe.

"Das haben Sie hier in Berlin überall", meint der Bäcker, "die großen Straßen und die Abgase und den Lärm." Er ist eine Institution in der Nachbarschaft; er weiß über jede/n Bescheid.

"Und wenn das Ostkreuz neu eröffnet wird?" "Dann bin ich nicht mehr hier!" sagt er mit 3 Ausrufezeichen.

 

Nachhaltigkeit

Und einatmend weiß ich, dass ich einatme.
Und ausatmend weiß ich, dass ich ausatme.
Und einatmend bin ich im Wald
und ausatmend ist eine tiefe Ruhe.
Und einatmend - Wald
und ausatmend – tiefe Ruhe.
Und einatmend sehe ich einen Baum
und ausatmend fühle ich mich fest verwurzelt.
Und einatmend – Baum
und ausatmend – fest verwurzt.
Und einatmend rieche ich Nadelhölzer
und ausatmend bin ich an der frischen Luft.
Und einatmend – Nadelhölzer
Und ausatmend - frische Luft. - eine buddhistische Meditation.5

 

Das wird schon werden.

"Bewegung an der frischen Luft mildert Atembeschwerden und beugt Krankheiten vor," steht im Konzept der Waldkita.6

 

Jedem das seine

Vor der Gentrifikation ist diese Gegend auch nicht sicher. Jedenfalls nicht jenseits der großen Verkehrsstraßen. Marias Wohnung wurde saniert und jetzt bezahlt sie das Doppelte an Miete; es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie deswegen ausziehen muss.

 

Don't you worry ´bout a thing.

Die Spaltung zwischen Arm und Reich hat in Berlin längst stattgefunden.

 

Wer arm ist, stirbt früher.7

"Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt", meinte Heinrich Zille

 

Alles zu seiner Zeit

Kotti & Co, die Bürgerinitiative, ist am 13. November 2012 in großer Manier ins Berliner Abgeordnetenhaus gezogen, um gegen den Abbau des Sozialen Wohnungsbaus anzugehen. Wochenlang recherchierten Betroffene: es wurde sich inhaltlich auf das Wissensgebiet vorbereitet, Lobbymaterial erstellt und Diskussionen geübt. Sehr gut vorbereitet argumentierten BewohnerInnen, WissenschaftlerInnen, JournalistInnen mit den 2 AbgeordnetInnen, die dafür AnsprechpartnerInnen waren.

8 Stunden lang war die Konferenz.

Hinten im Raum war von den Bewohnerinnen ein Büffet mit selbstgemachten belegten Brötchen und Getränken für 300 Leute auf Spendenbasis errichtet worden.

Es war für alle/s gesorgt.

In themenbezogenen Gruppen wurden Roadmaps erstellt als Vorschläge für die Abgeordneten, damit sie als Multiplikatoren fungieren können.

"Die Zwangsräumungen sollen aufhören", war eine dringende Forderung.

22 Zwangsräumungen finden in Berlin z. Zt. an jedem Werktag statt.

"Wir bleiben alle! Für soziale Mieten, für den Erhalt von sozialem Wohnungsbau im innerstädtischen Bereich." — Die Slogans wurden durch Workshops, Dokumentationen und Handlungspläne untermauert.

"Es wird vom Senat eine Kampagne gestartet werden, um für die BürgerInnen die Wohnorte Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg und die Berliner Außenbezirke attraktiv zu machen", sagte der eine Abgeordnete.

 

Christoph sagte zum Abschluss seiner Rede: "Berlin war immer eine soziale Stadt. Sie werden das schon machen" und sah die Abgeordneten vertrauensvoll an.

 

Plenty of nothing

Seit November ist von Seiten Politik nichts mehr zu hören gewesen. Bei Nachfragen der Bürgerinitiativen war die Zuständigkeit für die Thematik auf Seiten des Abgeordnetenhauses nicht mehr klar.

 

Gutes und Neues

"Wir bieten Kindern ab 3 Jahren die Gelegenheit ihre Zeit bei uns im Wald zu verbringen. In unserer Walderlebniszeit beschreiten wir Pfade die zum Staunen und Empfinden, Forschen und Stöbern einladen. Unser großes Ziel ist es, Kinder als resiliente starke Persönlichkeiten mit gereiftem Geist und allumfassenden Fähigkeiten in die Schule zu entlassen. Nachgewiesener Weise ist die Waldpädagogik hierfür bestens geeignet," steht auf einem Flyer, der am Zaun an der Bushaltestelle am Ostkreuz hängt.

 

In der Ruhe liegt die Kraft

Im Grunde ist dieser Kiez eher dörflich. Es gibt keine Infrastruktur, auf die sich bezogen werden kann. Morgens krähen die Hähne der August-Sander-Schule, Bereich Agrarwirtschaft8, Bienen der dortigen Imkerei summen, der interkulturelle Garten ist am Blühen. Zwischen Rudolfplatz, dem Sportplatz, der Grünfläche Ecke Persius/Corinthstr. und der Freifläche vor der Warschauer Brücke liegen Erholung und Freiraum. Mit dem Fahrrad ist hier gemütlich fahren. Der Winter ist eher abgeschottet mit der vereisten Modernsohnbrücke, im Sommer schwirrt die Luft.

 

Es geht voran.

Nach und nach ziehen auch vermehrt MigrantInnen in den Kiez. Von Menschen mit intercultural mind werden sie mit freudigen inneren Purzelbäumen und mitunter einem Lächeln begrüßt.

 

Alles ist in Ordnung, alles wird gut.

Raviv ist wieder Chill Out DJ beim RAW Tempel. Bei sommerlich hohen Temperaturen schweben die Bässe über die Straße hin, Glasscherben liegen auf der Modernsohn Brücke. Der urbane Sonnenuntergang wurde bis in die Nacht hinein kollektiv zelebriert.

Völlig losgelöst chillt ein von der Techno-Meile entgleister Trupp auf dem Mittelstreifen Persius/Ecke Corinthstr. Leute bewegen sich, z. T. wie in Trance.

Wie geht es eigentlich weiter? Du musst dich wiedermal umstrukturieren, wie soviele in Berlin wieder und wieder. Vielleicht läuft die Stelle aus, die Schlange beim Amt wartet. Die Miete wird auch immer teuerer, es ist absehbar, dass du aus der Wohnung raus musst.

Es ist alles gut; es ist alles o.k.

 

Nach vorne schauen.

Nicht zurück. Manchmal bleibt nicht mehr als vorwärts zu blicken.

 

"Nein, nicht nach Marzahn-Hellersdorf", sagt Maria lächelnd zu Christoph und nimmt seine Hand,
"ab in den Wald".

 


 

1 - http://de.wikipedia.org/wiki/Bundesautobahn_100 am 12.06.2013
2 - http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46196338.html am 10.06.2013
3 - http://www.xhain.info/a100.html am 21.06.2013
4 - http://www.tagesspiegel.de/berlin/grossbaustelle-in-berlin-bauarbeiten-am-ostkreuz-verzoegern-sich-bis-2017/8210208.html am 19.06.2013
5 - entlehnt
6 - http://www.wakib.de/index.php?site=konzept am 10.06.2013
7 - http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/43785/Robert-Koch-Institut-Wer-arm-ist-stirbt-frueher am 22.06.2013
8 - gefördert von der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung


 

Kerstin Janke
Helene

 

12. Februar 1933

Meine liebe Helene!

Bitte verzeih, daß soviel Zeit vergehen mußte, bevor Dich nun mein nächster Brief erreicht. Ich wollte Dich gewiß nicht so lange auf neue Nachrichten von mir und aus Deiner so geliebten Heimat warten lassen. Ich hoffe, nein ich weiß, Du kannst und wirst Nachsicht walten lassen und anstatt mir zu grollen begierig meine in Gedanken an Dich niedergeschriebenen Worte verschlingen.

 

Ach, meine liebe Helene, was ist das nur für eine Zeit, so überaus hektisch, so prätentiös und so arm an menschlicher Wärme und freundlichem Miteinander. Daß Du, mein geliebtes Wesen, nicht hier bei mir sein kannst ist dabei die schlimmste aller Ursachen meiner Verstimmung, jedoch gedenke ich nicht, diesem Umstand allein die Verantwortung dafür aufzubürden. Ich will versuchen zu erklären, was mir die Laus über die Leber treibt.

 

Die Zeiten sind hart, das muß ich Dir, die Du die Lebensumstände hier in Berlin nur allzu gut kennst, nicht sagen. Zwar gelingt es mir nach wie vor all monatlich das Mietgeld für unsere kleine Bleibe zusammenzubringen. Doch wahrlich, wie lange wird das noch gehen? Zwar sitze ich noch immer täglich ab den frühen Morgenstunden auf meinem Bock, gut gepflegt die Kutsche und wohl gestriegelt die Pferde, in Erwartung der Reisenden, die meine Dienste in Anspruch nehmen möchten, um bequem und sauber an ihr Ziel zu gelangen. Doch welch Ärger, es gibt ihrer immer weniger! Es sind nicht die anderen Pferdekutscher, die mir das Leben erschweren, im Gegenteil, auch ihre Zahl hat in den letzten Monaten beachtlich abgenommen. Doch was passiert da, warum bleiben die Kunden aus? Beliebt man nicht mehr zu reisen?

 

Nein, die modernen Zeiten selbst sind es, die den Tribut der Traditionen fordern. Haben wir nicht gerade erst die so genannten Goldenen Zwanziger Jahre hinter uns gelassen, in denen sich beinahe jeder für einen Parvenü hielt und plötzlich ein Automobil besitzen mußte? Die Dienste der Droschkenfahrer schienen mit einem Male nicht mehr schicklich für die feine Gesellschaft. Nun, es war ein kurzes Aufflammen neuen Reichtums - stehen doch in der Zwischenzeit nicht wenige der glänzenden Mobile beim Pfandleiher und die Damen und Herren kommen nicht umhin, Stadtbahn und Droschken zu benutzen. Alles schien sich zum Guten zu wenden.

Aber nein, erneut schlagen mir die modernen Zeiten ein Schnippchen. Daß ich mit meinem Fiaker längst ein Exot unter all diesen Motordroschken bin, sei's drum. Doch mir schwante bereits nichts Gutes als vor - wie lange ist es jetzt her, drei oder vier Jahre? — unsere geliebte Stadtbahn eine Geißel des Stromes wurde. "Die große Elektrisierung" — Du erinnerst Dich sicher — brachte monatelanges Durcheinander, Züge hielten nicht oder fielen gar ganz aus, Baudreck, Lärm, genervte Reisende - und viele Kunden für uns Droschkenfahrer. Nun da alles überaus zuverlässig verkehrt, der Strom fließt, der Bahnhof wächst und nunmehr noch zahlreichere Umsteigevarianten bietet, sind wir die Leidtragenden. Denn kaum einer bemüht sich noch in die Droschke, reist er doch mit der Stadtbahn nun schneller, kommt gut selbst zu entlegenen Stadtteilen und entrichtet dafür nur wenige Groschen. Und daß allerorten schon wieder vermehrt Automobile zu sehen - und vor allem zu hören - sind, davon mag ich gar nicht reden.

 

Und als wäre all dies nicht schon genug der Schmach über uns, die wir um und von unserem Bahnhof Stralau-Rummelsburg leben, Helene, Du wirst es nicht glauben, doch es ist wahr: Unser geliebter Bahnhof, Ort der traurigen Abschiede und freudigen Wiedersehen, wird alsbald einen neuen Namen tragen. 'Ostkreuz' wird er fortan heißen. Das Pendant zum 'Westkreuz' soll er bilden und dem Reisenden die Orientierung in der wachsenden Stadt erleichtern.

Wie findest Du den Namen, meine geliebte Helene? Ich gebe zu, ich bin noch wankelmütig zwischen Fürsprache und Mißgunst. 'Gewöhnlich' war der erste Gedanke, der sich mir aufdrängte, als ich vor einigen Wochen von der Umwidmung im Tageblatt las. Auch die durchaus einleuchtende Begründung befriedete mich zunächst nicht. Solls mir doch gleich sein, daß das Westkreuz sich als solches - wie nannten sie es noch - 'sich bereits etabliert' habe und der Name 'Ostkreuz' für diese 'der Provinz entwachsenen Haltestation nur folgerichtig' sei. 'Schönes, neues Ostkreuz' titelte die von Umbauten und Fortschritt begeisterte Presse.

Wenn Du meine ehrliche Meinung willst: Genau wie Stadtbahnen, die der Strom antreibt, kommt mir auch dieses Gerede recht abgehoben vor. Ich komme nicht umhin zu glauben, die Zeit überhole mich, ich könne nicht mehr standhalten mit dem Tempo um mich herum. Vielleicht gehört der 'Bahnhof Stralau-Rummelsburg' ja tatsächlich in langsam vergehende Zeiten? Möglicherweise gebietet das moderne Leben in der Tat eine Abkehr von Tradition und ländlichem Idyll - mag man es mit spitzer Zunge meinetwegen 'Provinz' nennen. Vermutlich ist das 'Ostkreuz' nun eben keine Stadtbahn-Haltestation mehr sondern vielmehr Kreuzungspunkt vielerlei Wege, Begegnungspunkt aus zahlreichen Richtungen Kommender und Umsteigebahnhof für täglich Pendelnde. Denkbar, daß dieses sich in unserem Berlin ausbreitende, weltmännische Gefühl jegliche Provinzialität abstreifen muß, um der neuen Hektik die Stirn zu bieten. Ich weiß es nicht. Genauso wie mir die moderne Sprechweise 'S-Bahn' nur schwer über die Lippen kommt, werde ich wohl noch ein wenig Mühe haben, mich an das 'schöne neue Ostkreuz' zu gewöhnen. Allein es bleibt mir wohl keine Wahl.

Doch was rede ich allzu viel von mir, meine liebe Helene. Wie ergeht es Dir und kannst Du Fortschritte bei Deinen Studien verzeichnen? Klagtest Du doch erst unlängst über den zweifelhaften lebenspraktischen Wert Deiner Arbeiten und darüber, daß der Herr Professor noch immer daran zweifelte, ob eine Frau zur Erbringung wissenschaftlicher Ergebnisse fähig sei. Ich wünschte, ich könnte Dir mehr beistehen in dieser aufregenden Zeit. Ich wünschte, Du wärst hier, bei mir, Deine Nähe fehlt mir inmitten dieses fröstelnden Februars.

 

Zum Ende möchte ich Dir noch von einer Überraschung berichten, die ich mir für Dich, die Liebe meines Lebens, habe einfallen lassen. Ich kann einfach nicht an mich halten und mich noch weniger gedulden, bis Du es mit eigenen Augen siehst: Fühlte ich mich in den letzten Wochen besonders einsam, setzte ich mich manchmal auf die alte Bank am Ende des Bahnsteigs A. Ich kann spüren, wie ein Lächeln über Dein anmutiges Gesicht huscht, weil Du Dich daran erinnerst, wie wir uns hier zum ersten Mal trafen. Und wie wir später beinahe wöchentlich saßen und redeten, philosophierten und träumten. Alt war sie geworden, unsere Bank, unsere Pritsche mit Blick in die Welt, unser hölzerner Pausen-Sitz gebaut aus allerlei Gedanken. Ich wußte, der Bahnsteig A soll vollends erneuert werden und fürchtete zu Recht, diese unsere Bank würde ein Opfer der Moderne werden. So ließ ich mich beinahe täglich hier nieder, so als könne ich damit die Bauarbeiten oder gar den gesamten Lauf der Zeit aufhalten. Es wird Dich nicht überraschen zu hören, daß dies ein aussichtsloses Unterfangen war. Als ich eines Tages auf den Bahnsteig wollte, war er abgesperrt, die entscheidende Phase der Modernisierungsarbeiten war nun eingeleitet worden und... unsere Bank war weg. Gleich einem wertlosem Stück Müll lag sie etwas abseits nebst zahlreichem Schutt auf einem Berg ansehnlicher Größe. Du kannst Dir meine Enttäuschung wohl vorstellen. Hier war nicht nur irgendein altes Sitzmöbel achtlos entsorgt worden, hier ging es um Erinnerungen und Träume, hier ging es um nichts Geringeres als die Liebe.

Meine Enttäuschung wandelte sich rasch in Wut. Einige Tage und - ich traue es mir kaum zu sagen - Nächte schlich ich erbost um die Baustelle, ich weiß nicht mehr recht mit welchem Ziel. Ob ich tatsächlich glaubte, ich könne unsere Bank irgendwie aus ihrer mißlichen Lage befreien und entwenden? Möglich wäre es; und es ist mir im Nachhinein etwas peinlich. Aber mir kam indes eine bessere Idee.

Es war nicht eben einfach den zuständigen Sachbearbeiter der Deutschen Reichsbahn ausfindig zu machen und es kostete mich meinen ganzen Charme mich an den verschiedenen mehr oder minder galanten Vorzimmerdamen vorbei zu lavieren, um schließlich in einem bequemen Sessel vor Herrn Kanopkes riesigem Schreibtisch Platz genommen zu haben. Herr Kanopke ist Leiter der Rummelsburger Eisenbahnbetriebe und als solcher zuständig für die - wie er es nennt - 'bauliche Aufwertung der ehemaligen Haltestation Stralau Rummelsburg'. Wir empfanden rasch einige Sympathie zu einander und das obwohl er mir einigermaßen stolz berichtete, daß sich mit der Umbenennung des Bahnhofs in 'Ostkreuz' wohl die beste, nämlich seine, Idee durchgesetzt habe. Für mein Vorhaben war ich bereit, darüber hinweg zu sehen, eine Mission in Sachen Liebe verlangt eben manchmal seelische Opfer.

 

Nun, meine liebe Helene, ich will Dich nicht länger der Neugier anheim geben. Fortan ziert eine neue Bank den inzwischen beinahe fertig gestellten Bahnsteig A. Zwar ist sie nicht annährend so anmutig wie die alte und noch hat sie nichts zu erzählen vom Leben - das wird wachsen, da bin ich sicher - aber dank Dir ist diese neue schon jetzt etwas Besonders. Ein kleines, feines Blechschild schmückt die Anlehne, 'Für meine geliebte Helene' steht darauf. Ist das nicht wundervoll? Ich konnte einfach nicht anders, als diesen für mich, für uns, so wichtigen Ort der Erinnerung als solches zu erhalten.

Aber nein, mach Dir keine Gedanken wegen der finanziellen Aufwendungen für diesen Liebesbeweis. Bahnbereichsleiter Kanopke war gerührt von unserer Geschichte, leitete höchst selbst alles Nötige in die Wege und verlangt als Dankeschön nicht mehr als daß ich ihn allmorgendlich vom Bahnhof trockenen und sauberen Fußes in sein Büro kutschiere. Nun, das ist es mir allemal wert. Und daß nun Hitler die politischen Zügel in den Händen hält, gereicht dem Herrn Bahnbereichsleiter Kanopke nicht eben zum Nachteil: Ist er doch fortan Bezirksbetriebsleiter von Lichtenberg. Welch ein Aufstieg für diesen kleinen Mann, der sich durchzusetzen weiß. Vielleicht vermag ja selbst ich eine Nützlichkeit daraus zu ziehen. Reist solch ein angesehener Herr mit der Pferdedroschke, werden es möglicherweise auch bald wieder mehr andere geschätzte Damen und Herren tun. So wäscht eine Hand die andere, resümierte Herr Kanopke unlängst, bequem und kostenfrei in meiner Droschke reisend. Und glaub mir, er weiß wovon er spricht, seine Hände sind sehr gepflegt.

 

Geliebte Helene, ich hoffe unsere neue Bank wird ebenso ein Ort des Innehaltens, des Rastens und des sich Besinnens, wie es die alte war. Vielleicht vermag diese neue Sitzgelegenheit unsere Geschichte ja sogar fortzuschreiben, in dem sie kein Refugium der Heimlichkeit sondern ein Hort der Offenheit und Ehrlichkeit wird. Kaum kann ich es abwarten sie Dir zu zeigen, mich mit Dir niederzulassen und dabei Deine Hand zu halten.

Ich hoffe so sehr, schon bald Nachricht von Dir zu erhalten, daß Dein törichter Ehemann erneut einen längeren Auslandaufenthalt plant und Du frei bist, um hierher nach Berlin, hierher zu mir zu reisen. Ich vermisse Dich so sehr und ertrage den Gedanken nur schwer, daß er mehr Zeit mit Dir verbringt als ich. Aber Du weißt, ich werde mich unter allen Umständen an unsere Abmachung halten. Denn wie unser gemeinsames Leben auch aussehen mag, das Wichtigste für mich ist, daß Du die Hauptrolle spielst. Und das tust Du, solange wir einander lieben.

In ewiger Liebe, Dein Herbert


 

Birgit Wilms
Der alte Mann und das Gleis

 

Langsam und zittrig, Schritt für Schritt
Er sich durch die Menschenmenge schiebt
Die Luft am Morgen nach Herbst schon riecht
Sein suchender Blick übers Ostkreuz schweift,
Seine Hand ängstlich nach dem Geländer greift.
Doch das alte Gleis mit der kleinen Bank, war nicht mehr
Und beim Gedanken daran, ward das Herz ihm ganz schwer.

Von Ferne konnte er ihr rotes Haar schon sehen
Ihre langen Locken wild im Winde wehen
Wie sehr er diesen Moment schon seit dem Morgen ersehnte
Und nun sein Herz sich im größten Glücke wähnte.
Doch das alte Gleis mit der kleinen Bank, war nicht mehr
Und beim Gedanken daran, wurde sein Blick ganz leer.

Ihr lautes Lachen durch seine Erinnerung noch hallte
Ihre liebliche Stimme noch immer in seinen Ohren und
Über das menschenvolle Gleis schallte
Wie sehr er sie vermisste, wie sehr ihm ihre Nähe fehlte
Dieser eine Moment im Leben nur zählte.
Doch das alte Gleis mit der kleinen Bank, war nicht mehr
Und beim Gedanken daran, versanken seine Augen in einem Tränenmeer.

Immer wieder, Tag für Tag kam er hier her,
Denn er hatte Niemanden mehr
Sein Leben war schon gelebt und im Grunde bereits vorbei
Einzig die Erinnerung ihn täglich trieb,
Für sie allein, er am Leben blieb.
Doch das alte Gleis mit der kleinen Bank, irgendwann in seiner Erinnerung versank.
Ihre Liebe jedoch nie vergeht und in seinem Herzen weiterlebt.


 

Sonja Meggers
Annabel

 

Ihr Mund war so trocken, dass sie ihren Finger zu Hilfe nehmen musste, um die kleine bunte Kapsel aus ihrer Backentasche zu befreien. Sie spuckte sie in die Toilettenschüssel und schickte sie mit einem Fingerdruck auf die Reise durch die Kanalisation. Dann nahm sie wie jeden Morgen ihre Haarbürste und kämmte sich hingebungsvoll das lange braune Haar, bevor sie es zu einem strengen Zopf zusammenband. Sie putzte sich ihre Zähne, wusch sich das Gesicht und legte ein klein bisschen Rouge auf. Mehr war es damals nicht gewesen und so beließ sie es auch heute dabei.

Fast andächtig nahm sie das blaue Kleid vom Bügel und streifte es über ihren Kopf. Sanft glitt der weiche Stoff an ihr herunter und sie liebte das Gefühl, wenn der Saum ihre Waden berührte. Das leichte Sommerkleid war dunkelblau mit zahllosen kleinen Margeriten und an der Taille mit einem zarten Band gebunden. Es betonte ihre schmale Silhouette und selbst wenn sie eine Wahl gehabt hätte, sie hätte sich wohl für eben dieses Kleid entschieden. An diesem Tag musste es dieses Kleid sein, dass war ihr klar, sonst könnte sie ES nicht ändern.

Mit einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel verließ sie das Badezimmer und ging in ihr Schlafzimmer. Dort schloss sie das Fenster und blickte kurz auf die weißen Schneeflocken, die auf dem dunklen Holz des Fensterbrettes lagen. Wie kleine Gefangene lagen sie dort. Kamen aus einer freien Welt und wurden vom Wind an diesen Ort geweht, an dem sie ein jähes Ende finden sollten. Für einen Moment wurde sie traurig. Das Schicksal hatte es nicht gut mit ihnen gemeint. Oder vielleicht doch? Sie waren ohnehin dazu verurteilt, sich in Wasser aufzulösen. Wer war sie darüber zu urteilen, ob es gut oder schlecht ist, dass sie es an diesem kalten Januarmorgen auf ihrem Fensterbrett taten. Sie zwang sich dazu, die Gedanken an die Schneeflocken abzuschütteln denn schließlich hatte sie heute etwas Wichtiges vor und so setzte sie sich in ihren Sessel und machte sich auf den Weg zum Ostkreuz.

Wie an jedem Tag umwehte sie die kühle Luft auf der alten Treppe zum Ringbahnsteig. Aus dem Sonnenschein kommend brauchten ihre Augen eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Der Urin unzähliger nächtlicher Trunkenbolde vermischte sich mit der Feuchtigkeit des schimmelnden Mauerwerks zu einem atemraubenden Gestank. Immer wieder wunderte sie sich, wie dieser Mief es schaffte, den alten Aufgang auch bei diesen sommerlichen Temperaturen so kühl zu halten. So schnell es eben in den schmalen Sandalen ging, erklomm sie die alten krummen Stufen und atmete erst wieder ein, als sie die letzte Stufe hinter sich gelassen hatte.

Sofort fiel ihr Blick auf Ihn. Sie brauchte ihn nicht suchen, sie wusste genau, wo er stand. Wie an jedem Tag war sie gebannt von seiner Ausstrahlung. Sein kurzes dunkelblondes Haar stand in alle Himmelsrichtungen von seinem Kopf ab. Das olivgrüne T-Shirt betonte seine athletische Figur und die dunkelbraune Hose, die direkt unterhalb des Knies endete, gab den Blick auf seine sportlichen, sonnengebräunten Waden frei.

Sie hatte sich in ihn verliebt. Gleich beim ersten Blick. Wann immer ihr jemand etwas von der "Liebe auf den ersten Blick" erzählt hatte, hatte sie nur gelacht und gesagt, dass es so etwas doch nur im Film gäbe. Nun aber war es um sie geschehen und sie musste einige Teile ihrer Weltsicht neu ordnen.

Sekundenlang ruhte ihr Blick auf ihm. Er sah so unbeschreiblich traurig aus und sie fragte sich, was wohl in seinem Kopf vorginge. Ob er vielleicht gerade jemanden verloren habe, der ihm viel bedeutete. Möglicherweise wurden alle die Pläne, die er hatte vom Schicksal durchkreuzt. Tag für Tag zermarterte sie sich den Kopf was es wohl sein könnte. Gut möglich, dass er nicht mehr so traurig aussehen würde, wenn sie ihr Leben gemeinsam verbrächten. Sie malte sich aus, wie viel schöner er sein müsste, wenn er lächelte. Ob er kleine Grübchen haben würde? Oder vielleicht auch kleine Fältchen um seine wunderschönen blauen Augen bekäme? Sie dachte darüber nach, worüber sie lachen würden, an welche Orte sie gemeinsam gehen könnten und wie eine gemeinsame Zukunft aussehen könnte. Nie zuvor hatte sie solche Gedanken in Bezug auf einen Menschen gehabt. Nie hatte sie geglaubt, dass sie sich vorstellen könnte, jemandem ganz nahe zu sein. Es waren nur wenige Sekunden, allenfalls eine Minute, in der ihr all diese Gedanken durch den Kopf gingen, doch sie veränderten alles. Damals, da hatte sich schon einmal alles verändert. Das war als ihr Vater starb. Sie hatte geglaubt, nie wieder jemanden an sich heranlassen zu können. Doch jetzt stand da dieser Mann und sie wusste, dass er der Einzige war, mit dem sie zusammen in ein neues Leben gehen könnte. Und allein aus diesem Grund musste sie ihn ansprechen. Sie musste ES ändern, damit sich alles ändern konnte, damit sie sich ändern konnte.

Tausend Mal ist sie gedanklich durchgegangen, wie sie es anstellen könnte. Wie sie ihn auf sich aufmerksam machen, vielleicht sogar ein Gespräch beginnen könnte. Das würde alles ändern und alles würde gut werden.

Anfangs hatte sie den anderen noch von ihm erzählt. Von der Situation am Bahnhof und von ihren Gefühlen. Sie hatte ihnen alles beschrieben, in jeder Einzelheit.

Sie liebte den morbiden Charme dieses Bahnhofs, der noch nicht diesem ganzen Modernisierungswahnsinn zum Opfer gefallen war, der seit der Wende unaufhaltsam um sich griff. Die gemauerten Bögen über den kühlen Treppenaufgängen, das offene Dach, dass im Sommer den warmen Wind um ihre Bein spielen ließ. Es hatte so etwas beständiges. Als sei es für die Ewigkeit gemacht. So wie ihre Liebe zu ihm...

Aber irgendwann hatte sie aufgehört, von ihren Ausflügen zu erzählen. Immer wieder kamen dumme Kommentare, dass es dort doch gar nicht mehr so aussehen würde, wie sie es beschriebe, aber sie war doch jeden Tag da, sie wusste alles ganz genau, kannte jedes noch so kleine Detail und keiner konnte ihr sagen, was sie anders machen könnte, um die Dinge zu ändern.

Dankbar hatte sie einmal das Angebot von Dr. Sterzer angenommen, gemeinsam zum Ostkreuz zu fahren, aber er brachte sie zu einem völlig anderen Bahnhof und wollte ihr weißmachen, dass es sich bei dieser futuristischen Großbaustelle um das Ostkreuz handle. Über eine kaum benutzte Rolltreppe fuhren sie dann auf den Bahnsteig, der von einem geschlossenen Monstrum als Metall und Glas überdacht wurde. Kein Lüftchen regte sich und natürlich war auch ER nicht da. Dr. Sterzer erzählte noch irgendwelchen Mist, dem sie gar nicht mehr zuhörte und sich unterdessen schwor, nie wieder jemandem von ihren Ausflügen zu erzählen. Es konnte ihr ohnehin niemand helfen. Das hier musste sie alleine schaffen.

Und so ging sie jeden Tag aufs Neue ihren Weg. Doch jedes Mal, wenn sie am Bahnsteig stand, konnte sie sich nicht bewegen. Sie konnte nicht auf ihn zugehen. Wie gelähmt stand sie jeden Tag am gleichen Fleck und starrte bewegungslos in seine Richtung. Sie wollte zu ihm gehen. Wirklich. Doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie wollte nach ihm rufen, doch all ihre Rufe blieben stumm. Jeden Tag hoffte sie auf eine Verspätung der Bahn. Irgendetwas, das anders wäre, damit ES anders würde. Aber nie passierte etwas und so kam sie Tag für Tag her, um ES selbst zu ändern.

Plötzlich ertönte das Knistern der Lautsprecher. Sie würde nur noch wenige Sekunden haben, dass wusste sie ganz genau. Innerlich schrie alles in ihr und sie versuchte aus Leibeskräften, sich zu bewegen. Doch dann ertönte die Durchsage. Die einzelnen Worte verschwammen zu einem grotesken Brei und sie wusste, dass es zu spät war. Sie hörte, wie sich der Zug näherte und sie sah wie er seine Schritte nach vorne tat. Jeden Tag aufs Neue. Und an jedem Tag hoffte sie, er würde es sich anders überlegen oder sie könnte vielleicht doch etwas sagen. Etwas rufen. Irgendetwas tun, was ihn davon abhielt, diesen einen Schritt zu machen. Doch an jedem Tag tat er diesen Schritt. Sie schloss die Augen und hörte nur, wie die Bahn seinen Körper traf. Und dann hörte sie sich schreien. Dann endlich konnte sie schreien. Aber es war zu spät. Und wie an jedem Tag um 8 Uhr 47 kam ein Pfleger. An jedem Tag wird sie dann auf die Liege in ihrem Zimmer geschnallt, bekommt diese beschissene Spritze und ist dazu verdammt, eine gefühlte Ewigkeit dort liegen und aus dem vergitterten Fenster schauen zu müssen. Aber vielleicht schafft sie es morgen, etwas zu ihm zu sagen. Und dann wird alles anders....

RuDi
Das Nachbarschaftszentrum

ruft zu einem neuen

Schreibwettbewerb


Das Rudi-Nachbarschaftszentrum ruft auch in diesem Jahr am Schreiben interessierte oder vom Schreiben besessene Mitbürgerinnen und Mitbürger zu einem Literaturwettbewerb auf. Der Ostkreuz-Literaturwettbewerb hat inzwischen eine lange Tradition. Seit 2002 findet er alljährlich statt. Aus ihm sind bisher elf Anthologien hervorgegangen. Diesmal soll

Die Sirenen vom Ostkreuz

Titel und Thema des Wettbewerbs sein.

Wie die vorangegangenen Schreibwettbewerbe gezeigt haben, ist das Ostkreuz eine zuverlässige Quelle der Inspiration: Aus der Mythologie kennen wir die Sirenen als gefiederte Wesen mit Mädchenköpfen. Ihr Gesang ist umwerfend, und wer sie hört, ist verloren. Odysseus hielt sich für ganz schlau: um unangefochten an ihnen vorbei zu schippern, verstopfte er die Ohren seiner Männer, sich selbst fesselte er an den Mast seines Schiffs. War das eine gute Idee? Dann gibt es ja auch noch Sirenen, die meinen, was sie sagen: Fabriksirenen riefen unsere Großväter zur Schicht, der Rettungswagen ruft, macht Platz, da ist ein Mensch in Schwierigkeiten! Und die ganz Alten erinnern sich noch an ein besonderes, Lebensgefahr signalisierendes Sirenengeheul, das sie in die Schutzräume und Bunker eilen ließ.
Und auch im Alltag gibt es Situationen, die uns vor die Wahl stellen, der Neugier, der Betörung zu erliegen oder ihr zu entsagen und sein Heil in der Flucht zu suchen. So etwas kann jeden Tag geschehen, allerorts. Das Ostkreuz macht da keine Ausnahme. Im Gegenteil!

Wir wünschen allen Schreiberinnen und Schreibern gute Einfälle und eine glückliche, entspannte Hand.

Eingereicht werden können bislang unveröffentlichte Arbeiten. Alle literarischen Genres sind zugelassen. Allerdings sollte der Umfang der Texte acht Seiten nicht übersteigen.
Veranstalter und Organisator dieses Wettbewerbs ist das Nachbarschaftszentrum Rudi. Eine Jury aus Fachleuten und literarisch gut Bewanderten wird die Texte begutachten, die besten davon ermitteln und die Preisträgerinnen und Preisträger in einem feierlichen Rahmen ehren und der Öffentlichkeit präsentieren.
Ausgewählte Texte werden zu einer Anthologie versammelt und als Taschenbuch herausgegeben. Darüber hinaus erscheinen alle Beiträge zum Wettbewerb im Online-Magazin des Rudi-Nachbarschaftszentrums.


Die Texte können — nach Möglichkeit gedruckt und/oder als Word-Datei — gern bei der

Jury »Ostkreuz-Schreibwettbewerb«
c/o Rudi-Nachbarschaftszentrum
Modersohnstraße 55, 10245 Berlin

oder per E-Mail unter der Adresse

Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

eingereicht werden.

Termin ist der 30. September 2014

Weitere Details und Neuigkeiten zum Wettbewerb finden Sie regelmäßig in unserem Weblog:

ostkreuzliteratur.blogspot.de

Buch 2011 Tod am Ostkreuz kl

Zu diesem Buch

 

Von kaum einem anderen Verb des Deutschen gibt es so viele stilistische Varianten wie von 'sterben'; sie reichen von drastischer vulgärer Grobheit bis zu einem eher verhehlenden, hingehauchten Euphemismus. Es gab Zeiten, in denen man sogar das relativ neutrale 'sterben' oder 'tot sein' vermied. Heute ist das nicht mehr so. In den Nachrichtenmedien klingt die Mitteilung über den Tod eines prominenten Zeitgenossen ungefähr so: "Der Dichter Vernon Briggs ist tot. Er starb am vergangenen Dienstag, neunzigjährig, an Herzversagen." Der sachliche Ton einer solchen Nachricht bedeutet aber nicht, dass wir zum Tod und zum Sterben ein lapidares, rationales Verhältnis gefunden hätten. Sie ist nur eine andere Strategie, um mit dem Unfassbaren umzugehen.

Wenn in der Literatur der Tod thematisiert wird, geschieht das zumeist auf eine vermittelte Weise. Der Vorgang des Sterbens wird beschrieben oder das Leid und die Trauer der Hinterbliebenen. In der klassischen Tragödie markiert der Tod des Helden die Zuspitzung aller Konflikte in einem dramatischen Höhepunkt — die Geschichte des Helden nimmt ihre schlimmstmögliche Wendung. Oder der Tod tritt — wie auch in einigen Geschichten dieses Bandes — personifiziert, als allegorische Gestalt auf, ausgestattet mit den seit der Antike bekannten Accessoires: der Sense und dem schlotternden schwarzen Gewand, das die Gestalt, die mitunter nur ein Skelett ist, dezent zu verhüllen vorgibt. Visuell stilgebend und oft zitiert und kopiert: Der Tod in Ingmar Bergmans "Das siebente Siegel" von 1957.  

Die Darstellung des Memento mori hat in der bildenden Kunst eine ganz eigene Ikonografie von Signaturen und Topoi hervorgebracht: das Stundenglas oder andere Zeitmesser, ein Schädel, ein Schachbrett, ein umgestürztes Weinglas, herunterbrennende Kerzen, verwelkte Blumen...  

In Hugo von Hofmannsthals "Jedermann" (1911) erscheint der Tod als Büttel Gottes, der den so sehr am Irdischen (das heißt für den Herrn Jedermann vor allem an seinem Geld) hängenden Menschen wieder an die göttliche Allmacht erinnern soll.

Die für mich wohl eindrücklichsten Zeilen zum Thema finden sich am Ende von Rainer Maria Rilkes "Buch der Bilder" (1902): "Der Tod ist groß. / Wir sind die Seinen / lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen, / wagt er zu weinen / mitten in uns."

"Alles wird lächerlich, wenn man an den Tod denkt", heißt es bei Thomas Bernhard. Und wenn man den speziellen Bernhardschen Humor zu genießen weiß, ist einem klar, dass der Tod in das Lächerliche einbezogen ist. Das Lachen ist eine zutiefst menschliche Fähigkeit. Wenn der Tod unausweichlich ist, kann über ihn auch gelacht werden. Dieser, zugegeben, immer noch etwas anrüchigen, unschicklichen, für manche geradezu blasphemischen Logik zu folgen, hat auch eine lange Tradition. Der Jolly Roger, die schwarze Flagge auf Piratenschiffen, zeigt einen grinsenden Totenkopf.

Seit der Neuzeit glauben wir nicht mehr daran, dass alles menschliche Streben eitel und vergeblich ist und unser "irdisches Dasein" nur ein Zwischenstadium. Die Jenseitsverheißungen der Religionen haben einiges an Glanz verloren. Aber das macht es nicht leichter. Der innermenschliche Konflikt zwischen Demut und trotzigem Selbstbewusstsein geht in die nächste Runde.

So oft wir auch zu hören bekommen, dass der Tod zum Leben gehöre, und so richtig das auch sein mag, es hilft nichts, der Tod wird immer das Unfassbare, das schlichtweg Unangemessene sein. Das macht ihn für die Literatur, die Kunst, inkommensurabel und zu einer nie versiegenden Quelle der Inspiration.

Für die meisten von uns steht fest: über den Tod können nur Lebende nachdenken. Und schreiben. Wer liest, kann nicht tot sein. Ich lese, also bin ich.

Lesen wir.

 

Rainer Fischer Berlin, im Oktober 2011

 

Inka Engmann
Alles Zufall

 

Der alte Penner Karl sitzt auf der Bank am Rand des Parks an der Sonntagstraße und guckt den Leuten zu, die vom Ostkreuz in die Straßen und in die Kneipen strömen. Er hat eine Schnapsflasche in der Hand und ein Grinsen im Gesicht. Ja, der Tag heute war gut, einen Beutel Tabak und sogar zwei Flaschen Schnaps hat Karl sich kaufen können. Der Sommerabend ist mild, die Mädchen sind bunt und luftig gekleidet und laufen erwartungsvoll in die Nacht — so lässt es sich leben!

Vom Ostkreuz kommt ein langer, hagerer Mann mit einem Zylinder auf dem Kopf und einem schwarzen Mantel, der um seinen Körper herumschlottert. Der Mann geht zu Karl und setzt sich neben ihn auf die Bank. "Guten Abend", sagt er höflich, fast feierlich.

Karl glotzt ihn an. Er blickt in zwei kleine funkelnde Augen, die tief in den Höhlen liegen und von dunklen Schatten umgeben sind. Das Gesicht des Fremden ist schmal und sehr bleich, der Mund fast lippenlos. "Meine Fresse, siehst du Scheiße aus!", sagt Karl, "hier trink'n Schluck, denn jeht's dir besser!" Und er reicht dem Mann seine Schnapsflasche. Der nimmt einen tiefen Zug. "Wat willst'n überhaupt, woher weeßte denn, wer ick bin?", fragt Karl. Der Fremde sieht ihm bedeutsam in die Augen und spricht: "Ich bin der Tod und ich bin gekommen, um dich zu holen, Karl!" "Ach du Scheiße!", ruft der, "jib mal schnell die Pulle wieder her, du hast ja janz schön een sitzen!" Er reißt die Flasche an sich und trinkt einen Schluck.

Der Mann, der behauptet, der Tod zu sein, sieht Karl erwartungsvoll an. Eine Weile sitzen sie so schweigend, dann sagt Karl: "Wenn du der Tod bist, warum holst'n mich denn ausjerechnet heute? Ick mein', wo ick jrade heute mal jute Laune habe!"

"Alles Zufall!", spricht der Fremde. "Nun komm, wir wollen gehen!"

"Man sachte!", sagt Karl, "jetzt roochen wa erstmal eene!" Und er hält dem Mann seinen Tabaksbeutel hin. Der nimmt ihn und dreht sich eine Zigarette. "Überhaupt", ruft Karl fröhlich, "is' doch eh alles Zufall, haste gesagt! Also trinken wa erstmal een, ick hab nämlich noch 'ne Pulle! Und wenn wa denn noch loofen könn', seh'n wa weiter." Er prostet dem Mann zu und nimmt einen ordentlichen Schluck.

"Du hast wohl gar keine Angst, mit mir zu gehen?", fragt der Fremde.

"Ach, ob wir nu hier rumhängen oder woanders, det is' ja woll scheißegal!", lacht Karl.

Der Mann dagegen blickt finster. "Du scheinst nicht glauben zu wollen, dass ich der Tod bin", mutmaßt er. Aber Karl klopft ihm beruhigend auf die Schulter: "Klar gloob ick dir, Alter. Aber ick würde det nich allen so erzähl'n, die sind janz schnell dabei und stecken dir inne Klapse!"

Der Mann blickt darauf noch finsterer, aber das bekommt Karl gar nicht mit — er nuckelt an seiner Zigarette und betrachtet wohlgefällig eine Gruppe junger Mädchen, die gerade vorbeigeht.

"Weißt du was, Karl?", sinniert der Fremde, "ich denke, ich hole dich heute doch noch nicht."

"Wat?"

"Siehst du den jungen Burschen dort? Den in der blauen Jacke?" Er zeigt auf ein paar junge Leute, die um einen Tisch vor einer der Kneipen sitzen, darunter der blau gekleidete junge Mann. "Den werde ich statt deiner heute holen. Und nun auf Wiedersehen, Karl!" Damit geht der Mann, der behauptet, der Tod zu sein, langsamen Schrittes Richtung Ostkreuz davon.

Jetzt ist es Karl, der finster blickt. "Verpiss dich doch, du Penner!", brüllt er. "Säufst mir den janzen Schnaps weg und laberst nur Scheiße!" Er trinkt und guckt wieder auf das Straßengeschehen. In seinem Blickfeld sitzt der junge Mann mit der blauen Jacke, gerade stößt er mit seinem Kumpel an und lacht ausgelassen. "So'n Penner!", knurrt Karl kopfschüttelnd.

Vom Ostkreuz her sind laute Stimmen zu vernehmen, die falsch und fröhlich irgendein Lied grölen. Gleich darauf taucht eine Horde Männer auf, so ganz gerade laufen die nicht mehr. Sie torkeln über die Straße und sind jetzt in Höhe der Kneipe, wo der Mann mit der blauen Jacke sitzt. Das Gegröle wird lauter, es klingt nun nicht mehr fröhlich. Karl duckt sich in seine Bank, er kann die steigende Aggressivität beinahe körperlich spüren. Die Gesten der Männer werden bedrohlich. "Jetzt knallt's gleich", murmelt Karl. Und dann kracht es. Und wie. Und ganz schnell geht alles. Statt Gegröle sind jetzt Schreie zu hören. Und plötzlich rennen sie alle, bis auf einen, der liegt am Boden und hat eine blaue Jacke an. Karl reißt die Augen auf und springt auf. Aber schon stehen und hocken und knien ganz viele Menschen um den Mann in der blauen Jacke und versperren den Blick auf ihn. Sie gestikulieren und diskutieren, einer schreit in sein Handy. Karl setzt sich wieder hin und trinkt einen Schluck. Wenige Minuten vergehen, dann kommt ein Rettungswagen angebraust, dicht gefolgt von der Polizei. Jetzt knien die Männer aus dem Rettungswagen über dem Mann mit der blauen Jacke, während die Polizisten die Schaulustigen verdrängen und mit der Zeugenvernehmung beginnen. Die Männer aus dem Rettungswagen stehen bald auf und machen resignierte Handbewegungen. Karl kann den Mann in der blauen Jacke wieder sehen, aber er ist jetzt mit einem weißen Tuch zugedeckt. Gerade hält noch ein Auto, ein dunkles. Zwei Männer mit einem Blechsarg kommen, heben den Mann in der blauen Jacke in den Sarg hinein, legen den blechernen Deckel über ihn und tragen ihn in das dunkle Auto.

Karl atmet lange und pustend aus. Dann hebt er die Schnapsflasche Richtung Ostkreuz, wohin der Mann, der behauptet hatte, der Tod zu sein, verschwunden war. "Allet Zufall!", brummt Karl und trinkt einen Schluck.


 

Jan-Mike Singer
Das Kreuz des Ostens

 

Hastig stürmte ich an der unablässig herausquellenden Menschenmenge vorbei. Viel Rücksicht konnte ich dabei auf die vielen Passanten nicht nehmen. Leider. Denn ich hatte keine Zeit. War zu spät. Viel. Alles drängte. In dreizehn Minuten musste ich in Lichtenberg am Bahnhof sein, sonst würde ich meinen Zug verpassen. Der wohlverdiente Osterurlaub begänne dann unschön. Das wollte ich nicht. Schließlich wurde es langsam Zeit, dass ich mir ein wenig Erholung gönnte. Dies nun gleich mit Maria. Endlich. Ich freute mich jetzt schon unbändig, wenn ich nur daran dachte. Auch wenn alles ein wenig knapp kalkuliert war. Wie immer hatte ich alles auf die letzte Minute gelegt und jetzt die Bescherung. Das kurz vor Ostern. Mein Telefon war auch tot. Maria konnte ich nicht anrufen und über mögliche Verspätungen informieren. Allein Hoffen blieb mir. Schließlich wurde ich früher in der Schule zum historischen Optimisten erzogen. Wenn auch nicht viel von damals übrig geblieben war, das hat überdauert. Würde schon schiefgehen. Von Ostkreuz nach Lichtenberg braucht man mit der S-Bahn vier Minuten. Mindestens. Wenn sie kam. Wenn.

Kopfüber stürzte ich die abgenutzten Stufen herunter. Am Geruch vorbei. Bloß zur S-Bahn. Jetzt. Unglücklicherweise war mein atemloses Rennen vergeblich gewesen. Und umsonst. Kein Zug. Nirgends. Weder hier noch da. Am Horizont nichts. Was ich alles am Himmel entdecken konnte, möchte ich lieber verschweigen. Alles war so verdammt trostlos. Der beinahe leergefegte Bahnsteig fügte sich unaufgeregt in dieses apathische Stillleben ein. Ein paar traurige Gestalten verliefen sich zwischen den alten Gleisen und harrten vereinzelt bis zum Unvermeidlichen aus. Vorwärts ging hier nichts. Alles stagnierte. Die nächste Steigerung wäre der Tod. Allein eine Kleingruppe bewegte sich ausufernd und blockierte die für mich orthographisch bedenkliche Imbissbude "Keb-Up’s" erfolgreich.

Mutter, Vater, Doppelkind. Dass sie zusammen gehörten, erkannte man sofort. Selbst ich. Sogar in dieser unchristlichen Eile. Sicherlich half die ihnen gemeinsame mausgraue Uniform etwas, aber auch sonst war die Ähnlichkeit nicht zu übersehen. Bei den beiden Kindern leuchtete das ein, aber warum die vermeintlichen Eltern sich so inzestuös ähnelten, verwunderte mich doch. Kurz. Für legereres Staunen hatte ich keine Zeit. Zwölf Minuten und mein Zug wäre weg. Die Urlaubsstimmung komplett verschwunden. Denn Maria hatte kein Verständnis für irgendwelche Abweichungen vom Plan oder andere Unregelmäßigkeiten. Sie wurde dann fuchsteufelswild. Auch zu Ostern. Selbst wenn der nächste Zug eine Stunde später fuhr.

Die vierköpfige Kleingruppe hatte sich in Schale geworfen, auch wenn es für mich ziemlich schal daherkam. Einen kleinen farbenfrohen Wimpel hatten sie auch bei sich. Der flatterte munter im Wind und signalisierte die "Protestantische Studiengruppe Detmold/Lippe". Das war noch das Fröhlichste an ihnen. Die studierenden Protestanten litten wahrscheinlich sehr unter Heimweh, Ostkreuz war ganz schön weit von zu Haus, denn einen aufgeräumten Eindruck machten sie gerade nicht.

Die Tochter sah schon gut aus. Sehr gut sogar. Selbst in dieser Kluft. Ihre Schönheit hatte was Überwältigendes. Überirdisch. Ihre blauen Augen funkelten das Monotone dieser Einheitskleidung glatt hinweg. Es war ein ungeheurer Rausch der Sinne, aber ich musste nüchtern bleiben. Denn ich hatte keine Zeit für Eskapaden. Nicht jetzt. Elf Minuten vor Abfahrt des Zuges.

Die Eltern und ihr Bruder hingegen erstrahlten nicht in der Uniform, sie trugen sie einfach. Sahen fürchterlich profan darin aus. Allein deshalb würde ich mich nicht mehr in Einheitskleidung pressen lassen. Der Kirchengruppe war das anscheinend egal. Ich bemerkte bei ihnen keine konfessionellen Abweichungen. Vater und Mutter bewegten sich in der Tracht mit orthodoxer Erhabenheit, aber ein Bild für die Götter war das nicht. Die Montur des Glaubens hing lustlos an ihrem Körper herab. Das war phantasiefeindlich in höchster Potenz. Überhaupt sahen sie nicht besonders lustig aus. Eher wie auf einem unwiderstehlichen Abenteuerurlaub. All inclusive.

Der Sohn spielte wild mit seinem Telefon gegen die drohende Langeweile an und Mama und Papa wohnten dem großstädtischen Treiben immer wieder aufgeregt bei. Ihre ungeteilte Billigung erfuhr das Leben in Berlin nicht. Das sah man. Auch ich. Konnte nicht fragen, was sie störte. Musste fort. In zehn Minuten würde der Zug Lichtenberg verlassen. Fürchtete, das ohne mich. Mist. Unruhig biss ich mir auf die Lippe. Ich ging schnell wieder zum Gleis und hielt Ausschau nach meiner Bahn. Irgendwann müsste sie doch kommen.

Aber nichts.

Keine Rettung kam.

Die Verzweiflung war nahe. Langsam.  

"Er ist auch für dich gestorben", vernahm ich eine sanfte Stimme. Aus weiter Ferne flüsterte sie mir zu. Anscheinend sollte mich das trösten.

Ich drehte mich um. Da war aber keiner, den ich kannte. Musste ich mir eingebildet haben. Wahrscheinlich wurde gerade alles zu viel.

"Sein Leben hat er gegeben. Vergiss das nicht!", sagte die gleiche Stimme wieder mit Nachdruck. Sie hatte einen sanften Ton. Schien aber keinen Widerspruch zu dulden. Wie bei einer alle beglückenden Predigt.

Aber die Bahn kam deshalb auch nicht schneller.

Und die Stimme schwieg.

Ich versuchte, mehr zu erhaschen. Aber vergeblich. Nichts kam. Keine Bahn und auch keine Worte. Jetzt reichte es mir. Ich hatte schon genug Probleme und deshalb keine Zeit, wildfremden Stimmen zu lauschen. Allein die planmäßige Fahrdienstabfolge war mir wichtig. Da konnte ich mich auch nicht mit der Autopsie eines Unbekannten rumschlagen. Dafür hatte ich derzeit einfach keine Kapazität frei. Ich wurde wütend. Sah nur noch rot.

"Bitte? Wer ist tot?", schrie ich aufgebracht. Den Kopf zum Himmel gereckt. Wen konnte ich sonst entdecken, der mit mir sprechen sollte.

Wollte mich jemand zum Besten halten?

"Jesus Christus ist zwar gestorben, er ist aber nicht tot", säuselte das weibliche Organ mir lieblich zu.

Ach du meine Güte. Das hatte mir jetzt gerade noch gefehlt. In neun Minuten musste ich am Bahnhof Lichtenberg sein, kein Zug kam und jetzt sollte ich auch noch zum Gegenstand christlicher Trostspender werden. Für die Todesinterpretationen eines gewissen Herrn hatte ich gerade weder Zeit noch Lust, selbst wenn irgendwo in der Stadt wieder mal ein Evangelischer Kirchentag tobte. Obwohl ich mir das Toben nicht so richtig vorstellen konnte. Zumindest wenn ich diese drei Leute aus Detmold an der Lippe sah. Da konnte ich weder wilde Ausschweifung noch hemmungslose Ekstase vermuten. Eher ein weihevolles Innehalten. Die Mutter hatte nämlich gerade ihre Arme vor dem Schoß verschränkt und lächelte mir nachsichtig zu. Hoffnung in ihren Augen. Irgendwie sah sie glücklich aus. Beseelt. Entrückt. Ich konnte mir das zwar nicht erklären, aber ich hatte keine Zeit für religiöse Phänomene. Wenn die Bahn nicht bald kommen würde, bräuchte ich ein Wunder. Welcher Art auch immer, denn Maria konnte fuchsteufelswild werden. Dann war sie geradezu irdisch und verdammt direkt.

"Alles mag so bitter erscheinen; als wäre es vorüber, aber die Kraft des Gebets versetzt Berge", fing die gleiche gnadenlose Stimme wieder von vorn an.

Wär doch was. Wenn es wenigstens ein Lichtenberg wäre, dann würde ich wahrscheinlich auch gewisse metaphysische Erscheinungen akzeptieren. Aber nur dann. Solange wusch ich meine Hände erst mal in Unschuld. Da war ich sicherlich nicht der Einzige.

"Versuch es doch einmal. Bete!", lockte mich die Stimme.

Danach war mir aber gar nicht zumute. Lieber suchte ich den Himmel nach sicheren Zeichen des Fortschritts ab. Aber da war wenig. Wenn auch etwas. Ein kleiner Punkt, der langsam größer wurde und sich zum willkommenen Abbild einer gut erhaltenen S-Bahn entwickelte. Noch sieben Minuten bis Buffalo. Mensch, war ich froh!

Detmolds Mutter hingegen ruhte jetzt nicht mehr in sich. Irgendwas hatte ihre Seelenruhe gründlich verhagelt. Im Moment wirkte sie etwas kurzatmig und sehr gereizt.

"Oder bist Du etwa einer von diesen gottlosen Atheisten? Waren sie doch im Osten fast alle und bei der Stasi oder beides. Habe ich doch in der Zeitung gelesen", schmetterte ein stimmliches Tremolo schrill los. Ich hörte kaum noch zu und hatte unglücklicherweise auch keine Zeit mehr, ihr zu sagen, dass ein Wort allein für ihre abfällig gemachte weltliche Einschätzung gereicht hätte.

Denn meine Bahn kam. Drei Minuten zu spät, aber sechs Minuten vor Abfahrt des Zugs.

Würde schon klappen.

Alles.


 

F. Stofflovsky
Lisbeth / Galgen

 

Lisbeth

Seit Jahrzehnten wohnt Elisabeth Heidenreich in der Lenbachstraße. "Vorher", so pflegt sie mit ihrer fragil gewordenen Stimme zu sagen, "ham wa in der Sonntagstraße jewohnt." Und das mag auch seine Richtigkeit haben. Auf jeden Fall kennt sich die Frau bestens in ihrem Viertel aus.

Frag sie nach einer Straße, nach einem Platz, nach einer Geschichte, du musst auf die detailgetreue Antwort nicht lange warten.

Elisabeth, von ihren wenigen verbliebenen Freundinnen Lisbeth genannt, hat ein gehöriges Faible für Katzen. Zwei besitzt sie noch, die schlafen, fressen und trinken in ihrer Zweiraumwohnung, mehr hat die Hausverwaltung ihr untersagt. Aber sie versorgt das ganze Viertel, jeden Morgen pünktlich 5 Uhr. Die Hälfte ihrer Witwenrente geht dafür drauf. "Did jeht ins Kreuz, sach ick dir." Tagtäglich stehen die verschiedenen Sorten in den Büschen an der Ecke Lenbachstraße/Simplonstraße. "Aber", so lenkt sie ein, "es hält ooch fit." Den Katzen hat sie nach und nach Namen gegeben: CHARON, ORPHEUS, EURYDIKE, usw. "Charon", sagt sie, "mag vor allem Hühnchen".

Man erzählte sich in den 1980er Jahren, Elisabeth Heidenreichs Großmutter sei dem so genannten S-Bahn-Mörder Paul Ogorzow in die Hände gefallen. Jener Schänder hat zwischen 1939 und 1941 als Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn auf der Strecke zwischen Rummelsburg und Karlshorst sein Unwesen getrieben. Etliche Vergewaltigungen und Morde gingen auf sein Konto. Elisabeth erzählt aber nichts davon und man muss sich fragen, ob was dran ist an der Sache.

Seit dem Tod ihres Mannes war sie nicht mehr auf dem Friedhof. "Wat soll ick denn da?", fragt sie. "Nee, lass mal jut sein, der Friedrich konnte auch nichts mit diesen Gärten anfangen. Solange ick leb, will ick es mit Lebendjen zu tun ham, und wenn's nur meine Katzen sind."

In den frühen Morgenstunden begegnet Elisabeth Heidenreich den unterschiedlichsten Menschen. Heulende Teenager gehören dazu, torkelnde Mittvierziger, aber auch Autodiebe und Sprüher. Und immer wieder hat sie sonderbare Gespräche. Manchmal sagt sie einem der jungen Mädchen ein paar tröstende Worte. Mal warnt sie jemanden vor einem Autounfall. Von den Autodieben hält sie sich fern, aber sie ist keine Denunziantin, obwohl sie das nicht gutheißen kann. Einmal hat sie sogar für zwei Sprüher aufgepasst. Jetzt steht neben dem Bild, von dem Elisabeth sagt, "kann ich nicht lesen", ein mit schwarzer Farbe hingeschriebenes "Yo Lisbeth". Und man kann es ihr ansehen, darüber freut sie sich insgeheim.

Elisabeth Heidenreich arbeitete, daher auch ihr Rückenschaden, mehr als die Hälfte ihres Lebens als Wäscherin. "'ne Zeit lang", so erinnert sie sich, "musst' ick bis innen Prenzlauer Berg fahren. Hab da in der Pappelallee jearbeitet. Jeden Morgen mit der Ring-Bahn, Ostkreuz rin, Schönhauser raus. War ja früher leer die Bahn, nach 63 ham die aus'm Westen das S­Bahn-Unternehmen ja boykottiert. Na, mir war's recht. Ja, mit der Mauer. Frag mich sowas nicht. Viele Tote. Junge Menschen, aber auch Alte und Kinder. Ach, nee, aus so was kann man nicht schlau werden."

Auf die Frage, wie sie über den Tod denke, geht sie nur kurz ein. "Wissen Sie", sagt sie, "ich hab da so meine Vorstellung. Die soll'n mich dann neben meinen Mann packen, wenn es ihnen Spaß macht. ER und ich, wir ham viel übern Tod jeredet, das war sein großes Thema. Nicht zufällig heißen die Katzen wie sie heißen. Jeder muss sich da seine eigenen Gedanken machen. Ick werd hier sterben, wie ick hier jelebt hab. Nur um die Katzen mach ick mir jelegentlich Sorgen."

 

Galgen

Aus dem Koma erwacht, wie er zu sagen pflegt, trifft A. gegen 14 Uhr, die Sonntagstraße herunter kommend, ein. Die anderen sind schon da, spielen Tischtennis, quatschen Schwachsinn und nehmen gelegentlich einen Hieb aus der aufgeheizten Rotweinflasche. Mädchen und Jungen bei brennender Sonne.

"Und noch gut nach Hause gekommen?", schreit L., der gerade auf den Ball wartet.

"Schon. Doch ich hatte heut Morgen zu kämpfen", entgegnet A. mit krächzender Stimme.

"Gib mal Blättchen!", fordert B., bekommt sie von E. zugeworfen.

 

Nachdem auch die Tischtennisspieler aufhören, sitzen sie da, schauen sich um. Da hängen sie rum und chillen. Wie jeden Tag, sieben Tage das gleiche Programm.

Und die Säufer im Schatten, an den Pissstellen, unter den Bäumen.


B: "Eh, guck mal, sitzen da mittendrin, wo am Abend jeder hinpisst."

A: "Die kriegen's halt nicht mehr mit."

B: "Lass mal ausprobieren, wer am höchsten kommt."

A: "Eh, L., bist dabei?"

L: "Klar."

Seit Anfang des Sommers stand der Galgen, so nannten sie die Holzkonstruktion, einfach da, ohne genutzt zu werden. Den Sommer zuvor hing noch ein Netz daran, in dem man schaukeln konnte. Irgendwer hatte gesagt, es habe sich ein Unfall damit ereignet. Sie waren der Sache nicht nachgegangen.

E., die Freundin von B. hatte einmal überlegt, ob sie eine Installation daraus machen sollte. Sie hatte dann doch nicht die Stoffpuppe drangehangen, mit der sie schocken wollte. Doch dieser Galgen warf seinen Schatten, faszinierte.

Jetzt nehmen L., B. und A. nacheinander Anlauf, rennen den Balken hinauf, soweit sie kommen und balancieren dann, wie auf einen Schwebebalken, den 45 Grad Winkel in Höchstgeschwindigkeit runter. A. liegt die nächsten zwei Versuche vorn, gefolgt von B. Als L. die 5 Meter übertritt, will A. es wissen. Da rennt er also hoch, verfehlt, der Ballen seines linken Fußes stechelt noch einmal zärtlich über die Kante hinweg, bevor A., der Schwerkraft erlegen, dem Abgrund zufällt. Ein Zufall. Ein Unfall.


 

Andrea Collins
Vergiss nicht zu lieben

 

"Wo bist du?", fragt mich mein Bruder am Telefon. "Auf’m Alex", sage ich. "Und was machst du da?", fragt er. "Ich will Lösungsmittel für die Kontaktlinsen kaufen, bei Fielmann", sage ich und etwas ungeduldig: "Was gibt es?" — Arndt sagt: "Der Vater ist gestorben."

 

Ich sehe Holzbuden stehen, noch nicht in Benutzung, aufgebaut für den kommenden Ostermarkt. Gehe zwischen sie, stelle mich unter ein Holzbudendach — kein Mensch sonst ist da — zwischen der einen und anderen Reihe. Ich stehe da allein, für keine/n sichtbar. Halte mich an einem Holzpfeiler fest.

"Ich halte mich an einem Holzpfeiler fest", sage ich zu Arndt. "Ich stehe hier zwischen solchen Buden."

Schock.

 

"Heute Morgen hat der Vater noch gefrühstückt", sagt mein Bruder, "dann ist er eingeschlafen, was ungewöhnlich war. Später ist er nochmal kurz aufgewacht und hat unklar geredet. Dann ist er wieder eingeschlafen." Er redet wie einstudiert, sachlich, ganz der Jurist. Der Tatbestand: "Die Mutter hat zu dem Zeitpunkt die Ärztin geholt. Die hat gleich die Einweisung in die Klinik angeordnet. Der Krankenwagen ist gekommen und der Vater ist auf einer Bahre aus dem Haus getragen worden. Mutti und ich sind gleich auf die Intensivstation nachgekommen. Dort haben uns die Leute so angeguckt, dass wir wussten, es ist nichts mehr zu machen. Einer sagte: 'Das ist der Zeitpunkt, an dem die Angehörigen gefragt werden, ob der Mensch noch am Leben gehalten werden soll, damit alle Angehörigen Abschied nehmen können.' Wir haben gesagt, dass deine Anreise aus Berlin zu lange dauern würde. Wir haben dem Vater die Hände gefaltet, uns zu dritt an den Händen gehalten und dreimal das Vaterunser gebetet und dich da mit reingenommen. Um 13 Uhr haben sie die Beatmung abgestellt."

Es war ein leichter Tod, medizinisch gesehen, denkt die Krankenschwester in mir und das sage ich auch. Mein Bruder ist jünger; ich möchte ihn stützen. Er sagt, er stehe neben sich und könne es noch gar nicht glauben. Die Beerdigung fände am Dienstag statt. "Es reicht, wenn du am Wochenende kommst." Er sagt: "Nimm dir ein Taxi nach Hause."

 

Ich denke über die Taxi-Alternative nach und nehme die S-Bahn. Meine Knie wanken. Der Realitätssinn verbiegt sich. Kriege ich das hin? Zu laufen, mit der S-Bahn zu fahren? Mechanisch kann ich mich darauf verlassen, die Wege in diesem Alex­Großstadt-meine-Stadt-Gewusel zu kennen. Beruhigende Routine.

 

Ich rufe Maria und Gerlinde an, von meinem Sitzplatz zwischen zwei Leuten aus: "Das Tanzen für Sonnabend muss ich absagen. Mein Vater ist gestorben. Ich fahre nach Heidelberg."

Das geht in Berlin, solche Dinge in der Öffentlichkeit zu sagen. Die große Freiheit der Anonymität: keine/r schert sich drum oder guckt zweimal. Ich darf sein. Allerdings rede ich auch nicht derart laut, dass ich die Mitfahrenden mit meinen Geschichten belästige. Fast stimmlos erledige ich die Telefonate. Ich will sie so schnell wie möglich hinter mich bringen. Zu tun ist, was gemacht werden muss.

 

Ausstieg Ostkreuz, Richtung Markgrafendamm, warten auf den 194. Nicht recht bei Sinnen. Funktional.

Ich rufe die Mutter an, höre wie es ihr geht.

Im Dunkeln, bei zugezogener Gardine ob dieses Innenhofschachtes, denke ich zu Vatern hin: "Wie kannst du mir das antun?", und platze es fast raus. "Mich hier allein lassen, in dieser Unfertigkeit, mit diesem Baustellenleben, in der Durchgangssituation. Ich bin noch nicht soweit, dass du mich verlassen kannst." Gedanken der Kindlichkeit. In meinem Alter nehme ich kritisch wahr. Anklage. Selbstmitleid.

Bisher hatte ich mich auf nicht mehr als ein Baustellendasein eingelassen.

Schwarz ist das Zimmer, das Licht bleibt aus.

 

Zwei Wochen vorher träumte ich, dass der Vater sich von mir verabschiedet. Er ging aus dem Zimmer und sagte Lebewohl.

Ich dachte, ich irre mich. Es kann nicht sein, weil es eher bergauf ging mit seiner Genesung. Er hatte wieder an Kraft gewonnen. Lief mit dem Rollator umher — auch auf der Straße — und war bei einer Essenseinladung auf dem Dilsberg dabei. Für den Herbst war ein Urlaub in Italien geplant.

 

Aber das Gefühl blieb, ihm einen Brief schreiben zu müssen. In Gedanken formulierte ich die Sätze immer wieder: wie viel er mir bedeutete die ganzen Jahre und dass ich wusste, ich würde immer auf ihn zählen können. Dass ich mich ihm geistig verbunden fühle, auf dieser intellektuellen Ebene. Und ihn so außerordentlich schätze für die innere Haltung, die er lebte, die ungebrochene Geradlinigkeit im Umgang mit Menschen; dass er sich nicht orientierte an dem Materiellen, am Status der Leute, an ihrer Popularität.

Zeitlebens fuhr er mit seinem klapprigen, zum Schluss 50 Jahre alten Fahrrad umher und trug seine Kleidung bis sie auseinanderfiel. Es gab bei ihm keinerlei Zeichen von Dünkel.

Auf dem Fußgängerweg neben der S-Bahn-Brücke zum Treptower Park redete ich mit Vater das letzte Mal. Ich sagte zu ihm: "Wenn du nur wieder gesund wirst", und wusste innendrin, dass es nicht so wird. Ungläubig ob der Intuition. Trostlos. "...dass ich dich liebhabe", sagte ich und dachte an den Brief, den ich jeden Tag im Kopf schrieb. "Das ist gut zu wissen", sagte er.

Wir redeten sonst nicht so emotional.

 

Den Tag vor seinem Anruf hatte ich meinem Bruder eine Mail geschrieben mit Anweisungen, wie die gesundheitlichen Fortschritte des Vaters zu unterstützen seien. Es war eine Auflistung ausführlicher Ansagen aus der gesundheits- und krankenpflegerischen Perspektive.

Das war Dienstagabend. Am Mittwoch war der Vater tot.

Wir hatten den Abschied geprobt. Durch einen Fehler des Krankenhauses war er im Sommer des Vorjahres nach der OP praemortal  gewesen. Als die Mutter morgens auf Station kam, hatten die Schwestern Schläuche und Infusionen abgestöpselt. "Ihr Mann ist austherapiert", sagten sie ihr.

Angeschlossen wurde alles wieder nachdem mein Bruder als Betreuer dafür sorgte. "Der Vater hat so gekämpft", sagte er, "er wird nicht abgehängt".

 

Damals hatte morgens um halb acht die Mutter auf dem Handy angerufen, ich solle "sofort kommen, der Vater stirbt". Ich rannte die Frankfurter Allee entlang, rannte Geld holen, rannte in den U-Bahn-Schacht.

Im Hauptbahnhof sah ich die Schlange und sagte zu den englischsprachigen Touristen, die gerade anstanden, und den Wartenden: "Excuse me. My father is dying. I have to get the ticket immediately. I’m sorry." Ich weinte.

Die Leute ließen mich nicht nur vor, sondern die Schalterangestellte verließ auch wenige Minuten später ihren Sitz und zog mit mir zusammen am Automaten ein Ticket nach Heidelberg für sofort.

Unvergesslich.

 

Mit dem Taxi in Heidelberg zum Salemkrankenhaus, Zimmer gefunden, Schutzkittel angezogen, ans Bett gestellt, die Hand vom Vater genommen. Tränen in den Augen, stundenlang. Ich sah meinen Bruder und die Mutter an, wie nahe wir uns sind.

 

Ich sagte zum Vater: "Ich komme jetzt jedes Wochenende, bis du wieder gesund bist." Die verschiedenen Stationen, auf denen er lag, lernte ich ganz gut kennen. Auch die Rehaklinik, in die er bald darauf kam.

Es gab eine Kehrtwende. Die medizinischen Werte besserten sich.

 

Der buddhistische Gynäkologe, bei dem ich am Donnerstag nach Arndts Anruf einen Termin habe, erzählt, dass er vor einem Jahr seinen Vater verloren hat und wie es für ihn war. Er sagt: "Im Buddhismus machen wir es so, dass die Angehörigen in den ersten sechs Wochen jeden Tag zur Todesstunde eine Kerze anzünden, in die Ruhe gehen und dem Verstorbenen gute Wünsche mitgeben und beruhigend mit ihm reden. Bis ein Jahr nach dem Tod sollen die Nahestehenden keine großen Veränderungen in ihrem Leben vornehmen: nicht umziehen, keine neue Arbeit annehmen."

Auch jetzt rede er noch mit seinem Vater, sagt er. Ab und zu.

Meiner Freundin Julia bringe ich vor der Beerdigung die Mimose. Sie sagt zu meinem Patenkind: "Die Andrea ist heute ganz traurig. Ihr Vater ist gestern gestorben. Wenn du willst, kannst du sie mal an den Zehen kitzeln und ihr einen Kuss geben, dann sagst du gute Nacht." Und das tut er dann auch, der kleine Junge.

Fünf ist er jetzt. Befriedigt nehme ich wahr, dass wir keine Kindersprache mit ihm sprechen und ihn für voll nehmen.

Mein Seelenvogel breitet die Flügel weit aus bei Antons Abschied für den Abend.

 

Grau. Graue Trauer. Der Vater liegt in einer grauen Stahlbox auf der Pathologie. In einem Schiebfach, dass ich von Filmen her kenne. Als Schwesternschülerin war ich mit der Klasse einmal dort, um eine Untersuchung anzusehen. Ich sah nicht hin.

 

Die Beerdigung geht vorüber. Unsere Familie hat sich gut gehalten. Ich bin stolz darauf, in Anbetracht der Verstrickungen, die tatsächlich zwischen uns herrschen. Ein Kraftakt und das schauspielerische Können der gesellschaftlichen Vorgaben. Rollen werden eingehalten, das Brauchtum stützt. Mothers little helpers tun ein Übriges.

Authentische Begegnungen unter diesen Umständen prägen sich ein.

 

Ich streichele die Tannenzweige auf Vaters Grab, sitze in der Hocke davor. Schön, dass du kommst, höre ich den Vater in Gedanken sagen und erschrecke. "Die Seele macht das", sagt Julia dazu später.

Einen Stuhl will ich neben das Kreuz stellen, mich setzen und Papiere lesen. Die Mutter will keinen Stuhl dort. Sie sagt, sie hat den Vater so schon immer präsent.

Wenn die Mutter dabei ist, bin ich am Grab für sie stark.

Noch drei Tage Praktikum, dann ist das vorbei. Mit der Stelle verbindet mich nichts, daher bietet sie nichts Tragendes. Natürlich stellen sie niemanden ein, obwohl es ein florierendes Forschungsunternehmen ist.

Die Mitarbeiterinnen in meinem Büro unterstützen den Führungsstil: sie nehmen die Arbeit mit nach Hause und sind sogar an den Feiertagen damit beschäftigt.

Eine Kollegin ist als Leiharbeiterin bei einer Zeitarbeitsfirma angestellt und verdient wesentlich weniger als ihre Zimmerkollegin. Sie beschwert sich bei mir über die Zustände und dass das Unternehmen sie hinhält und ihr sagt, vielleicht werde sie zum nächsten Jahr übernommen – seit eineinhalb Jahren. Jeden Tag macht sie Überstunden, hält sich an der Hoffnung hoch und will die Oberen von ihrem Einsatz überzeugen.

Anfangs drucke ich ihr Arbeitsstellen aus, auf die sie sich mitbewerben will, später lasse ich es. Ich kriege das Gefühl, sie braucht diese Situation.  

Wir Teilnehmerinnen der Weiterbildung, die elf Monate lief, sehen uns nochmal zur Endrunde. Die Luft ist raus. Ich sitze dabei, bin anwesend. Der Leiter der Maßnahme meint, wir wären der netteste Kurs seit Jahren gewesen, sie hätten überlegt, uns zu verlängern.

Wir hatten uns gegenseitig in Schutz genommen, verteidigt, hatten einander sein lassen trotz entschiedener Differenzen und waren im Wesentlichen fair geblieben. Es war ein wohlwollender Haufen von Leuten, die sich auf dem Ersten Arbeitsmarkt wie er heute ist, (zeitweilig) nicht durchsetzen konnten.

Wie in anderen Settings des Zweiten Arbeitsmarktes empfand ich die Leute (mit ihren Handicaps) wieder als 'humaner'.

 

Kraftlosigkeit. Nur noch Liegen. Nicht mal die Beine will ich mehr bewegen.

 

Es hat nichts mit mir zu tun — die Ballerinas, die ich einkaufen müsste. Ich fasse sie an — wie in einer anderen Welt. Bedeutungslosigkeit hat ein neues Gesicht bekommen. Einkaufen ist sinnlos.

Der Vater sagte: "Irgendwann stellt man fest, dass man im Grunde fast nichts braucht, dass sich einiges ummodeln lässt und nichts Neues nötig ist".

Er hatte sich hochgearbeitet zur intellektuellen Elite.

Weder hatte er deren Werte übernommen noch in ihre Normen gepasst.

Eine polnische Bauersfrau hat ihn zum Schluss gepflegt. Ich erzählte ihr, dass er in einem Bauernhaus aufgewachsen war in armen Verhältnissen und schließlich Professor wurde.

Die beiden waren ein gutes Team. Sie war genau richtig für ihn.

Mir schien, er hatte in der einfachen Wahrhaftigkeit des Umgangs miteinander ein Stück Heimat wiedergefunden.

 

Die Pfarrerin in der Samariterkirche im Nordkiez spricht in ihrer Predigt von den 'unverlierbaren Toten'. Sie bezieht sich auf Hilde Domin und hat das Gedicht am Ausgang ausgelegt.

Angenommener Weise ist Gott mit uns.

Durcheinander. Neben-sich-Stehen. Plötzliche akute Verwirrung: Wie bewege ich den Cursor mit der Maus? Stehe ich soweit neben mir? Derartig war ich noch nie von der Rolle!?

"Das ist normal, diese Verwirrtheit", sagt mein Freund Sven und fängt von den Trauerphasen nach Elisabeth Kübler-Ross an. Die Abgespaltenheit und das Sich-Fremd-Fühlen.

Er sagt: "Ich will in der Trauer für dich da sein."

Er ist da.

 

Zu Janet, einer Ex-Kommilitonin, sage ich: "Es tut mir so Leid, dass ich den Brief nicht geschrieben habe, von dem ich die ganze Zeit dachte, ich solle ihn schreiben. Ich hatte durch diese 40-Stunden-Praktikumsstelle einfach keine Zeit."

Ihr Vater ist vor vier Jahren gestorben. Sie sagt, dass sie ihrem Vater damals auch gerne das eine oder andere noch gesagt hätte, dass er aber genauso überraschend gestorben wäre. Bei einem Workshop zu dem Thema wurde ihr gesagt: "Das ist die Nähe, die dein Vater zugelassen hat. Wenn er vorher gestorben ist, bevor du das sagen konntest, hat er genau diese Nähe gewollt und keine andere."

 

Ruhe. Nur Ruhe, Ruhebedürfnis. Ich halte es lange ohne Menschen aus. Ein nie erlebtes Alleinsein-Wollen und Alleinsein-Können. Ich sehe nur wenige, melde mich bei Einzelnen. Gehe zu Einladungen, zu denen ich mich aufgrund langjähriger Freundschaft verpflichtet fühle. Verbundenheit zählt.

Außer den engen Freundinnen sind alle unwesentlich.

Anderen gegenüber werde ich mitunter grantig und aggressiv.

So kenne ich mich nicht.

Vier Wochen Nebel. Tag für Tag vorantasten. Den Tunnel befühlen. Einen Schritt nach dem anderen machen. Möglichst wenige.

Niedergeschlagenheit.

Auf einer tieferen Ebene ist alles egal.

Trauer und Wut.

Im Hausflur morgens kommt mir der Hauswart mit Fahrrad entgegen. Er fährt zu seiner Laube.

Seit Dezember benutzt er so viel Parfüm, dass der ganze Hausflur und Innenhof nach ihm stinkt. Er will die Alkoholfahne überdecken, denke ich; ich hörte ihn lallen.

Es lässt sich nicht völlig ausschließen, dass er die Aufträge der paar Mieter erledigt, die auf seiner Lieblingsliste stehen. Bei den übrigen rührt er keinen Finger und der Wasserhahn bleibt ohne Mietervereinsanwälte am Tropfen. Tatkraft zeigt er, indem er sich lautstark räuspert, am Telefon brüllt und den Mieterinnen zuruft: "Sehen Sie heute wieder gut aus."

Weder des Hörens noch Riechens mehr adäquat fähig, einsatzunwillig und von fortschreitender Verkindlichung betroffen, überzeugt der Mann ausschließlich durch starre Bockigkeit bezüglich seines altersgerechten Abtretens.

Die Hausverwaltung geht mit diesem peinlichen senilen Profilneurotiker mit.

"Wir zahlen Ihnen hier die Rente", sage ich ENDLICH zu seiner Frau. Dass die beiden sich auf Kosten der überwiegend armen Mieter einen lauen Lenz machen.

 

Auch die Mutter lässt ihre Wut in häuslicher Umgebung aus. Weil sie neun Jahre älter als der Vater war, ging sie immer davon aus, zuerst zu sterben. Jetzt, mit 84 Jahren ist sie so rege, dass sie in einer Abruptaktion das vom anderen Grundstück hereinragende Überholz absägen lässt, das dazugehörige Unterholz nebendran abtragen lässt, überragende Baumäste abschneiden lässt und sich mit den Nachbarn anlegt. Die Fetzen fliegen.

Für kurze Zeit entwickelt sich die alte Dame zur Maschendrahtzaun-Mafia und nimmt das Gesetz in die eigene Hand.

Janet erzählt, dass ihre Mutter das erste halbe Jahr nach dem Tod des Vaters vor Wut über das Verlassenwordensein die Tennisbälle nur so geschmettert hatte.

 

Halbtags trifft sich Mutter mit den anderen Witwen im Thermalbad, geht schwimmen und Kaffee trinken.

Ich ziehe den Hut vor ihr.

Ihr Werdegang wird von ihren Kindern engmaschig beäugt.

Ein paar Wochen später sitze ich auf einer Bank in der Grünfläche neben dem Nachbarschaftshaus RuDi, den Brief vom Notariat in der Hand. Sind die Fenster, die ich sehe, die vom Nachbarschaftsheim? Nein, da ist eine Schule dazwischen. Ein Schüler sitzt dort weiter weg auf einer anderen Bank; er geht weg als ich mich hingesetzt habe. Wohl zu den anderen, die auf dem Sportplatz sind. Haben sie nicht Unterricht?

"Das Erbschaftsverfahren ist eröffnet", lese ich. Es interessiert mich nicht. Ich will das alles nicht. Ich will, dass der Vater zurückkommt.

 

Auf der Modersohnbrücke fahre ich an Jugendlichen vorbei. Sie sitzen dort und sehen sich den urbanen Sonnenuntergang an. Heute mit Techno Musik aus dem Ghettoblaster.

Es ist einer der Momente, für die ich Friedrichshain liebe.

Nur zehn Prozent der Bewohnerinnen des Stadtteiles sind in meinem Alter, zwischen 40 und 60 Jahre, lese ich in der Statistik — und ich glaube es auch. Ich höre, dass viele Ältere mit der Jugend Schwierigkeiten haben. Ich habe sie nicht.

Manchmal höre ich zu und beantworte Fragen. Drei-, viermal habe ich Leuten auf Drogen beigestanden bis der Notarzt kam. Oft fühle ich mich mütterlich, tantenhaft.

Wenn es im Haus zu laut wird, sage ich der Jugend Bescheid. Die Bullen hab ich auch schon mal geholt, den Bereitschaftsdienst. Das lag in Kreuzberg auch manchmal an.

Bisher bin ich nicht reif für den Stadtrand mit Familien.

Christoph vom Interkulturellen Garten hilft mir dabei, meine Parzelle neu zu bepflanzen. Er schlägt das Hilfsangebot von sich aus vor. Anfang Juli legen wir das Saatgut aus, das für April angedacht war. "Was noch wächst, das wächst", meint er.

Ich kenne ihn seit 30 Jahren. Habe ihn wiedergetroffen in den Laskerhöfen, wo er einen 1-Euro-50­Job macht, vorher hatte er eine ÖBS. "Die war besser", sagt er, "da wird auch gezahlt, wenn man krank ist. Und sie geht zwei Jahre."

Manchmal reden wir über alte Zeiten.

Irgendwie ist die Stadt nach so vielen Jahren wie ein Dorf.

Inzwischen ragt der eiserne Überbau des neuen Bahnhofs am Ostkreuz in die Luft. Das Hochgerüst ist fast fertig.

Es geht dem Spätsommer entgegen.

Zuverlässig steht der alte schwarze Turm daneben – unter Denkmalschutz. Er bleibt.

In seiner Beständigkeit wird er ein Wahrzeichen für das Ostkreuz sein.

"Vergiß nicht zu lieben" steht unten an der Mauer des Restaurants Rotherstraße, Ecke Modersohn. Ich lese es gerne und habe es fotografiert.

Ich habe viel vor.

Mein Vater ist immer bei mir.


 

Paul Warg
Wucht

 

Frank

Ich hörte wie die Haustür zuschlug, Alex hatte es wieder einmal besonders eilig. Es war 7.20 Uhr und er hatte eigentlich noch genügend Zeit, rechtzeitig zur Schule zu kommen, aber es gefiel ihm, auf dem Schulweg noch ein wenig herumzutrödeln. Er hatte sein Schulbrot auf dem Küchentisch vergessen, also nahm ich es und legte es in den Kühlschrank.

Mit meiner Frau Kathrin war ich nun schon seit elf Jahren zusammen. Ich lebte mit ihr und ihrem zwölfjährigen Sohn in Berlin nahe dem Bahnhof Ostkreuz. Alex ist für mich wie mein eigener Sohn, denn seinen leiblichen Vater hatte er nie kennen gelernt. Kathrin kannte ich schon aus gemeinsamen Studienzeiten und war seit Alex' Geburt immer für sie da. Aus Fürsorge wurde Liebe und als wir beschlossen zusammenzuziehen, fanden wir vor neun Jahren eine große Altbauwohnung am Ostkreuz und fühlten uns dort auf Anhieb sehr wohl. Zwischenzeitlich hatte sich viel verändert, aber wir mochten es. Am Markgrafendamm und den umliegenden Straßen war es eher ruhig. Dafür war auf der anderen Seite vom Ostkreuz, in der Sonntagstraße, immer was los. Man konnte bummeln gehen oder einfach mal einen Kaffee trinken. Auch für Alex gab es immer was zu entdecken.

Kurz nachdem Alex die Wohnung verlassen hatte, klingelte das Telefon. Widerwillig nahm ich den Telefonhörer ab. "Charité … Intensivstation … Ihre Frau …" Ich nahm nur noch Wortfetzen wahr. Der Telefonhörer fiel mir aus der Hand, aber im letzten Moment fing ich ihn wieder auf. Ich verstand nichts mehr. Ich hatte einen Kloß im Hals, brachte kein Wort mehr heraus und legte den Hörer einfach auf. Mein Herz schlug wie verrückt und ein dumpfes Klopfen machte sich in meinem Kopf breit. Ich fing an zu schreien, stand brüllend im Flur. Ich zitterte am ganzen Körper und versuchte verzweifelt, nicht die Kontrolle zu verlieren.

Mein nächster Gedanke ging an Alex. Wie sagt man seinem zwölfjährigen Sohn, dass seine geliebte Mutter im Sterben liegt?

 

Alex

Ich konnte es schon in den Augen meines Vaters sehen, irgendetwas stimmte nicht. Sein Blick verriet mir, dass etwas passiert sein musste. Er schaute mich durchdringend an. Seine Augen waren rot und glasig. Wir standen im Flur. Es dämmerte und ein schummriges Licht drang durch die offenen Zimmertüren in den Flur. Er sagte mit leiser Stimme, dass er etwas mit mir besprechen wolle. Ich guckte in seine glasigen Augen und legte meine Arme um ihn. Ich legte meinen Kopf fest auf seine Brust. Ich spürte wie er zitterte. Er drückte mich leicht weg und nahm meine Hand. Wir gingen in mein Zimmer und ich versuchte mich zu erinnern, ob ich meinen Vater schon jemals hatte weinen sehen. Ich konnte mich nicht erinnern. Wir setzten uns auf das kleine Sofa, das unter meinem Hochbett stand. Immer wenn man sich darauf setzte, versank man förmlich in den Polstern. Es herrschte eine beängstigende Stille, die plötzlich durch eine vorbeifahrende S-Bahn durchbrochen wurde. Mein Vater schien die Gelegenheit nutzen zu wollen, mir etwas zu erklären. Seine Lippen bewegten sich.

Ich wusste sofort, dass es mit meiner Mutter zu tun haben musste. Sie sollte am Kopf operiert werden, denn man hatte vor einem Monat einen Gehirntumor bei ihr festgestellt. Jetzt lag sie im Krankenhaus, da war ich aber auch schon mal. Letztes Jahr hatte ich mir meinen Arm gebrochen. Es dauerte vier Tage und dann war ich wieder zu Hause. Meine Mutter war nun drei Tage fort. Ganz genau wusste ich nicht, was los war. Meine Eltern unterhielten sich in den letzten Tagen sehr häufig und eindringlich. Doch das war nicht so ungewöhnlich oder auffallend und dass Krebs heilbar ist, wusste ich. Also, was konnte Schlimmes passiert sein?

Mein Vater begann mit leiser Stimme: "Kathrin geht es nicht gut." Er erzählte, dass bei der Operation etwas passiert sei. Soweit ich es verstand, hatte es während der Operation eine unerwartete Blutung im Gehirn gegeben. Es schossen ihm immer mehr Tränen in die Augen. Ich verstand schon, dass das nicht gut war, fragte mich aber insgeheim, was daran so schlimm sei. Ich dachte nur daran, wie lange Mutter denn noch weg sein würde. Sie fehlte mir sehr, aber wenn sie nicht da war, konnte ich immer viel alleine unternehmen. Mein Vater besuchte sie jeden Tag in der Klinik und kam dann am späten Nachmittag wieder heim.

Er nahm mich in den Arm und schaute mich an. "Alex, es kann sein, dass sie nie wieder kommt. Sie liegt im Koma und die Ärzte sagen, dass es jetzt nur an ihr liegt, wieder aufzuwachen." In dem Moment wurde mir schwarz vor Augen und ich konnte keinen Ton hervorbringen. Ich hörte wie mein Vater noch etwas sagte, verstand aber seine Worte nicht mehr. Ich empfand Schmerzen, wie ich sie zuvor noch nie gespürt hatte. Mein Magen zog sich zusammen. Ich konnte nichts mehr sagen. Ich konnte nicht mal heulen. So saß ich da bis die Tränen kamen. Die Rotze lief mir aus der Nase. Später konnte ich mich erinnern, wie mein Vater fragte, ob er mich erst mal in Ruhe lassen solle. Ich war unfähig zu antworten. In dem Moment saß ich einfach nur da wie ein Häufchen Elend, zusammengekauert und am Heulen. Ich weinte mich in den Schlaf.

 

"Alex, du musst zur Schule, aufstehen!" Ich guckte verschlafen und verdutzt hoch. Mein Vater stand vor mir. Ich wollte mich noch mal umdrehen, überlegte es mir aber anders und stand auf. Ich ging schnell in die Küche und machte mir ein Glas Kakao. Ich trank jeden Morgen ein Glas Kakao, mit einem halben Teelöffel Kakaopulver, genau wie meine Mutter. Ich ging mir die Zähne putzen und anschließend duschen. Nachdem ich mich angezogen hatte, schnappte ich meinen Schulranzen und verabschiedete mich von meinem Vater. Ich machte mich auf den Weg in die Schule. Nach den ersten Metern kamen mir Zweifel, ob ich jetzt wirklich in die Schule gehen wollte. Ich fragte mich, wie es wohl meiner Mutter gehen würde. Meine Gedanken kreisten hin und her. Ich ging an meiner Schule vorbei und über die Modersohnbrücke den staubigen Weg zum Ostkreuz. Vorbei an den leer stehenden, abrissreifen Häusern. Ich wollte zur S-Bahn. Wenn ich nicht in die Schule wollte, setzte ich mich manchmal in die Ringbahn und fuhr so meine Runden, bis es Zeit war, nach Hause zu gehen.

Am Ostkreuz angelangt, ging ich über die Fußgängerbrücke, die mit Tags vollgemalt war. Ich guckte mir immer alles genau an und manchmal machte ich Fotos von Graffitis, die mir besonders gefielen. Ich roch den eigenartigen Ostkreuzgeruch, nach Moder und Altöl, muffig, aber nicht unangenehm. Der Wind blies mir durch die teilweise kaputten Fenster der Fußgängerbrücke ins Gesicht. Ich ging die Treppen hinunter zur Stadtbahn, um von dort zur Ringbahn zu gehen. Eine Bahn stand am Bahnsteig zur Abfahrt bereit. Ich hörte noch die Durchsage: "Zurückbleiben bitte!" und rannte los. Mit einem Sprung klemmte ich mich durch die sich schließende Tür und schaffte es gerade noch in die Bahn. Ein wenig außer Puste ging ich durch die Sitzreihen und setzte mich dann auf einen freien Sitz am Fenster. Die Bahn fuhr los und ich blickte auf das alte Dach des unteren Bahnsteigs. Ich wunderte mich, was da alles rumlag. Bierflaschen, unzählige Kronkorken, Fahrradschlösser, ein alter Reifen und sonstiger Abfall bedeckten es. Die Bahn passierte den Wasserturm, der wie ein Riese alles überblickte. Ich starrte aus dem Fenster und versuchte die vielen Graffitis zu erkennen und zu lesen. Die bunten Bilder rasten an mir vorbei.

Ich fuhr einige Stationen, wobei ich meinen Ranzen fest in der Hand hielt. Es war ein alter "Camel"-Ranzen, der schon einiges mitgemacht hatte und ziemlich abgeschabt war. Das war mir aber egal, ich hatte ihn schon lange und hing sehr an ihm. Meine Gedanken kreisten endlos umher, doch ich konnte keinen festhalten. Ich spürte wie sich mein Hals zuzog und es fühlte sich an, als wenn ich um jeden Atemzug kämpfen müsste. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich konnte sie erfolgreich zurückhalten, ich wollte nicht in der Bahn heulen. Ich war wieder voll da. Meine Gedanken kreisten jetzt um meine Mutter und meinen Vater. Wie fühlte er sich wohl und wie würde es ohne meine Mutter weiter gehen. Wieder wanderte mein Blick aus dem Fenster. Ich war eine Runde gefahren und der Zug fuhr gerade wieder am Ostkreuz ein, also entschloss ich mich auszusteigen.

Gleich kam mir der bekannte Geruch wieder entgegen, den ich mochte, weil er etwas Vertrautes hatte. Ich ging den Ausgang in Richtung Sonntagstraße hinunter. Die Wände in diesem Durchgang waren immer feucht, zumindest schien es mir so. Die Ecken waren immer nassgepinkelt und es roch stark nach Pisse. Ich ging den Weg zwischen dem alten Haus und den alten Bauarbeiterhütten entlang, unterquerte die alte Backsteinbrücke, die vollbeklebt mit Plakaten war und gelangte zur Sonntagstraße. Ich spürte, dass ich Hunger bekam und als ich in meinen Schulranzen griff, bemerkte ich, dass ich mein Schulbrot vergessen hatte. Kein Wunder, sonst legte mir meine Mutter immer das Schulbrot in den Ranzen. Geld hatte ich auch nicht dabei, also beschloss ich, Pfandflaschen zu sammeln. Am Ostkreuz ist immer etwas los und die Leute, die in Eile sind, lassen ihre Flaschen achtlos rumstehen. Deshalb dauert es meist nicht lange, bis man zwei oder drei Euro zusammen hat. Ich ging die Sonntagstraße entlang mit all den kleinen Buden. Es roch jetzt nach Pizza und Döner. Ich schlenderte an den Geschäften und Cafés vorbei. Am Ende der Straße wechselte ich auf die andere Seite mit dem kleinen Park und suchte mir ein paar Flaschen zusammen. Nicht lange und ich hatte genug Flaschen zusammen. Ich wechselte erneut die Straßenseite, um die Flaschen an einem der Spätverkäufe abzugeben. Es würde reichen, um mir einen Döner zu kaufen.

Ich trat gerade aus dem Laden, als mein Handy klingelte. Ich hielt inne und schaute auf mein Handy. Es war mein Vater. Eigentlich war es noch zu früh, denn er war zu meiner Mutter gefahren und normalerweise nicht vor 17 Uhr zurück. Es klingelte wieder und wieder, doch ich zögerte.


 

Andrea Noeske
Kurts letzter Tag am Ostkreuz

 

Die Sonne klettert am Horizont empor, um ihren Logenplatz einzunehmen. Es verspricht ein schöner Tag zu werden. Vielleicht nicht mehr ganz so warm wie die Tage zuvor. Ein frischer Wind kündet vom bevorstehenden Jahreszeitenwechsel. Der Herbst steht vor der Tür und damit die Entscheidung für Kurt, sich einen Platz zum Überwintern zu suchen. Nach diesem Sommer hat er keine Lust mehr auf die überfüllten Bahnsteige, die Menschenmassen, die sich morgens und abends treppauf, treppab schieben. Die unzähligen S-Bahnzüge, die in den Bahnhof rattern immer begleitet von Ansagen wie "Eingefahrener Zug S 3 in Richtung Erkner. Einsteigen bitte. Zurückbleiben bitte." Zisch, Rumms, Türen zu, wieder eine Ladung Mensch auf dem Weg nach Irgendwo. Irgendwo interessiert Kurt nicht. Sein 'Irgendwo' ist im Hier und Jetzt. Das hier ist sein Revier. Der Bahnhof Ostkreuz mit seinen angrenzenden Brachen. Der Bahnhof beginnt sich wieder zu füllen. Füße scharren über Beton. Frauen in Kostümen laufen mit lautem Klack, Klack hoher Absatzschuhe über den Bahnsteig. Männer in Anzug und Krawatte, ihr Mobiltelefon am Ohr, schauen ihnen neugierig hinterher. Kurt kennt sie alle. Insbesondere die notorischen Zuspätkommer, die über die Treppen hetzen und es mit waghalsigen Sprüngen zwischen die sich schließenden S-Bahn-Türen noch in letzter Sekunde schaffen.  

Es wird Zeit für Kurt, Zeit fürs Frühstück. Auf dem Bahnsteig ist nichts mehr zu holen. Der Bautrupp hat sich seit gestern immer weiter in seinen Bereich vorgearbeitet. Heute wird auch das letzte Grün, der letzte Grashalm dem Presslufthammer weichen, da ist sich Kurt sicher. Er wird seinen Platz aufgeben müssen, der ihm Schutz geboten hat bei heftigen Sommergewittern, der glühenden Sonne. Niemand hat ihn hier entdeckt, niemand hat ihn eines Blickes gewürdigt.

Wehmütig betrachtet er den Dachvorsprung, seinen Schlafplatz darunter. Kurt ist müde. Einfach sitzen bleiben und abwarten, was kommt. Für einen Moment erscheint ihm das verlockend. Verlockend sind aber auch die Wiesen und Bäume hinter dem Bahnhof fernab von all dem Trubel hier. Aber es ist ein weiter beschwerlicher Weg. Er ist sich nicht sicher, ob er ihn noch einmal schaffen kann, auf seine alten Tage. Kurt hat nichts mehr von seinem jugendlichen Elan. Der ist dahin, genau wie der Sommer.

Der Bahnsteig vor ihm füllt sich immer weiter. Vielleicht sollte er einfach die nächste S-Bahn nehmen und irgendwo hinfahren. Aber die Gefahr, zwischen all den Leuten zerquetscht zu werden, ist ihm zu groß. Nein, er wird sich auf den Weg in die Brache machen, sobald der nächste Zug durch ist.

"Die S3 verspätet sich um wenige Minuten."

Kurt horcht auf. Das ist seine Chance. So kann er den direkten Weg rüber auf die andere Seite nehmen. Es wird ihn weniger Mühe kosten, also sonst. Einfach Augen zu und durch. Seine Füße sind noch ganz klamm vom Morgentau. Kurz reibt er sich übers Gesicht, dann öffnet er seine orangefarbenen Flügel, so dass sich einer der 5 schwarzen Punkte in der Mitte teilt und schwingt sich in die Luft. Nicht zu hoch, der direkte Weg … .

"Eingefahrener Zug auf Gleis 2…"

Eingefahrener Zug?! Das kann nicht sein, eben hieß es doch noch 'wenige Minuten'. Kurt sieht das Ungetüm aus dem Augenwinkel, sieht den Lokführer hinter der Scheibe immer größer werden.

Zu spät.

Er schafft es nicht.

Er fliegt viel zu niedrig.

Keine Kraft mehr.

Wind von vorn.

Der Aufprall.

Plopp.

Dann blickt er in die weit aufgerissenen Augen des Lokführers. Ach nein, sie sind nicht weit aufgerissenen, blicken stur geradeaus, unberührt. Kurt ist nur ein weiterer Fleck neben vielen anderen an der Windschutzscheibe. Ein Quietschen, gefolgt von einem unheilvollen Scharren ist das Letzte, das Kurt hört, bevor der Scheibenwischer für klare Sicht des Lokführers sorgt.


Helge Bewernitz
Beta einhundert

 

"Warum sind Sie eigentlich nie hier weggezogen? Dies ist nicht unbedingt die schönste Gegend Berlins." Die junge Frau sah einen Moment von ihrem Aufnahmegerät auf. Es warf aus einer Falte ihrer Multifunktionskleidung heraus ein bläuliches Licht in den sich nach und nach verdunkelnden Raum. Er hatte wiederholt das Gefühl, dass sie mit einigen eingestreuten privaten Fragen seine Zunge lockern wollte – er konnte es ihr nicht verdenken, so hatte er es schließlich früher auch gemacht. Mit dem Unterschied, dass die jungen Leute diese Technik heutzutage offenbar an der Journalistenschule lernten.

Er schwieg und trank betont langsam einen Schluck von seinem Tee. Er nutzte die Pause, diese zierliche, ganz in Weiß gekleidete Person näher zu betrachten. Eine Splitterexistenz, gleichzeitig zu Hause an verteilten Orten, echten und virtuellen. Ihr dienstlicher Alpha-Status zeigte an, dass sie sich zu neunzig Prozent in seiner Wohnung befand – ein sehr hoher Wert. Und mit immerhin zehn Prozent ihrer privaten Beta-Existenz war sie ebenfalls hier bei ihm ...

Er blickte aus dem Fenster als er ihr antwortete. "Wissen Sie, ich lebe nach wie vor gerne hier. Dies ist meine Heimat, viele meiner Freunde lebten und leben hier. Ich bin 2001 hergezogen als ganz junger Mann, also vor über fünfzig Jahren. Ich habe mein Leben hier verbracht, als Lokaljournalist, wie Sie wissen." Ihr Alpha-Status sank auf siebzig Prozent; bei dem Wort "Heimat" stieg ihr Beta-Wert kurz auf über fünfundzwanzig … "Das ist es also, was dich interessiert? Dann bleib, hier bei mir, diese eine Nacht..."

Die junge Frau sah ihn jetzt mit einem Blick an, der Mitleid auszudrücken schien – oder doch eine Spur von … Sehnen?

Folge dieser Spur. Ich will deine Hand an meiner Wange und diesen Duft einsaugen bis ins Grab und dort sollen Blumen gepflanzt werden, die genauso duften …, aber ich will dich GANZ, verstehst du? Nur so kannst du die Heimat fühlen, die ich in dieser Nacht für dich sein kann.

Alpha sechzig, Beta vierzig. Es war sein Blick, vermutete er. Er gab sich keine Mühe, seine Gedanken und Gefühle zu verbergen. Sie las darin wie er in ihrem: Und dort – in ihren wissbegierigen Augen – schien sich etwas zu verbergen, so wie ein Stein eine Höhle verschließt …, eine Höhle voller Kostbarkeiten.

Ist das der Eingang zu deiner Seele? Was ist deine Sehnsucht? Ein Wort, ein winziges Funkeln aus dieser Höhle würde genügen … Für den Bruchteil eines Moments schien es ihm, als wolle sie darauf antworten.

"Nun gut", begann sie das Gespräch erneut, "kommen wir zurück zum Thema. Wir waren gerade bei Stadtgeschichte" — "Ja, richtig. Wissen Sie, ich bin raus aus dem Geschäft. Jahre und jahrzehntelang habe ich geschrieben, wie Sie, wenn auch nicht mit einem Mega-Verlagshaus im Hintergrund. Und so bitte ich Sie auch, meine Ausführungen zu verstehen. Ich werte nicht. Das ist gute journalistische Tradition. Auch wenn ich natürlich privat meine Meinung habe." — "Gut. Ich habe Zeit." Wieso hatten junge Leute heutzutage eigentlich Zeit? Als er jung war, schien sich die Welt immer schneller zu drehen … aber damals verstanden sich die Menschen auch noch als Individuen ... Alpha neunzig, Beta zehn ….

"Wie Sie wissen, wurden bis vor wenigen Jahren Siedlungen für Arme immer dort angelegt, wo es sowieso große Bauprojekte gab, auch am Ostkreuz. Moderne, kleine Apartments, mit optimaler Gleisanbindung, alles sehr hell und freundlich, mit großem Garten für die Kinder. Solche Siedlungen waren relativ günstig zu bauen, quasi nebenbei. Und sie sollten den Benachteiligten ein Leben im Zentrum ermöglichen."

Ohne ihren Blick abzuwenden, tippte sie etwas in ihr Aufnahmegerät. Dann kam sie wieder auf den Grund ihres Besuchs zu sprechen: "Sehen Sie durch die Katastrophe am Ostkreuz vor zwei Monaten den Fortbestand dieser Projekte gefährdet?" — "Nein, eigentlich nicht. Wissen Sie, diese Bauten wurden noch unter Regie des alten Bezirks geplant, das war 2036." — "Glauben Sie, dass es einen Zusammenhang gibt zum Selbstmord von Herrn Freiser? Immerhin hat er sich direkt am Ostkreuz vor den Solar-Zug Berlin-Paris geworfen."

Er schwieg und musterte sie abermals; ihr kleines Gesicht, die wachen Augen, die zielgenau den Kern eines Sachverhalts zu erkennen schienen. Kennst du auch ein Leben neben deinem Job? Oder hastest du von einem Ort zum nächsten, heimatlos?

"Wissen Sie", er räusperte sich und hoffte, dass es bedeutungsschwanger wirkte, "ich kannte Andi Freiser recht gut. Um nicht zu sagen wir waren befreundet. Was ihn dazu bewog, das weiß ich nicht." — "Ich habe etwas recherchiert. Die Siedlung unter dem Ostkreuz ist damals unter seiner Regie entstanden. Jetzt sind sechzig Menschen gestorben, zwanzig im Zug, vierzig in ihren Wohnungen, weil offenbar die Deckenkonstruktion fehlerhaft war. Das ist doch auffällig oder etwa nicht?"

Es ist doch alles so unwichtig. Nur das eigene Leben zählt, die Toten sind tot. Lass sie in Frieden ruhen. Lass uns abhauen, zusammen kann uns nichts stoppen. Lass uns den Himmel erobern und dann die Strafe eines dafür zuständigen Gottes gemeinsam empfangen. Ihre Mundwinkel zitterten, kaum wahrnehmbar … Es ist gut. Ich verstehe dich. In ihren Augen blitze etwas auf … als sei der Stein vor ihrer Höhle einen winzigen Spalt verrückt, so dass ein Lichtstrahl ihres Schatzes nach außen dringen konnte.

"Nun ja, junge Dame, diesen Zusammenhang stellen Sie her. Aber ich muss Ihnen ja nicht erklären, dass scheinbar offensichtliche Zusammenhänge oft nur genau das sind: scheinbare Zusammenhänge. Haben Sie mal in Erwägung gezogen, dass Andi Freiser schlicht private Probleme hatte?" — "Und?", setzte sie gleich hinterher, "hatte er?" — "Dazu werden Sie natürlich von mir nichts erfahren – kann sein, kann auch nicht sein."

Eine Sirene heulte. Großalarm im Kiez. In diesem Moment schwärmte in einem Umkreis von drei Kilometern die Bürgerpolizei auf der Suche nach Drogendealern aus.

Warum fängst du nicht auch an, Drogen zu nehmen? In deinem Alter ist es egal. Und die neuen genomoptimierten Pillen sollen ja wahre Wunderdinger sein: Ich könnte wann immer ich wollte ihren Körper spüren und ihren wundervollen Duft genießen, der gerinnt, an dem ich mich nähren könnte wie an einem Nektar.

Es war jetzt dunkel in seiner Wohnung. Nur ihr weißer Dress war sehr gut sichtbar, fast wie eine Lichtquelle. Er dachte an diesen Brecht-Satz — "Die im Dunkeln sieht man nicht."

Wartet nur, auch ihr werdet irgendwann im Dunkeln wandern und die Schatten derer, die dort leben, werden auf eure schöne weiße Kleidung fallen. Dann werdet ihr – die im Dunklen und ihr – ein reicheres Leben führen.

"In diesem Fall jedoch …" Er legte eine Kunstpause ein. — Alpha neunzig, Beta zehn — "Ich könnte Ihnen tatsächlich Informationen zur Verfügung stellen, die für eine Story taugen. Sie ist allerdings nicht besonders originell, solche hat es viele gegeben in den letzten Jahren."

Sollen wir nicht lieber eine wirklich bedeutsame Geschichte schreiben, gemeinsam, du und ich? Einmal noch will ich dieses eine Gefühl spüren … und du? Ich kann dir helfen, deine zahllosen Splitter zusammenzufügen … wenigstens für einen Moment. Sie blickte erschrocken auf. Wie jemand, der hohe Dornenbüsche zu überwinden hat, ehe er einen wundervollen Garten erreicht …

"Es ist schnell erzählt: Andi Freiser war damals als Baurat gemäß den geltenden Vorschriften verpflichtet, die Firma mit den Arbeiten zu beauftragen, die das günstigste Angebot im Rahmen der Ausschreibung abgegeben hatte. Nun – und diese Arbeiten wurden offenbar nicht richtig ausgeführt. Ihn trifft also keine Schuld, er hat sich vollkommen korrekt verhalten. Nichtsdestotrotz konnte er offenbar den Gedanken nicht ertragen, dass das Projekt während seiner Amtszeit beschlossen worden war. Ich verfüge über Unterlagen, die Ihnen eine wasserdichte Story ermöglichen." — "Wo befinden sich diese Unterlagen?" — "Hier in meiner Wohnung." Er stand auf und holte einige Ordner und Datenträger. "Danke. Ich werde sorgsam damit umgehen."

 

Sie verabschiedete sich, als es dämmerte. Alpha null, Beta einhundert, seit Stunden schon. Ihre Kleidung blitzte und blinkte. Aber sie ignorierte sämtliche Kontaktanfragen. An der Tür wandte sie sich um. Sie betrachtete wie schon so oft in dieser Nacht verwundert den kleinen Handspiegel, auf den er mit roten Buchstaben ihren Namen geschrieben hatte. "Danke". Sie reichte ihm ein letztes Mal ihre Hand … er spürte ein letztes Mal ihre Haut. Dann beugte sie sich vor und hauchte einen Kuss auf seine Wange.

Schließlich wandte sie sich ab und ging langsam das Treppenhaus hinunter. Leiser und leiser wurden ihre Schritte … bis sie abrupt zu verstummen schienen, als habe sie ihren Gang gestoppt. Bald darauf zeigte ihm das LED an, dass sie das Haus verlassen hatte.

 

Zwei Tage später fand er den Spiegel in der konventionellen Post: Ihr Name war bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Und nur die goldene Fassung hielt die zahllosen Splitter zusammen, die ihn in feinen Bahnen durchzogen.... Beigelegt fand er ein Kärtchen. "dein leben ist mein tod. es ist alles gut."

 

Der Strand war so weiß, dass er nur deswegen immer eine Sonnenbrille trug. Er fühlte Zufriedenheit. Der Kreis seines Lebens schien sich geschlossen zu haben. Wer war er gewesen auf dieser Welt? Ein einzelner Mensch, dem es vergönnt war, einige wirklich große Momente zu erleben, der sogar die Liebe kennen gelernt hatte, vor langer Zeit. Alles war gut. Es gab keinen Gott, der alles fügte. Er fühlte die ungeheure Freiheit, die dieser Gedanke in sich barg, während er auf das grünlich schimmernde Meer hinausblickte, auf dem schon einige Schatten tanzten. Sie näherten sich, fanden auf dem schneeweißen Sand Halt und umhüllten ihn schließlich, ganz sanft. In seinem Herzen tänzelten sie um seine Heimat; um SEINE Heimat; er lächelte.


 

Ute Bluhm
Angst bis Ostkreuz

 

Eine Kleinstadt östlich von Berlin. Die Spätschicht ist beendet. Laufe durch menschenleere Straßen, ab und zu flimmerndes Licht von Fernsehern durch zugezogene Fenster. Zwei Bierflaschen vergessen am Kiosk, wo sonst verlorene Gestalten gemeinsam Schicksal hinunterspülen. Der einsame Bahnsteig mit Verbotsschildern. Also kein Zigarillo.

Besteige müde den letzten Wagen der Einundzwanziguhrachtzehn.

Mit einem großen, bulligen Kerl allein im Abteil. Blaue, stechende Augen, eine schlecht verheilte Narbe quer im Gesicht. Graugrüne Schimanski-Jacke und ein vergilbtes T-Shirt über dem fetten Bauch. Ein Metallgegenstand blitzt aus seiner Tasche. Ein Messer?

Erinnere mich.

Am Vormittag die eine Zeile.

Dieser Mann hat sechs blonde Frauen bestialisch ermordet.

Ängstlicher Blick. Warum steigt niemand zu? Noch sechs Stationen bis Ostkreuz.

Ziehe die Jacke enger zusammen, lange Kapuze verbirgt blondes Haar. Tasche und stumpfer Hausschlüssel der einzige Schutz.

Sehe plötzlich eine große Lache auf dem Fußboden, dunkel und klebrig. Blut?

Gänsehaut. Panik breitet sich aus.

Endlich – die blechern tönende Stimme – nächste Station Ostkreuz.

Bin noch am Leben.

Glück.

Nur noch ein paar Schritte durch die quirlig heitere, hell erleuchtete Sonntagstraßen-Gemeinschaft bis nach Hause.

OSTKREUZ!

Mit letzter Kraft schlage ich den narbigen Massenmörder zusammen.

Zwischen Seite hundertsiebzig und einundsiebzig.


 

August J. Herbst
Berlin-Ostkreuz, Freitagabend

 

Die Luft ist noch hitzig. Ein Vorhang öffnet sich. Die Sonne flirrt wie ein Scheinwerfer knapp durch die gusseisernen, schmuddeligen Säulen des Bahnhofs hindurch, die das schäbig schöne Dach tragen und bereits lange Schatten wie Figuren auf das Pflaster werfen.

 

Ein Pärchen schmeißt einige Groschen in einen Münzschlitz und krabbelt Kopf einziehend in die übelriechende Farbfotobox. Neckisch schieben sie sich in die richtige Position und ziehen die Gardine zu. Ein älterer Herr mit Violine und einer schweren, ledernen Aktentasche lächelt ihnen schwelgerisch hinterher.

Der Zielanzeiger flattert. S3 nach Erkner.

Eine Mutter mit Wickeltuchsäugling watschelt auf ihren noch verschwollenen Wasserfüßen vom Ring herunter an einer Schulclique Mädchen vorbei, die albern vor sich hingackern, direkt auf eine der hölzern harten Wartebänke zu und erdrängelt sich einen Platz. Ein Mann mit Schnauzbart stöhnt in seine graue, abgegriffene S-Bahnzeitung. Nervös leckt er sich die Finger feucht und grabbelt weiter durch die Seiten. Sie warten – beobachten verschwörerisch einen Buben in ihrer Nähe. Die verfilzten, blonden Haare auf seinem Kopf erinnern an alte, zu dick geschnittene Pommes und bereiten ihr sichtlich Unbehagen.

Seine Wangen sind ganz bleich. Er knibbelt sich in den Hosentaschen herum, kaut auf seiner Lippe, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Aus den Augenwinkeln hat er ihren aufdringlichen Blick bemerkt. Man spürt, dass er sich unwohl fühlt. Auch er wartet.

Erkner ist noch nicht da.

Am Gleis gegenüber stehen die Menschen dicht an dicht. Eine ältere Dame klemmt sich ihre Einkaufstüte zwischen die Beine, das Silbergrau ihrer Dauerwelle schillert im untergehenden Sonnenlicht. Der Herr mit der Geige wird aufmerksam, der schwelgende Blick wird zu einem träumerischen. Er macht diesen Augenblick zu ihrem Moment. Er setzt den rosshaarigen Bogen sanft an die zum Reißen gespannten Saiten. Sie fährt mit ihrer matten Hand über ihr Haar und richtet ihre konservative Frisur. Eine liebliche Melodie aus seiner Violine schleicht sich schmeichelnd an ihr Ohr. Damenhaft hebt sie das Kinn, streicht die Falten aus dem perfekten, purpurnen Kostüm, die Glasperlen an ihrem Dekolleté klingen flüsterleise aneinander, wenn sie den Hals nach ihm wendet. Er strahlt sie an. Sie räuspert sich genierlich und schlägt die Augen auf. Der Perlenglanz bricht sich darin. Er lässt die letzten Takte langsam ausklingen und applaudiert ihr mit einem Lächeln. Sie genießt das warme Gefühl der Scheinwerfer auf ihrer Haut.

Lichtenberg fährt ein und beendet ihren Auftritt abrupt. Fünf graue Täubchen fliegen aufgeschreckt davon und landen auf dem Dach einer ramschigen Würstchenbude. Ein dicker Junge mit kurzer Hose bestellt sich gerade eine fettige Currywurst.

Die Verkäuferin grinst und verschwindet hinter einem Regal prallvoll mit schillernden Keramikkatzen und staubigen Glaselefanten. Ein Lichtkegel fängt sie auf ihrer winzigen Bühne ein. Mit der Grazie einer adipösen Ballerina tanzt sie durch die drei Quadratmeter Verkaufsfläche, greift blind nach ihren Utensilien. Brutzelt, schnippelt und flatscht die Ingredienzen auf die Papppfanne. Hungrig reibt der Kleine sich mit seinen schmutzigen Fingerchen um den wässrigen Mund. Noch einmal dreht sie eine letzte Pirouette und wirft ein grünes Gäbelchen auf die in Ketschup ertrinkenden Fleischbrocken. Dann verneigt sie sich, blickt in die niedergehende Sonne und verlässt ihre Bühne. Es wird kühler.

Lichtenberg ist rappelvoll, das Signal tönt und ein Türke stemmt sich zwischen die Türen der Bahn. Sein Freund hüpft gerade so herein, es rummst und Lichtenberg fährt ab. Verschwindet irgendwo hinter Häusern und hinterlässt einen geleckten Bahnsteig im rosarot der sich verabschiedenden Sonne.

Erkner ist noch immer nicht da.

Die Gruppe Schulmädchen schreit laut auf. Der Scheinwerfer richtet sich umgehend auf ihr melodramatisches Schauspiel. Füße trippelnd und immer lauter plärrend zeigen sie mit Fingern und panischen Mienen auf den Eingang des Imbisses, aus dem soeben ein mehrbeiniges Tier mit einem langen, kahlen Schwanz flüchtet. Grazil umflitzt es den bonbonbäuchigen Currywurstbuben, dem erschrocken das Toastbrot von der Pappe rutscht, vorbei an der Bank – mit gerollter Zeitung schlägt der Schnauz nach dem Tier, verfehlt es, die verängstigte Mutter kriegt die wässrigen Beine nicht schnell genug hoch. Kurz stippt das Untier in den alsgleich kreischenden Fotoautomaten – es blitzt –, weicht knapp einer fallenden Aktentasche aus und verschwindet mit einem waghalsigen Sprung im Gleisbett. Zwei oder dreimal knallt noch wütend eine Zeitung auf die Lehne einer Bank. Dann wird es wieder ruhig. Ein wenig Wind kommt auf.

Von ganz weit kann man Erkner im Gegenlicht der Sonne kommen sehen.

Der Herr sammelt seine Notenblätter vom Boden, die beim Aufprall aus der Tasche stoben. Die Mädchen wenden sich ab und quasseln wieder gackernd vor sich hin. Der kurzhosige Junge tritt etwas unwillig die Scheibe Weißbrot auf die Gleise. Sogleich schwirren die Tauben vom Dach dem fliegenden Futter hinterher und picken sich wie in Trance große Krümel aus dem schmutzigen Toast heraus. Er freut sich ein wenig über die hungrigen Vögel und spießt das letzte Stückchen Wurst auf seine Gabel und steckt es sich zwischen die verschmierten Ketschuplippen.

Erkner rauscht plötzlich unerwartet herein. Ein dumpfer Knall und vier Vögel, die in alle Richtungen entfliehen. Geschockt steht der kleine Mann mit der Wurst zwischen Zähnen seines offenen Mundes im grellen Licht des einsamen Spots, der nur auf ihn gerichtet ist und schaut perplex an die Stelle, an der sich noch eben fünf graue Täubchen das Abendessen friedlich mit ihm teilten.

Die Türen öffnen. Das Wickeltuch stemmt sich behäbig von der Bank. Der Pommeskopf und die Mädchen steigen ein. Der Schnauz ist längst in den Waggon gestürmt und hat sich einen Doppelsitz reserviert. Das Abfertigungssignal tönt aus dem knisternden Lautsprecher. Der Geiger schließt seine Tasche und macht seinen letzten dramatischen Abgang. Die Türen schließen sich und Erkner fährt ab.

Der Bahnsteig ist nun fast leer. Nur in der Imbissbude tänzelt noch immer die Ballerina und wischt den Staub von ihren glitzernden Keramikkatzen. Ein Fotostreifen fällt aus dem Schacht des Automaten. Vier Aufnahmen der selben verdutzten und aufgeschreckten Gesichter. Er küsst ihre Hand und sie steckt die Bilder ohne weitere Beachtung in ihre Handtasche, bevor sie die Treppen hinauf verschwinden.

 

Der Vorhang schließt sich langsam und die Sonne grinst ein letztes Mal aus weiter Ferne. Lange, rote Fäden ziehen sich vom Horizont bis auf die Gleise herab. Die Schatten der eisernen Säulenallee verschmelzen mit dem Rest der Dämmerung und die nun kühle Sommerluft wischt taktlos um die nackten Beine eines dicken Jungen, der weinerlich ins Gleisbett schaut.


 

Jeannette Abée
Gespräche von John und Jagda, Gespräche über die Stadt
Gespräch vom 25.07.2011

 

Tod am Ostkreuz sagst Du?

Genau, John, Tod am Ostkreuz.

Und was soll ich sagen dazu?

Einfach was sagen, John, ist Thema.

Aha, das Thema.

Ein Wettbewerb, John, man kann ein Gedicht dazu schreiben, ein Spiel, das acht Leute gewinnen oder auch zehn.

Gewinnen, was willst du gewinnen?

Frag nicht so, sag was.

Schreib über den Tod am Müggelsee, sag ich.

Tod am Müggelsee, was hat das mit dem Tod am Ostkreuz zu tun?

Tod ist Tod, ob Ostkreuz oder Müggelsee, geräumiger ist es, da im Hinterland des Wassers.

Was meinst du, John?

Weiß eine Geschichte, weil ich Gabi dort traf. Die lachende Gabi aus alten Tagen, hat jetzt ein Haus dort und freute sich, als ich kam. Mein Minne, sagte sie und stellte ihn vor. Er war Odin, ein Odin am Müggelsee, aufrecht und stark, fern der Heimat baut er seine drei Höfe allein.

Odin?

Hieß Ansgar ihr Mann, sah aus wie Odin. Mit bloßen Händen baute er vom Keller zum Dach, unterm Dach die Kinder fast groß, grüßten gelassen herüber. Gabi ist Frigg, denk ich, hilft mit und zerbricht, braucht Raum, mein Minne, sie sagte das und schaute mich an.

Raum, John, alle wollen ihn, obwohl er doch da ist.

Und Odin baut weiter, Jagda. Im Garten ein steinerner Leib. Riesig. Dämmerte unfertig. Das Gewölbe, er hört danach auf, sagte sie, er hat es versprochen.

Ein Gewölbe?

Ein steinerner hohler Leib, Jagda, nach dem Haus die Walhall, denk ich, voll das Grundstück, fast voll und reicht noch für was, für den dritten Hof, und es wächst bereits, über den steinernen Leib, den begehbaren Rücken, ein Pavillon, drei Schuppen. Odin zeigte sein Schnitzwerk am Tor, zeigte Halle, Gewölbe, gekreuzt.

Hör auf, John, hör auf, er baut sich zum Tod, baut seine Frigg in den Tod, meinst du das?

Tod oder Weisheit Jagda, das ist bei Odin eins, durch den Tod stand er auf. In den Berg hinein sterben die Menschen, doch Odin ist Gott, sitzt in der Halle, trinkt Met. Als Gottmensch am Müggelsee wird er weiterbauen, bis die Quadratmeter voll sind.

Und was passiert dann?

Dann zieht er mit seiner Frigg in ein Wohnmobil, weil das Geld nicht mehr reicht und die Kinder schon groß sind.

Also kein Tod am Müggelsee. John, kein Tod am Müggelsee und keiner am Ostkreuz.

Dann denk dir was aus, Mensch, was am Ostkreuz, du bist doch nicht doof.

Bin nicht doof doch doof, John.

Ein Kreuz ist ein Kreuz, musst du zugeben.

Ein Kreuz ist ein Kreuz, ja John.

Wozu ist ein Kreuz da?

Wozu, wozu, um wen dranzunageln?

Jagda, denk mal ganz einfach.

Wie einfach, bei dir ist das nie klar, was einfach ist.

Ein Kreuz verbindet zwei Richtungen, meinst du auch?

Zwei Richtungen, zwei Wege, du meinst die Wege, John, ich kenne dich.

Und wo Verbindung ist, ist auch Trennung, das meinst du sicher auch, John.

Meine ich auch, ist Entscheidung, am Kreuz ist Entscheidung, Jagda.

Für was?

Für West, Ost, Süd oder Nord.

Sei nicht doof, John.

Am Kreuz ist Begegnung, Jagda, ist Handel, Austausch, Verschwinden.

Hat das mit Tod zu tun?

Lässt sich schaukeln alles.

Sicher, John, das Hinbiegen, Herbiegen, deine Art.

Du biegst hin, Jagda, verdrehst, verdrängst, aber jetzt weiter im Text.

Welcher Text?

Den du erfinden musst, Jagda. Allein du und denk dir ein Nest, ein Liebesnest, ein Zimmer am Ostkreuz. Denk Trennung, Entscheidung.

Das ist nicht denken, das ist erinnern, John, hör auf damit.

Es rattert von den Gleisen ins Fenster rein und da sitzen zwei und schweigen, weil alles zu Ende geht. Jagda, so hast du erzählt, eine Liebe geht tot in nur drei Minuten, ätzt Magen, Gedärm, der Kopf ist voll, leer, irgendwas. Dann geht einer. Einer geht zum Kreuz, steigt ein, fährt weg. Oder beide gehen, verlassen das Nest. Ins Nest rattert’s weiter rein, weil weiter die S-Bahnen fahren.

Will das nicht, John.

Dann leg eine Leiche ans Gleis, doch was hat eine Leiche mit dem Tod zu tun, frage ich dich? In diesen Geschichten geht es nicht um den Tod, es geht um Ermittler, Kommissare, und es macht Spaß, mit ihnen gemeinsam zu rätseln, das gebe ich zu.

Will keine Leiche, John, und kenne mich nicht aus damit.

Willst du überhaupt was, willst du mitmachen?

Es werden alle so knabbern wie wir, John. Alle, die mitmachen, meinst du nicht?

Du meinst, es schadet nichts.

Genau, es schadet nicht, John.

Nutzt es?

John, deine alte Leier.

Ganz alt, ich frage nach, gib mir Meinung. Wenn ich frage, stelle ich eine Frage, forsche nach, so lassen sich Dinge erkunden.

Danke, John.

Wofür?

Wir schreiben alles auf jetzt. Einfach auf.

Nun denn, du schreibst, ich geh raus, raus an die Luft.

Wohin gehst du?

Zum Ostkreuz. Gucke Baustellen an, passiert immer was, wird gebaut, immer gebaut, Jagda, womit wir wieder bei Odin wären, Odin vom Müggelsee.

Du bist gemein, John.

Bin nicht gemein, ich gehe nur.

Du lässt mich allein, John.

Ich lasse mich auch allein. Verdammt allein.

Darf ich mitkommen?

Wir sind am Punkt jetzt, denke ich.

Am Punkt?

Am toten, verdammt toten Punkt, Jagda. Ich stelle mir gerade einen Menschen vor, der da am Bahnsteig sitzt und nichts will, nichts weiß, nichts denkt. Er betrachtet, wie Gestänge der Gerüste sich kreuzen, an Gestängen die Lampen hängen, wie Menschenkörper im Blick zerschnitten werden von Linien und Rohren, betrachtet Gesichter darin, in den vielen Rechtecken aus Masten, Stangen und Bändern. Ob sie gelassen sind oder traurig, sieht Blau und Rot, betrachtet die Schatten der Füße und erkennt, dass das Licht von Süd/Südwest kommt.

Und weiter?

Dieser Mensch sieht Planen wie Leinwände, sieht sich bewegende Schatten dahinter, Schatten von Menschen, Kränen und Seilen, von Ösen, Gestängen und Lampen, lässt sich treiben durch Licht-und Schattenwelt, wie es sich ineinanderschiebt, das Davor, Darin und Dahinter.

Züge fahren ein, zeichnen Bänder und Linien, zerschneiden die Luft und Worte, in ihren Fenstern mischen sich Davor, Darin und Dahinter, mischen und verdoppeln sich, sieht sich selbst dieser Mensch, sich gespiegelt und sich verschwinden, wenn der Zug wieder anfährt.

Sieht sich verschwinden. Und immer noch denkt er nichts, weiß nichts, will nichts.

Ist er leer, John?

Er ist voll, Jagda, und könnte nicht voller sein. Zustand größter Erfüllung und Stille zugleich das, wie er da sitzt und sich verschwinden sieht.


 

Miryam Kirschner
Schneller

 

Es ist bereits das dritte Mal, dass ich schweißgebadet aufwache, so kurz vor dem Klingeln des Weckers, und das obwohl ich ihn nicht einmal immer auf die gleiche Uhrzeit stelle. Auch dieses Mal erschreckt mich dieser schrille Ton, denn mir gelingt es nicht schnell genug, diesen Wecker im Vorfeld kurz nach dem Erwachen auszuschalten.

Ich fühle mich erschöpft und habe nicht mal die Kraft, meiner Wut Ausdruck zu verleihen, indem ich dieses penetrante Ding einfach gegen die Wand feuere.

Der Morgen nimmt seinen Lauf mit dem üblichen Zähne putzen und dem Trinken eines Fenchel­Kümmel-Anis-Tees. Seit ein paar Wochen gelingt es mir mit Hilfe dieses Rituals, den Tag zu beginnen.

Heute habe ich keinen Termin. Ich verlasse das Haus und peile den nächsten U-Bahnhof an, begebe mich in den Untergrund.

 

Von Weitem höre ich das Pfeifen der U-Bahngleise. "Schnell, die kriegst du noch", denke ich mir. Also rasch um die Ecke gebogen, die Treppen hinunter gesaust, zwei, drei Stufen auf einmal, wie ein gehetztes Tier flitze ich mit dem Gedanken: "Ist es überhaupt die richtige Richtung?" Ja, es ist die richtige Richtung, gegen den Uhrzeigersinn, die Türen stehen weit offen, die U-Bahn ist voll wie immer zu dieser Zeit, aber ich glaub’, ich pass’ da noch rein, ich kann mich noch hineinquetschen in die Menge, diese Masse an Menschen, deren Schweiß und Parfum die Nasen eines jeden einzelnen rümpfen lässt.

Plötzlich dieser übertrieben schrille Ton und "Zurückbleiben!" Ich stoße gegen die Tür und falle zurück auf den Bahnsteig.

Ich überschlage mich wieder mal selbst. Meine Beine können gar nicht so schnell wie ich will. Wünschte ich doch, den Tag damit zu beginnen, gemütlich im Treptower Park einen Winter-Spaziergang entlang der Spree zu machen, einfach nur die Gedanken laufen lassen..., in sich hineinspüren, das Knirschen des Schnees unter den Füßen hören..., den Kindheitserinnerungen nachsinnen...

Wie auch immer, dies ist wieder mal einer dieser Tage an denen ich mich abhetze, ohne zu wissen, warum.

 

Die Anzeigentafel blinkt auf: "Unregelmäßiger Zugverkehr" – auch das noch.

Ich setze mich hin, auf der Wand gegenüber drängt sich mir ein Plakat auf, mit einer ohne Zweifel üppigen, Silikonbusen tragenden Wasserstoff-Blondine. Grinsend, scheinbar ohne Anstrengung stemmt sie einen Kasten Bier. Darüber steht:

"Mehr zum Anpacken!"

Ich stehe auf, weil ich genug habe von diesem Bild, laufe hin und her, als endlich nach zwanzig Minuten die nächste U-Bahn einfährt, diesmal nicht ganz so voll.

 

Dafür entdecke ich im Wagon eine andere Werbung für eine dicke Schwarte: "Schneller lesen – mehr verstehen". Klingt irgendwie paradox oder?! – Ein Buch, das mein Leseverhalten verbessern soll?! Na ja, für den einen oder anderen mag das ja was sein, für mich jedenfalls kommt das nicht in Frage. Ich lese in meinem Tempo weiter und außerdem tue ich das zwischen den Zeilen.

Ich habe plötzlich den Eindruck mein Zeitgefühl zu verlieren. Alles wird schwarz um mich herum.

Vor meinen Augen erscheint:

Schneller kochen – mehr essen, schneller essen – mehr kotzen.

Schneller kotzen – mehr Körpergefühl, abnehmen!

Dabei kann ich gar nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte.

Schneller kaufen, mehr Umsatz – schnellerer Umsatz, mehr Produktivität!?

Schneller saufen, mehr raufen – schnelleres Delirium statt Elysium.

Schneller ficken – mehr Orgasmen,

dazu brauchen Sie nicht mal mehr einen Partner.

Schneller Cyber-Sex – mehr virtuelle Befriedigung

und endlich

schneller schlafen – mehr träumen, schneller träumen – mehr verarbeiten.

 

Jetzt bin ich eine Station zu weit gefahren, aber meine Beine sind gelähmt, ich kann nicht aufstehen. Mein Atem wird schneller, ich spüre förmlich, wie der Puls ansteigt.

Schneller studieren – mehr Wissen.

Schneller meditieren – mehr Weisheit erlangen, schneller Weisheit gewinnen – größere Erleuchtung.

Schneller telepathische Fähigkeiten entwickeln – den Menschen näher sein.

Schneller transzendental spüren – mehr Erkenntnis,

nicht zu verwechseln mit der Transzendenz, die das Übersteigen der Grenzen des Erfahrbaren bedeutet.

Schneller parapsychologisch bzw. telekinetisch experimentieren – intensiveren Zugang zum Teufel finden.

Schneller heilen, länger leben.

 

Auf einmal bekomme ich keine Luft mehr.

Auf meiner Uhr, die stehen geblieben ist, erscheint in grellen Buchstaben, welche regelmäßig aufleuchten und einen ungemeinen Schmerz in meinen Augen auslösen, wieder und wieder:

Schneller sterben – mehr Jenseits!!!

Mich überkommt eine unendliche Müdigkeit.

Mir gelingt es dann aber doch, irgendwie aufzustehen. Ich schleppe mich aus der Tür und weiß erst mal nicht, wo ich mich befinde. Verschwommen erkenne ich das Bahnhofsschild Ostkreuz. Ich laufe in Fahrtrichtung hin zum Ausgang, der wegen einer Baustelle gesperrt ist. Ich schlage die andere Richtung ein, aber auch hier treffe ich auf Bauarbeiten. Die Funken der Flex machen mich müde. Ich finde keinen Ausgang. Was soll ich tun? Warten? Warten darauf, dass alles hoffentlich nur ein Traum ist, aus dem ich erwache und ich mich im besten Falle am Treptower Park befinde? Warten aufs nächste Jahr, das – Gott bewahre – nicht so schnell vergeht, vorausgesetzt ich überlebe dieses?

Wie auch immer... Es gibt einen Ausweg, auch wenn ich ihn noch nicht kenne, und

ich werde ihn wagen, den Sprung in die Freiheit.


 

Katharina Triebe
Der Börsengang

 

Es waren ehrgeizige Ziele, als im Jahr 2006 verkündet wurde, dass die Modernisierung des Bahnhofs Ostkreuz zehn Jahre später fertiggestellt sein würde. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass das Weltgeschehen dem Plan einen Strich durch die Rechnung machen würde.

 

Am 21. Juli 2011 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der 17 Euroländer auf ihrem Gipfeltreffen in Brüssel auf ein Krisenpaket für Griechenland. Um das Land vor dem Staatsbankrott zu bewahren, sollte ein Rettungsschirm in Höhe von 2,3 Milliarden Euro gebildet werden. Nur einen Tag später wurden auch in Spanien und Italien Gerüchte von einem finanziellen Crash laut. Die Regierungen der EU-Länder sahen sich angesichts des riesigen Finanzbedarfs zum schnellen Handeln gezwungen. Bundeskanzlerin Merkel ordnete eine sofortige Einstellung aller geplanten und bereits laufenden Bauvorhaben an. Die Wiedererrichtung des Stadtschlosses wurde auf Eis gelegt. Der Flughafen BBI würde auf ein Terminal für den neuen Airbus A380 verzichten müssen und die Bauarbeiten auf dem Bahnhof Ostkreuz wurden mit sofortiger Wirkung gestoppt. Als diese Nachricht am Morgen des 30. Juli 2011 im Radio gesendet wurde, reagierten Millionen Zuhörer in Deutschland geschockt. Für Horst Bäumlich, leitender Mitarbeiter des Eisenbahnbundesamtes und Chef des Projektes Umbau und Modernisierung des Bahnhofs Ostkreuz kam dieser Beschluss einem Ruin seiner bisherigen beruflichen Tätigkeit und einem Ende seiner Laufbahn gleich. Doch Rettung nahte.

Just an diesem Morgen nämlich landete Sepp Mausbichler, österreichischer Tourismus-Mogul und Multimillionär aus dem alpinen Wintersportort Saalbach-Hinterglemm mit einer Maschine der Austrian Airlines in Berlin-Schönefeld. Da weit und breit kein Taxi in Sicht war, entschloss er sich, mit der S-Bahn nach Ostkreuz zu fahren, um in der dortigen Außenstelle des Eisenbahnbundesamtes seinen Schwager Horst Bäumlich zu besuchen. Zeit hatte er genug bis zum Treffen und freute sich deshalb auf eine entspannte Bahnfahrt. Die Vorfreude währte allerdings nur wenige Minuten, denn aufgrund von Betriebsstörungen verkehrte die Bahn nur im 30­Minuten-Takt und war dann natürlich rappelvoll. "Jo mei, wo san’s ma denn hier?", rief Sepp, der mit solchem Andrang nicht gerechnet hatte und bei jeder Station mehr ins Schwitzen kam. Er durchlebte das volle Programm: Er wurde mit Kaffee bekleckert, von Bettlern bedrängt, in Schweißgerüche eingehüllt und mit Ellenbogen gestoßen. Außerdem fielen ihm die entnervten und gelangweilten Mienen der Fahrgäste auf. Bahnfahren schien ihnen lästig zu sein, eine bloße Zeitverschwendung, ein notwendiges Übel. Einige hatten sich hinter Zeitungen verschanzt, vorausgesetzt, sie hatten einen Sitzplatz ergattert, und schenkten ihrer Umwelt keinen einzigen Blick. Niemand schien es zu genießen, nach draußen zu schauen. Endlich erreichte der Zug Ostkreuz und Mausbichler stieg aus.

Kurz darauf betrat er das Büro von Bäumlich. Nach einer herzlichen Begrüßung stellte Bäumlich neidvoll fest, wie gesund und entspannt doch sein Schwager aussah. "Jo, aber du gfallst mir gar net", rief Mausbichler, "hoast Sorgen?" Bäumlich ließ zwei Tassen Kaffee bringen und berichtete von dem Regierungsbeschluss, der sämtliche Bauvorhaben auf Eis gelegt hatte und wahrscheinlich sogar das Aus für den Bahnhof Ostkreuz und Bäumlichs ehrgeizige Träume bedeutete. Mausbichler hörte aufmerksam zu, überlegte, trank noch weitere zwei Tassen Kaffee und aß dazu einige Leberkäsesemmeln aus seinem Rucksack, denn nach der langen Reise hatte er ordentlich Appetit bekommen und in der Austrian Airlines war kein Imbiss angeboten worden.

Kurz vor Mittag schließlich war Bäumlich mit seinem Bericht fertig und Mausbichler saß da und dachte nach. Im Gegensatz zu seinem Schwager war sein Gesicht allerdings nicht traurig und verzweifelt, sondern allmählich immer vergnügter geworden. "Ich hab’s", verkündete er schließlich und legte seinem Schwager seine Idee dar, die so absurd und verwegen war, dass Bäumlich erst skeptisch den Kopf schüttelte, dann aber angesteckt wurde von Mausbichlers Optimismus. "Sepp, alter Junge, du hast freie Hand!", rief er zum Schluss. Dieser Satz sollte dem Bahnhof Ostkreuz das Leben retten.

Der Plan sah folgendermaßen aus. Sepp Mausbichler würde als privater Teilhaber in die Modernisierung des Bahnhofs Ostkreuz einsteigen und sofort mehrere Millionen von seinem Konto bereitstellen, um die Bauarbeiten fortzuführen. Allerdings würden diese vom ursprünglichen Plan etwas abweichen – das war dessen Bedingung bei dem Geschäft gewesen. "Weißt du, es ist nicht gut, wenn die Leute so griesgrämig in der S-Bahn sitzen und am Ostkreuz vorbeifahren. Mir fehlt die Begeisterung der Menschen an dem Projekt. Lass uns den Umbau zur Kult-Aktion machen und das Ostkreuz zur echten Attraktion werden. Nicht nur Technik, auch Spaß und Abenteuer wollen wir den Fahrgästen bieten, eine einmalige Fahrsensation. Wir machen das Ostkreuz zur Erlebnisstation!" Und da Sepp Mausbichler seine bisherigen Millionen beim Bau von Seilbahnen, Après-Ski-Hütten und Abfahrtspisten im österreichischen Alpentourismus verdient hatte, plante er, auch dem Ostkreuz und dessen Umgebung einen alpinen Anstrich zu geben. Alt-Stralau würde endlich aus dem Dornröschenschlaf geweckt werden und ein österreichisches Restaurant, in dem es Schweinshaxen und Speckknödel gab, erhalten sowie einen längst fälligen Supermarkt. Neue Häuser sollten dort von jetzt an nur noch im Alpenstil gebaut werden. Die Bepflanzung der Balkons mit üppigen Hängegeranien wurde zur Pflicht erklärt. Außerdem wurde eine Diskothek geplant, in der an den Wochenenden regelmäßig Partys stattfinden würden. Allerdings nicht der ausgetretene Techno- und House-Sound, sondern echte österreichische Hüttengaudi. Passenderweise würde die Diskothek Partystadl heißen.

Parallel zur S-Bahnstrecke Ostkreuz-Treptow sollte eine Seilbahn mit Sessellift und Kabinen verlaufen. Damit wäre gesichert, dass bei Zugausfällen auf dieser Strecke eine zuverlässige und sportliche Alternative bereitstünde. Auch wer sich gerne bewegte, sollte auf seine Kosten kommen – die Elsenbrücke würde als Nordic-Walking-Strecke und im Winter als Skiloipe umgebaut werden. Alle Züge der Ringbahn sollten um zwei Waggons verlängert werden – einer würde als Raucher-und Kinderwagenabteil dienen, der zweite als Speisewagen. Durch die Abteile streunende Bettler sollten verboten und stattdessen mit monatlich 100 Euro fest angestellt werden. Dafür hatten sie bei Zugausfällen auf den Bahnsteigen für gute Laune zu sorgen, indem sie österreichische Volkslieder schmettern und Schuhplattler tanzen sollten. Die Kosten für Lederhosen und Tanzlehrgänge würden von der Bahn AG übernommen. Horst Bäumlich gab zu bedenken, dass er diese Ideen nicht alleine durchsetzen könnte – dafür müsse man die Zustimmung von Bahnchef Grube einholen. Kein Problem. Mausbichler ließ sich sofort mit Grubes Sekretariat verbinden und erhielt einen Termin für den Nachmittag desselben Tages. Das Gespräch beim Bahnchef erfolgte unter sechs Augen, nur Mausbichler, Grube und Bäumlich waren anwesend. Die Zeitungen sprachen am nächsten Tag von "leidenschaftlichen Debatten". Wie verlautete, sei Bahnchef Grube von den Plänen begeistert gewesen und hatte zusätzlich vorgeschlagen, dass junge adrette Serviererinnen im Dirndl in der Ringbahn den Fahrgästen Kaffee, frische Brezeln und Leberkäsesemmeln anbieten könnten. Inhabern von Jahres-, Umwelt- und Seniorentickets würden nach erfolgtem Börsengang Vorzugsaktien angeboten werden. Diese Neuerungen im Service-und Abonnementbereich würden die Fahrgastzahlen bei der Bahn in traumhafte Höhen schnellen lassen, vom Imagezuwachs ganz abgesehen. Auf jeden Fall hatte das Gespräch die Bahn einen entscheidenden Schritt in Richtung Börsengang vorangebracht. Bahnchef Grube und Mausbichler waren am Schluss des Gesprächs höchst zufrieden auseinander gegangen. Gerüchte, dass die beiden sich zum Abschied geduzt hätten, konnten allerdings nicht bewiesen werden.

Natürlich musste sich auch am äußeren Erscheinungsbild des Ostkreuzes einiges ändern. Mit der Anzahl der Bars und Hostels in der Umgebung war Mausbichler zwar zufrieden, aber sie sollten zünftige österreichische Namen erhalten. Das Hostel Alcatraz Backpacker in der Bahnhofstraße wurde kurzerhand in Pension Alpenrausch umbenannt, die Sportlerklause am Rudolfplatz hieß neuerdings Zum Großglockner und Heidis Imbiss in der Sonntagstraße Zenzis Hexenhäusl, um nur einige zu nennen.

Der Umbau des Ostkreuzes schritt nun schnell voran. Die Zeitungen überschlugen sich vor Lob und Begeisterung und eine heftige Diskussion ergab sich, ob man den Bahnhof Ostkreuz nach seiner Fertigstellung nicht umbenennen solle. Bäumlich – und damit stand er nicht allein – plädierte für "Sepp-­Mausbichler-Station", Mausbichler wiederum hatte "Grube-Kreuz" vorgeschlagen. Der Bahnchef jedoch winkte bescheiden ab und so einigte man sich schließlich auf den aussagekräftigen Namen "Ostkreuz-Alpin".

Natürlich würde auch eine rauschende Eröffnungsfeier, von der noch Generationen schwärmen sollten, anlässlich der Fertigstellung des Ostkreuzes stattfinden. Das Zentrum der Feierlichkeiten würde die neue Diskothek in Alt-Stralau bilden. Ein riesiges Plakat, das den gesamten oberen Teil des Bahnhofs Ostkreuz umspannte, war Monate vorher bereits ausgerollt worden und warb mit den Worten: "Das Après-Bau-Erlebnis mit der globalen Partystimmung" für Besucher aus Nah und Fern. Mausbichler hatte bereits viel österreichische Prominenz eingeladen. Dank seiner finanziellen Mittel war es ihm sogar gelungen, Weltstars für die Eröffnungsfeier zu engagieren. So hatten die "Original Oberkrainer" bereits fest zugesagt und ebenso die "Tiroler Alpengeister". Als Überraschungsgast – und darauf war Mausbichler besonders stolz - würde Lady Gaga auftreten und ihren Hit "The age of glory" in einer brandneuen Jodelversion darbieten.

Zum Schluss zauberte Mausbichler noch ein As aus seinem Ärmel – am Wasserturm am Ostkreuz sollte in Zukunft Paragliding möglich sein. Die Baukommission war sprachlos. Würden sich die Fallschirme nicht in den Bahnanlagen verfangen? Aber Sepp als alter Profi in Sachen Erlebnissport hatte an alles gedacht. Die Paraglider würden in Richtung Alt-Stralau und Rummelsburger Bucht fliegen und im Treptower Park landen. Gesagt, getan, Geld war genug da. In nur drei Monaten wurde der Wasserturm komplett saniert und umgerüstet. Ganz oben montierte man eine Plattform, von der aus die Sprünge erfolgen konnten. Was für ein prächtiger Ausblick sich von oben bot! Am 29. Juli, einen Tag vor der Eröffnungsfeier, sollte der erste Gleitschirm herabsegeln. Natürlich wurde Mausbichler die Ehre des ersten Sprunges zuteil, schließlich hatte er das ganze Projekt finanziert. Um 17 Uhr umringten Millionen jubelnde Zuschauer, Vertreter des Bahnvorstandes und des Eisenbahnbundesamtes das Gelände rund um den Wasserturm. Polizisten hatten Mühe, alle Neugierigen an die Seiten zu drängen. Um 19 Uhr erreichte die Stimmung ihren Höhepunkt. Sepp Mausbichler trat feierlich in Lederhosen und kariertem Wams, den Gleitschirm umgeschnallt, nach draußen auf die Plattform. Er winkte dem jubelndem Publikum jovial zu und sprang vom Gipfel des Wasserturms mit seinem Paraglider in die Tiefe.

 

"Österreichischer Multimillionär in den Tod gestürzt" — lautete die große Schlagzeile aller Zeitungen am nächsten Tag. Wie die Berliner Zeitung in ihrem Leitartikel berichtete, hatte sich Mausbichlers Gurt vom Paraglidingschirm unmittelbar nach dem Sprung gelöst und der Österreicher war zum Schrecken aller Zuschauer wie ein Stein hinabgestürzt. Jegliche Rettung kam zu spät.

Darunter stand in kleiner Schrift: "Grete Mausbichler, Witwe von Sepp Mausbichler und Alleinerbin seines Milliardenvermögens, hatte nach Testamentseröffnung sofort sämtliche Zahlungen ihres verstorbenen Mannes an das Projekt Modernisierung Ostkreuz eingestellt."

Doch noch eine weitere Meldung hatte es auf die erste Seite der Zeitungen geschafft. In dicken Schlagzeilen war zu lesen, dass sich Griechenland entschlossen hatte, die Drachme wieder als Landeswährung einzuführen. Der Rettungsschirm von 2,3 Milliarden Euro war damit überflüssig geworden, weshalb Bundeskanzlerin Merkel ab sofort alle Investitionen für die Fortsetzung von Bauvorhaben wieder freigab.


 

Clemens Schittko
Eine Art Liebe

 

Du wirst mich
auf den Tisch legen
und mich vollständig entkleiden.

Du wirst meinen Kopf,
mit einer Stütze im Nacken,
höher legen.

Du wirst alle Pflaster und Verbände,
Sonden und Urinbeutel,
Katheter und Herzschrittmacher
und ähnliche medizinische Utensilien entfernen
und auch alte Windeln entsorgen.

Du wirst meine Haut und alle Körperöffnungen
mit einem speziellen Desinfektionsmittel einsprühen.

Du wirst mich vollständig einseifen
und mit kaltem Wasser waschen
und dabei gröbere Verschmutzungen
sowie austretende Körperflüssigkeiten
und eingetrocknetes Blut beseitigen.

Du wirst eventuelle Wunden vernähen
und mich im Gesicht rasieren.

Du wirst meine Fingernägel
reinigen und schneiden.

Du wirst meine Haare gründlich waschen,
mit Shampoo einmassieren,
auswaschen und fönen.

Du wirst meinen Körper,
wie auch den Tisch,
vollständig abtrocknen.

Du wirst mich mit einer speziellen,
feuchtigkeitsregulierenden Massagecreme
eincremen und massieren,
damit sich meine Starre löst
und meine Haut nicht austrocknet
durch die Kühlung.

Du wirst alle meine Körperöffnungen
wie Nasenlöcher, Rachen und Anus
mit Wattebäuschen verschließen,
damit keine Körperflüssigkeiten austreten.

Du wirst mir
eine frische Windel
überstreifen.

Du wirst meinen Mund
mit einer sogenannten Ligatur verschließen,
indem du mit einem Baumwollfaden
und einer chirurgischen Nadel
den Unterkiefer von innen
mit der Nasenscheidewand zusammenbindest.

Du wirst meine Augen schließen,
indem du kleine kontaktlinsenartige,
mit Noppen besehene Plastikkappen
auf die Augäpfel aufsetzt
und die Augenlider
wieder darüberziehst,
damit sie nicht einsinken
oder sich wieder öffnen
durch die Austrocknung.

Du wirst mich ankleiden,
schminken und frisieren.

Und du wirst mich einbetten ...
in das Nicht-Gedicht deines Körpers –
eine Art Liebe,
die ich nicht
gekannt haben werde –
eine Art Liebe,
die mich nicht
gekannt haben wird.

 

ALLE 36 SEKUNDEN IN DEUTSCHLAND
wird bei einem Menschen
durch verringerte Hirnaktivität
die Wahrnehmung eingeschränkt,
wird die Atmung flacher,
wird das Sehvermögen schlechter,
funktioniert das Hörvermögen nur noch partiell,
geht die Sehfähigkeit völlig verloren,
tritt der Herzstillstand ein,
folgt unmittelbar, innerhalb weniger Minuten, der Hirntod
der Funktionsverlust der Hirnzellen,
beginnt, an den Herzstillstand
und den Hirntod anschließend,
die Zersetzung des Körpers,
sterben die Zellen ab,
beginnend mit den Gehirnzellen, den Neuronen,
gefolgt von den Zellen des Herzgewebes
zehn bis 20 Minuten nach dem Hirntod,
gefolgt vom Tod der Leber- und Lungenzellen,
erst ein bis zwei Stunden später
stellen auch die Zellen der Nieren ihre Funktion ein...
alle 36 Sekunden in Deutschland.

 

Tatort Tagesschau – To-do-Liste

den Tod erleiden
den Tod feststellen
den Tod finden
des Todes sein
eines gewaltsamen Todes sterben
eines natürlichen Todes sterben

in den Tod gehen
in den Tod treiben

mit dem Tod büßen
mit dem Tode bezahlen
mit dem Tode kämpfen
mit dem Tode ringen

sich den Tod holen
vom Tod ereilt werden
zu Tode hetzen
zu Tode kommen
zu Tode prügeln
zu Tode reiten
zu Tode schinden
zu Tode schuften
zu Tode stürzen

 

Friedrichshainer Epitaph

Es regnet, d.h.
ich muss nicht
zum Friedhof,
um die Blumen
auf dem Grab
meines Vaters
zu gießen.

Sagte ich "Grab
meines Vaters"?
Seit wann
können Tote Gräber
oder auch nur
irgendetwas besitzen?
Juristisch gesehen
gehört ihnen
vermutlich
noch nicht einmal
ihr Leichnam
bzw. ihre Asche.

Ich gehe nicht
zum Friedhof, d.h.
es muss regnen.

 

Auch die Gedichte

Auch die Gedichte,
die vom Tod handeln, lenken
stets nur ab – vom Tod.

GÄBE ES SIE NICHT,
die Toten, wäre ich längst
nicht mehr am Leben.

 

Sightseeing Zwischenkriegszeit

Die Bäume an den Straßenrändern
sind beschnitten
oder noch nicht groß genug,
als dass ihre Äste
mehr als eine Schlinge tragen.
Für alle Nicht-Bauarbeiter hingegen
sind die Baukräne schon zu groß,
als dass sie mit einem Galgen
verwechselt werden könnten.

WIR HALTEN HÄNDCHEN ...
Sind wir Liebende? Liegt einer
von uns im Sterben?

FÜR DAS AUSWASCHEN
der Augen genug
die Häuser voll Schlaf
kommt Zeit kommt Tod
ein Himmel ohnegleichen
nichts Vergebliches an uns
das Schweigen ein Salz
für das Erschöpfte
gehen Zwei aneinander wahr
ist Eins durchstoßen
ohne Antwort bleibt nichts
nichts ist vergeben
ein Haus und wir
entfallen einem Schlaf


 

Sonja Hoffmann
Zwei Sichtweisen

 

Nur unter aller größter Anstrengung hatte Lars sich heute Morgen aus dem Bett schälen können und obwohl er sogar auf eine Dusche verzichtet hatte, war er schon fünf Minuten zu spät am Ostkreuz. Dort stand er nun auf dem Bahnsteig der Ringbahn, völlig verschlafen, ungewaschen und hungrig. Einen Kater hatte er ehrlich gesagt auch noch, denn entgegen seinen Beteuerungen hatte er sich gestern doch noch mit den Jungs getroffen. Irgendwie ist es dann ganz schön spät geworden und in ihm stieg die Vermutung auf, dass das letzte Bier schon nicht mehr ganz gut war. Der Baustellenlärm tat in diesem Zusammenhang sein Übriges. Lars starrte auf die Uhr: mittlerweile war es drei Minuten vor neun. Um Viertel vor neun waren sie verabredet gewesen und er kam ja schon zu spät. Die nächste S-Bahn fuhr ein und endlich stieg auch Julia aus. Ohne eine Begrüßung und wild gestikulierend legte sie los:

"Ich hatte doch tatsächlich meine Ballerinas zu Hause vergessen und musste dann noch mal zurück. Ohne die geht schließlich gar nichts!"

"Hm...", war alles, was Lars vorbringen konnte, bevor Julia weiterredete.

"Also, wir müssen jetzt in die S 9, die fährt direkt bis zum Flughafen."

Lars nickte. Die Bahn kam und sie stiegen ein.

"Hast du die Matten denn noch bekommen?"

Matten? Welche Matten? In Lars' Kopf fing es an zu rattern. Julia brauchte keine Antwort. Sie hatte Lars gestern noch gebeten, die tollen Badematten bei Rossmann zu holen, denn dann bräuchten sie nicht die in ihren Augen völlig überteuerten Strandartikel auf Mallorca zu kaufen und außerdem liebte sie es, gut vorbereitet zu sein.

"Nee, oder, du hast sie nicht geholt. Und überhaupt, wie siehst du eigentlich aus? Du warst doch wohl nicht etwa noch mit den Jungs unterwegs, oder?"

Lars schaute schuldbewusst zu Boden.

"Eigentlich wollte nur Flo gestern noch kurz vorbeikommen, aber..."

Weiter kam er nicht.

"Ach so, nur Flo und dann bestimmt auch noch Sebastian und Hendrik und dann warst du natürlich gezwungen, dich noch mal kräftig mit ihnen zu besaufen, ja?"

Julia schaute Lars mit diesem durchdringenden Blick an, der ihm immer das Gefühl gab, ein dummer kleiner Junge zu sein. Er hasste diesen Blick seitdem sie ihn das erste Mal so angesehen hat. Damals, das war vor knapp einem Jahr als er ihr gesagt hatte, dass er mit seinen Jungs in den Urlaub fliegen würde. Er hielt es nicht für nötig, sie zu fragen, ob es in Ordnung für sie sei, denn solche Dinge müsse man in seinen Augen erst dann miteinander besprechen, wenn man verheiratet ist und bis dahin war es in seinen Augen noch ein langer Weg. Ehrlich gesagt hatte er noch nie wirklich darüber nachgedacht zu heiraten, schließlich war er erst 24 und wollte ja auch noch etwas erleben. Und bei Olli hatte er gesehen, wie solche Sachen laufen. Der hatte schon mit 23 seine Freundin Rebecca geheiratet. Er hatte sie sogar gefragt, denn er hat immer so einen Mist von "ganz große Liebe" gelabert!

Was für ein Trottel und sie war doch noch nicht einmal schwanger. Aber in den Augen von Lars hatte Rebecca Olli enorm unter der Fuchtel. Soweit würde er es bei sich und Julia nie kommen lassen, so viel war ihm klar. In seinen Augen musste man klare Grenzen setzen und den Frauen zeigen, wo es langgeht. Als Olli und Rebecca damals schon nach 2 Monaten in eine gemeinsame Wohnung zogen, hatte er Julia gerade kennengelernt. Sie fand es "so romantisch" und Lars konnte einfach nicht fassen, dass Olli behauptete, er würde sich darauf freuen, jeden Morgen neben "seiner Rebecca" aufzuwachen. Nicht genug, dass die Frauen ständig per SMS und Anruf kontrollieren wollten, wo man sich als Mann so rumtrieb. Nein, Rebecca würde immer WISSEN, wann Olli tatsächlich nach Hause gekommen war. Obwohl, Olli machte ohnehin nie etwas ohne seine Frau und so waren sie es letztlich auch, die Julia auf die Idee mit dem gemeinsamen Urlaub gebracht haben. Lars hoffte, dass sich ihre fixe Idee erledigen würde, wenn er nur lange genug die Füße stillhielte. Das hatte schon relativ häufig geklappt. Im Kleinen wie im Großen. Wenn sie zum Beispiel abends in Julias Wohnung auf dem Sofa saßen und sie sagte: "Ich habe so einen Durst", reichte es aus, wenn er nur lange genug so tat, als habe er sie gar nicht gehört. Nach circa 15 Minuten stand sie dann von alleine auf und wenn er dann überrascht tat und sagte: "Ach, du holst was zu trinken? Dann nehm’ ich ein Bier", brachte sie ihm eigentlich immer eins mit.

Dass welches da war, dafür hatte er schließlich gesorgt. Als Julia am Nachmittag das x-te mal anrief um zu fragen, wann er denn nun vorbei käme, hatte sie ihn auch noch gebeten, etwas zum Kochen mitzubringen. Er hatte daraufhin einen Six-Pack Bier und zwei Tiefkühlpizzen besorgt. Julia war ausgerastet und schwafelte irgendwas von "gemeinsamen Kochen", dabei wusste sie doch, dass er es hasste zu kochen und wenn man es ganz genau nahm, musste man die Pizza ja zumindest backen. Da die Taktik des "Aussitzens" im Hinblick auf Julias Wunsch nach gemeinsamem Kochen oder den "Kuschelabenden" oft von Erfolg gekrönt war, hatte Lars sich, zunächst eher unbewusst und aus einer Not heraus, später dann aber auch bewusst dazu entschieden, sie auch im großen Rahmen anzuwenden.

Das kam so: Als Julia vor zwei Monaten ihre Wohnung verlassen musste, weil der Vermieter ihrer WG gekündigt hatte, nahm Julia dies zum Anlass, Lars nach einer gemeinsamen Bleibe zu fragen. Er bekam die blanke Panik und verfiel wie ein Kaninchen vor einer Schlange in die Starre, die ihn immer dann ereilte, wenn er um die Erledigung unliebsamer Aufgaben gebeten wurde. Damals war es mehr ein Reflex als eine bewusste Entscheidung, aber es zeigte sich, dass diese Reaktion ihre Wirkung nicht verfehlte. Julia fragte gefühlt einhundert Mal, ob sie nicht gemeinsam nach einer neuen Wohnung suchen wollen und kam immer wieder mit den Wohnungsanzeigen aus allen bekannten Tageszeitungen an. Lars gab zu keinem ihrer Wohnungsvorschläge einen Kommentar ab und hielt sie so eine ganze Weile hin. Letztlich führte der Umstand, dass sich Julias beste Freundin von ihrem Freund trennte, ihn rausschmiss und nicht alleine wohnen wollte, dazu, dass sie Julia anbot, den frei gewordenen Platz in ihrer Wohnung zu füllen. Julia zog also bei Lena ein. Einfach so und Lars hatte es geschafft, einer unliebsamen Konfrontation abermals aus dem Weg zu gehen.

Hinsichtlich des Urlaubs hatte er es dann ebenfalls mit dieser Strategie versucht, aber dieses Mal hatte es nicht ganz so geklappt, wie er sich die Sache vorgestellt hatte. Durch die penetrante Demonstration von Desinteresse hatte er gehofft, dass Julia, nachdem sie ihm den x-ten Vorschlag aus dem Internet präsentiert hatte, endlich aufgeben würde. Dieses Mal zog sie das Ding aber knallhart durch und buchte den Urlaub einfach auf eigene Faust. Er hatte bisher noch nicht einmal für die 10 Tage Mallorca bezahlt. Julia hatte einfach alles übernommen und so saß er nun in dieser Bahn und trotz der Aussicht darauf, dem Schmuddelwetter zu entfliehen und stattdessen mit Halbpension versorgt am Strand in der Sonne braten zu können, wollte bei Lars keine rechte Urlaubsstimmung aufkommen.

Ganz anders sah es dagegen bei Julia aus. Nachdem sie wochenlang im Internet nach den besten Angeboten gesucht hatte, fand sie schließlich eine Pauschalreise, die zumindest laut Beschreibung ihren Anforderung gerecht werden konnte und nach der zusätzlichen Studie sämtlicher verfügbarer Bewertungen anderer Gäste hatte sie dann letztlich zugeschlagen.

Die Idee, mit Lars gemeinsam in den Urlaub zu fahren, hatte sie eigentlich schon, bevor die beiden sich überhaupt kennengelernt hatten, denn für sie war immer klar, dass man, sobald man sich vor der Weltöffentlichkeit als Paar präsentierte, auch gemeinsam in den Urlaub fuhr.

Als Lars ihr dann im vergangenen Sommer eröffnete, dass er mit seinen Freunden und nicht etwa mit ihr in den Urlaub fahren wolle, beschloss Julia zweierlei Dinge. Zum einen war ihr klar, dass sie im nächsten Jahr einen gemeinsamen Urlaub auf die Beine stellen werde, koste es was es wolle, und zum anderen buchte sie in dem vergangenen Jahr einen Club-Urlaub mit ihren Freundinnen. Diese erstellten dann etliche Fotos auf denen Julia mit gutaussehenden Jungs zu sehen war und Lars kräftig eifersüchtig machen sollten, was aber nur bedingt klappte. Da er nämlich ebenfalls auf fast allen Urlaubsbildern mit hübschen Mädchen zusammen zu sehen war, machte Julia die größere Szene und obwohl Lars und seine Freunde beteuerten, dass mit keinem der Mädchen etwas gewesen sei, fühlte Julia sich betrogen.

Nachdem es ihr gelungen war, das Vertrauen zu ihm zurück zu gewinnen, bot sie ihm dann die in ihren Augen mehr als großzügige Möglichkeit einer gemeinsamen Wohnung an.

Sie war mittlerweile schließlich schon 28 und da mussten langsam Nägel mit Köpfen gemacht werden. Klar, er war nicht ihr Traummann: eigentlich war er ihr zu klein, sein Bauch zu dick, er war zu unordentlich und er verdiente ja noch nicht einmal eigenes Geld. Aber sie hatte bereits ein kleines Polster angespart und rechnete fest damit, dass er bald mit seinem Studium fertig werden würde. Dann könnten sie beginnen, ein Nest zu bauen und sie bräuchte nicht wie Lena an ihrem dreißigsten Geburtstag ohne Mann und Kind dastehen und das war letztlich das, worum es ging. Mit diesem "Traummann-Mist" hatte sie ohnehin zu viele Jahre verloren und obwohl Rebecca immer behauptete, dass Olli ihr Traummann sei, war Julia sich sicher, dass auch sie ihn morgens gerne mal aus dem Bett werfen würde oder sich bei den Lästereien mit ihren Freundinnen so richtig in Rage reden konnte. Aber das war es doch auch, was eine Beziehung in ihren Augen ausmachte. Freundinnen seien zum Reden da und die Männer sind dafür da, das Geld nach Hause zu bringen und genügend Stoff für die Gespräche mit den Freundinnen zu liefern.

Ob Lars gerne mit ihr zusammengezogen wäre, war ihr eigentlich relativ egal und ihr war auch klar, dass es eine Menge Arbeit bedeuten würde, ihn zu dem Wohnpartner zu machen, den sie sich wünschte, aber sie war bereit für ihr Ziel zu kämpfen. Als sie dann ihre Wohnung verlassen musste, versuchte sie zunächst, eine Wohnung mit Lars zu suchen, aber als Lena ihr dann ein Zimmer in ihrer Wohnung anbot, beschloss sie, Lars zunächst in seinem gewohnten Umfeld zu belassen und ihn dort "umzuerziehen", damit er dann als neuer Mensch ihren Wohnpartner-Ansprüchen gerecht werden könnte.  

Bei dem Urlaub zeigte sie ihm nun schon einmal, wer in der Beziehung die Hosen anhatte und buchte alles auf eigene Faust. Sie legte ihm zwar zwischendurch einige Angebote vor, damit er den Eindruck bekäme, sie hätten alles gemeinsam entschieden, aber letztlich war seine Meinung ihr absolut egal. Sie organisierte immer alles für die beiden und das fand sie auch gut.

Jetzt saß Julia zufrieden in der Bahn und ging jeden Tag ihrer gemeinsamen Reise nochmals durch. Eigentlich war ihr schon längst klar, an welchem Tag sie was unternehmen würden und an wen wann welche Karten geschrieben werden sollten. Gemeinsam mit Lena hatte sie zwei Reiseführer akribisch durchgearbeitet und einen genauen Plan erstellt. Eigentlich war Lena ja die falsche Ansprechpartnerin, wenn es um Pärchen-Urlaub ging, denn nachdem sie mit ihrem Freund nach Paris geflogen war, hatte sie sich von ihm getrennt. Aber eigentlich war der ohnehin ein Idiot und Julia war sich sicher, Lars wesentlich besser im Griff zu haben, als Lena ihren (jetzt Ex-)Freund. Lena konnte es sich allerdings nicht verkneifen, Julia noch einige Horrorszenarien über ihren bevorstehenden Urlaub mit auf den Weg zu geben und schwafelte etwas davon, dass Lars entweder zu spät käme und sie den Flieger verpassen würden, oder aber, dass er den ganzen Tag nur schlafen wollen würde und anstatt Abends mit Julia schick essen zu gehen, den Besuch irgendeiner billigen Disco vorziehen würde.

Lena war Julias beste Freundin, aber was ihre Schwarzmalereien in Bezug auf den Urlaub mit Lars angingen, war Lena einfach nur neidisch. Schließlich würden Julia und Lars noch gefestigter aus dem Urlaub zurückkehren; vielleicht hätte sie ihn dann schon so weit, dass er ihren Wohn-Ansprüchen genügen würde und dann würde Lena schon sehen, wie unrecht sie hatte.

 

Während des Fluges hatte Lars die ganze Zeit geschlafen. Er war einfach noch zu kaputt vom Vorabend und wollte für den Besuch im Ballermann schon mal Kräfte tanken. Seine Vermeidungsstrategie hatte es erfordert, dass er sich nicht im Geringsten mit der Geografie Mallorcas auseinandergesetzt hatte, aber da Mallorca im Fernsehen immer mit dem Ballermann gleichgesetzt wurde, ging er davon aus, dass diese Lokalität von jedem Flecken der Insel in kürzester Zeit zu erreichen sei.

Nach einer schier unendlichen Busfahrt vom Flughafen zum Hotel kamen ihm jedoch erste Zweifel an dieser Theorie, welche zudem durch die Zusammensetzung der Buspassagiere ins Wanken geriet. Wie konnte es schließlich sein, dass sie in Richtung Ballermann unterwegs waren und außer zwei jungen Pärchen in ihrem Alter nur Rentner und Familien mit nervigen kleinen Kindern den Bus bevölkerten.

Die Kinder wiederum veranlassten Julia zu einem der von ihm so verhassten "Wie-wollen-wir­denn-eigentlich- unsere-Kinder-nennen?"-Monologen. Auch hier sagte er einfach möglichst wenig und versuchte, die aufsteigende Panik zu überspielen. Andererseits, wenn nicht der Ballermann in unmittelbarer Nähe läge, so gibt es sicher unzählige andere Discos, denn Mallorca wird doch nicht ohne Grund als "Partyinsel" bekannt sein.

Dennoch schienen die Discos hier gut versteckt zu sein und außer Souvenirshops und Restaurants war auf dem Weg nicht viel zu entdecken. Lars versuchte ruhig zu bleiben und seine Frage nach der Abendgestaltung erst einmal zu vertagen, um keinen Streit mit Julia anzufangen.

Am Hotel angekommen bestätigten sich jedoch seine schlimmsten Befürchtungen, denn außer ihnen verließen nur vereinzelte Rentner, zwei Familien mit kleinen Kindern und eines der jungen Paare den Bus, um im Hotel einzuchecken.

 

Sie hatten das Zimmer noch nicht einmal wirklich betreten, da begann Julia bereits, zu nörgeln: die Fußleisten seien fürchterlich schmutzig und der Flur zum Zimmer sei viel zu dunkel. Nachdem sie dann die Betten und das Badezimmer einer akribischen Inspektion unterzogen hatte, kam sie zu dem Urteil, dass alle Bewertungen im Internet nicht stimmen könnten, sie unter solchen Umständen unmöglich einen entspannten Urlaub verleben könne und Lars sich doch bitte umgehend bei der Reiseleitung beschweren solle. Darauf hatte er allerdings so gar keine Lust, denn schließlich sah er sich dieses Zimmer nur in volltrunkenem Zustand nutzen und in seinen Augen war doch schließlich alles in bester Ordnung. Während er ersteres lieber für sich behielt, teilte er Julia die zweite Einschätzung in einem ruhigen Ton mit, was sich jedoch als fataler Fehler herausstellen sollte.

Es dauerte keine zwei Sekunden und Julia wurde zu einer hysterischen Furie. Wie es denn sein könne, dass sie sich um alles kümmern müsse und er dann nicht einmal Partei für sie ergreifen würde. Sie habe alles für diesen Urlaub getan, während er sich noch erdreistete, verkatert zum Bahnhof zu kommen. Und Lars tat das, was er in solchen Situationen immer tat: schweigen.

 

Für Julia war das alles zu viel. Sie war es gewesen, die den Urlaub geplant und gebucht hatte. Sie wollte, dass alles perfekt werden würde und nun das. Das Zimmer war eine Katastrophe: Im Bett hatte sie ein Haar gefunden und im Badezimmer waren in der linken Ecke der Badewanne eindeutig Spuren von Spak zu erkennen. Wie sollte sie denn hier entspannen können? Das müsste Lars doch sehen, aber er sah es scheinbar nicht. Nichtsdestotrotz wäre es in ihren Augen seine Aufgabe, heldenhaft zur Reiseleitung zu stürmen und sich über die unzumutbaren Zustände zu beschweren. Im Fernsehen hatte sie gesehen, wie Reisende auf diese Weise ein kostenloses Upgrade ihrer Unterkunft bekamen und das würde ihr natürlich schon gefallen. Vor allem aber könnte sie Lena dann erzählen, wie Lars sich für sie eingesetzt hat und das er doch nicht so ein Ignorant war, wie ihre beste Freundin immer behauptete. Nach diesem Urlaub würde Lars der Mann sein, mit dem sie zusammenziehen könne. Alle ihre Freundinnen würden sie bewundern, wie sie es geschafft hätte, einen Mann umzukrempeln und zu einem braven Hausmann zu machen. Aber momentan saß Lars einfach nur da und starrte Löcher in die Luft.  

Das Problem war, dass Julias penibel geplanter Tagesablauf langsam ins Wanken geriet und sie so zu Gunsten ihrer Planung erst einmal die grauenhaften Zustände im Zimmer beiseite schieben musste.

Laut Plan müssten sie jetzt schon durch die Gassen schlendern und verliebt ein Eis schlecken, stattdessen saßen sie hier und hatten noch nicht einmal ausgepackt. Da Lena bestens über den geplanten Ablauf informiert war und heute Abend den ersten Bericht erwartete, musste es jetzt weitergehen und so zerrte Julia, noch glühend vor Zorn, ihre neuen Sandalen und das rote Kleid aus dem Koffer und zog sich um. Ohne etwas zu sagen ging sie zur Tür und Lars folgte ihr auf den Fuß.

Nach dem schier endlosen Gezeter ging es endlich los und er konnte sich ein Bild von den Feiermöglichkeiten machen. Gefühlte sechshundert Souvenir-Shops später sprach sie endlich ein Promoter an und lud sie zur Schaumparty in einer Disco gleich um die Ecke ein. Lars atmete auf und sagte freudig zu. Julias Reaktion ließ nicht lange auf sich warten und es folgte ein langer Monolog, in dem sie etwas von "Urlaubsplanung" und "Du hast das doch auch alles gewollt" und "nur wir zwei" kreischte. Wutentbrannt rannte Julia ins Hotel zurück und Lars, von einem leichten Hungergefühl geplagt, folgte ihr, in der Hoffnung das Buffet stürmen zu können. Schweigend hatte Julia sich gewaschen und abermals umgezogen und schweigend ging es dann in den Speisesaal. Die Plätze zu ihrer Zimmernummer lagen an einem Tisch, an dem das Pärchen aus dem Bus mit versteinerten Mienen im Essen herumstocherte. Julia und Lars bedienten sich am Buffet und setzten sich dazu. Schnell kamen sie mit dem Paar am Tisch ins Gespräch und schon nach wenigen Minuten wurde deutlich, dass es Maria und Philipp ebenso erging wie Julia und Lars. Während Julia und Maria sich nach dem Essen zu einem gemeinsamen Boutiquen­Bummel verabredeten, sahen Philipp und Lars sich schweigend an. Als Philipp jedoch den Schaumparty-Flyer zog, um die Zimmernummer auf die Rückseite zu schreiben, war auch die gemeinsame Urlaubsplanung der Männer geklärt.

 

In den kommenden Tagen verlebte Julia einen wunderbaren Urlaub nach ihrem Geschmack und auch Lars hatte eine Menge Spaß. Julia hatte es geschafft, alle Punkte ihres Plans abzuarbeiten und Lars hatte es geschafft, an keinem Tag nüchtern ins Bett zu gehen.

Während Julia sonnengebräunt und entspannt versuchte, ihre neuen Kleider in den Koffer zu quetschen, stopfte Lars verkatert und blass seine Habseligkeiten in seine Reisetasche.

Sie hatten nicht einen Tag miteinander verbracht. Nachdem Lars in der ersten Nacht betrunken über seine Tasche gestolpert war und schnarchend in einen komatösen Schlaf fiel, aus dem er sich auch um zehn Uhr morgens nicht wecken ließ, war Julia zu Maria ins Zimmer gezogen und Philipp nahm das Bett, in dem Julia hätte schlafen sollen.

Im Bus saß Julia neben Maria und selbst im Flugzeug waren die Sitzplätze nach Geschlechtern getrennt.

Zurück am Ostkreuz wurde dann klar, dass beide einen wundervollen Urlaub hatten, allerdings nicht miteinander und so wurde es ein wortloser Abschied. Ein Abschied für immer.


 

Birgit Wilms
Von einem Morgen zum nächsten Morgen

 

Ein Streicheln in seinem Gesicht ließ ihn erwachen. Ganz sanft und fein berührte es seine Haut. War es seine Mum, die ihn weckte, damit er rechtzeitig zur Schule kam? Er hatte es damals so sehr gehasst, doch was würde er heute dafür geben, wenn ihre kleinen weichen Hände ihn nur einmal noch so streicheln würden. Chris nahm sich die Zeitung aus dem Gesicht, welche nach oben geweht war.

Langsam erhob er seinen von der Kälte steif gewordenen Körper von der Bank. Vorsichtig reckte und streckte er sich und sah sich dabei um. Noch lag alles still und leer, nur vereinzelt kamen die ersten Menschen auf den Ringbahnsteig am Ostkreuz. Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg, es war die Ruhe vor dem Sturm. Nur ein paar Minuten noch, dann konnte man es hören, das Getrampel tausender Füße auf der großen Eisentreppe. Bei geschlossenen Augen hörte es sich wie Pferdegalopp auf der Trabrennbahn an. Je nach Jahreszeit konnte man ein anderes Bild mit dem Geräusch assoziieren. So hätte man es im Winter auch für das Herunterprasseln von riesigen Schneebällen halten können.

Chris strich sich die Kleidung glatt und fuhr sich durchs verwuschelte Haar, er mochte es nicht, wenn man es ihm sofort ansah, dass er obdachlos war. Deswegen suchte er auch jeden Tag einen Waschraum auf und ging regelmäßig in die Kleiderkammer, um sich frische Kleidung zu holen. Nur die Notunterkünfte hasste er, er konnte den Geruch von alten Männern, Alkohol und Blut, welcher sich dort vermischte, nicht ertragen. So kam es, dass er meistens unter freiem Himmel schlief, solange es das Wetter erlaubte und das Aufsichtspersonal am Ostkreuz mitspielte. Die meisten kannten ihn aber schon und wussten, dass er keinen Ärger machte und jeden Morgen rechtzeitig verschwand, bevor der Berufsverkehr begann.

Riesige Schwärme von Menschen flossen aus den Bahnen hinaus, die Treppe hinauf und in die nächste Bahn wieder hinein. Ein Gewusel, wie in einem Ameisenhaufen. Auf den ersten Blick schien es ein heilloses Durcheinander zu sein, aber mit genügend Abstand, ließ sich die Ordnung darin erkennen.

 

Chris wurde langsam unruhig, gleich musste sie kommen, es war doch schon kurz vor 07.00 Uhr. Wo blieb sie heute nur? Sie war so wunderschön und irgendwie erinnerte sie ihn auch an seine Mum. Sie hatte dieselben schönen blonden langen Haare, welche sanft über ihre schmalen Schultern fielen. Ihre schlanke und zierliche Figur mit der immer sehr sorgfältig ausgewählten Kleidung war ihm ebenfalls vertraut. Doch am meisten liebte er ihren Lippenstift, der sah nicht nur schön aus, sondern er schmeckte auch noch gut. Denn nachdem sie ihre Morgenzigarette eilig geraucht hatte und sie meistens wegen der einfahrenden Bahn nur halbaufgeraucht wegwarf, sammelte er den Rest ein. Mit jedem Zug von diesem Zigarettenrest, der nach ihren Lippen und diesem süßroten Lippenstift schmeckte, träumte er sich in ein Leben mit ihr hinein.

Er sah sich mit ihr am Frühstückstisch sitzen, liebevoll strich sie ihm durchs Haar und streichelte seine Wange. Sie aßen und redeten, lasen die Zeitung und lachten viel. Ja, es war sicher schön mit ihr zu lachen. Schade, dass er ihr Lachen noch nie gehört hatte. Aber aus diesem lieblichen Mund konnte es nur wunderschön klingen, da war er sich ganz sicher.

Wie sehr er diesen Moment am Morgen liebte, Zug für Zug genoss er ihre Zigarette. Er war ihr so nah und er fühlte die Wärme und Geborgenheit, die er immer in den Armen seiner Mum gespürte hatte. Jeden Morgen stand er nur ihretwegen wieder auf. Sie war es, die ihn glücklich sein ließ. Dieser eine kleine Moment am Morgen, wenn er sie aus der Ferne kommen sah, dann ihren Anblick in sich einsog und zuletzt ihren Duft.

Davon lebte er, von einem Morgen zum nächsten Morgen. Ganz schlimm war es am Wochenende, da blieb er oft länger liegen, bis das Personal ihn dann letztlich hochscheuchte. Was hatte dieser Samstag für einen Sinn, wenn er sie nicht sehen würde. Sie war so lieblich und hatte so einen warmen Ausdruck in ihren Augen. Sie sah ihn nie, nahm ihn nicht einmal wahr. Aber er, er fühlte sich ihr nah und nur das zählte. Sie gab ihm die Kraft, sich nicht gänzlich aufzugeben, sie war sein ganzes Glück. Für sie wollte er sich nicht gehen lassen, für sie wollte er am nächsten Morgen wieder erwachen. Auf diesen Augenblick wartete er gern 24 Stunden seines Lebens, nur um ihn einmal noch wieder erleben zu dürfen.

Wo war sie nur, sie hätte längst da sein müssen? Wolken zogen übers Ostkreuz und mit ihnen kam ein kalter Wind auf, der ihn in seinen leichten Sommersachen frösteln lies.

Es ist wohl an der Zeit, sich wärmere Kleidung zu besorgen, da der Sommer nicht wirklich sommerlich war in diesem Jahr, dachte Chris gerade, als ein jäher Schrei ihn aufschrecken ließ. Was war das, was ist passiert? Zuerst dachte er, dass es wieder die Frau wäre, die hier öfter mal quer übers Ostkreuz schreit am Morgen. In Berlin stört sich daran niemand, hier ist man es irgendwie gewohnt, dass psychisch kranke Menschen durch die Stadt irren. Sie werden ignoriert und gehören irgendwie dazu in dieses bunte Bild von extremen Unterschieden, Unruhe und Vielfalt.

Aber nein, sie ist es nicht, weiter vorne tut sich was. Die Menschen scheinen aufgescheucht, andere sind starr vor Schrecken. Er ist zu weit weg, er sieht nichts. Er ahnt nur, dass es nichts Gutes sein kann. Plötzlich prasselt Regen auf ihn herab, der Himmel ist düster und er flüchtet sich in ein Wartehäuschen.

Zwei Frauen unterhielten sich aufgeregt miteinander, da kam auch schon die Durchsage: "Wegen eines Personenunfalls ist der Zugverkehr auf dem Gleis 3 für unbestimmte Zeit unterbrochen. Wir bitten um Ihr Verständnis."

Personenunfall, was ist denn da nur passiert, fragte Chris sich und eine unbestimmte Angst stieg in ihm hoch. "Sie sackte plötzlich in sich zusammen und fiel vorne über. Es ging alles so schnell, ich konnte es gar nicht fassen." Die Stimme der Frau neben ihm überschlug sich und Tränen liefen ihr übers Gesicht. "Die Bahn fuhr ein und sie fiel direkt davor, der Lokführer hatte gar keine Chance." Nun versagte ihr die Stimme und die andere Frau nahm sie tröstend in den Arm. Chris war verwirrt, was redete sie denn da? Er wunderte sich, dass es ihm immer übler wurde und so sehr er auch versuchte den Gedanken zu verdrängen, er ließ sich nicht mehr abwehren. In seinem Hirn hämmerte es ununterbrochen: "Sie war es", wie ein Plattensprung, immer wieder: "sie war es, sie war es." Chris setzte sich langsam auf die Bank im Wartehäuschen. Kann es wirklich sein, dass sie es war. Sie war nicht gekommen, sollte sie nur 30 Meter von ihm entfernt vor die S-Bahn gefallen sein? Chris konnte und wollte nicht glauben, was sein Gehirn da zusammenbraute. Die Kraft verließ ihn und er sank immer mehr in sich zusammen. Gefühlte Stunden später, die Menschen hatten längst die Seite des Bahnsteigs verlassen, da der Zugverkehr noch immer unterbrochen war, kam er wieder zu sich. Hatte er nur geträumt, bitte lieber Gott, lass es nicht wahr sein. Chris trank sonst nie Alkohol, da er sich vor dem Totalabsturz schützen wollte, aber heute konnte er nicht anders, als sich zu betäuben. Morgen, morgen ist ein neuer Tag und alles wird wieder gut, so dachte er, als die Träume ihn am Abend übermannten und er mit viel Bier im Blut ganz sanft einschlief.

Lautes Stimmengewirr lies Chris erwachen, er hatte verschlafen, der Bahnsteig war schon überflutet mit dem morgendlichen Meer an Menschen. Hatte er sie nun verpasst, war sie heute da oder ist sie wieder nicht gekommen? Kaum das Chris die Augen aufgeschlagen hatte, schaltete sich sein Gedankenkarussell wieder ein. Er lief zum Papierkorb und schlug die Zeitung auf, welche die Frühaufsteher bereits ausgelesen hatten. Da stand es schwarz auf weiß: "Frau nach Schwächeanfall von S-Bahn überfahren". Das gestrige ungute Gefühl wurde nun langsam zur Gewissheit in ihm, eine unendliche Traurigkeit machte sich in ihm breit. Sollte er sie wirklich verloren haben? Wenn es wirklich wahr wäre, was würde er von nun an tun? Worauf sollte er sich die restlichen Tage seines Lebens freuen? Erst verlor er seine Mutter viel zu früh, er hätte sie noch so sehr gebraucht, und nun auch noch sie. Was macht das Leben für einen Sinn, wenn er immer wieder alles verliert, was ihm irgendwie lieb und teuer ist? Alles zieht nur an ihm vorüber, ähnlich einer Zugdurchfahrt, die Menschen kommen an, verweilen kurz und dann verlassen sie ihn wieder. Das war ein seltsames Spiel, dieses Leben. Er hatte nun die Wahl, sollte er weiterhin am Rande sitzen und zuschauen oder sollte er wieder mitspielen? Er wusste es nicht, er war verunsichert, was machte es für einen Unterschied?

Plötzlich sah er ganz in der Nähe eine blonde zierliche Frau mitten in der Menschenmenge. Er reckte sich und lief so schnell er konnte in ihre Richtung. Als er näher kam, bemerkte er, dass sie es nicht war. Ein kurzer Hoffnungsschimmer verflog so schnell, wie er gekommen war.

Doch was machte ihr Tod für einen Sinn, wenn er weiter hier saß und nichts tat? Er spürte ganz deutlich, dass er es wollte, er wollte leben. Ja, er wollte wieder atmen, wieder gehen, wieder fühlen, wieder dazugehören. Chris überlegte nicht lange, er suchte alte Freunde auf und schon eine Woche später hatte er eine Stelle in einer Kneipe gefunden. Das war natürlich noch kein Durchbruch, aber er konnte davon leben und sein kleines eigenes Zimmer konnte er davon auch bezahlen. Außerdem gehörte er wieder dazu, auch wenn er sich noch nicht wirklich so fühlte, aber er lernte viele neue Menschen kennen und kam mit Menschen aus der ganzen Welt in Kontakt. Ab und an jagte er noch blonden zierlichen Frauen hinterher, immer noch in der Hoffnung, sie würde es sein. Doch so langsam ließ der Drang, wie blind loszurennen, wenn er blondes langes Haar sah, nach.

Die Vergangenheit verblasste allmählich, wie das Bild auf einem sehr alten Foto. Die täglichen Eindrücke nahmen ihn so sehr gefangen und in Besitz, dass es schien, als hätte es ein "Davor" nie gegeben, als wäre es nie anders gewesen.

Er atmete, er fühlte sich lebendig und das Beste daran war, er war glücklich bei all dem, was er nun tat.

Nur eines Morgens als sein Weg ihn wegen eines Termins übers Ostkreuz führte, kamen die alten Bilder in ihm wieder hoch. Doch sie erschienen ihm seltsam fremd, er konnte es nicht mehr glauben, dass er es war.

In Gedanken versunken setzte er sich in die gerade eingefahrene Bahn. Er hob den Blick und es verschlug ihm den Atem, blondes langes Haar fiel sanft über ihre schmalen Schultern. Ihre Blicke trafen die seinen und es war als öffnete sich ein ganzes Universum vor ihm.


 

Manuela Schulz
Fisch sucht Fahrrad

 

Sein Name ist Palowski. Zacharias Palowski. Mit einem "Z" wie "zögern", "zaudern", "zweifeln". Er hätte lieber Friedrich als Vornamen gehabt. Mit einem "F" wie "fröhlich", "frech", "forsch".

Palowski steht in der Nähe des Eingangs, innerlich bereit zur Flucht. Den Aufkleber mit der Nummer hat er auf die Brusttasche seines Oberhemds geklebt und hat den Reißverschluss seiner Windjacke zur Hälfe zugezogen. Man sieht die Nummer nicht. Alle haben Getränke in der Hand, Palowski nicht. Er zögert noch, Cola oder Bier. Bier macht mutig und cool. Das klingt verlockend. Er geht zur Bar und bestellt ein Bier. Der Barmann stellt ihm eine Flasche hin. Palowski mag kein Bier aus der Flasche, doch jetzt hat er etwas, an dem er sich festhalten kann.

Eine Gruppe Frauen schnattert vorbei. Jede ein Gesamtkunstwerk, Kleidung, Make-up, Schmuck, starres Lächeln, Wimpern klimpern. Sie verstecken ihre Nummernschildchen nicht. Rot leuchtet die Schrift neben ihren Dekolletees. Geübte Blicke scannen das Material. Palowski liegt unterhalb ihrer Wahrnehmungsschwelle. Sie hasten weiter, die Zukunft zu zweit im Visier.

Die anderen Männer umkreisen die Beute. Hungrige Blicke ziehen bauchfreie T-Shirts noch höher, streifen geschickt Jeans von den Hüften. Welche Frucht ist reif, willig gepflückt zu werden?

Palowski geht zur Pinnwand. Unter seiner Nummer hängt keine Nachricht.

Die nächste Gruppe Frauen zieht an ihm vorbei. Eine schaut er sich besonders lange an. Gesträhnte, blonde Locken kringeln sich den Rücken hinunter, über eine Bluse, deren Ausschnitt die Sicht auf volle Brüste freigibt. Das sind ihm die Liebsten. Sie dürfen nicht so mager sein. Diese Frau ist ziemlich klein geraten, sie trägt glitzernde Sandaletten mit hohen Absätzen. Palowski nähert sich der Gruppe. Die Frauen haben sich um einen Stehtisch an der Bar gestellt und trinken Cocktails. Der Alkohol lässt die Gesichter glühen. Sie gehen abwechselnd tanzen. Das sorgt für noch mehr Hitze.

Der Abend schreitet voran. Palowski steht immer noch am Nebentisch und beobachtet die Frau. Er nennt sie in Gedanken Astrid. So hieß sein erstes Abenteuer. Er malt sich aus, wie der Abend weitergehen wird, was er und Astrid tun werden. Ihm wird warm und in seiner Hose wird es eng. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn.

Astrid schaut auf ihre Armbanduhr und kramt aus ihrer Handtasche eine Garderobenmarke hervor.

Zeit zu gehen. Palowski stellt das unberührte Bier auf einen Tisch.

Draußen verbirgt er sich im Schatten einer Mauer und wartet. Er hat Geduld. Es ist kalt und nass. Er weiß, dass Astrid erst noch an der Garderobe die Schuhe wechseln muss. Das machen fast alle bei diesem Wetter. Da kommt sie, die Handtasche unter die Achsel geklemmt, in der anderen Hand die Plastiktüte mit den Sandaletten. Sie trägt jetzt Turnschuhe, das macht es schwerer, da sind sie schneller. Astrid schaut sich suchend um, kein Taxi in Sicht. Sie schimpft leise vor sich hin und läuft los in Richtung Ostkreuz. Der Regen wird stärker, Astrid spannt einen Schirm auf. Das ist günstig, der versperrt ihr die Sicht. Die vorbeifahrenden Autos übertönen seine Schritte, die auf dem nassen Bürgersteig kaum zu hören sind. Sie überquert die Stralauer Allee und nimmt den Weg quer durch die kleinen, menschenleeren Straßen zum Bahnhof Ostkreuz – besser kann es nicht laufen. Palowski tastet in seiner Jackentasche. Ja, die Flasche ist immer noch da, wo er sie vorhin hineingesteckt hat, zusammen mit der Stoffwindel. Astrid schaut auf die Uhr und verlangsamt ihren Schritt. Ihre S-Bahn kommt noch nicht so bald. Sie nähern sich einem Supermarkt mit Parkplatz, der perfekte Ort. Palowski versichert sich, dass die Kordel griffbereit in der anderen Jackentasche ist, und lässt sich ein Stück zurückfallen. Seine Hände zittern, als er die Flasche und die Stoffwindel aus der Tasche zieht. Das Chloroform sticht in der Nase. Er steckt alles zurück in die Tasche und beschleunigt seinen Schritt. Er hält die Windel fest umklammert. Dann hat er Astrid eingeholt, er läuft direkt hinter ihr. Er zieht die Windel aus der Tasche. Er fängt an zu keuchen, das Spiel beginnt. Astrid spürt, dass jemand hinter ihr ist und dreht sich um. Palowski drückt ihr die Windel auf Mund und Nase. Sie versucht sich zu wehren, doch er ist stärker und größer. Aus ihren aufgerissenen Augen schwindet das Bewusstsein. Palowski fängt sie auf und zieht sie auf den Parkplatz, tiefer in die Dunkelheit.


 

Michael Guske
Der Tod fährt schwarz

 

Ich zähle schon gar nicht mehr, wie oft ich mich an den Schreibtisch gesetzt habe, um niederzuschreiben, was vor einiger Zeit geschehen ist. Doch jedes Mal, wenn ich damit anfangen wollte, wenn ich an diesen Tag, an diese langen Minuten gedacht habe, wurde mir das Irreale, ja, das Gespenstische des Geschehens bewusst und immer stärker wurde in mir das Verlangen zu glauben, es habe überhaupt nicht stattgefunden. Doch tief in mir steckt die Gewissheit, dass alles wahr ist, jedes Wort. Nur weil der Verstand sich weigert, Dinge, die außerhalb unserer Wahrnehmung existieren, zu akzeptieren, bedeutet es noch lange nicht, dass es sie nicht gibt.

 

Es war sehr warm an diesem Tag. Der Sommer, der dann doch nicht mehr kommen sollte, hatte noch gar nicht angefangen, aber die Hitze machte die Luft schon schwer und stickig. Mir macht das nichts aus. Ich liebe die Wärme, auch in der Stadt. Der Samt des Abends entschädigt für die Glut des Tages. Es ist kurz vor 18.00 Uhr. In wenigen Minuten wird meine Schicht beendet sein. Nur noch diese eine Station, von Treptow bis zum Ostkreuz, dann werde ich nach Hause fahren, mir ein Buch nehmen und mich noch bis zum Einbruch der Dunkelheit zum Lesen in den Park setzen. Soweit der Plan.

 

Ich fahre jeden Tag mit der S-Bahn, beruflich, acht lange Stunden. Ich bin Fahrkartenkontrolleur. Schon seit über zwanzig Jahren. Nach spätestens 5 Semestern sollte es wieder zu Ende sein und bis dahin sowieso nur nebenbei laufen, um das Studium zu finanzieren. Doch es ließ mich nicht mehr los. Nach drei Semestern war Schluss – mit der Studiererei. Die letzten Wochen davor habe ich mich schon nicht mehr im Hörsaal blicken lassen. Denn ich verdiente Geld. Zu dieser Zeit wurde man noch nach Leistung bezahlt. Wer viele Schwarzfahrer erwischte, bekam auch viel Geld. Und ich war gut. Schon nach wenigen Wochen war ich in der Lage, die Fahrgäste mit von denen ohne Fahrschein zu unterscheiden, auf den ersten Blick. Ich stieg in den Waggon ein, sah mich kurz um und hatte sofort ein potenzielles Opfer ausgemacht. Ich ging darauf zu, zeigte meinen Ausweis und erkannte an der erschreckten Reaktion, dass ich mit meiner Einschätzung wieder richtig gelegen hatte. Wenn der Fahrgast, der bis zu diesem Moment ja eher ein uneingeladener Gast war, das fällige Bußgeld gleich bar bezahlte, hatte ich gute Chancen, bis zur nächsten Station noch einen zweiten und vielleicht sogar noch einen dritten Fahrgeldpreller zu erwischen. Wenn ich am Ende der Schicht das eingenommene Bargeld und die Einzahlungsformulare abrechnete, betrug meine Provision ein Mehrfaches dessen, was meine Mitstudenten als Aushilfskellner und Fahrradkuriere verdienten. Ich wurde ein Jäger. Meine Waffen waren ein kleiner Ausweis und ein Quittungsblock. Ich betrat die Bahn wie ein Revolverheld den Saloon, sagte die Zauberformel auf: "Die Fahrausweise zur Kontrolle, bitte", und genoss es, das Zusammenzucken der Menschen und das fahrige Suchen in Rucksack oder Handtasche nach dem Fahrschein zu sehen. Ich registrierte jede Bewegung, das Senken des Blickes, das plötzliche In-den-Schlaf-fallen, das verstohlene Schieben eines Körpers in Richtung der hintersten Tür, um am nächsten Bahnhof sofort hinausschlüpfen zu können.

Im Laufe all der Jahre habe ich viele Ausreden gehört, warum man keinen Fahrschein vorweisen konnte. "Verloren", "Automat kaputt", "Kein Kleingeld", "Meine Freundin ist letzte Station ausgestiegen – zusammen mit meiner Fahrkarte" und ... und ... und. Der angeblich noch nicht sechsjährige Sohn liest ein dickes Harry-Potter-Buch, der vorgebliche Schwerbeschädigte trägt Malerkleidung mit deutlichen Gebrauchsspuren. Auch der Trick mit der Fahrkarte, die man vergessen hat zu entwerten, hilft nicht, wenn dieses Ticket seit der letzten Fahrpreiserhöhung schon lange nicht mehr gültig ist. Ein junges Mädchen bot mir sogar an, ich könnte sie mal anfassen, wenn ich ihr das Bußgeld erlasse. Nach kurzem Nachdenken entschied ich mich dagegen. Es nutzt alles nicht. Ich bin der Jäger und bringe das Wild zur Strecke.

 

Doch sollte die Ausrede zwar als solche erkennbar, aber neu und originell sein, lasse ich die Opfer auch mal laufen. Eine Frau mit unübersehbaren Gewichtsproblemen erklärte mir, sie sei hochschwanger und fahre zur Entbindung ins Krankenhaus. Zur Bekräftigung hielt sie sich den Bauch, verzog das Gesicht und stöhnte, als wenn Wehen ihren Körper durchliefen. Ein alter Mann hielt mir heftig gestikulierend einen Vortrag in einer Sprache, die ich noch nie vernommen habe. Touristen ohne Fahrschein werden bei Kontrollen oft begnadigt. Beim Aussteigen stieß er mit einer älteren Dame zusammen und entschuldigte sich höflich — in akzentfreiem Deutsch.

Doch an diesem Tag sollte ich einen neuen Trick kennenlernen. Dass es kein Trick war, wurde mir erst später klar.

 

Das Geräusch der einfahrenden S-Bahn riss mich aus meinen Gedanken an den nahenden Feierabend. Ich warf mir den Rucksack mit der Wasserflasche und dem Quittungsautomaten über die Schulter, nickte meiner Kollegin noch kurz zu und stellte mich mit den anderen Fahrgästen vor die nächste Tür, die sich mit leisem Zischen öffnete. Ich wartete geduldig, bis alle eingestiegen sind, und hörte kurz darauf das Schließen der Tür in meinem Rücken.

Nach wenigen Augenblicken drang brüchiger Gesang an meine Ohren:

"So so you think you can tell / heaven from hell blue skies from pain…"

Pink Floyd, die ersten Zeilen von "Wish you were here".

Wir kannten den Jungen. Er fuhr den ganzen Tag mit der Ringbahn im Kreis, spielte auf der Gitarre mehr recht als schlecht den immergleichen Floyd-Song und verdiente sich damit ein paar Euro. Wir wussten natürlich, dass er schwarz fuhr, aber wir ließen ihn gewähren.

Im selben Moment fuhr die Bahn an. Die Fahrzeit bis zum Ostkreuz beträgt weniger als eine Minute, nicht viel Zeit für eine gründliche Kontrolle, doch einen Fang wollte ich heute noch machen. Meine Kollegin kündigte mit lauter Stimme die Fahrkartenkontrolle an, während ich mit schnellem Blick die Fahrgäste musterte. Sie wirkten meist müde, von der Arbeit, von der Hitze, von der Stadt. Sie wollten nur noch nach Hause.

Mir fiel ein junges Mädchen ins Auge. Sie hatte einen leuchtend roten Rucksack mit einem fröhlichen Smileysticker darauf auf ihrem Schoß. Doch das lachende Gesicht auf dem Rucksack wollte überhaupt nicht zu ihrem traurigen Blick aus ihren verweinten Augen passen. Da sah ich aber auch schon den Fahrschein in ihrer Hand und wandte meinen Blick von ihr ab.

Als ich mich in Bewegung setzte und den Gang zwischen den Sitzreihen betrat, fiel mir im hinteren Teil des Wagens ein schwarz gekleideter Mann auf. Im Gegensatz zu seinen Mitfahrern, die leicht genervt in ihre Taschen griffen und ihre Tickets rauszogen, reagierte er überhaupt nicht. "Das ist er", dachte ich, "mein letzter Schwarzfahrer für heute." Ich warf nur schnelle Blicke nach rechts und links, ohne Monatsmarken und Zeitstempel genauer in Augenschein zu nehmen. Unter meinen Füßen spürte ich ein leichtes Vibrieren. Die Bahn überquerte gerade die Elsenbrücke und würde in wenigen Augenblicken den Bahnhof Ostkreuz erreichen.

"Did they get you to trade your heroes for ghosts hot ashes for trees hot air full of cool breeze."

Der Junge sang unverdrossen weiter. Er wusste, dass er nichts von uns zu befürchten hatte.

Zielstrebig ging ich auf den Mann zu. Er sah nicht wie ein typischer Schwarzfahrer, wenn es das überhaupt gibt, aus. Er war sogar elegant gekleidet. Ein breitkrempiger Hut verdeckte sein Gesicht. Trotz der Hitze trug er einen langen Ledermantel, darunter ein seidig schimmerndes Hemd und eine elegante Hose, alles in Schwarz.

"Die Fahrkarte, bitte." Ich hielt meinen Ausweis hoch. Langsam hob er den Kopf und schaute mich an. Kein Erschrecken, kein verlegenes Lächeln, keine Reaktion. Zwei graue Augen in einem glatten alterslosen Gesicht, ein feiner Schnurrbart über der Oberlippe.

"Wie bitte?" Seine Stimme war leise und ruhig.

"Ihre Fahrkarte, bitte!" Ich wedelte mit meinem Ausweis vor seinen Augen herum.

"Ich habe keine Fahrkarte." Seine Stimme klang etwas erstaunt, so, als wäre ein Ticket das Letzte, was er in einer S-Bahn bei sich hätte.

Ich triumphierte innerlich. Wieder habe ich es vorher gewusst. Mein letzter Schwarzfahrer für heute.

"Dann steigen Sie bitte mit mir an der nächsten Station aus!" Meine Stimme konnte die Freude über diesen kleinen letzten Erfolg kaum verbergen.

"Welche Station ist das?" "Ostkreuz", entgegnete ich auf seine Frage.

"Oh, das trifft sich gut. Ich habe in Ostkreuz einen Termin." Seine Stimme war immer noch ruhig und entspannt.

'Na, der hat aber ein dickes Fell', dachte ich. 'Die 40 Euro machen ihm wohl überhaupt nichts aus.' Gut, mir sollte es recht sein. Schnell abkassieren, die Quittung ausdrucken, alles abrechnen und dann ist endlich Schluss für heute.

In diesem Moment fuhren wir in den Bahnhof ein. Die Türen öffneten sich und ich bedeutete dem Mann, vor mir auszusteigen. Ich blieb dicht hinter ihm, damit ich ihn notfalls festhalten konnte, falls er versuchen würde, plötzlich wegzurennen. Zusammen mit dem Musiker, der ein paar Münzen in die Tasche steckte, und dem traurigen Mädchen stiegen wir aus.

Meine Kollegin kam allein aus der nächsten Tür, rief mir zu, dass sie jetzt Feierabend machen wird, winkte mir einen kurzen Gruß zu und verschwand in der Menge.

Ich schob den Mann etwas abseits des Trubels in den Schatten.

"Das macht dann 40 €."

"Ich habe kein Geld." Der Mann schaute sich auf dem Ringbahnsteig um, als wolle er sich orientieren.

Ich war enttäuscht. Das verzögert alles ein wenig. "Dann benötige ich Ihren Personalausweis oder Ihren Führerschein."

"Ich habe keinen Personalausweis und auch keinen Führerschein."

Immer noch schaute er sich, während er die Worte emotionslos aussprach, auf dem Bahnsteig um. In diesem Moment blieb sein Blick am Treppenabgang zum Bahnsteig der Stadtbahn nach Erkner haften. Er schien gefunden zu haben, wonach er suchte, denn seine Augen wandten sich mir zu. "Hören Sie bitte", sagte er, "ich habe weder eine Fahrkarte, noch Geld, ich habe keinen Ausweis und auch keinen Führerschein. In wenigen Minuten", sein Blick schweifte kurz zur Bahnhofsuhr, "habe ich hier etwas zu erledigen. Halten Sie mich bitte nicht auf." Seine Stimme blieb leise, wurde aber schärfer.

"So geht das nicht. Wenn Sie sich nicht ausweisen können, muss ich die Bundespolizei rufen, um Ihre Personalien feststellen zu lassen." Ich wurde ärgerlich. Der Feierabend drohte, in weite Ferne zu rücken. In einem ersten Impuls wollte ich ihn laufen lassen, verbunden mit einer mündlichen Verwarnung. Aber ich gab nicht nach. "Sie haben die Bahn ohne Fahrschein benutzt. Dafür ist ein Bußgeld in Höhe von 40 € fällig. Also geben Sie mir bitte etwas, womit Sie Ihre Identität beweisen können!"

"Meine Identität?" Der Mann zog das Wort förmlich durch seine Zähne, als könne er es nicht fassen. "Junger Mann, Sie wollen meine Identität", wieder betonte er jeden Buchstaben, "nicht wissen. Noch nicht." Die letzte Bemerkung wurde von einem drohenden Unterton getragen, der in mir ein ungutes Gefühl erzeugte. Trotz der Wärme zog ich meine Schultern zusammen. Irgendwas an diesem Mann war eigenartig, etwas war anders. Aber ich hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken.

"So nicht, Freundchen", versuchte ich die Initiative wieder zu übernehmen. "Wenn Sie mir nicht sofort Ihre Daten geben, können Sie Ihren Termin vergessen. Dann kümmert sich die Polizei um Sie."

Jetzt veränderte sich sein bisher bewegungsloses Gesicht. Es zeigte plötzlich ein leichtes Lächeln, welches aber nicht die Augen erreichte. Es war kein schönes Lächeln.

"Termine pflege ich immer einzuhalten. Ich bin immer pünktlich zu meinen Verabredungen. Allerdings bin ich für euch meistens immer zu früh." Sein Lächeln wurde hämisch und selbstgefällig, als wäre er sehr stolz auf sich.

Ich wurde etwas unruhig. Was soll ich jetzt machen? Normalerweise würde ich auf dem Handy eine eingespeicherte Nummer wählen und wenig später käme die Polizei, die sich um alles Weitere kümmern würde. Aber irgendwas stimmte mit dem Burschen nicht. Er stand seelenruhig im Halbschatten und schaute mich an. Trotz seiner der Hitze unangemessenen Kleidung zeigte sich auf seinem Gesicht kein einziger Schweißtropfen, während ich sehnsüchtig an die Wasserflasche in meinen Rucksack dachte. Er schien so davon überzeugt zu sein, schadlos aus der Situation herauszukommen, dass er sich nicht mal die Mühe machte, mir irgendeine Geschichte zu erzählen. Seine rätselhaften Reden lösten ein zunehmendes Unbehagen bei mir aus. Irgendwas stimmte mit dem Mann nicht.

"Wer sind Sie?", fragte ich laut. Eine ältere Frau, die, wenige Meter von uns entfernt auf ihre Bahn wartete, schaute erschrocken zu uns hinüber.

"Willst du das wirklich wissen?" Ich nickte, ohne dagegen zu protestieren, dass er plötzlich die Anrede gewechselt hat. "Ich bin der Tod!"

Es war diese eisige Ruhe, mit der er sprach, die mich daran hinderte, lauthals loszulachen.

"Wie bitte?"

"Du wolltest es wissen, jetzt weißt du es."

Langsam gewann ich meine Fassung wieder. "Was soll das? Wollen Sie mich für dumm verkaufen? Das ist doch absoluter Unsinn!"

"Ach ja?" Seine grauen Augen starrten mich jetzt unverwandt an. Seine Stimme war immer noch ruhig, aber man spürte den Zorn, der sie leicht vibrieren ließ. "Was soll daran Unsinn sein? Nur weil du noch jung bist, weil du jeden Morgen die Augen auf machst, weil du dich immer wieder neu verliebst, denkst du, das geht ewig so? Nein, mein Freund, das Einzige, was ewig ist auf dieser und auf jeder anderen Welt, bin ich!"

So unwirklich mir die ganze Situation erschien, versuchte ich doch, sachlich zu bleiben. "Natürlich ist das Unsinn. Überall auf der Welt sterben in diesem Augenblick Menschen. Warum sollte der Tod gerade hier sein, auf diesem Bahnsteig? Das ist doch unlogisch!"

"So, so. Unlogisch." Er fasste sich mit beiden Händen, lang und wohlgepflegt, an die Aufschläge seines langen Mantels. "Dein Verständnis von Logik spielt keine Rolle. Wer sagt dir, dass ich nur hier bin? In diesem Moment bin ich gleichzeitig bei einer alten Frau in einem Schweizer Hospiz. Ich bin gerade bei einem Kind in Somalia, bei einem Junkie in Kolumbien, in einem chinesischen Kohleschacht, in einer amerikanischen Todeszelle. Ich bin in diesem Moment auf einer Entbindungsstation in Südvietnam, denn manchmal bin ich sogar schneller als das Leben. Ich bin überall auf dieser Welt, denn ich habe viel zu tun."

'Der Mann ist vollkommen irre', dachte ich. 'Jetzt noch den Rückzug vorbereiten und dann nichts wie weg.' Ein letzter Versuch noch. "Sie sehen aus wie jeder andere Mensch. Sie reden, laufen, atmen…" Ich brach ab, denn schlagartig wurde mir klar, was anders war an diesem eleganten, schwarzgekleideten Mann unbestimmten Alters, der selbst in dieser Hitze einen langen Mantel und einen Hut mit breiter Krempe trug. Er atmete nicht! Deswegen klang seine Stimme so ruhig und gleichförmig. Er hat die ganze Zeit keinen einzigen Atemzug getan. Ich bekam Angst.

Er bemerkte sofort, dass ich mich verändert hatte. Er kam näher, damit ich sein Gesicht, welches teilweise vom Schatten der Hutkrempe bedeckt war, ganz sehen konnte. "Was denkst du, wie sieht der Tod denn aus? Oh ja, ich kenne Eure Bilder. Eure Figuren. In den Galerien, auf Marktplätzen und Friedhöfen, in Kirchen und Kathedralen. Ihr habt den Tod in Stein gehauen und auf die Leinwand gezeichnet, mit Stundenglas und Sense, mit schwarzem Umhang und Totenschädel unter der Kapuze. Ihr wolltet eurer Angst Herr werden, aber es nützt euch nichts. Am Ende stehe immer ich."

Mit diesen Worten war er ganz dicht an mich heran getreten und zwang mich mit seinem Blick, ihn anzustarren. Plötzlich ging eine Veränderung in seinem Gesicht vor. Der dünne Oberlippenbart und seine Augenbrauen verschwanden. Seine Nase schrumpfte zusammen und verschwand schließlich im Schädel, die Lippen wichen zurück, zogen sich unter die Haut zurück und gaben seine Zähne frei. Die grauen Pupillen in den Augen wurden milchig, die Augenlider wurden in die Höhlen gezogen. Schließlich waren die Augäpfel wie zwei durchsichtige Glaskugeln, bevor sie sich auflösten. Als Letztes verwandelte sich die Gesichtshaut in dürres Pergament, dann ging sie in einer feinen Staubwolke auf. Schließlich blickte mich ein grinsender Totenschädel an, bedeckt von einem breitkrempigen Hut.

Ich war völlig unfähig zu schreien, zu denken, wegzulaufen. Ich starrte unverwandt auf die leeren Höhlen, wo eben noch die Augen gewesen waren, auf die hohlen Wangenknochen, wo eben noch Haut war, auf diesen fürchterlichen Kiefer, wo eben noch ein Mund war, der mit mir sprach. Ich war völlig erstarrt.

Dann hob der Mann eine Hand, zog sich den Hut tiefer, drehte sich um und verschwand in Richtung der Treppe, die er vorhin fixiert hat. Ich konnte ihm nur mit starrem Blick folgen, denn ich war unfähig, auch nur die kleinste Bewegung zu tun. Sein Gesicht muss sich wieder zurück verwandelt haben, denn die Menschen an seiner Seite nahmen keine Notiz von ihm. Am Beginn der Treppe schwenkte er seinen Hut in meine Richtung, aber das kann ich mir auch eingebildet haben. Schließlich verschwand er im Gedränge.

Es hat einige Minuten gedauert, bis ich wieder einigermaßen zu mir kam. Meine Gedanken rasten im Kopf umher. Ich bemühte mich, zu fassen, was eben passiert ist, aber es ging nicht. War das wirklich wahr? Ich wusste es nicht. In diesem Moment ging mir seine Stimme durch den Kopf. "Ich habe in Ostkreuz einen Termin." Da wurde mir klar, welcher Art sein Termin war. Ich riss mich aus meiner Erstarrung los und rannte auf die Treppe zu, auf der er vorhin verschwunden war. Von oben sah ich die S-Bahn nach Erkner in den Bahnhof einfahren. Ich rannte, so schnell ich konnte, stolperte, hielt mich fest, rappelte mich auf, lief weiter und kam auf dem Bahnsteig an. Da hörte ich einen grässlichen Schrei, dem mehrere folgten. Der Zug kam nach einer Vollbremsung in der Mitte des Bahnsteiges zum Stehen. Menschen liefen aufgeregt hin und her, die an der Bahnsteigkante standen, wandten sich mit Entsetzen in den Augen ab und liefen weg. Der Fahrer stieg aus seiner Kabine, blass und schwankend. Ein Blick auf die Vorderfront der Bahn machte mir klar, was eben passiert ist. Ich war zu spät gekommen, doch hätte ich es überhaupt verhindern können? Ich spürte, wie jemand ganz dicht an mir vorbei lief. Er legte mir kurz die Hand auf die Schulter. "Auf Wiedersehen, mein Freund." Ich drehte mich nicht nach ihm um.

 

Ganz hinten am Bahnsteig sah ich einen leuchtend roten Rucksack mit einem fröhlichen Smiley darauf. Das Mädchen war nicht mehr da.

schreibwettbewerb-logo

 

Liebe Freundinnen und Freunde des Ostkreuz- Literaturwettbewerbs,

Welches Thema hat der 11. Schreibwettbewerb, und wann beginnt er endlich?“

wird im „RuDi“ immer wieder nachgefragt.

Heute ist es nun soweit, wir lüften das Geheimnis im Anhang. Dort befindet sich der Aufruf zum neuen Ostkreuz-Literaturwettbewerb.
Drei Monate haben Sie, liebe Schreiberinnen und Schreiber nun Zeit, Ihren Gedanken eine literarische Form zu geben.

Wir wünschen Ihnen viel Erfolg und freuen uns auf Ihre Beiträge.

Die Preisverleihung und Buchpremiere findet am 15. November 2013 statt.

 

Mit besten Grüßen
Ihr RuDi-Team

 

pdf-download Aufruf zum Schreibwettbewerb 2013

Buch 2012 kl

Zehn Jahre Bauen und Schreiben am Ostkreuz

 

Als das Rudi, das damals, 2002, noch in einer ehemaligen Fleischerei – oder war es ein Gemüseladen? – am Rudolfplatz residierte und sich schlicht Kiezladen nannte, zum Schreibwettbewerb aufrief, konnte sich kaum jemand vorstellen, dass aus einem kleinen Projekt einer winzigen Arbeitsgruppe mit dem ambitionsgeladenen Namen "Bürgerbeteiligung" eine über die Jahre traditionsstiftende Institution und einer der alljährlichen Fixpunkte im Leben und Treiben des Rudi-Kiezkulturhauses entstehen würde.

Die Viertel südlich der Stadtbahn, auf der Friedrichshainer  bzw. Lichtenberger Seite der Ringbahn, als strukturschwach eingestuft, gehörten Anfang des Jahrhunderts zu einem EU-amtlichen Fördergebiet und genossen deren Fürsorge. Da der Bahnhof Ostkreuz auf der Grenzlinie lag, wurde er titel- und motivgebend für die Schreibwettbewerbe. Darüber hinaus hatte sich das Ostkreuz damals vehement ins Gespräch gebracht, weil aus dem Um- oder Neubau des Bahnhofs, von dem in den Jahren davor immer nur gemunkelt wurde, jetzt Ernst zu werden schien. Es kursierten die ersten computergenerierten Architektenträume vom neuen Ostkreuz. Für die einen war es reine Zukunftsmusik, andere fanden ihn aufgeräumt und sauber, aber hässlich und entdeckten nun, da der Abriss drohte, ihr Herz für den rostig-herben Charme des alten Bahnhofs. Dieser Widerstreit der Bilanzen zwischen Gewinn und Verlust hält bis heute an.

Die Organisatoren des ersten Schreibwettbewerbs hatten noch keinerlei Erfahrungen in diesem Metier, dieser Mangel musste mit viel Begeisterung für die Sache und doppeltem Eifer in den Kleinigkeiten kompensiert werden. Ein Glücksfall war, dass für den Vorsitz der Jury der Grafiker und Schriftsteller Manfred Bofinger gewonnen werden konnte. Sein untrügliches Gespür für gute Texte und seine emphatische, zuweilen präzeptorhafte Art, es an uns weiterzugeben, war prägend für das Konzept und die Struktur des Wettbewerbs. Aus ihm wurde mit der Zeit ein Art "Stil des Hauses", und der sollte sich dann als so robust erweisen, dass er den Schreibwettbewerb über all die Jahre – kleinere zeitgenössische Modifikationen inklusive – weitergetragen hat.

Bofinger zeichnete uns auch das Logo für den Wettbewerb, das seitdem jede Anthologie schmückt. Dank seiner fassten wir den Mut, im folgenden Jahr auch ohne ihn einen weiteren Wettbewerb auszurufen. Mit Ostkreuz 2020 sollte es diesmal um Zukunftsvisionen, Utopie oder Dystopien, gehen.

Die Titel der einzelnen Wettbewerbe, die zugleich einen Themen- und Motivrahmen für die Beiträge setzen, wurden in intensivem Brainstorming und langen Debatten mit noch längeren Denkpausen dazwischen gefunden. Da gab es das Thema, zu denen jedem Schreiber und jeder Schreiberin sofort etwas eingefallen wäre, andere erwiesen sich als schwieriger.

Obwohl sich dann niemand darüber wunderte, konnte man es als schönes, optimistisches Zeichen deuten und erwähnen, dass der Wettbewerb unter dem Titel Liebe am Ostkreuz (2005) der mit der größten Resonanz war. Zur Liebe am Ostkreuz hatten siebenunddreißig Autorinnen und Autoren etwas zu sagen.

Wenn es nicht ein wenig ungerecht gegen alle Übrigen wäre, bekennte ich hier: Meine Lieblings-Anthologie – die mit den frappierenden Texten darin – sind Warten am Ostkreuz (2006), Ostkreuz im Nebel (2007) und Das Ostkreuzspiel (2008).

Wer den kleinen Stapel der Ostkreuz-Anthologien einmal durchgeht, wird leicht feststellen, dass darin Texte recht unterschiedlicher literarischer Qualität versammelt sind. Die Frage, ob es dem Bild des Wettbewerbs nicht zuträglicher wäre, wenn in den Büchern nur die besten Texte erschienen, kam in den letzten Jahren immer wieder auf, wurde diskutiert und dann letztlich doch verneint. Dies ist ein Wettbewerb der Amateure, hier treffen sich Leute, die es einfach lieben etwas aufschreiben und Freude daran haben, sich Geschichten ausdenken. Ich hätte nichts dagegen, unter den eingehenden Texten ein literarisches Genie zu entdecken oder die Erstveröffentlichung des Nobelpreisträgers von 2055 entgegenzunehmen, aber das ist nicht das Ziel dieser Wettbewerbe. Schreiben ist ein Vergnügen und zugleich ein hartes, einsames Geschäft. Und jeder, der dieses Mühsal auf sich nimmt, einen Text produziert und den Mut hat, ihn einem fremden Leser auszusetzen, verdient unser aller Respekt. Und so bleibt es dabei: die Anthologien versammeln alle eingegangenen Texte.

So ein Jubiläum ist auch eine Gelegenheit, einmal ausdrücklich das zu sagen, was im Alltagsgeschäft so leicht untergeht: Danke!

Ein Dank dem Veranstalter, das Rudi-Nachbarschaftszentrum, dem noch jedes Jahr mitunter schwierige Finanzierung dieses Projekts gelang und ohne dessen Infrastruktur und Hardware, dessen netzwerkliche Verbindungen und Erfahrungen in praktischere Problemlösung das Ostkreuz-Projekt nicht zu dem hätte werden können, was es ist, zumal wenn gelegentlich die Termine eng und die Schwierigkeiten groß wurden.

Den Fachfrauen und –männern  in der Jury, die den Wettbewerb mit ihrem Kenntnisreichtum ehrten und sich die Wahl niemals leicht machten.

Den Meister der schwarzen Kunst, die – gemessen an unseren ausgefallenen Extrawünschen und der mitunter unfachgerechten Konfusion, mit der wir sie vorbrachten – erstaunlich selten die Fassung verloren.

Und nicht zu letzt sie, die Autorinnen und Autoren, ohne die das alles Nichts wäre. Unter ihnen gibt es einige, die immer wieder dabei sind, sogar von Anfang an, und schon zur virtuellen Ostkreuz-Familie gehören. Danke.

Die vorliegende, zehnte Anthologie nun ist den Ostkreuz-Verschwörungen gewidmet, und es war erstaunlich zu lesen, welch unterschiedliche Begriffe man von diesem Wort haben kann: stille Zweierverschwörungen auf dem nächtlichen Bahnhof, die massenhafte Verschwörung einer Nagerspezies, die ihr angestammtes Biotop mit ausgeklügelten Terroraktionen verteidigt, die Ostkreuz-Akademiker, der wohl sämtliche einschlägigen Verschwörungstheorien verinnerlicht hat und sie in einem nicht enden wollenden Redeschwall über einen arglosen S-Bahn-Reisenden ergießt oder der kabbalistische Buchstaben- und Primzahlenversteher, der sich mit seinen Rechenkünsten in eine tragisch endende Paranoia stützt… . Viel Stoff für eine verschworene Ostkreuz-Schreiber-Leser-Gemeinschaft!

 

Rainer Fischer Berlin, im September 2012

 

Kerstin Janke
Von Menschen und Ratten

 

Noch atmete der junge Morgen ruhig. Langsam, gemächlich und unbeschwert. Die Luft war angenehm kühl, obwohl die ersten Sonnenstrahlen bereits mutig über den Horizont kletterten.

Mit gedämpftem Ehrgeiz trat Uwe seinen Frühdienst auf der Baustelle am Ostkreuz an. Allzu chaotisch waren die letzten Wochen verlaufen. Unzählige kleine und große Zwischenfälle brachten den Verkehr und die Bautätigkeiten am Ostkreuz immer wieder beinahe zum Erliegen. Ständig hetzte Uwe, als Baustellenleiter verantwortlich für das reibungslose Zusammenspiel aller Beteiligten, von einem Stromausfall zum nächsten abgerissenen Kabel, um den Fehler zu suchen und die Reparatur zu veranlassen.

Es war wie verhext. Es schien, als wolle einfach nichts recht klappen. Dabei hatten er und seine Kollegen die Stromkreise, Schaltkästen, alle Leitungen, alle Dichtungen und auch jedes noch so kleine Detail hundertfach geprüft, getauscht, repariert. Und das alles kurz bevor diese wichtige Bauzwischenabnahme anstand. Unmissverständlich hatte sein Chef ihm klar gemacht, was passieren würde, wenn sich der Fertigstellungstermin des Bahnhofes wegen dieser, wie er es nannte, "kleinen technischen Unwägbarkeiten" erneut verschieben würde. Längst standen nicht mehr nur die Jobs des ganzen Teams auf dem Spiel, sondern die Existenz des Bahnhofs Ostkreuz. Inzwischen waren die Kosten für den Umbau derart explodiert, dass der Vorstand der Deutschen Bahn bereits die Aufgabe des gesamten Projektes diskutierte. Die "Unwägbarkeiten zeigten sich zunehmend unkalkulierbar" hieß es. Von Umgehungsstrecken war die Rede und verstärkter Umlagerung des Verkehrs auf Busse und Straßenbahnen. So wütend hatte Uwe seinen Chef noch nie erlebt. Richtig geschrien und getobt hatte er. Vor dem versammelten Team. Peinlich war das.

So atmete Uwe einmal tief durch, setzte dem genervten Privatmann eine professionell emotionslose Miene auf und schloss seinen kleinen Kontrollraum auf. Drinnen erwartete ihn ein Stapel Notizen, voll gekritzelt mit all den Vor-, Zwischen- und Ausfällen, die der Nachtdienst unerfüllt hatte zurücklassen müssen. Wie jeden Tag würde er es mit gerissenen Stromleitungen, unerklärlichen Kurzschlüssen, mysteriösen Fehlschaltungen, fehlenden Sicherungen und allerlei anderem lästigen Krimskrams zu tun haben. Und nicht zu vergessen der administrative Aufwand, der sich daraus ergab: Jede Schadstelle musste nicht nur behoben, sondern fotografiert, protokolliert und beurteilt werden.

Eben als Uwe seinen Administrations-Koffer mit den notwendigen Utensilien bestückte, klopfte es. Ah, prima, der Kammerjäger war pünktlich. Er würde heute vor allem die zahllosen gerissenen und zerfransten Kabel besichtigen. Sollte sich der Verdacht bestätigen, dass diese das Werk vorwitziger Mäuse oder Ratten sei, würde er eine Strategie erarbeiten, wie dem Getier effektiv beizukommen sei. Nun denn, frisch ans Werk.

Während Uwe mit dem Kammerjäger umherzog, rumpelten die ersten S-Bahnen durch den von jahrelangen Bauarbeiten schwer gezeichneten Bahnhof. Neuerdings erhob sich zwar immerhin schon die neue Bahnhofshalle selbstbewusst und formschön in den Himmel, aber dennoch, der Bahnhof ächzte spürbar unter der täglichen Doppelbelastung aus Verkehr und Baustelle.

'Wenn das doch nur endlich ein Ende hätte', dachte auch Uwe, als er gemeinsam mit dem Kammerjäger immer neue lose Kabelenden entdeckte. Längst hatte der Fachmann sein Urteil gefällt. Hier waren in der Tat Ratten und Mäuse am Werk.

Ob es hier vorher nie Probleme mit dem Nagetier gegeben habe, wollte der Kammerjäger wissen. Bei der Menge an Schäden müssten die Biester hier recht zahlreich hausen. Längst hätte dies auffallen müssen. Nein, Uwe konnte sich an derlei Zwischenfälle in früheren Jahren nicht erinnern. Im Augenwinkel nahm er einen Schatten wahr, der geschmeidig durchs Gleisbett huschte und zwischen allerlei aufgeschüttetem Müll verschwand.

"Kein Problem", bescheinigte indes der Kammerjäger, ein wenig Gift hier und ein bisschen mehr Gift da und man habe das Problem schnell im Griff. Diese Aussicht stimmte Uwe zufrieden, schließlich warteten genug andere Probleme auf ihn.

Doch die Tage verstrichen, ohne dass sich auch nur ein Getier in eine der sorgfältig geplant und ausgelegten Nagetierfallen verirrte. Nicht einmal ein Zufallstreffer, ja nicht einmal eine beim Versuch eine Ratte zu fangen zwar gescheiterte aber wenigstens zugeschnappte Falle. Nichts. Indes die Anzahl der Bissschäden hatte weiter zugenommen. Als Uwe deshalb erneut mit dem Kammerjäger seine Runde drehte, klingelte sein Mobiltelefon. Bereits dieses Läuten schien ihm nervöser, gar aufdringlicher zu sein, als sonst. Mit einem unguten Gefühl meldete er sich. Und in der Tat: Bernhard, als Polier zuständig für den scherzhaft Südkurve genannten Teil der Baustelle, konnte seine Verzweiflung kaum im Zaum halten, als er die schlechte Nachricht überbrachte. Alle Sicherungskästen auf dem Südgelände seien derart zerfleddert, dass alles — und hier musste er regelrecht nach Luft schnappen, um überhaupt weiterreden zu können — neu gemacht werden musste.

"Shit", entfuhr es Uwe. "Ich bin gleich da."

Er zerrte den Kammerjäger mit sich und ließ sich nur wenige Minuten später von dem Polier über das Ausmaß der Schäden informieren. Regelrecht zerfetzte Stromkästen, die üblichen scheinbar zerbissenen Zuleitungen, auf weiten Strecken abgerissene Isolierungen und haufenweise verteilter Müll. Uwe brachte kein Wort heraus. Der Kammerjäger schüttelte den Kopf. Minuten vergingen, ehe er der erste war, der seine Sprache wiederfand:

"Also wenn ihr mich fragt, hat das Rattenbefall nichts mehr zu tun. So viele Ratten können an einem Ort gar nicht leben, dass sie in einer Nacht ein solches Chaos anrichten können." Er wandte sich zum gehen und fügte seine Zusammenfassung des Ganzen einem Todesstoß gleich noch an: "Ihr habt hier keine Ratten, ihr habt ein echtes Problem."

Uwe musste sich setzten. Das konnte, das durfte einfach nicht wahr sein. Er erwog, seinen Job hinzuschmeißen und einfach nach Hause zu gehen. Er hatte echt einfach keine Lust mehr.

"Chef, was nun?" riss ihn der Polier aus den verzweifelten Gedanken. Uwe schloss kurz die Augen und zwang sich, professionell zu reagieren.

"Nimm dir alle Leute zusammen, die du finden kannst. Bis heute Mittag möchte ich eine detaillierte Aufstellung über die Schäden samt realistischer Einschätzung, wie lange die Reparatur dauert. Ich rechne dann aus, was uns der Spaß kostet und leite alles in die Wege."

Bernhard nickte und tat, wie ihm geheißen. Uwe kehrte unterdessen in seinen Kontrollraum zurück. Er arrangierte Termine mit mehreren Gutachtern für den Nachmittag, um endlich genau herauszufinden was hier vorging. Er verständigte die Polizei, da er davon ausging, dass eine Gruppe Jugendlicher des nachts in die Baustelle eingedrungen war und randaliert hatte. Ebenso hielt er es für vorstellbar — auch wenn ihm dieser Gedanke unangenehm aufstieß —, dass die seit Jahren genervten Anwohner jetzt plötzlich zu anderen Mitteln als dem friedlichen Protest gegen die Großbaustelle übergegangen waren. Und, ganz wichtig, er organisierte Verstärkung für den Wachdienst. Fast zwanzig breitschultrige Gesellen würden in den kommenden Nächten die Augen und Ohren offen halten. Und natürlich informierte er seinen Chef, der — es überraschte nicht — einen Tobsuchtsanfall erlitt, böse Beschimpfungen über Uwe ergoss und schließlich seine Nachmittagstermine absagte, um vor Ort den Gutachtern auf die Finger zu sehen.

Nach einem langen Tag sank Uwe später Zuhause in seinen Sessel. Nicht einmal Fernsehen würde ihn heute ablenken können. Die drei Gutachter hatten vier Meinungen und sein Chef sah die Sache noch mal ganz anders. Bissspuren von Ratten wollte einer identifiziert haben, der andere Mäusekot und der dritte erzählte gar etwas von Füchsen, die sich dem Stadtleben immer mehr anpassten. Erstaunlich einig waren sie sich allerdings, dass nur menschliche Gewalt in so kurzer Zeit ein solches Ausmaß an Verwüstung anzurichten imstande sei. Doch warum hatten weder Pförtner und Wachleute noch die Kollegen des Nachtdienstes irgendetwas bemerkt? Sollten sie etwa tatsächlich mit unter dieser unheimlichen Decke stecken und gar mit den Randalierern gemeinsame Sache machen? War er einer Verschwörung auf der Spur? Er konnte und wollte das nicht zu Ende denken, zu gewagt, zu unwahrscheinlich erschien es ihm.

Sein Mobiltelefon riss ihn aus dem Schlaf. Er saß noch immer in seinem Sessel, musste wohl eingenickt sein. Er brauchte nicht aufs Display zu sehen, um zu wissen, dass am Ostkreuz irgendetwas passiert war. Als er das Gespräch annahm, dachte er, er wäre auf alles gefasst. Doch der Ton des leitenden Wachmanns ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen.

"Chef?"

"Ja, ich bin dran."

"Es ist besser, wenn du gleich herkommst. Ich meine sofort, jetzt."

Uwe erschauderte. Ohne ein weiteres Wort legte er auf und fuhr los.

Am Ostkreuz angekommen, hatte er keine Mühe den Ort des Geschehens zu finden. Jede verfügbare Beleuchtung war an der betroffenen Stelle eingeschaltet, man hätte meinen können, ein Ufo wäre vom Nachthimmel gefallen. Uwe erschrak, als er sah, dass sich das Blaulicht von Polizei und Feuerwehr zum allgemeinen Trubel gesellte. Sogar eine kleine Schar von schaulustigen Nachtschwärmern hatte sich bereits zusammengefunden und starrte auf das unglaubliche Schauspiel direkt vor ihnen.

Uwe rannte los und erreichte atemlos den Tatort. Pures Chaos erwartete ihn an der Südbrücke — beziehungsweise dort, wo noch gestern die Südbrücke gestanden hatte. Er traute seinen Augen nicht und hatte Mühe Luft zu holen, denn was er sah, war ungeheuerlich: Die Südbrücke war eingestürzt! Einfach weg. Die Trümmerteile hatten sich weiträumig auf den darunterliegenden bis dato nagelneuen Gleisen verteilt. Mehrere Sicherungskästen standen in Flammen, man vermutete zwei verschüttete Bauarbeiter. Schon jetzt war sich Uwe sicher, dass dies das Ende sein würde. Sein letzter Tag als Bauarbeiter und der letzte Tag der legendären Ostkreuz-Baustelle. Wer immer hier seine Finger im Spiel hatte, er hatte gewonnen.

Als einige Stunden später ein wenig Ruhe einkehrte, saß Uwe allein am Rand der Unglücksstelle und starrte dorthin, wo einst eine Brücke stand. Die Feuerwehr hatte alles gelöscht, beide Bauarbeiter waren glücklicherweise nur leicht verletzt in ein Krankenhaus gefahren worden. Das Bauamt hatte den Schaden begutachtet, seine Beurlaubung dringend angeregt, eine Befragung der Wachmannschaft hatte nichts ergeben. Es war ein Rätsel. War es am Ende einfach Pfusch am Bau? Bissschäden und zerstörte Stromkästen würde dies nicht erklären.

So saß Uwe eine ganze Weile dort, dachte nach und betrachtete jedes Detail der Einsturzstelle. Was nur hatte er übersehen? Im Augenwinkel nahm er eine schnelle Bewegung war. Als er den Kopf in die Richtung drehte, sah er gerade noch eine Ratte in ein Loch am Rande des Grabens verschwinden. Er wünschte sich, sie wären das Problem gewesen, denn mit einfachen Mitteln hätte man ihrer Herr werden können.

Und da noch eine Ratte. Und noch eine. Ein paar Mäuse huschten ebenfalls in das Loch. Ungewöhnlich, dachte Uwe, Ratten und Mäuse in derselben Höhle? Und dann sah er sie: Eine besonders große, fette Ratte marschierte gemächlichen Schrittes über die Trümmer. Als sie kurz vor dem Loch war, hielt sie inne und sah zu Uwe hinüber. Man hätte meinen können, sie starrte ihn regelrecht an. Später würde Uwe selbst daran zweifeln, ob er es wirklich erlebt hatte oder nicht, aber bevor die Ratte zu den anderen in das Loch schlüpfte, ging sie langsam auf ihn zu, fauchte ihn heftig an und verzog ihr Gesicht zu einer schaurigen Grimasse. Uwe stockte der Atem. Ja, er meinte tatsächlich, die Ratte spöttisch grinsen zu sehen.

Denn niemand würde je herausfinden, was genau in diesem Moment in der weiten Höhle abspielte, die sich hinter dem unscheinbaren Eingang an der Brückeneinsturzstelle befand. Tausende und Abertausende Ratten und Mäuse hatten sich hier versammelt. Gezischel, Gefauche und gar Gekreische beherrschten die Szenerie. Hier und da gab es Gerangel und Geschubse, war doch der Platz zu eng für diese große Anzahl an Tieren.

Schon heute würden die meisten einzelnen Gruppen wieder in ihre eigenen Jagdgebiete zurückwandern. Denn ihre Mission war erfüllt. Ihre Mission zu der sie sich hier zusammengefunden hatten: Die Vernichtung des Bahnhofs Ostkreuz. Nur deshalb hatten sie sich hier vorübergehend zusammengefunden und sich gegen die Menschen verschworen. Denn der neue Bahnhof würde mehr Sauberkeit, mehr Menschen und mehr S-Bahn-Verkehr mit sich bringen. Das war so nicht hinnehmbar.

Lange Monate Vorbereitung hatte es sie gekostet. Komplizierte Angriffspläne mit ausgeklügelten Ablenkungsmanövern, speziell formierte Task Forces für Sondereinsätze und lange Listen über die Stellen, an denen Fallen aufgestellt worden waren, wann die meisten Menschen die S-Bahnen benutzten und wann wie viele Bauarbeiter im Dienst waren. Besonders der Brückeneinsturz war eine Meisterleistung: Hunderte Tiere hatten zeitgleich die gesamte Stützkonstruktion untergraben und Sicherheitsbefestigungen gekappt, alles undercover. Was für ein Spaß.

Und sie hatten die Menschen überschätzt. Die heran geschleppten Vorräte hätten noch für viele weitere Wochen Einsatz gereicht. Doch nun war es geschafft: Der Bahnhof Ostkreuz war ein Opfer der Nagetiere geworden. Der neuen gemeinsamen Kraft bewusst, philosophierten die ersten Tiere bereits, was man mit dem Hauptbahnhof anstellen könne…


 

Katharina Triebe
Falsches Spiel

 

"Liebe Mitreisende, hier spricht Ihr Triebwagen-Scout Michael Heinevetter. Ich begrüße Sie aus dem Cockpit der Ringbahn S42 und wünsche Ihnen im Namen unseres gesamten Bahnpersonals einen wunderschönen guten Morgen. Bitte lehnen Sie sich entspannt zurück und genießen Sie den Blick durch die frisch geputzten Scheiben Ihres Waggons!"

"Dear passengers, your driver Mike Heinevetter is speaking. I say hallo from the cockpit of the circle train S42, wishing you a wonderful good morning and a relaxed trip. Enjoy a clear view through the freshly cleaned windows of your wagon."

Die Fahrgäste in der Ringbahn sahen sich irritiert um – überrascht von so viel Freundlichkeit an so einem Ort zu so früher Stunde. Wieder meldete sich die Lautsprecherstimme: "Meine sehr verehrten Fahrgäste, wir haben uns etwas ganz Besonderes für Sie ausgedacht. Von heute an werden wir Sie während der Fahrt mit einem exklusiven, weltweit einmaligen Serviceprogramm verwöhnen. Lassen Sie sich überraschen." Bevor sich die Fahrgäste versahen, erscholl bereits Karel Gotts Biene Maja durch die Lautsprecher der Waggons. Was war heute nur los in der S-Bahn? Die Reaktionen fielen unterschiedlich aus. Manch ein Lesender faltetet genervt seine Zeitung zusammen, Jugendliche fühlten sich beim Telefonieren gestört. Doch viele Mitreisende lächelten. Ja, als Karel Gott bei der zweiten Strophe angelangt war, begann die Generation 40 plus bereits mitzusummen, Wildlederschuhe, Damenpumps und Pfennigabsätze klopften zart den Takt mit. Bei der dritten Strophe konnte der genaue Betrachter bereits erste Schunkelbewegungen in den Reihen der stehenden Gäste beobachten. Ledermäntel, Strickpullover und Outdoorjacken folgten verstohlen dem Rhythmus der Gott'schen Klänge.

Nächste Station Ostkreuz. Die Musik setzte aus, Leute drängten raus und wieder hinein. Unter ihnen auch ein junger Mann in Uniform, auf seiner Mütze die Aufschrift "Ticket-Scout". "Die Fahrscheine bitte!, Your ticket please, votre billet, s'il vous plaît", scholl seine Stimme durch den Waggon. Doch wer jetzt ein entschiedenes "Tut mir leid, wennse keenen jültigen Fahrausweis besitzen, müssense nächste Station mit raus und Strafe bezahlen!" erwartete, wurde getäuscht. Der Ticket-Scout wandte eine völlig neue Kontrolltaktik an, die so genannte "Positivkontrolle". Wer einen gültigen Fahrausweis vorzeigte, bekam einen Gutschein, den er später am Ostkreuz-Kiosk am Ausgang Sonntagstraße gegen ein Erfrischungsgetränk seiner Wahl einlösen konnte. Wer keinen Fahrschein besaß, bekam keinen Gutschein, wurde aber auch nicht mit einer Geldbuße belegt, sondern mit einem aufmunternden Schulterklopfen und einem Handzettel bedacht, auf dem der nächstgelegene Ticketautomat genannt war. Dieses neue Bonussystem nannte sich Pro(st)-Fahrschein und kam ausgesprochen gut an bei den Fahrgästen. Einige Stationen später traten mehrere "Service-Scouts" in die Waggons, die die Aufgabe hatten, sich um die Bequemlichkeit der Gäste zu bemühen und noch leere Plätze zu vermitteln. "Gnädige Frau, in Fahrtrichtung rechts ist gerade ein Fensterplatz frei geworden, darf ich Sie dorthin begleiten?" Oder "Mein Herr, Sie gestatten, dass ich Sie von der alten Zeitung unter Ihrem Fuß befreie?" oder an drei kräftige kahlköpfige Bauarbeiter gewandt "Bitte nehmen Sie doch die junge Dame zu sich, es ist ja noch genügend Platz neben Ihnen". Ein rothaariger Bartträger ohne Deutschkenntnisse, vermutlich irischer Herkunft, versuchte herauszubekommen, wie er zum Lehrter Bahnhof käme. Die Service-Scouts riefen sofort per Funk einen englisch sprechenden Scoutkollegen heran, der bereits drei Stationen später zustieg und dem Barbarossa den Weg erklärte. Als sich draußen dunkle Wolken zu einem Gewitter zusammenschoben, verteilten die Service-Scouts so genannte Pfandschirme, die man für einen Euro erwerben und bei Sonnenschein dann wieder zurückgeben konnte. Selbstverständlich bekam man dann auch den Euro zurück. Es gab dezent karierte für die Herren und rot gepunktete für die Damen, die durch ihre Farbgebung den Teint zusätzlich vorteilhaft betonten. Auf beiden Schirmsorten war auch ein Foto vom Baugeschehen am Ostkreuz abgebildet, darunter die Aufschrift "Wer Ringbahn fährt, fährt nie verkehrt".

Die Reisenden waren starr vor Staunen. Misstrauische Gesichter überall, viele glaubten zu träumen. Doch am nächsten und übernächsten Tag das gleiche Spiel. Man witterte eine groß angelegte Verschwörung. Im Internet kursierten Gerüchte über Twitter, dass Bahnchef Grube Fahrpreiserhöhungen plane und mit dieser Taktik die Leute bei Laune halten wolle. Andere wieder vermuteten, dass die Piraten dahinter steckten und mit dieser Strategie Wählerstimmen für die nächste Bundestagswahl gewinnen wollten.

Überraschendes offenbarte sich den Passagieren vor allem am Ostkreuz. Überall hingen Werbetafeln mit verblüffenden Sprüchen wie: "Die S-Bahn kommt, steig nur schnell ein, wirst vor dem Chef auf Arbeit sein", oder "Wanderer, kannst nach langem Marsch du nicht mehr gehen, mach's dir in der Ringbahn nur recht bequem" oder "Lass dein gültiges Ticket sehn und du wirst nicht durstig nach Hause gehen". Alles in allem eine Entwicklung, die mit einer gewissen Erregung, aber durchaus auch wohlwollend aufgenommen wurde.

Bereits nach einer Woche war Erstaunliches zu beobachten. Fahrscheinkontrolleure waren nicht mehr gefürchtet oder gar körperlicher Gewalt ausgesetzt, nein, wenn sie einen Waggon betraten, erscholl stürmischer Applaus, Bravo-Rufe erklangen. Jeder wollte als erster seinen gültigen Fahrschein zeigen – und einen Gutschein kassieren. Abends bildeten sich dann lange Schlangen am Getränkekiosk Ausgang Sonntagstraße, um die Gutscheine gegen ein Erfrischungsgetränk einzulösen. In allen Zeitungen wurde das neue Serviceorientierte Verhalten der S-Bahn gelobt. Im Topmanagement des Eisenbahnbundesamtes herrschte ausgelassene Stimmung; die neue "Charmoffensive Ostkreuz" war offensichtlich ein voller Erfolg. Monatelange Diskussionen und detaillierte Planungen waren dieser Offensive vorangegangen – und vor allem eines – strengstes Stillschweigen war vereinbart worden. Zu oft schon hatte die S-Bahn ihre Fahrgäste enttäuscht. Diesmal sollte der ganz große Coup gelandet werden, und dass das gelungen war, zeigten die rasant ansteigenden Fahrgastzahlen. Ein duales Studium bei der Bahn besaß plötzlich höchste Attraktivität und löste den Traumberuf "Topmodel" vom ersten Platz ab. Horst Bäumlich, der Leiter des Eisenbahnbundesamtes, wurde für das Bundesverdienstkreuz in Silber vorgeschlagen.

Schulzki fuhr den Laptop runter, klappte ihn zu und legte ihn in den Aktenkoffer. Er warf einen letzten prüfenden Blick auf den aufgeräumten Schreibtisch, nahm das Jackett vom Haken und verließ sein Büro. Mehr als zwanzig erfolgreiche Jahre hatte er im Gebäude des Eisenbahnbundesamtes gearbeitet, in den letzten Monaten allerdings hatte sich die Situation gewandelt und die Freude an der Arbeit war einer starken Unsicherheit gewichen. Er würde nicht wieder zurückkehren an diesen Ort, sein Entschluss stand fest.

Draußen schien die Abendsonne. Es war schon einige Minuten nach 18 Uhr; in einer knappen Stunde wollte er bereits bei Vorstetten in der Redaktion sein. Im Taxi entspannte er sich endlich, wenn alles gut lief, war er morgen bereits in der Schweiz und fing ein neues Leben an. In der Axel-Springer-Straße hielt das Taxi vor dem Redaktionsgebäude der BILD-Zeitung. Schulzki zahlte und legte noch ein kleines Trinkgeld drauf. Im Foyer der Redaktion steuerte er auf den Empfangstresen zu. "Schulzki mein Name, Herr Vorstetten erwartet mich." Er bekam einen Besucherausweis ausgehändigt und fuhr ins 5. Obergeschoss, Raum 134. Ein Schild an der Tür verkündete: "BILD-Zeitung, Redaktion Wirtschaft, Dr. Jürgen Vorstetten". Auf sein Klopfen ertönte eine Stimme von drinnen: "Herein mit Ihnen". Vorstetten zeigte einladend auf einen Sessel an seinem Schreibtisch, nahm ebenfalls Platz und kam sogleich zum Kern der Sache: "Wenn das stimmt, Herr Schulzki, was Sie da gestern am Telefon angedeutet haben, dann sind Sie in Kürze ein reicher Mann und ich habe eine Topstory für die Titelseite. Schießen Sie mal los – Sie gestatten, dass ich mein Aufnahmegerät laufen lasse?" Schulzki nickte und erzählte.

Er war als Abteilungsleiter "Ostkreuz-Koordinierung" direkt dem Leiter des Eisenbahnbundesamtes, Horst Bäumlich, unterstellt. Seit mehr als 7 Jahren gingen alle Fäden zum Thema "Baugeschehen Ostkreuz" durch seine Hand. Jede Planänderung, jeder Neuvorschlag und sämtliche Budget-Abstimmungen wurden von beiden gemeinsam diskutiert, geprüft, bestätigt oder abgelehnt. Das hatte jahrelang wunderbar geklappt – bis vor einigen Monaten. Seitdem schien Bäumlich Geheimnisse vor ihm zu haben. Als Letzterer mit der "Charmoffensive Ostkreuz" ganz groß rauskam, erntete er allein die Lorbeeren und das höchste Lob, während Schulzki sich seltsam ausgeschlossen fühlte. Irgendwas stimmte da nicht, nur was? Woher nahm die Bahn plötzlich soviel Geld, dass sie ihren Fahrgästen diesen extravaganten Service anbieten konnte ? Er grübelte und beobachtete, ließ Horst Bäumlich und dessen Sekretärin Mandy-Vanessa nicht mehr aus den Augen, bis ihm schließlich das Glück lachte. In einem Moment, als die Sekretärin vor dem Eisenbahnbundesamt eine Rauchpause einlegte und Horst Bäumlich auf einer Dienstbesprechung weilte, betrat er kurz entschlossen das leere Sekretariat und fand, was er suchte – Hintergrundinformationen zur "Charmoffensive Ostkreuz".

"Ich habe Ihnen davon Kopien mitgebracht." Schulzki reichte Vorstetten eine Mappe mit Dokumenten, die dieser eifrig ergriff. "Kurz gesagt", fuhr Schulzki fort, "handelt es sich um ein Komplott zwischen dem Regierenden Bürgermeister und dem Leiter des Eisenbahnbundesamtes. Da der Flughafen Berlin Brandenburg International nicht rechtzeitig zum 3. Juni 2012 fertig wurde, geriet der Regierende Bürgermeister als Aufsichtsratsvorsitzender unter schwerste Kritik, Rücktrittsforderungen wurden laut, Negativschlagzeilen über ihn prangten auf den Titelseiten aller Tageszeitungen. Um das Medieninteresse von sich abzulenken, war der Regierende auf den Leiter des Eisenbahnbundesamtes zugegangen und hatte ihn aufgefordert, das Geld für den Börsengang der Deutschen Bahn sofort in eine 'Charmoffensive Ostkreuz' zu investieren. Als Gegenleistung dafür versprach er ihm, dass die Bahn bei der Ausschreibung der Linien S41, 42 46, 47 und 8 ab Ende 2017 den Zuschlag erhalten würde. Konkurrenten wie Veolia und die BVG würden keine Chance haben."

"Sie sehen ja, wie sich Bäumlich entschieden hat", endete Schulzki. Vorstetten war dem Bericht mit Spannung gefolgt und strahlte schließlich über das ganze Gesicht. Das war tatsächlich eine spektakuläre Story, damit konnte er bei der Veröffentlichung ordentlich punkten und womöglich auf den demnächst frei werdenden Chefredakteursposten hoffen. Er schlug Schulzki begeistert auf die Schulter. "Famose Story, Schulzki, die ist mir eine Million Euro wert." Auf der Stelle holte er ein Scheckformular aus dem Schreibtisch heraus. "Haben Sie schon Pläne?" Schulzki lachte geschmeichelt. "Morgen geht’s ab in die Schweiz", antwortete er stolz und bat noch schnell darum, die Währung von Euro auf Schweizer Franken zu korrigieren, da der Wechselkurs momentan so ungünstig sei.

Nach einem letzten Händedruck verließ er die Redaktion hochzufrieden mit dem Scheck. Vorstetten ging kurz darauf ebenfalls hinaus, im Aktenkoffer die Kopien der Unterlagen und das Tonband. Sein Auto wartete in der Tiefgarage. Er legte den Aktenkoffer auf den Rücksitz und fuhr in Richtung Alt-Stralau, wo er eine Eigentumswohnung besaß. Das Wetter hatte umgeschlagen, keine Spur mehr von mildem Spätsommer. Regen peitschte auf die Straße. Auf dem Markgrafendamm, kurz vor dem S-Bahnausgang, wo die Kurve rechts herum zum Wasserturm führte, war ihm, als laufe ein Schatten direkt auf ihn zu. Er riss das Lenkrad erschrocken nach rechts, geriet ins Schleudern und krachte ungebremst gegen den Brückenpfeiler.

Der Wagen war sofort Schrott und auch für Vorstetten kam jede Hilfe zu spät.

 

Schulzki nahm am Flughafen Tegel die 22-Uhr-Maschine nach Zürich, löste am nächsten Morgen bei der dortigen Credit Suisse seinen Scheck ein und eröffnete ein Konto für die Million. Er hatte bis auf Weiteres ein Zimmer in einem kleinen unscheinbaren Hotel genommen. Eine Weile wollte er dort wohnen und die Situation in Deutschland aus der Ferne beobachten. Spätestens zu Weihnachten jedoch würde er sich ein Haus am Genfer See kaufen und sein Leben genießen. Gesagt, getan. Jeden Morgen holte er sich im Tabakladen neben dem Hotel ein BILD-Zeitung und suchte die Topstory zum Ostkreuz. Sie erschien niemals.


 

Peter Grünwald
Die Ostkreuz-Akademie

 

Verzeihen Sie, dass ich Sie anspreche Verehrtester, aber mir ist nicht entgangen, dass Sie seit geraumer Zeit auf dieses Loch im Erdreich starren. Ja, das da unten, gleich neben Gleis vier der Stadtbahn. Das gibt ihnen zu denken nicht wahr? Mir auch! Aber man kommt nicht ran. Zu viele Zäune. Nachts schleichen hier Wachmänner herum, in Operettenpolizistenuniformen, und die sind noch gefährlicher als echte Bullen. Aber von ein paar Graffitikünstlern und Aerosoljunkies, die hier ihr Revier haben, weiß ich, dass das Loch mindestens dreißig Meter tief ist. Wozu zum Henker braucht jemand ein Dreißigmeterloch auf einem Bahnhof, frage ich Sie. Die denken das merkt keiner, aber irgendjemand merkt immer was. Verlassen Sie sich drauf. Und unter denen sind Typen, die sind noch viel verrückter als Sie und ich. Ich meine jetzt nicht die Schwachköpfe in den Liegestühlen, die nachts Ufos suchen, sondern echte Autisten, menschliche Taschenrechner. Denen entgeht nichts. Die können ihnen locker vorrechnen, dass man von dem ganzen Beton und all den Stahlprofilen, die sie hier herangekarrt haben, mindestens drei Ostkreuze hätte bauen können. Wo ist das Zeug geblieben, frage ich Sie, und unter denen gibt es ein paar verdammte Genies, die mühelos das unverbundene verbinden können und deren Theorie ist, dass sich unter der Ringbahn ein Teilchenbeschleunigertunnel befindet, so wie der vom Cern in der Schweiz. Nur eben, dass dieses Ding geheim ist und kein Schwein etwas davon mitkriegen darf. Und wenn man fragt, wird das nicht etwa bestätigt oder dementiert, sondern es heißt nur "Schnauze halten". Aber vielleicht dient das Gerücht vom Teilchenbeschleuniger nur dazu, eine noch größere Geheimsauerei zu vertuschen.

Ausgrabungen sind auch eine gute Tarnung. Man setzt während der Bauarbeiten die Nachricht von einem bedeutendem historischen Fund in die Welt, dann ein großes Zelt über das Loch und darunter können sie dann sonstwas anstellen. Archäologen, dass ich nicht lache. Archäologen graben etwas aus, aber diese Typen haben Dinge verbuddelt, das weiß ich. Ich habs gesehen! Um einen Teilchenbeschleuniger zu betreiben braucht man ein paar Millionen Gigawatt, deren Stromrechnung muss saftig sein.

Und dann der Typ, vom BND, der hier eine zeitlang herumgelungert hat. Sein Codename war Pastor von Pullach. Ja, so bizarr sind die da. Er nannte sich Überläufer, entwichener Patient trifft vielleicht eher zu. Jedes mal wenn er mit uns redete, begann er mit diesem Satz: "Falls sie je gefragt werden ob dieses Treffen stattgefunden hat, werden sie das strikt verneinen!" Und das Zeug das er redete, großer Gott. Er und die paar Freaks, die immer um ihn herum waren, die hatten manchmal wirklich erstklassige Informationen über Staatsgeheimnisse, Ufosachen und so, aber ihre Ideen waren überwiegend gespenstisch. Das waren die schlimmsten Paranoiker denen ich je begegnet bin. Lauter Wahrheiten für die die Menschheit noch nicht reif ist, aber es soll ja auch Leute geben, die denken Punto di Fuga sei ein Dorf in der Toscana. Armer Alberti. Mit denen kannst du auch nicht Cluedo spielen. Die rechnen dir vor, dass nur das Opfer der Täter sein kann und denken Sie nicht wir hätten die nicht gewarnt.

Die Gestalten in Schutzkleidung, immer nachts mit ungekennzeichneten Fahrzeugen "Lasst das Zeug doch einfach drin", haben wir gesagt, aber sie ließen es rausholen, säubern und einpacken und nahmen es mit die Trottel. Da halfen auch die Protestbriefe eines Indianerstamms aus Tierra del Fuego und Tonnen ethnologischer Gutachten nichts. Die hielten den Chupacabra für ein Märchen. Nur die Ratten waren schlauer. In jener Nacht hat eine Million Ratten das Ostkreuz verlassen. Ihr panisches gepiepse gellt mir heute noch in den Ohren, es war widerlich.

Eine Amaru-Urne ist so etwas wie die Büchse der Pandora, die stellt man nicht beschriftet in eine Vitrine sondern lässt sie da wo sie ist und vergisst sie möglichst. Manche Dinge sollten lieber begraben bleiben.

Sie kennen doch diese Stände mit französischem Backwerk, die gibts auf jedem Bahnhof: "Warum?" … frage ich Sie, da ist doch was faul. Neben so einem Stand haben sie neulich Paul gefunden.

Paul war auch einer von diesen Irren die hier herumhängen alles anstarren ohne dass man ihnen anmerkt was sie sich dabei denken. Die kritzeln dir eine Thermodynamikgleichung auf einen Bierdeckel aber wenn du denen eine Zahnpastatube zeigst wissen sie nicht was das sein soll. So einer war er und eines Morgens fand man Paul, wie gesagt, neben dem französischen Backwerkstand, oben auf der Ringbahn. Er soll grauenhaft ausgesehen haben, als wären die Armeen der Finsternis an ihm vorübergezogen, eine nach der anderen. Der Notarzt konnte nichts mehr für ihn tun und dann kamen auch gleich die Burschen in den weißen Overalls und haben als erstes ein Zelt über dem Ort des Geschehens errichtet. Im Autopsiebericht soll als Todesursache Unterkühlung gestanden haben. Unterkühlung, ich bitte Sie, ein sechzehnjähriger, in einer Julinacht stirbt in einer Bahnhofshalle an Unterkühlung das fasst man nicht, aber das ist ein Trick indem sie den Gerüchten durch absichtlich unglaubwürdige Erklärungen neue Nahrung geben bleibt die eigentliche, die ganz große, Scheiße weiterhin schön im verborgenen. Pauls Freundin Bambi hat das ganze aus der nähe mit ansehen müssen. Sie liegt immer noch auf der Intensivstation und plappert wie ein Äffchen. Sie heißt tatsächlich Bambi, das ist der Name den ihr ihre liebenden beknackten Eltern, Hobbynaturkundler, einst gegeben hatten.

Früher waren die Computernerds meistens picklige Jungs die keine Freundin abgekriegt hatten und so irgendwie in ihren Kinderzimmern hängengeblieben waren. Über die haben wir wohlwollend gelächelt, harmlose Irre, aber jetzt sind immer mehr Frauen dabei und die sind zum fürchten sage ich ihnen. Sehen aus wie Kindergärtnerinnen oder BWL-Studentinnen, aber wenn sie mal von ihren Displays wegkommen, und die Tastaturen, die die natürliche Verlängerung ihrer Fingerspitzen zu sein scheinen, einen Augenblick Ruhe geben und sie dich ins Auge fassen, gefriert dir das Blut in den Adern. Alter, das kann ich Ihnen sagen.

Meistens sind sie oben am nördlichen Ende des Ringbahnsteigs. Da hocken sie mit ihren verkratzten, verbeulten Notebooks. Überall Klebeband, die Schnittstellen bestückt mit bizarr anmutender selbstgelöteter Hardware. Aber täuschen Sie sich nicht, die Dinger sind kein Schrott, das sind Superrechner, solche hat nicht einmal das Innenministerium. Die hacken sich in eins der umliegenden WLAN s und können sich jede Information verschaffen. Alle die Wahren und die Falschen. Wenn sie sich in den Netzen bewegen wird es um so bizarrer je verbotener, abgeschotteter, gesicherter das alles ist. Wie kommt eine Dreijährige, als Geheimakte, in den Computer des Verteidigungsministeriums? Das ist doch echt krank. Nein, nein lassen Sie nur das war eine rhetorische Frage. Natürlich waren das keine Files, im Klartext, das war eine schnittige 128-Bit-Verschlüsselung. Sie hatten das Baby gut versiegelt aber für Bambi und ihre Komplizinnen gibt es keine Hindernisse, nur Herausforderungen, jedenfalls so lange es sich in der Welt der Daten abspielt. Im wirklichen Leben sind sie hilfloser als Sie und ich und machen einen dummen Fehler nach dem anderen aber einen Code knacken das können sie doch was dann heraus kam war eher ernüchternd.

Ein Shakespearesonett, ein paar Zeilen aus dem Koran, Leonardos goldener Schnitt, ein bisschen altes Testament, ein paar Takte aus Bachs brandenburgischen Konzerten, die Goldbachsche Vermutung, ein Absatz aus Hegels Phänomenologie "Dantes Inferno". So was, lauter Schnipsel, als ob ein gelangweiltes Kind seine Spielzeugkiste ausgekippt hätte oder als ob Voyager mal auf ein paar Drinks vorbeigekommen wäre und am Ende hatten die Schweine noch eine Überraschung parat, eine Art perfides Addendum. Das Virus tauchte auf wie Deus ex Machina und war sehr gründlich. Jede Maschine, die damit in Berührung kam, war auf der Stelle mausetot. Bambi hat das Virus dann schließlich extrahiert. Ein paar weitere Rechner sind dabei drauf gegangen. Es waren nur einige wenige Zeilen Computercode, sehr simpel, sehr elegant, sehr sexy, Zitat Bambi. Sie trug es in einem Stick um den Hals, wie ein Amulett. Sie hätte es gern mal getestet, aber es ging nicht, es einfach ins Netz zu entlassen. Es brauchte einen materiellen Hardwarenexus. Also stiegen sie eines nachts beim Einwohnermeldeamt ein, es ist immer wieder erstaunlich, wie schlampig die Behörden hochsensible Daten sichern, fanden den Server und dann hinein damit in sein gieriges Laufwerk und dann war nur noch stille und Finsternis. Die rätseln heute noch darüber was ihnen passiert ist. Deren Experten einigten sich schließlich auf elektromagnetische Schockwellen, ausgelöst durch ein Gewitter das zum Glück parallel lief.

Wir Verschwörungstheoretiker, wir selber nennen uns lieber die mit dem Glauben, wir sind ja keine geschlossene Gruppe, da gibt es Fraktionen noch, und noch die, die ernsthaft an der reinen ganzen Wahrheit interessiert sind. Dann die Typen die es schlicht geil finden, krausen Unsinn in die Welt zu setzen, dann leicht gestörte arme Schweine, die nicht wissen wohin und einfach nur dabei sein wollen und schließlich die Spitzel und Undercovertypen, die versuchen das ganze zu ordnen und zu kontrollieren. Geheime Unterabteilungen, irgendwelcher Geheimdienste, mit Leuten die wohl selber nicht wissen ob sie da nun mitmachen weil sie brillant oder weil sie entbehrlich sind. Ich hatte schon öfters mit denen zu tun. Sie haben eine schwäche für opernhafte Auftritte und Tarnungen, die so merkwürdig offensichtlich sind, dass man sie gar nicht in Erwägung zieht.

Normalerweise würde ich Fremden, die in meinen Schuppen kommen, sagen sie sollen sich verpissen, aber bei denen tat ich es nicht. Es waren Männer in Reichsbahnuniformen, alten, aus der Nachkriegszeit, aber diese waren nicht alt, sie waren nagelneu. Sie zeigten mir ein Dokument. Es war eine Art Protokoll einer Entführung durch Aliens. Das Ganze merkwürdigerweise schon in Form eines Filmdrehbuchs geschrieben. Das las sich wie die Zusammenfassung einer Episode aus Rocky und Bullwinkle. Sie fragten mich ob ich etwas damit zu tun hätte, und wenn nicht, wer dann. Als wäre ich mit sämtlichen Irren der Stadt persönlich bekannt und dabei schlugen sie einen Ton an, wie man ihn aus Hardcore-Thrillern kennt. Falls doch, sollte ich die Schnauze halten und falls nicht, wäre ich ein toter Mann oder umgekehrt. Ich weiß nicht mehr so genau. Dann trat einer der Typen vor und sagte er wäre vom Max-Planck-Institut für Neurotheologie, - gibt`s das überhaupt? - und hätte an dieser Sache nur ein rein wissenschaftliches Interesse. Dann fixierte er mich und murmelte ich wäre jetzt sehr schläfrig und wirklich entspannt. Danach zeigten sie mir ein anderes Manuskript, das aber nur eine Version des ersten war, und die enthielt noch mehr dummes Geschwätz als die vorige. "Und was gibt`s sonst neues?" habe ich die Typen gefragt. Ja Verehrtester, schließlich habe ich nicht all die Jahre Star Trek gesehen ohne etwas über Mut zu lernen. Die Reichsbahner sahen mich nur böse an, wiederholten ihre Drohungen und zogen von dannen. Ach ja der Neurotheologe fragte mich noch, ob der eine von den Aliens tatsächlich einen russischen Akzent gehabt hätte.

Man fasst es nicht. Ich war mir danach allerdings tagelang nicht sicher, ob diese Begebenheit überhaupt stattgefunden hatte, aber diese Burschen hatten es nicht drauf mit meiner Psyche rumzufummeln. Die nicht, dazu waren sie zu blöd. Allerdings kann diese Blödheit auch der abgefeimteste Teil ihrer Tarnung sein. Bei anderen, die ähnliche Erlebnisse hatten, bin ich mir nicht sicher. Bei denen war das nicht bloß eine Amnesie nach einem Schock, sondern ein gezielt herbeigeführter Gedächtnisverlust. Mit was für Kerlen hatten die sich eingelassen? Es soll ja Chips, geben die nicht nur schlichte Informationen verarbeiten, sondern auch die mentalen Prozesse von Menschen replizieren können. Barney jedenfalls behauptete das.

Barney war eine Legende. Wie er zu dem Namen kam, weiß ich nicht, jedenfalls hatte er keine Ähnlichkeit mit Barney Geröllheimer. Barney hatte mit niemand Ähnlichkeit und manche behaupteten sogar, er wäre keineswegs das Produkt einer polygenen Paarung, aber so weit möchte ich nicht gehen. Barney war einer der größten Visionäre hier am Ostkreuz. Er hatte eine Vorliebe für geblümte Rhetorik. Wer sich mit ihm abgab, musste Zeit mitbringen, aber es lohnte sich. Sein Unterhaltungswert war enorm, das mussten selbst die größten Skeptiker, für die er nur ein weiterer Verrückter war, der den Mond anheult, zugeben. Man kann die Computerbranche in zwei Typen von Menschen einteilen. So begann einer seiner mit sokratischen Gesten untermalten Vorträge, gepflegt oder ungepflegt. Die gepflegten haben es gerne ordentlich. Sie tragen gebügelte Anzüge und arbeiten an Oberflächenphänomenen also langweilig. Die ungepflegten haben eine innige metaphysisch, konnotierte, nachgerade, symbiotische Beziehung zu ihrem Gegenstand. Rastlose Gemüter, verrückt nach Puzzles. Sie ziehen Vergleiche zwischen ausgemacht unvergleichbarem, sehen Beziehungen die andere nicht erkennen können und haben eine Vorliebe für ausgeklügelte Spiele. Barney sagt, er habe im Keller seines Elternhauses seine Firma gegründet, nachdem er ein Jahr mit Grateful Dead auf Tournee war. Unter uns gesagt, er ist der Band von Stadt zu Stadt nachgereist. Seine Firma hieß Purple Rain. Purple Rain, tolles Album, aber mieser Film. Wegen des Namens kriegte er Ärger mit den Warnerbrüdern und so nannte er sich fortan "Rat Tail Productions". Kommerzielles Kernstück seiner Firma war eine Art Versandhandel. Angeblich verbotener Videos, Dokumente von geheimen Operationen, vorzugsweise von Ufosichtungen und Autopsien an Außerirdischen. Er will sie nachts mit seiner Satellitenschüssel empfangen haben, aber wenn sie mich fragen, ich hielt das von vornherein für dubiosen Müll. Zwar bin ich einer der glaubt, aber ich glaube nicht jeden Scheiß. Barney glaubte fest daran. In seinen Redeschwall pflegte er Kalauer einzustreuen, wir kannten sie bald auswendig. So wie diesen, "habt ihr schon mal eine fliegende Untertasse geflogen, danach kommt euch Sex trivial vor". Den zweiten teil des Satzes grölten wir dann immer im Chor. Ja so war er, unser Barney.

Irgendwann ist er dann darauf gekommen, dass seine so genannten Dokumentarvideos, aus angeblich authentischer Quelle, Fälschungen waren, untergeschoben von einer Infiltrationseinheit. Was weiß ich welchen Geheimdienstes das war, schlimm für ihn. Er fuhr zu seiner Oma, um Distanz zu gewinnen, ging auf die zugefrorene Ostsee hinaus um über alles nachzudenken. Man hat ihn danach nie mehr gesehen. Verschwunden, verschollen, untergetaucht, niemand weiß etwas. Manche glauben, er habe seinen Tod nur inszeniert, aber wissen sie wie schwierig es ist, den eigenen Tod zu fälschen? Das hat bisher, mal abgesehen von Jesus, das ist ein Sonderfall, nur einer geschafft. Elvis!

Oh Telefon, entschuldigen Sie, ich muss da mal rangehen, ist wichtig. Hallo? Jaja ich weiß schon. Wenn sie mir ihren Namen sagten, müssten Sie mich erschießen. Das klingt wie eine alte Anmache von mir. Wollen Sie mich wieder zu einer verdammten Ufojagd verleiten? Danke, besser als Sie erwartet oder besser als Sie gehofft hatten.

Da gibt es eine Stelle die sie die gelbe Basis nennen, unter der ehemaligen Nordkurve, wo sie das ganze Zeug lagern. Ja alle Ufo-Geheimdienstakten seit Roswell.

Nein, hundert Meter vor der Straßensperre hatten die mich schon. Und Sie hat tatsächlich das Auto zu Schrott gedacht? Sind Sie sicher? Klar psychokinetische Manipulation. Das gibt`s, so ein Poltergeist-Ding, wie Carrie auf den Schulball, aber Vorsicht, die Braut ist reine Energie.

Jede Woche eine Wunderheilung, sonntags können`s auch mal zwei werden. Ja Gleis vier, gleich neben dem alten Wasserturm. Nein, das reicht. Ich glaube nicht, dass sie schon reif für meine Gedanken sind. Sie müssen schon meiner Brotkrümelspur folgen. Dann beeilen Sie sich. Sie haben maximal zwei Stunden bevor die eintreffen. Danach ist es so als wäre nie etwas passiert, und Vorsicht, die Soldaten Satans können sich dort frei bewegen. Pass auf und lerne. Das ist aber mein Spruch. Ja, ich bin auch sicher, dass wir dieses Gespräch niemals geführt haben. Ciao.

So da bin ich wieder. Wie ich eben hörte soll es wieder gesichtet worden sein, das Ding, das wir unter uns "Ostkreuz-Bigfoot" nennen. Die Analogien, die man zur Hilfe nehmen müsste um es zu beschreiben, sind allesamt zu schwach für das was Bigfoot ist. Es ist unbeschreiblich. Ich habe es einmal gesehen im halbdunkel unter dem Ringbahnviadukt. Kennen Sie das, wenn der Kaugummi vor Schreck aufhört sich breitkauen zu lassen? So war das und obwohl von der äußeren Form her eher vage ein waberndes Etwas, so eine art Yeti von Baskerville. Da versagen, wie gesagt, alle Analogien, war es von einer unglaublichen physischen Präsenz. Es schien sogar eine eigene Atmosphärenhülle zu haben. Eine khakifarbene Aura, die klebrig aussah und stank, wie hundert umgestürzte Chemieklos. Das war nicht nur irgendetwas schreckliches, nein, das war noch mehr. Das war etwas, das nicht das recht hatte den gleichen Planeten wie ich zu bewohnen. Es war nicht ersichtlich warum es da war, was es wollte, was seine Intentionen und Motive waren. Es tappte herum, war einfach nur da und manchmal nicht und wer es erblickte, erstarrte zur Salzsäule.

Tommy, der kleine Rotzlöffel von Gleis zwei, ist Bigfoot wohl mal zu nahe gekommen. Tommy fiel in ein wochenlanges Koma, danach psychiatrische Behandlung. Aber wer immer das gemacht hat, er hat es falsch gemacht, denn seitdem redet Tommy in Zungen. Einer von den Ringbahngenies, der sich in Kryptolinguistik oder Archäolinguistik auskennt, hat Tommys Kauderwelsch schließlich als eine Spielart des Aramäischen, eine art pidgin-aramäisch identifiziert.

Was hat denn das nun wieder zu bedeuten? Ich sage immer, Gott schuf Himmel und Erde und gab damit an wie zehn nackte Neger. Doch er verlor kein Sterbenswörtchen von seinen Nebenprojekten. Ich muss weiter darüber nachdenken, aber nicht jetzt und hier. Das ist ein Drei-Gauloises-Problem, mindestens. Ich sage ja nicht das alles hier paranormal ist. Das Ostkreuz ist ein ganz gewöhnlicher Bahnhof, keine Sorge. Aber wie ich das sehe scheint das Ostkreuz daneben eine art Hotspot des paranormalen zu sein, wodurch selbst den alltäglichsten Dingen und Begebenheiten ein paranormales Bouquet anhaftet, wenn Sie wissen was ich meine. Nein, beunruhigen Sie sich nicht, das hier wird nicht der Fluch der Mumie, es gibt keine Kratzspuren am Sargdeckel. Ich werfe ihnen ein Seil zu. Sie dürfen sich jetzt nicht damit aufhängen. Butch und Sundance reiten wieder, Pinky und Brain greifen nach der Weltherrschaft.

Noch verhält sich mein Toaster unauffällig, aber wer weiß. Denn welche teuflischen Schläferchips Sie dort reingebaut haben. Ich verlasse Sie jetzt. Danke für ihre Zeit. Einen schönen Tag noch und denken Sie dran, die Lüge ist irgendwo da draußen.


 

Sonja Hoffmann
Nix mit wie immer

 

Ich wuchs in einem winzigen Nest in der Mitte von Deutschland auf, dessen wirtschaftlicher Knotenpunkt "Tante Bernies" war, eine, retrospektiv betrachtet, heruntergekommene Gastwirtschaft mit schlechtem Essen und noch schlechterem Ambiente, doch während meiner Kindheit war diese drittklassige Kaschemme ein Eldorado der Heiterkeit. Kaum dass die Temperatur die 15-Grad-Marke überschritten hatte, erwuchs in uns Kindern das unstillbare Verlangen nach Eiscreme und blieb der Blick in die heimische Tiefkühltruhe erfolglos, so gab es nur einen Ort, an dem wir sicher bekommen konnten, wonach wir uns so sehr sehnten. Es gab kein Kind im Ort, was in den wärmeren Monaten des Jahres nicht mindestens einmal in der Woche über die speckige Kante der großen, leicht mit Flugrost überzogenen Haushaltsgefriertruhe gebeugt stand und aus dem eher bescheidenen Sortiment seine Wahl traf. Die sorgfältigen Überlegungen führten immer wieder zu langen Zeiten in denen die Truhe all ihre mühsam erarbeitete Kälte an die Umgebung abgab und gab es unter den dicken Eisschichten am Geräterand und den von Gefrierbrand zerfressenen Lebensmitteln immer noch die eine oder andere vergessene Eistüte zu entdecken. Nie werde ich die neidvollen Blicke der anderen Kinder vergessen, wenn man es geschafft hatte, ein Schokoladeneis aus dem eisigen Kasten hervorzuzaubern und seine klebrigen Groschen nicht für ein fades Wassereis hinlegen musste. Das waren Gefühle wahrer Größe. Lange Zeit vergessen blieb jedoch eine Erfahrung, die im Nachhinein mein ganzes Leben verändern sollte und für den Moment des Erlebens mit derart negativen Emotionen belastet war, dass mein kindliches Gemüt gar nicht anderes handeln konnte, als alles ganz hinten in meinem Unterbewusstsein zu vergraben.

Es war ein warmer Frühlingstag und nachdem ich mit einem Messer 30 Pfennige aus meinem Sparschwein gefummelt hatte, eilte ich mit meinen Freunden zu Tante Bernie. Mit einer schlafwandlerischen Zielstrebigkeit peilten wir die Gefriertruhe am Ende des muffigen Gastraums an und zogen mit vereinten Kräften den Deckel nach oben. Zu den Zeiten, zu denen wir Tante Bernie aufsuchten gab es eigentlich nie Gäste und so blieben wir bei unserer angestrengten Wahl meist unter uns. Nicht so an diesem Tag. Plötzlich öffnete sich die Tür und für einen kurzen Moment erhellte die Sonne den dunklen Raum, dessen schmutzige Fenster kaum Tageslicht hereinließen.

Mit wackeligen Schritten durchquerte ein Mann den Saal, vor dem unsere Eltern uns immer warnten. Er würde trinken hieß es und auch wenn uns nicht klar war, warum man nach dem Genuss von zu viel Bier seine Frau verprügeln müsse, so wurde uns immer wieder gesagt, dass er es getan hätte und wir uns von ihm fernhalten sollen. Ich hatte meine Eltern bis dahin nie betrunken erlebt und konnte mir nicht vorstellen, dass Menschen nach dem Genuss von Alkohol Dinge tun würden, an die sie sich später nicht mehr erinnern können, aber man munkelte, dass es bei diesem Mann wohl häufiger so gewesen sei.

Er schaute kurz zu uns herüber, bevor er sich an den schmuddeligen Tresen setzte und ich den Satz vernahm, der mein Leben so gravierend verändern sollte. "Wie immer?" fragte Tante Bernie. Kein "Hallo, was darf es sein?", kein "Was kann ich Ihnen oder dir denn bringen?". Nein, alles, was er gefragt werden musste, war ein "Wie immer?". Er nickte nur und so schob sich die dicke Tante Bernie mit ihrer graugelockten Dauerwelle und ihrer geblümten Kittelschürze, deren Knöpfe Mühe hatten, die Stoffbahnen über ihrem gigantischen Busen zusammenzuhalten, an den Zapfhahn, zapfte ein Bier und füllte eine klare Flüssigkeit in ein winziges Glas. Sie stellte ihm das Bier und den das kleine Glas vor ihn hin und es dauerte keinen Wimpernschlag lang, da war das kleine Glas geleert und das Bier halbiert. Nach einer kurzen Zeit hob ich meinen Kopf erneut aus der eisigen Vielfaltenarmut und sah, dass er nun auch das Bier getrunken hatte. Tante Bernie wackelte zu ihm herüber und fragte mit ihrer tiefen und immer etwas zu genervt klingenden Stimme "Nochmal das Gleiche?". "Wie immer". Mehr sagte er nicht. Wahrscheinlich starrte ich ihn eine Ewigkeit lang an und in meinem Gehirn begannen alle Synapsen auf Hochtouren zu arbeiten. In meinem kindlichen Leben war eigentlich jeder Tag wie der vorherige. Es gab unzählige "Wie immers". Ich stand jeden Morgen zur gleichen Zeit auf, putzte mir wie immer meine Zähne, wusch mich, zog mich in der immer gleichen Reihenfolge an. Aß täglich das gleiche zum Frühstück. Ich liebte meine "Wie immers". Ich hatte allerdings nicht ein einziges meiner Rituale mit dem Ausspruch: "Ich mache das wie immer" benannt, nein, es war einfach so, weil es gut war und sich richtig anfühlte. Aber mir wurde schmerzlich klar, dass eine geliebte, oft wiederholte Verhaltensweise scheinbar in dem Moment, in dem man selbst oder auch ein anderer sie mit dem Label "Wie immer" versieht, eindeutig als etwas Schlechtes identifiziert wird, mit dem man sich oder andere schädigte.

Durch das "Wie immer" wurde der zum Ritual gewordene Kneipenbesuch als schwerer Alkoholismus entlarvt, der unweigerlich mit familiärer Gewalt und persönlichem Niedergang einherging. Es waren nur Sekunden der Erkenntnis und dennoch war es für mich fast so bedeutend wie die Entdeckung, dass es keinen Weihnachtsmann gibt.

Erst der schrille Aufschrei aus der Tiefkühltruhe riss mich aus meinem Schock-Zustand und mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich heute nicht diejenige sein würde, die mit großen Augen um ein Schokoladeneis beneidet werden würde.

 

Es vergingen viele Jahre, in denen ich, wie alle anderen Menschen auch, meine eigenen kleinen und großen Rituale und Bräuche entwickelte, pflegte und wieder ablegte, aber ich hütete mich stets davor, eine meiner Vorlieben mit einem "Wie immer" als etwas Böses, Zerstörerisches zu demaskieren. Gleichzeitig hatte ich das große Glück, dass mir nie durch eine andere Person eines meiner Rituale durch ein "Wie immer?" genommen wurde. Das ist schließlich die Krux an der Sache: der Mann bei Tante Bernie sah die destruktive Kraft seines "Wie immers" wahrscheinlich selbst nicht. Vielleicht sah er sie auch, konnte aber dennoch nicht von seinem Laster lassen. Mir wurde damals an der schmutzigen Truhe allerdings klar, dass ich, wann immer jemand eine meine Handlungen mit einem "Wie immer" kommentieren würde, ich sofort mit dem aufhören würde, was ich bislang gerne tat.

Scheinbar schaffte ich es ganz gut durch meine Jugend und mein frühes Erwachsenenalter, ohne Rituale und Vorlieben zu entwickeln, die in meinen oder den Augen anderer böse, schlecht oder falsch gewesen wären. Ich rauchte nicht, ich schwänzte nur unregelmäßig die Schule, ich trank nur gelegentlich zu viel. Ich hielt meine Wohnung stets in Ordnung und wechselte meine Frisur mindestens einmal im Jahr. Ich schaffte es, die Schule und mein Studium zu beenden, ohne auch nur ein einziges Mal die niederschmetternde Diagnose "Wie immer" auf eine meiner Verhaltensweisen zu bekommen.

Ich lernte einen großartigen Mann kennen und zog mit ihm in die große weite Welt hinaus. Stets war ich bestrebt, niemals die Worte "wie immer" über meine Lippen kommen zu lassen, auch wenn wir etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die exakt gleiche Weise taten. Wir taten etliches "wie immer", aber nie wagte ich, auf die Frage, was wir am Sonntagmorgen machen wollten zu antworten "machen wir’s wie immer".

 

Die Arbeit brachte uns letztlich nach Berlin und wir fanden eine Traumwohnung am Ostkreuz. Hier gestaltete sich nun unser neuer Lebensmittelpunkt. Als Kinder brauchten wir ja nur das Eis und so spielte sich unser aller Leben um die Kneipe von Tante Bernie ab. Später war es nicht das Eis, um das sich unser Lebensmittelpunkt gestaltete, sondern das Ostkreuz. Die Bahnen brachten uns in alle Richtungen der Stadt und die Cafés, Imbisse, Bäckereien und die kleinen Läden versorgten uns mit dem, wonach es einem mal gelüstet. Nicht erst seit Bourdieu wissen wir, dass die Menschen zu einer gewissen Habitualisierung ihres Verhaltens neigen, und so taten wir vieles am Ostkreuz stets auf die gleiche Weise. Meinem bisherigen Glaubenssatz folgend begegnete ich den fragenden Augen meines Freundes an der Theke unseres Lieblingsimbisses niemals mit den Worten "Wie immer". Es war klar, dass ich eigentlich immer das gleiche bestellte, aber wenn es den Stempel des "Wie immers" je bekommen sollte, wäre meine Lieblingsspeise für immer verloren. Mein Freund fand meine Aversion gegen die zwei Worte stets befremdlich und war der festen Überzeugung, dass sich nichts verändern würde, wenn man etwas, was man ständig auf die gleiche Weise tat, damit spezifizierte, dass man sagte, man täte es wie immer. Dennoch ging eine lange Zeit ins Land, bis ich zulassen konnte, dass die Absprache vor der Bestellung in unserem Lieblingsdöner mit Hilfe eines "Wie immers" erfolgte. Es kam jedoch der Tag, an dem ich mich traute. Wir standen vor der Theke, wie wir es stets zu tun pflegten und mein Freund fragte mich plötzlich die magische Frage. An diesem Samstag im Frühling lautete seine Frage nicht "Willst du mich heiraten", nein, sie war viel bedeutsamer. "Wie immer?" waren die Worte, die über seine Lippen kamen. Mutig und dennoch angespannt antwortete ich "wie immer". Und wie immer schmeckte mir mein Essen vorzüglich, mir wurde nicht schlecht, ich bekam keine Lebensmittelvergiftung und auch meinem Freund ging es nach dem Mahl prächtig. Es schien trotz der Worte, die mich Zeit meines Lebens wie ein Fluch begleiteten, nichts Schlimmes zu passieren.

Eines schönen Tages jedoch verspürten wir nach einem Bummel durch den Kiez das Bedürfnis, uns am Ostkreuz noch mit einer fettigen, türkischen Köstlichkeit den Tag zu versüßen und steuerten zielsicher unseren Lieblingsimbiss an. Oder vielmehr den Ort, an dem er sich bislang befand. Die Tür war fest verschlossen, die Fenster von innen mit Zeitungen verklebt. Zwischen den Werbeangeboten örtlicher Diskounter und dem Wetterbericht der letzten Woche hing ein Schild, auf dem zu lesen war: "Liebe Kunden, leider müssen wir unser Restaurant aus persönlichen Gründen schließen. Vielen Dank für Ihre Treue".

Geknickt gingen wir zu einem anderen Imbiss, fanden das Essen aber schlecht und traten mit einem flauen Gefühl im Magen den Heimweg an. Aberglaube war zwar immer mein ständiger Begleiter, dennoch weigerte ich mich zu glauben, dass die Schließung des Lokals mit dem "Wie immer" vor einigen Wochen zusammenhängen könnte. Ein dummer Zufall, mehr nicht.

 

Jeden Sonntag gehen wir spazieren. Schon vor dem Frühstück. Um das Ostkreuz herum gibt es so viele wunderschöne Strecken, auf denen man die eine oder andere Stunde in der frühmorgendlichen Sonne verbringen kann. Aber auch bei Regen laufen wir unsere Tour. Nur wenn wir nicht in Berlin sind, lassen wir unser liebgewonnenes Ritual ausfallen. Zu unserem Brauch gehört immer auch, ein Baguette an einem Stand am Ostkreuz zu kaufen, das wir uns später bei einem ausgedehnten Frühstück schmecken lassen.

Sicher, eigentlich sollte man derartige Back-Ketten aus ethischen Gründen nicht unterstützen und sicherlich gibt es auch gesünderes Brot als das aus dem Glaskasten mit dem dicken Croissant als Markenzeichen, aber da der Vollkornbäcker am Sonntag nicht offen hat und man hin und wieder auch wenig christlich handeln darf, holen wir uns an jedem Sonntag, egal, ob es regnet, schneit oder die Sonne scheint, ein dunkles Mehrkorn-Baguette. Erstaunlicherweise trafen wir nun an jedem Sonntag auf eine junge Frau, die in dem Glaskasten ein wenig Geld neben der Schule oder dem Studium dazuzuverdienen schien. Sie war immer gut gelaunt und schien uns schon nach kurzer Zeit wiederzuerkennen. Wahrscheinlich hätten wir bald schon gar keine Bestellung mehr aufgeben müssen, denn es war ja ohnehin klar, was wir wollten: ein dunkles Mehrkornbaguette. Nichtsdestotrotz beeilten wir uns bei jedem Besuch aufs neue, unsere Bestellung konkret anzugeben, damit sich die Worte "wie immer" gar nicht erst ihren Weg durch die Atmosphäre bahnen konnten.

Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, aber da hat es in Wirklichkeit geregnet und deswegen war dieser traumatische Tag nicht gestern. Die Sonne schien schon am frühen Morgen von einem strahlend blauen Himmel und wir waren früh unterwegs. Auf dem Rückweg machten wir unseren üblichen Abstecher auf die kleine Insel zwischen den Gleisen und stellten uns in die Schlange. Schon bevor wir an der Reihe waren, hatte die junge Frau in dem roten Back-Outfit uns bemerkt und strahlte mit der Sonne um die Wette. Der letzte Kunde vor uns strebte langsamen Schrittes Richtung S-Bahn und noch bevor wir reagieren konnten fragte sie die Worte, die alles für immer verändern sollten: "Wie immer?" Mir stockte der Atem. Was sollten wir tun? Einfach davon laufen? Schnell ein Baguette bestellen, das wir eigentlich gar nicht wollten, nur um den Worten ihre zerstörerische Kraft zu nehmen? Doch noch bevor ich aus meinem Schockzustand erwachte, lächelte mein Freund und sagte die Worte, die alles besiegeln sollten: "Klar, wie immer". Das war’s, dachte ich. Alles wird sich verändern. Wir erhielten das Baguette und naja, wie immer, wünschte die junge Frau uns noch einen wunderschönen Tag. Wir hatten uns kaum einen Meter vom Tresen wegbewegt, da fragte ich mit zugeschnürter Kehle, wie er das denn nur tun konnte. "Naja, aber wenn es doch so ist. Benennen wir die Dinge doch beim Namen. Glaub mir, dein Aberglaube ist völlig übertrieben." Er hatte ja Recht, dachte ich. Wie albern, zu glauben, dass durch zwei kleine Worte die Welt verändert werden kann. Das Schicksal hört wohl kaum so genau hin.

Beschwingt lebten wir durch die Woche und es näherte sich der Sonntag. Das schöne Wetter hatte sich leider verzogen und so stapften wir im gelben Friesennerz durch den Matsch. Nur noch einmal die Treppen rauf, die Treppen wieder runter und ja, ich war bereit, ein "Wie immer" zuzulassen. Doch schon von weitem sah, ich, dass heute ein junger Mann hinter dem Tresen stand. Vielleicht hatte unsere Lieblingsverkäuferin nur im hinteren Teil der kleinen Hütte etwas zu erledigen. Doch auch als wir an der Auslage standen, war sie nirgendwo zu erblicken. Mein Freund ratterte also die übliche Bestellung runter. "Die Mehrkorn-Baguettes sind heute aus." Nun war es klar, die "Wie-immer-Verschwörung" war in vollem Gange. Mein Aberglaube kannte kein Halten mehr und ich brauchte lange, um den Schmerz über den heutigen Verlust zu überwinden. Mit ungebrochenem Glauben an einen Zufall redete mein Freund auf mich ein. Vielleicht sei die bezaubernde Verkäuferin einfach nur krank oder im Urlaub und das Baguette, meine Güte, auch andere würden diese Sorte besonders mögen.

Aber nein, es gab seit diesem Tag keinen einzigen, an dem die junge Frau mit dem sonnigen Lächeln und den Worten "Wie immer?" ein dunkles Mehrkorn-Baguette in die lange rot-weiße Tüte rutschen ließ. "Wie immer" hatte uns voll erwischt und das Schicksal hatte ganz genau hingehört, als es darum ging, dass ich die in Kindertagen gewonnene Vorsicht verlor. Und so bewahrt mich das Komplott am Ostkreuz bis heute davor, die Dinge, die ich immer auf die gleiche Art und Weise tue, als selbstverständlich hinzunehmen und mich bei jedem Mal darüber zu freuen, dass es heute noch einmal ist wie immer.


 

Maryann Marks
Fouler Hauswart
Ein Verriss über ein häufiges Berliner Phänomen

 

Wer das Auto des 'Hauswartes' in der Nacht vom 17./18.04. angezündet hatte, wurde nie festgestellt. Jedenfalls war das Datum so einprägsam, weil zeitgleich die S-Bahnhof-Ostkreuz-Einweihung (16.04.2012) stattfand.

Es kann sich bei der Brandstiftung um ein geheimes Vorgehen zwischen befreundeten Mietparteien gehandelt haben; das ist anzunehmen; die Vorläufe sprechen für sich.

An Impertinenz unüberbietbar hatte das Hauswartspärchen, Marke Blockwart, bei den MieterInnen schon lange nichts mehr an Ansehen zu verlieren: ihr hingen vor Neugierde die Ohren bis über die Schultern runter, wenn sie die HausbewohnerInnen nur ansah; mit ihr zu reden endete fast zwangsläufig in der Preisgabe von Persönlichem.

Sein Arbeitseinsatz beschränkte sich auf cholerisches Schreien (am Telefon) und die 'Regierung' dieses Mikrokosmos mit größenwahnsinnigem Gehabe in Eigenregie.

Sie grüßte beflissentlich; ihr Gruß hallte meist unbeantwortet im Hausflur oder Hinterhof wieder, während die MieterInnen an ihr vorübergingen. Der Eindruck entstand, dass die Frau trotz Ablehnung unbeirrbar freundlich war aus der Angst heraus, dass die gemeinsame Machenschaft mit ihrem Mann, das Vorspielen adequater Arbeit, vielleicht doch an übergeordnete Stelle herangetragen und ihre bequeme Lebensweise durch die versiegende MieterInnen-›Spenden‹-Quelle vorbei sein könnte. Dickfellig saß das Rentnerpärchen die grußlose Ablehnung im Haus aus.

Hier wurde ein satter Nettolohn in der Arbeitsmanier einer geringfügigen Beschäftigung ausgefüllt: Schlüsselnachmachungen dauerten 4 Monate; die MieterInnen erzählten sich: "Ich habe es dem Hauswart gesagt. Natürlich passiert wieder nichts." ... Einer Mieterin wurde mehrfach Laminatlegung versprochen (bei den anderen MieterInnen war es bereits vorhanden); allein, es wurde nie gelegt. "Es kommt, es kommt", rief der 'Hauswart' ihr, für mehrere Mietparteien gut hörbar, im Treppenhaus zu. Schließlich legte die Mieterin das Laminat selbst. Der flüchtige Treppenhausputz mit kategorischer Missachtung von Ecken und Kanten wurde in knappen Stunden verrichtet; einem Mieter ward die Benutzung zweier Kellerräume zugesagt; die Auseinandersetzung über diese Zusicherung schallte durch den Hinterhof, bis der 'Hauswart' sie nach draußen verlegte.

Reparaturen wurden grundsätzlich nur nach Inanspruchnahme von Rechtsschutz (längerem Briefwechsel mit Hilfe des Mietervereins u. ä.) durchgeführt, d. h. bei einigen MieterInnen überhaupt nicht.

Das Öffnen fremder Briefkästen stellte für den 'Hauswart' ebenso wenig ein Problem dar wie penetrante persönliche Fragen, die ihn in seiner Funktion schon gar nichts angingen. Mitunter wurden offene (geöffnete???) Briefe im Kasten vorgefunden.

Hinter den schwarz getönten Scheiben seines Wagens, der vorm Haus stand, wurde gemunkelt, sitzt der alte Bock und Kontrollfreak und schaut, was abgeht.

Willkürlich wurde im Haus über Jahre (Jahrzehnte?) diktatorisch darüber geurteilt, wer mit Dienstleistungen bedacht würde und wer nicht, welche/r für wert erklärt wurde und welche/r nicht. Die Störungsmeldungen, Beschwerden und Problemschilderungen der MieterInnen bei der Haus- und Grundstücksverwaltung waren umsonst. Es interessierte die Zuständigen nicht, es wurde nicht darauf reagiert und nicht eingegriffen.

Diese befremdliche Handlungsweise und Befugnis war ein Extremzustand, der nur durch angenommene Vetternwirtschaft erklärbar war. Ein Vorgehen, dass plausibel schien: als ehemals Selbstständiger hatte der 'Hauswart' vermutlich keinen Anspruch auf Rente und würde in die Grundsicherung fallen, was durch diese Wirtschaftsform in Übereinkunft verhindert wurde.

Viele MieterInnen meinten, dass der bizarre 'Hauswart plus Frau' endlich abtreten solle. Man stellte sich vor, wie er – mit den Füßen voran- eines Tages hinausgetragen würde und die Frau ob ihres Lebenswerkes in gemeinsamer Teilhabe entsprechend geächtet würde. Bis zu dem Zeitpunkt würde die Mietergemeinschaft mindestens zu zahlen haben. U.U. würde die Goldgrube des lebenslangen Unterhalts, der monatlichen Zuwendungen vetternwirtschaftlich auf sie übergehen.

Kurz nach meinem Einzug musste ich zu dem Hauswartspärchen und sagte zu der Frau: "Das ist ein sehr schöner Kranz, den Sie hier draußen an der Tür hängen haben." — "Wenn er nur nicht mal abgefackelt wird" antwortete sie, und ich wunderte mich.

 

Einem Umzugshelfer war aufgefallen, dass es ein "No-you-don’t"-Haus war, weil überall an den Wänden Schilder angebracht waren, wie sich verhalten werden sollte. Nicht rauchen, Tür zumachen, Lüften etc. pp.

Am ersten Wochenende nach dem Umzug war klar, dass die Hauswartsfrau bei der Wohnungsbesichtigung gelogen hatte. "Unten und oben ist es ruhig", hatte sie gesagt und dann auf die Wohnung im Hinterhaus nebenan gedeutet. "Wie der Mieter dort drüben ist, weiß ich allerdings nicht." — Unten wohnte ein Techno-Freak, der auch nachts vor keiner Lautstärke zurückschreckte und oben ein junges Paar, dass die Angewohnheit hatte, sich nächtlings im Laufe eines Streites fast die Tür einzutreten. Als ich den 'Hauswart' darauf ansprach, wurde deutlich, dass beide Vorkommen bereits lange Zeit bekannt waren.

Im vergangenen Herbst erhielt der 'Hauswart', weil er sich nicht mehr bücken konnte, von den MieterInnen über die Hausverwaltung bezahlt, einen Elektro-Schneepflug, wie er für großräumige Flächen in der Landschaftsgärtnerei benutzt wird. Des Schneefegens per se unfähig, konnte dadurch seine Position für einen(?) weiteren Winter gesichert werden ohne dass seine Senilität für die Allgemeinheit allzu augenscheinlich wurde.

Im Frühjahr ward der 'Hauswart' noch beim Aufmachen und Feststellen der Türen gesichtet; trotz sichtlicher Greisenhaftigkeit stellte er seine Bemühung durch das Öffnen der Türen außerordentlich zu Beweis.

Zum Brüllen reichte es auch noch und zur kontrollierenden Ansprache der MieterInnen zwecks Respekteinflößung — vor allem der jungen Leute. Die `blickten´noch nicht, was hier ablief: dass jemand auf ihre Kosten mit durchgezogen wurde und seine Schäfchen mit schauriger Dreistigkeit im Trockenen hielt.

Nun: dieses Jahr kam einiges anders.

In den vergangenen Monaten waren einige MieterInnen in Abständen zusammengekommen, nicht nur bei einem gemeinsamen Grillfest im Interkulturellen Garten bei den Laskerhöfen.

Es hatte sich einiges zum Positiven entwickelt. Aus dem notorischen Technofreak mit latenter Gewaltbereitschaft war – nach Entzug und einem Anti-Gewaltstraining — ein sehr guter Sicherheitsmann geworden und seine Frau – ehemals als Suchtpersönlichkeit betreut - arbeitete engagiert als ausgebildete Haus- und Gebäudereinigerin.

Das junge Paar von oben, bei dem er ihr mit Regelmäßigkeit handgreiflich den Garaus machte und sie zu ihm mit Regelmäßigkeit zurückkehrte, war nach langer Mietschuldigkeit ausgezogen und von einer optimistischen Studentin ersetzt worden (nach Meinung des Hauswartes – der mit einschlägig im Kiez bekannten Männern mit Alkoholabhängigkeit auf der Straße anzutreffen war — "ganz was Feines").

Der partyfreudige Jurist im Hinterhaus, der alle 2, 3 Wochen nachts mehrfach bei voller Dröhnung das Fenster aufgerissen hatte (der 'Hauswart': "Das kann ich mir gar nicht vorstellen"), war, nach Verweis auf sein obligatorisches Prädikatsexamen als einzige Chance auf eine Karriere in spe, einsichtig genug, die Feten samt Lautstärke beachtlich einzuschränken.

In der Ostkreuz-Info-Box gab es die Meldung, dass die geplante Autobahn-Route entweder die Kynaststraße oder untererdig den Markgrafendamm entlang laufen und die Straße oben für Anlieger frei gelegt würde. Das stellte auch eine gute Aussichtsoption für die Zukunft dar. Einzig der Zustand der Hauswartstätigkeit lag gleichbleibend im Argen.

Bei den Treffen der MieterInnen stellte sich heraus, dass viele Mietparteien von der Selbstgerechtigkeit und Anmaßung dieses Pärchens betroffen und gekränkt und wütend waren.

Es gab Zeichen einer sich veränderten Dynamik:

"Fouler Hauswart" stand auf der Streusalzbox, die im Seitenflügel war; geschrieben mit Permanentmarker.

Wandmalereien wurden im Hausflur gesichtet, bevor das Pärchen wieder für den Sommer ganztätig in seine Laube entschwand. Mit heimlicher Schadenfreude wurden die Bemühungen der Hauswartsfrau registriert, die – den Lappen in der Hand — stundenlang die Malereien von der Wand abrubbelte. Für sie war es immer wichtig gewesen, bei Sichtbarkeit irgendetwas zwischen den Fingern zu bewegen und/oder listig auf ihre Geschäftigkeit hinzuweisen — "ach ja, ich sehe gerade noch eine Schliere vom Fensterputzen...". Jetzt TAT sie etwas.

Am 08.04. lag ein Zettel im Briefkasten, dass in der Nacht von 17. auf den 18. Rache geübt werden würde. "Wartet es ab", sagte das Geschreibsel. Ich war gespannt. Nicht, dass ich die Leute hätte warnen wollen. Nicht, dass sie mir tatsächlich leid getan hätten. Ich hatte den Wink der Justitia bemerkt. Mitunter muss die Gerechtigkeit selbst ausgeübt werden.

Als ich am Morgen des 18.04. den verkohlten Wagen am Markgrafendamm stehen sah, fühlte ich nicht das Verwerfliche der Tat, sondern eine tiefe Befriedigung. Hier war eine Art kollektive Rechenschaft abgelegt worden; der unter diesen besonderen Umständen mögliche 'Aufstand der Anständigen', eine Bürgerwehr hatte stattgefunden. Autonom war durchgeführt worden, was sonst nicht geschehen wäre.

Oder war es doch lediglich ein Problem der technischen Mechanik gewesen?

Nachtrag: Lt Beratung beim Berliner Mieterverein haben MieterInnen das Recht auf eine 5%-Mietminderung der Gesamtmiete, wenn die Arbeit des Hauswartes nicht üblich verrichtet wird. Die Tatsachen müssen dokumentiert sein. Ein Anspruch auf Austausch des Hauswartes liegt im Ermessen des Vermieters; Anregungen hierfür können von der Mietergemeinschaft kommen.

In unserem Fall wurde der Hauswart seit mehreren Monaten nicht mehr gesichtet und war zum Schluss derart hinfällig, dass von einer jetzigen Bettlägrigkeit auszugehen ist. Die Frau, eine ehemalige Fabrikarbeiterin, hat nicht die Handlungskompetenz, die ihr Mann zumindest theoretisch gehabt hätte um die Aufgaben sachgemäß zu erledigen. Mittlerweile macht sie den Treppenhausputz allein (jede 2. Woche nur "trocken"). Und sie ist rege mit Kehrblech und Besen in der Hand unterwegs, wenn sie meint, es ist für die Zurschaustellung ihres Amtes nötig.


 

Carena Scheunemann
Verhängnis

 

Er hatte sich die Karte rechtzeitig gesichert. Bruce Springsteen, "The Boss", sollte ein letztes Mal im Olympiastadion spielen — es rocken. Er hatte es sich zu Eigen gemacht, noch einmal alle, oder wenigstens so viele wie möglich, Großen der Musikgeschichte live erleben zu wollen. Noch einmal nicht Irdisches auf der Bühne stehen zu sehen und geschichtsprägende Titel zum Besten zu geben, was die Menge in einen tobenden Hexenkessel verwandeln würde. Er war erst etwas über dreißig und hatte daher die wilde Zeit verpasst. Nun musste er wenigstens am Lebensende sagenumwobener Künstler teilhaben. Bei Guns'n'Roses, zum Beispiel, war er damals laut Aussagen seiner Eltern noch zu jung für einen Konzertbesuch gewesen. Als er endlich 16 und somit alt genug war, hatten sie sich schon aufgelöst. Einfach so. Die Wiedervereinigung mit anschliessendem Comebackversuch interessierte ihn nicht mehr. Das war nicht mehr die Band, die er so liebte, nicht das Gleiche. Das war kläglich. Er war aber schon mehrmals bei den Stones gewesen, als sie wieder einmal ein Abschlusskonzert gaben. Und noch eines. Und noch eines. Seine Eltern befanden diese Konzerte als weitaus sicherer, so dass er schon Anfang der Neunziger dabei sein durfte. Sein bisheriges Highlight waren dann aber doch ACDC. Es war im Jahr 2010, im Juni. Oder sogar erst im Juli? Die beiden Monate klangen so ähnlich, dass er sie oft nicht mehr in seinen Erinnerungen unterscheiden konnte. Es war jedenfalls ein denkwürdiger Tag, an welchem er die alten Männer auf der Bühne hat rocken sehen dürfen. Es war unbeschreiblich, wie viel Energie sie noch gehabt haben. Er kannte das sonst nur von den Leuten, die dafür Pillen schlucken mussten.

Heute sollte nun der Tag der Tage sein. Er hatte sich das Datum schon seit einer gefühlten Ewigkeit im Kalender markiert: 30. Mai 2012. Er war ganz aufgeregt und hatte sich auch schon weit im Voraus den wertvollen Urlaubstag bestätigen lassen. Seine Kollegen in der Werkstatt beneideten ihn förmlich. Er hatte jedoch auch einen gehörigen Teil dazu beigetragen. War er doch wie ein eitler Gockel, die Karte wedelnd in der Hand, entlang der Werkbänke geschritten und hatte sie jedem unter die Nase gerieben.

 

Seinen Wecker hatte er viel früher als sonst gestellt, damit er auch rein gar nichts verpassen würde. Autsch, vor Aufregung hatte er sich den Fuß an der winzigen Kommode in seinem winzigen Zimmer gestoßen. Vor Schreck heulte er auf, biss sich aber sogleich auf die Zunge und hoffte, die anderen nicht geweckt zu haben. Er sprach ein Stoßgebet zum Himmel, dass seine Mitbewohner einen tiefen Schlaf hatten. Manche halfen heimlich nach, das wusste er. Wiederum andere bekamen jedoch Schlafmittel sogar offiziell per Amtsweg verschrieben.

Er machte sich ein rudimentäres Frühstück. Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht einmal merkte, dass einer seiner Joghurts fehlte, obwohl er seinen Namen groß und deutlich auf den Deckel und auf den Becher geschrieben hatte. Er war in seiner eigenen Welt.

 

Das Konzert sollte erst 19.30 Uhr beginnen. Er hatte sich vorgenommen, bereits gegen 16.00 Uhr da zu sein, so dass er einen halbwegs annehmbaren Stehplatz ergattern würde. Da er eh einmal vom Osten durch die gesamte Stadt hin zum Westen musste, brach er bereits kurz vor Mittag auf. Den Tag würde er schon irgendwie nutzen. Er war sich sicher, dass er ihn schon rumbringen würde, kam er doch seit Jahren nur noch selten unter Menschen. Er stieg in die S-Bahn und fuhr zuerst einmal bis Ostkreuz, wo er gezwungen war, umzusteigen. Früher konnte man durchfahren, jetzt wurde aber vier Jahre lang gebaut. Vier Jahre! Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen! Quasi eine Ewigkeit! Und wofür? Um aus dem einst seelenvollen noch einen weiteren seelenlosen Bahnhof zu machen.

Er erinnerte sich nur zu gut, wie das altersschwache Bahnkreuz tagtäglich den Menschenmassen trotzte, wie der versteckte obere Bahnsteig der S9, die nur in eine Richtung verkehrte, allmählich zuwucherte, wie das Stückchen Erde, welches den Bahnhof umzingelte, mehr und mehr zur Müllhalde verkam, wie sich die provisorischen Lampengestelle leicht windschief ins Gesamtbild einfügten, wie die unzähligen Plakate, die einen Wandflickenteppich am Ausgang Sonntagsstraße bildeten, den Bogendurchgang zu stützen schienen, wie selten er den anderen Ausgang nahm, dessen Häuschen an die alten Haltestellen im Osten erinnerte, und wie die kleinen Verkaufsstände auf den Bahnsteigen mehr an Favellahütten als an geschmacksanregende und appetitstiftende Verkaufseinrichtungen erinnerten. Er musste schmunzeln, als er an die metallischen Verpackungen der Caprisonne dachte, die, mit einem handschriftlich geschriebenen Preisschild beklebt und seit Jahren an der gleichen Stelle im Schaufenster stehend, leicht angestaubt waren und doch in der Sonne glitzerten.

 

Man hatte den Eindruck, dass Ostkreuz ein provisorischer, ein verwilderter Bahnhof war – wenn nicht sogar ein vergessener Bahnhof. Und doch einer durch und durch mit Charakter, wie man ihn nur noch selten fand – mit Ecken und Kanten aber beständig und vorhersehbar. Ein Charakter, der für etwas stand. Oder wie der Berliner lautmalerisch zu sagen pflegt: "Weeßte, dit is eene Marke für sich, wa!" So etwas fand man immer seltener in Berlin. Bald jedoch ist auch hier die Transformation vollbracht und Ostkreuz würde schlussendlich das gleiche Schicksal wie einst den Lehrter Bahnhof ereilen. Da mussten nämlich schmuckvolle rote Backsteine, kleine kunstvolle Türmchen, schmiedeeiserne Gestelle, unzählige handgroße Glasfenster, deren Halterungen leicht vom Rost angenagt waren, aber doch jedem Wetter standhielten, und der ganz eigene Schick, der den Stil zu Beginn des 19. Jahrhunderts prägte, grauem Beton weichen. Auf Wiedersehen, gehaltvolle Geschichte! Hallo, Moderne!

Just in diesem Moment fiel ihm auch wieder ein, wie absurd es ausgesehen hatte, als neben dem Lehrter Bahnhof, oder um ihn korrekt zu benennen, neben dem Lehrter Stadtbahnhof, das riesige Monstrum Hauptbahnhof hochgezogen wurde. Das kleine aber feine Bahnhofsgebäude trotze bis zum Schluss dem Gang der Zeit und erinnerte an eine einzelne Seepocke auf der Haut eines Buckelwals. Aber auch dann war es irgendwann so weit. Der unaufhaltsame Marsch des so genannten Fortschritts schluckte das wehrlose Überbleibsel vergangener Tage. Die Bahnhofspocke war unweigerlich Geschichte. Für immer verschwunden. Bei diesem Gedanken wischte er sich verstohlen eine Träne aus dem Auge. Zugegebenermaßen hatte er seine melancholisch-depressiven Phasen. Heute war es wohl besonders schlimm, da ihm auch noch die Nervosität zu schaffen machte, war er doch zusätzlich aufgewühlt.

Nein, nein, nein! Das darf nicht sein! Heute war doch ein besonderer Tag! Und nicht etwa einer solchen Tage, einer dieser speziellen Tage! Er schlich die Sonntagsstraße entlang und blickte auf seinen ehemals so geliebten Bahnhof Ostkreuz. Es war nicht mehr sein Bahnhof, es war nur noch irgendein Bahnhof, dem war er sich jetzt ganz sicher. Das riesige Stahl-Glas-Beton-Dach der Nord-Süd-Trasse stach monströs hervor. Es sah fast so aus, als würde es die beiden schwächelnden Bahnsteige unter ihm zerquetschen wollen. Er schüttelte den Kopf bei der Vorstellung und bemerkte, wie seine Hände zitterten. Eine ihm nur allzu gut bekannte Unruhe ergriff ihn und Gedankenfetzen rasten durch seinen Kopf. Das durfte doch nicht wahr sein! Er hatte seine Medikamente vergessen! Nicht nur, dass er sie sich nicht eingesteckt hatte, dämmerte ihm, nein, auch heute Morgen hatte er sie nicht genommen. 'Wieso, wieso, wieso nur?' fragte er sich zornig. Er hatte doch an alles gedacht, alles geplant, sich alles ausgemalt. Die Gedankenfetzen verwandelten sich in Blitze und sein Schädel dröhnte. Seine Paranoia kroch langsam aber sicher aus ihrem Synapsenversteck. Sein Betreuer hatte ihm beim Gehen noch gefragt, ob er nichts vergessen hätte. Er war aber so in Träumereien versunken gewesen, dass er nur beiläufig genickt und "Jaja" gemurmelt hatte.

 

ACDC. Buchstabe A an erster Stelle, Buchstabe C an Dritter, D an Vierter und noch einmal die dritte Stelle. Eins, drei, vier, drei. In der Summe ergab das elf. Eine Primzahl! Er wusste es! Er hatte schon damals ein ungutes Gefühl gehabt, vielleicht einer Verschwörung auf der Spur gewesen zu sein. Hätte er doch nur auf sein Bauchgefühl gehört. Er blickte noch weiter zurück und ihm überkam die Erkenntnis, dass "Stones" in der Summe 92 ergab. Dreimal die Drei und eine Zwei. Wieder nur Primzahlen! Langsam machte alles Sinn! Seine Schritte wurden schneller. Er schnaufte vor Aufregung und Wut über seine eigene Dummheit. Er ignorierte die Penner im kleinen Park gleich neben den Müttern, oder zu heutigen Zeiten auch vermehrt Väter in Elternzeit, die ein wachsames Auge auf ihre spielenden Kinder hatten, er ignorierte die Cocktailbars mit durchgehenden Happy Hours, so dass es eher Happy Days waren, die multinationalen Imbissbuden und die Spätis, wie sie liebevoll betitelt werden und nur zu oft eine glückselig nächtliche Rettung für Partygänger sind – eine Taubenschlag der Moderne, bei dem in der Dunkelheit das Leben in all seinen Absurditäten zu pulsieren beginnt. Das alles nahm er überhaupt nicht wahr. "Das darf nicht sein!" sprach er immer und immer wieder. Zwischenzeitlich unterbrach er sich nur selbst, um "Ich hätte es wissen müssen!" zu murmeln.

Nun rannte er schon förmlich. Schnell durch den Wandflickenteppich-Durchgang, der früher mal ein funktionierendes Gleis getragen hatte, jetzt aber nur noch von Sandbergen gesäumt war. Die Frage, ob dieser Wall wohl stehen bleiben würde, stellte er sich nicht. Rauf auf die provisorische Metalltreppe, die bereits zum Bersten gefüllt war, obwohl es gerade einmal früher Nachmittag war. Wieso nur konnten Menschenströme nie gleichmäßig und einheitlich fließen? Ordnungsgemäß wie der Autoverkehr? Dafür flossen hier nur zu viele Pendler von links nach rechts, von oben nach unten, von dem einen Bahnsteig zum Ausgang oder zum anderen Gleis gegenüber oder aber von dem einen Bahnsteig über die Treppe zum oberen Bahnsteig. Bei solchen metallenen Stufen hatte er sonst immer Angst, zu schnell zu sein, da man sonst leicht ausrutschen könnte. Heute ignorierte er diese Angst. Er rempelte sogar unzählige Leute an. "Ey, passen Sie doch auf!" wurde ihm des Öfteren hinterhergerufen, aber auch "Arschloch!" und "Spast!" ergossen sich wütend über ihn. Es scherte ihn jedoch nicht im Geringsten, hatte er doch als Einziger das Ausmaß der Verschwörung erkannt. Wie konnte er nur so blind gewesen sein, so selten dämlich, geißelte er sich selbst. Angewidert wichen ihm die entgegenkommenden Personen aus. Er hingegen sah dies als Zeichen, er hätte die Macht, ein Meer zu teilen – ein Menschenmeer!

 

B-R-U-C-E. Das ergab 49. Sieben mal sieben. Wieder nur Primzahlen! Ihm war nun klar, dass er alles in seiner Macht stehende tun musste, das Konzert zu verhindern. Alles nur Menschenmögliche. Hatten die Verschwörungstheoretiker doch recht gehabt. B-O-S-S. Zwei plus 15 plus 19 plus 19 mach insgesamt 55. "Oh mein Gott!", brabbelte er "Lass es noch nicht zu spät sein!" Die Quersumme der beiden Primzahlen ergab 10. Eins und Null. Wie beim Computer. Strom an, Strom aus. Würde etwa sonst der Strom des Systems ausgeschaltet werden? Würde ein Zusammenbruch bevor stehen? Die Apokalypse? Eins. Null. Die Zeit rann ihm durch die Finger. Er hatte das Gefühl, eine zerbrochene Sanduhr in den Händen zu halten. Die Scherben in seinem Kopf hingegen schillerten in allen Farben. Ihr Klingen verhallte erst friedlich, nur um dann mit voller Wucht wieder aufzublitzen. Seine Augäpfel schmerzten, als würde jemand von innen seine Daumen dagegen drücken. "49, 55, 49, 55", wimmerte er im Singsang, "Sieben, sieben, fünf, fünf". Sein Innerstes zog sich zusammen, er verkrampfte und kauerte an der Bahnsteigkante. "Die Verschwörung muss aufgehalten werden!" brüllte er. Dieser Aufruf steigerte sich in einen herzzerreißenden Schrei, kurz bevor er sich vor den einfahrenden Zug in Richtung Olympiastadion warf.

 

Der Zugverkehr sollte aufgrund eines "Personenschadens im Bereich Ostkreuz" für mehrere Stunden unterbrochen werden. Später sollten die Zeitungen unerwartet sachlich über den Vorfall berichtet haben. Die Polizei schloss Fremdverschulden sehr schnell aus. Dennoch wurden alle Personen innerhalb des Programms "Betreutes Wohnen", einschließlich des Sozialpädagogen, eingehend befragt. Auch hier konnte keinerlei Vergehen festgestellt werden. Ein resozialisierter Kollege soll sogar in seinem Nachruf über ihn gesagt haben, dass, er an Verschwörungstagen, wie er sie selbst nannte, nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen sein soll, was ihm dann leider auch zum Verhängnis wurde.


 

Manuela Schulz
Treffpunkt Ostkreuz

 

Ein Nachmittag Ende Dezember. Es war schon fast dunkel. Der kalte Atem des Winters verdichtete den aufziehenden Dunst zu Nebelschwaden, die ihrerseits zu feinem Nieselregen kondensierten. Die junge Frau stand auf dem Bahnsteig. Mit ihrem grauen Wintermantel, der schon bessere Tage gesehen hatte, und dem tief ins Gesicht gezogen grauen Hut verschmolz sie fast mit dem Pfeiler, an den sie sich gepresst hatte. Niemand schien sie zu bemerken. Passanten hetzten an ihr vorbei. Alle hatten es eilig den nächsten Zug zu erreichen, der sie nach Hause brachte ins Warme, ins Helle.

Die junge Frau wollte nicht nach Hause, ganz im Gegenteil. Ihren kleinen Koffer hatte sie unauffällig hinter sich geschoben. Je weniger von ihm zu sehen war, desto besser.

"Nur ein Gepäckstück, Louise", hatte Hermann gesagt. "Eine Tasche oder einen kleinen Koffer. Auf keinen Fall mehr." Hermann hatte gut reden. Wie sollte sie in nur einer Tasche ein ganzes Leben unterbringen, oder das, was davon noch übrig war? Was war es wert mitgenommen zu werden? Bilder von früher? Ihre Lieblingsbücher? Ihre Noten? Die Entscheidung war ihr schwer gefallen. Was ihr wirklich am Herzen lag, konnte man nicht in einen Koffer packen. Ihre Freunde, ihre Wohnung, ihren Flügel und vor allem ihre Großmutter.

Bei dem Gedanken an Omi füllten sich Louises Augen mit Tränen. Hastig versuchte sie diese wegzublinzeln. Sie hatte sich bis zuletzt gegen Hermanns Pläne gewehrt Deutschland zu verlassen. Ihre Großmutter hatte jedoch darauf bestanden, dass sie gingen.

"Louischen!" hatte sie im Herbst gesagt, als Hermann, wie so oft, zum Abendessen da war. "Es wird Zeit. Geht, solange ihr noch könnt."

"Und was wird aus dir?" entgegnete Louise. Sie hatten diese Diskussion bestimmt schon ein Dutzend Mal geführt. "Ich gehe nur, wenn du mitkommst. Wer soll sich um dich kümmern?"

"Kindchen, ich bin zwar alt, aber weder krank noch senil. Ich kann mich gut um mich selber kümmern. Ich bin in Berlin geboren und will hier auch irgendwann einmal sterben. Einen so alten Baum wie mich pflanzt man nicht mehr um. Wer soll denn Dienstags mit Frau Blumenstein und Frau Kohlhoff Canasta spielen? Die beiden brauchen mich doch. Was soll mir schon passieren? Verhungern lassen sie mich bestimmt nicht."

Louise gab sich geschlagen. Was sich ihre Großmutter in den Kopf gesetzt hatte, konnte man ihr selten wieder ausreden.

Nun stand sie hier am Ostkreuz und wartete auf Hermann, der mit dem Zug aus Erkner kommen wollte. Vor lauter Aufregung war sie viel zu früh eingetroffen. Zehn Minuten noch! Eine Ewigkeit, wenn man das Gefühl hat, dass jeder einen beobachtet.

Ihr Blick fiel auf das Revers ihres Mantels. Omi hatte zwar gesagt es wäre überhaupt nichts zu sehen. Aber für Louise stachen die Löcher, die der schwarze Faden, mit dem sie den gelben Stern auf das Revers genäht hatte, förmlich ins Auge. Sie hatte solange auf dem grauen Stoff herumgerieben, bis er anfing sich aufzurauen. Omi hatte ihr die kleine Bürste aus der Hand genommen. "Man sieht nichts", hatte sie ihr versichert.

Die falschen Papiere, die Hermann besorgt hatte, waren nun seit dem endgültigen Ausreiseverbot ihre letzte Hoffnung. Ein dünner Strohalm auf dem Weg ins Ungewisse. Am Ende des Weges winkten die Freiheit und ein Leben ohne Bedrohungen und Drangsalierungen. Hermann und sie könnten heiraten und endlich Kinder haben. Wenn alles gut ging, würden sie morgen um diese Zeit schon in der Schweiz sein. Wenn alles gut ging.

Louise blickte sich um. Bestimmt fiel es auf, wenn sie hier so lange mit einem Koffer stand, ohne einzusteigen. Jemand würde misstrauisch werden und am Ende sogar die Polizei rufen. Sie atmete tief ein und aus. Jetzt durfte sie nicht die Nerven verlieren. Sie durfte sich nicht von der aufsteigenden Panik überwältigen lassen!

Die Zeiger der Bahnhofsuhr schlichen vier Uhr entgegen. Louise versuchte vergeblich im Nebelgrau des Gleisbetts die Lichter eines einfahrenden Zuges auszumachen. Es war nichts zu sehen. Plötzlich schallte eine Stimme über den Bahnhof. "Achtung, Achtung! Der Zug aus Erkner auf Bahnsteig E hat voraussichtlich 10 Minuten Verspätung."

Louises Magen krampfte sich zusammen. Ihr Herz raste. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.

Sie versuchte ihren Koffer noch weiter hinter den Pfeiler zu schieben. Der Bahnsteig füllte sich. Vielleicht war das ein Vorteil. So fiel sie weniger auf. Immer mehr Menschen strömten von der Treppe auf den Bahnsteig, unter ihnen zwei Polizisten. Hoffentlich gingen sie nicht in ihre Richtung. Louise vergrub ihre Hände in den Manteltaschen. Dabei stieß sie auf den kleinen Kiesel, den Hermann vor zwei Jahren Sommer am Grunewaldsee gefunden hatte. Er war schwarz und herzförmig. Hermann hatte ihn auf ihre Handfläche gelegt und zärtlich ihre Finger um den Stein geschlossen. "Ich lege mein Herz in deine Hand", hatte er geflüstert und sie das erste Mal geküsst. Seine Lippen schmeckten nach Erdbeeren, Sonne und Glück. Seitdem war der Stein ihr ständiger Begleiter und Talisman.

Louise hatte das Gefühl beobachtet zu werden. Sie drehte den Kopf ein Stück zur Seite und sah die kleine, rundliche Frau, die in ihre Richtung sah. Erschrocken zog Louise die Luft ein. Das war Frau Herzog, ihre ehemalige Klavierlehrerin von der Musikschule. Frau Herzog stand da, starrte sie unverhohlen an, ohne eine Regung zu zeigen. Ob sie sich an sie erinnerte? Bestimmt. Louise war Klassenbeste gewesen. Frau Herzog hatte ihr eine große Zukunft prophezeit. Bis die neuen Gesetze in Kraft traten und man alle jüdischen Studenten der Schule verwiesen hatte. Frau Herzog durchbohrte die junge Frau weiterhin mit einem ausdruckslosen Blick. Louise dreht sich schnell wieder um. Ganz gewiss hatte ihre alte Lehrerin bemerkt, dass sie keinen Judenstern trug.

Die Polizisten hatten das Ende der Treppe erreicht und bewegten sich langsam auf Louise zu. Sie biss sich auf die Lippen. Sollte sie schnell den Bahnsteig verlassen? Oder doch besser stehen bleiben? Die Polizisten kamen näher. Louise sah, wie sie miteinander sprachen. Der eine wies dabei mit der Hand in ihre Richtung. Louise stockte der Atem. Sie war bestimmt nicht gemeint. Oder doch? Gleich kam der Zug und Hermann, dann konnte sie weg von hier. Louise drehte sich um und erstarrte.

Frau Herzog hatte sich in Bewegung gesetzt und bahnte sich an ihr vorbei einen Weg durch die wartende Menschenmenge. Sie steuerte geradewegs auf die Polizisten zu. Das ist das Ende, schoss Louise durch den Kopf. Sie wird mich verraten.

Frau Herzog hatte die Polizisten fast erreicht. Louise griff nach ihrem Koffer. Sie könnte sich auf der anderen Seite des Pfeilers verstecken. Doch das würde ihr nur für einen Moment Sicherheit geben. Sie konnte nirgendwo hin. Sie musste auf Hermann warten.

Frau Herzog sprach die Polizisten an. Wild gestikulierend zeigte sie immer wieder zum entgegengesetzten Ende des Bahnsteigs. Die Polizisten nickten verständnisvoll. Der eine legte ihr eine Hand auf die Schulter als wolle er sie beruhigen. Frau Herzog schüttelte den Kopf und packte beide Polizisten bei den Uniformärmeln. Sie zog die Männer mit sich zurück in Richtung Treppe.

Im Gehen drehte sich Frau Herzog nochmals um und sah in Louises Richtung. Ihre alte Lehrerin lächelte und nickte ihr zu.

Aus der Ferne zerschnitten die Lichter des einfahrenden Zuges aus Erkner den Nebel im Gleisbett auf Bahnsteig E.


 

Hans Joachim Kleinschmidt
Abenteuerreise Ostkreuz

 

Wenn einer eine Reise tut, kann er was erzählen! Heidi und Hajo befinden sich auf der Rückreise von Hannover nach Berlin-Ostbahnhof. Der von uns benutzte Zug hatte bereits in Hannover über fünfzig Minuten Verspätung, die er auch bis Berlin nicht wieder einholen konnte. Wir kamen mit siebenundfünfzig Minuten Verspätung am Ostbahnhof an und meldeten diese sofort im Service-Center. Aber man belehrte uns bundesbahnfachmännisch, dass ein Regress erst ab sechzig Minuten wirksam wird. Das bedeutet für den Fahrgast, dass seine verlorene Zeit sein eigenes Problem bleibt. Also bekamen wir "nischt".

Ein Lichtblick war für uns die funktionstüchtige Rolltreppe zu den S-Bahngleisen. Die uns erteilte Information lautete: Benutzung der S-Bahn bis Ostkreuz, dann weiter mit der Ringbahn in die gewünschte Richtung. Da wirft sich für uns die naive Frage auf, warum wurde denn die bequeme S-Bahntrasse von Stadtbahn über Ostkreuz nach Treptow schon zu Beginn der unendlichen Umbauzeit des Bahnhofs Ostkreuz eliminiert? Das ist eine offensichtliche Verschwörung der Bauherren gegen die geplagten Reisenden.

Am Ostkreuz angekommen, wuselt sich Heidi, die noch etwas besser zu Fuß ist, zur Treppe durch, um zur Ringbahn zu gelangen. Ich ziehe schnaufend meinen geräderten Koffer, nein, gerädert fühle ich mich selbst, mein mit Rollen ausgestattetes Gepäck ebenfalls bis zur Treppe. Dieses improvisierte Prunkstück betrachte ich als weitere Verschwörung der Konstrukteure gegen die Benutzer. Die Stufen sind im Höhenabstand nicht entsprechend der Norm. Dadurch haben Körperbehinderte besonders große Probleme beim Hinauf- und Hinuntersteigen. Mit der rechten Hand den Handlauf nutzend, schleppten wir uns und unser Gepäck die Stiegen zu den Ringbahngleisen hinauf. Ein eisiger Wind begleitete unser Fortkommen. Die passende S-Bahn brachte uns geschafft aber glücklich endlich nach Hause.

Mein Fazit als gelernter ehemaliger Eisenbahner: Solch ein Chaos habe ich in der gesamten Dienstzeit bei der Deutschen Reichsbahn nicht erlebt. Dabei haben wir Eisenbahner über auftretende Mängel gelästert und kritisiert. Wir nannten dann den riesigen Betrieb despektierlich Forma Not und Elend oder, nach dem Namen unseres höchsten Chefs: "Kramers Fuhrbetrieb". Die Privatisierung der Bahn halte ich für die größte Verschwörung zum Nachteil der armen Reisenden, wovon schlechthin nicht nur das Ostkreuz betroffen ist.


 

Miryam Kirschner
Die Verschwörung des Fiaskos zu Genua

 

Sie hatte entschieden, dass mit dem Sprung in die Freiheit am Ostkreuz niemanden geholfen sei. Nachdem sie 12 mal tief ein- und ausatmete fand sie in der Menschenmenge endlich den Ausgang zur Sonntagstraße.

Endlich erschöpft zu Hause angekommen schmeißt sie sich zu Hause auf die Couch und schaltet den Fernseher ein.

Eine Dokumentation erlangt Ihre volle Aufmerksamkeit. Plötzlich ist sie wieder hellwach. Was sich da vor ihren Augen ausbreitet ist im wahrsten Sinne der reinste Wahnsinn.

Ein kleines unschuldiges Baby erkundet im voll verkabelten Zustand seine Welt, lacht und krabbelt umher, die Eltern immer stolz in Szene gesetzt.

Der wissenschaftliche Vorstand der Fakultät "Human Factor" erklärt die Funktionen der Kabel, die dem Baby teilweise den Weg weisen. Teilweise zieht das kleine so unbeirrt umhertrollende Wesen die Kabel nach sich.

"Dieses Baby" fängt er an zu erklären, "das noch nichts von seiner Welt versteht, verhilft uns, auf verspielte Art und Weise dank seiner Erkundungen einen Computer zu kreieren, an dem die erfolgreichsten Wissenschaftler aus Genua mitarbeiten dürfen – die erste künstliche Intelligenz wird uns noch dieses Jahrzehnt überraschen."

Mit Genua konnte sie bisher nicht viel in Verbindung bringen, außer daß es sich um eine Stadt im Nordwesten Italiens handelt und sie dieses Stück von Schiller "Die Verschwörung des Fiescos zu Genua" gelesen hatte, in dem sie die zerissene Julia spielen durfte.

"Das Baby ist zweiundzwanzig Stunden pro Tag angeschlossen und ein Gerät, dem EEG ähnlich, zeichnet die Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen dieses süßen kleinen Menschen auf – eine bahnbrechende neuartige Methode, die der Entwicklung des zukünftigen Baby-Computers dient – ein Baby-Computer, der uns den Weg in eine neue Zukunft weisen wird ... Endlich werden wir verstehen können, warum sich der Mensch in welcher Situation wie verhält. Forscher der Psychologie – die undurchsichtigste Wissenschaft von allen - die Behavioristen sowie Psychoanalytiker werden sich endlich ihre Irrtümer eingestehen und sich nicht mehr streiten müssen."

Plötzlich hört sie Kirchenglocken im Dorf. 'Sind das die Kreationisten?!' flüstert sie und erschreckt sich über ihre eigenen Worte. Glücklicherweise sind es "nur" die Glocken aus dem Fernseher. Der Moderator grinst als würde er die Dachgiebel einer längst verlorenen Zeit im Hintergrund schmücken.

Aber was ist jetzt los? Der Sender springt um. Der Fernseher zeigt ein anderes Programm an, und das, obwohl sie noch nicht mal die Fernbedienung berührt hat. Es scheint sich auch um eine Dokumentation zu handeln - Thema Kinderarbeit. Dem Bericht zufolge wird 70 % der Kakao-Ernte von der Elfenbeinküste nach Deutschland importiert und an Ferrero geliefert — von Kindern für Kinder. Die Dokumentation ist zu Ende. In der Werbepause erscheint ein Schokoriegel, der mit seinem Milchglas flirtet — Kinderschokolade.

Sie muss aufs Klo und stellt noch schnell um auf die Dokumentation mit dem Baby. Auch hier ist gerade Werbepause. Ein Kind spielt mit einem dieser Figürchen aus der Kinderschokolade, die ganz einfach da sind, ohne Bastelanleitung, eines der 33 Serienfiguren mit Antenne auf dem Kopf. Oh nein, hier ist die Werbung schon vorangeschritten. Seufzend geht sie auf die Toilette.

Als sie wiederkommt läuft ein Bericht über Mädchenbeschneidungen.

Die andere Doku war doch noch nicht zu Ende. Ist der Fernseher wieder umgesprungen? Wo ist die Fernbedienung? Oh, sie hat sie auf dem Klo vergessen. Sie hat sie auf dem Spülknopf abgelegt, und nun ist sie zwischen der Heizung und der Wand gerutscht. Es dauert eine Weile, bis sie die Fernbedienung befreit hat.

Sie zappt weiter. RTL wirbt für eine Liebesgeschichte. 'Das ist doch bestimmt die Wiederholung einer solchen Komödie, die mich nur langweilen täte', denkt sie.

Auf einmal tut sich auf dem Bildschirm Big Brother auf. Big Brother, die 888. Staffel. Mittlerweile hat jeder der Bewohner dieses Hauses ein Geheimnis, wovon nur Big Brother eingeweiht ist. Jeder der Kandidaten, der wie auch immer auf das Geheimnis eines Mitbewohners kommt, kann von den Fernsehzuschauern nicht nominiert werden, das heißt nicht rauskatapultiert werden. Am Ende entscheidet also Big Brother?

Wie auch immer.

Sie möchte den Fernseher durch vier teilen. Glücklicherweise hat sie so einen Fernseher, bei dem sie vier Bilder gleichzeitig aufrufen und sehen kann.

Sie eruiert, auf welchen Sendern die Dokumentationen laufen und findet endlich den Bericht über das Baby.

Aber wo ist das Baby geblieben, dieses leibhaftige Geschöpf, wo ist es hin?! Auf einmal überfällt sie eine Angst, die wohl nur Mütter für ihre kleinen Sprösslinge spüren können, dieses Gefühl, leibhaftig mit einem Baby in Verbindung zu stehen, gesetzt den Fall, es wurde auf natürliche Art und Weise zur Welt gebracht.

Da! Endlich, da krabbelt es! Rechtzeitig kann sie noch beobachten, wie sich das Baby mit einer schlauen Mine von einem Kabel entheddert.

Hat es sich jetzt befreit, oder wird es ihm nur vorgegaukelt?

Das passiert also in Genua – was sich die Italiener alles so ausdenken, aber sie möchte erst gar nicht wissen, wie es woanders ausschaut.

Warum wurde gerade dieses Baby für die Experimente ausgewählt, und wie viel Geld wurde wohl dem über beide Ohren grinsenden Elternpaar angeboten, das ihrem Baby nun seine ganze Zukunft sichern kann: vom Elite-Kindergarten angefangen über die Elite-Uni. Einen Elite-Partner. Eine Elite-Beerdigung in einem Elite-Sarg auf einem Elite-Friedhof – was sonst?! Nicht ganz uneigennützig auch eine Elite-Alterspension für die lieben Eltern, die sich so sehr ihr ganzes Leben für Ihr Elite-Baby eingesetzt haben.

Ist dieses Baby womöglich eine gentechnische Kreatur von Chromosomen aus Heidi Klums Erbmaterial und dem entscheidenden konservierten y-Chromosom des DNS-Strangs von Albert Einstein? – Sozusagen eine perfekte Mischung?

Oder hat etwa doch ein Baby-Casting stattgefunden, und alles ist viel humaner als wir es uns denken.

Vielleicht hat sogar beides stattgefunden... Ein Baby-Casting zwischen Auserkorenen... Sie ist nämlich nicht so naiv zu glauben, daß alle Auswahlverfahren über eine einzige Agentur laufen, auch hier gibt es einen Wettbewerb und hohe Konkurrenz – verschiedene Firmen, die jede für sich eine Kartei zusammenstellen von Elite-Schönheiten und Elite-Intelligenzen... hochgezüchtete edle Menschen, die sich alle selbst übertreffen... auch eine Form von natürlicher Auslese, denn sind alle Menschen hochgezüchtet, bleibt eben immer noch ein Rest Sozialisation, die erklärt, warum ein Mensch so wird wie er ist.

Nachdem die Dokumentation endlich Ihren Schluß gefunden hat, wird der Film "Sie sind ein schöner Mann" angekündigt.

Nach dem Tod der Frau, die beim Kurzschluss der Melkmaschine das Zeitliche segnet, muß Ersatz her — weniger fürs schöne Gefühl als fürs schmutzige Geschirr. Wie sich schließlich ein trister Bauernhof in Frankreich durch den Einfluß einer Rumänin verwandelt, wird sagenhaft mit einer ordentlichen Portion Humor erzählt. Also doch noch ein Happy End.

Endlich müde, aber zufrieden fallen ihr die Augen zu.


 

Michael Guske
Die Geister vom Bahnsteig F

 

Beinahe wäre der alte Mann eingenickt, doch sein Unterbewusstsein lässt ihn wieder hochschrecken. Er weiß, dass er den Halt im Bahnhof Ostkreuz nicht verschlafen darf. Dort muss er raus, und seine Freunde hatten ihm gesagt, dass er nur wenige Minuten Zeit zum Umsteigen in die Ringbahn hat. Er darf diesen Zug nicht verpassen, denn der ist der letzte vor der Betriebspause. Ansonsten müsste er fast drei Stunden warten, bevor ihn die erste Bahn in den Norden Berlins bringt, wo er in einer preiswerten Pension für die Dauer seines Besuches in Berlin wohnt.

Berlin! Über 40 Jahre ist es jetzt her, seit er die Stadt verlassen hat. Sein Militärdienst war zu Ende und er ging zurück nach Kanada. Er hatte in Westberlin viele deutsche Freunde zurück gelassen. Sie hatten sich geschrieben, miteinander telefoniert und später übers Internet mit Email und Skype miteinander kommuniziert. Doch erst jetzt hatte er es geschafft, wieder in die Stadt seiner Jugend zurückzukehren. Ein Transatlantikflug ist teuer, das Geld bei ihm war immer knapp. Aber jetzt hatte er sich seinen Traum erfüllt. Viel ist passiert in den letzten zwanzig Jahren. Die Mauer ist gefallen, Berlin ist wieder eine vereinte Stadt. Seine Freunde schrieben ihm voller Begeisterungen von den Veränderungen, die hier passierten, von dem Leben, dass in die einstmals pulsierende und dann zerissene Metropole wieder eingekehrt ist, von der Stadt, die aus ihrem Schlaf erwacht ist und nun keinen Schlaf mehr findet. Für den Flug gingen fast seine gesamten Ersparnisse drauf, doch was sein wird, wenn er wieder zu Hause ist, schert ihm im Moment wenig. Zu sehr ist er fasziniert von dem, was er jeden Tag erlebt. Er schläft wenig in diesen Tagen, doch so spät wie dieses Mal war er bisher noch nicht unterwegs.

Kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof verlangsamt sich die Fahrt, dann bleibt der Zug stehen. Unruhig schaut er auf seine Uhr. 'Das wird knapp', denkt er und holt aus seiner Jackentasche den Zettel mit den eilig hingekritzelten Abfahrzeiten hervor. 'Verdammt knapp.'

Dann blickt er wieder angestrengt auf die Uhr, als könne er allein durch die Kraft seiner Gedanken die Zeiger zwingen, sich langsamer zu bewegen.

Doch dann, nach einer quälend langen Zeit, setzt sich die Bahn wieder in Bewegung. Er steht schon an der Tür und drückt den Knopf zum Öffnen, bevor der Bahnhof überhaupt erreicht ist. Endlich kommt der Zug zum Halten und mit einem leisen Zischen öffnet sich die Tür. Er orientiert sich kurz, dann steigt er aus und läuft eilig zur Treppe, die auf den neuen Ringbahnsteig führt. Ein kurzer Blick nach oben zeigt ihm, dass die Ringbahn Richtung Norden schon eingefahren ist. Einige Fahrgäste, wesentlich jünger als er, laufen an ihm vorbei, nehmen mehrere Stufen auf einmal und haben nach kurzer Zeit den oberen Bahnsteig erreicht. Er ist jetzt allein auf der Treppe. Inständig hofft er, dass der Zug auf ihn warten wird. Der Fahrer muss doch Verständnis dafür haben, dass er noch mit muss, dass er sich ein Taxi nicht leisten kann. Er hofft darauf, dass jemand ruft: "Halt, warten Sie, da ist noch jemand auf der Treppe, ein alter Mann, der kann nicht so schnell laufen".

Die Treppe erscheint ihm noch länger als sonst, die Stufen nehmen kein Ende. Er merkt, wie sein Herz rast, doch noch schneller kann er nicht. Bevor er oben ankommt, hört er das Abklingeln und kurz darauf verlässt der Zug den Bahnhof. Zu spät. Langsam nimmt er die letzten Stufen. Er zieht sich am Geländer hoch und atmet schwer. Der Bahnsteig ist hell erleuchtet, aber menschenleer. Die Anzeige wechselt von "Ring 41" auf "Kein Zugverkehr".

Bevor er überlegen kann, was er jetzt machen soll, muss sein Herz zur Ruhe kommen. Er spürt die Stiche in seiner Brust und sieht sich nach einem Sitzplatz um. Eine Bank, besser gesagt, vier metallene aneinander geschweißte Einzelsitze, unmittelbar in seiner Nähe, im Lichtschatten eines noch nicht eingerichteten Kioskes, sind sein Ziel.

Erleichtert lässt er sich nieder. Der Atem geht immer noch stoßweise, die Stiche sind schmerzhaft, doch sein Herz scheint sich zu beruhigen. Der Herzschlag wird langsam und immer langsamer und plötzlich fallen ihm die Augen zu.

Er kommt wieder zu sich. Er muss geschlafen haben, wie lange, weiß er nicht. Seine Hände sind kalt, aber er friert nicht. Plötzlich hat er das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Er sieht sich um. Einige Meter entfernt, im Lichtschein der Bahnhofsbeleuchtung, befindet sich eine weitere Bank, vier Sitze, zusammengeschweißt, in der Mitte eine Ablage fürs Gepäck. Auf dieser Bank sitzt ein Mann.

 

Anton ist der Erste, wie immer. Und wie immer sitzt seine Eisenbahneruniform akkurat, die rote Mütze auf seinen Kopf leuchtet wie Klatschmohn auf einer Sommerwiese, die Abfertigungskelle hat er fest in der Hand. 37 Jahre hat er auf dem Bahnsteig F die Züge abgefertigt, erst die Ringbahnen, dann, nach dem Mauerbau, den Oranienburger, dessen Holzabteile immer ein wenig nach Fisch rochen, den Grünauer, der grün bezogene gepolsterte Sitze hatte, den KWer und natürlich die Pendelzüge zur Greifswalder. Er kannte jeden Fahrplan auswendig, jeden Fahrer mit Namen, jede Niete an den alten Säulen, die das Bahnsteigdach trugen. Die S-Bahn war sein Leben, bis zu jenem Tag, als die Uniform seinen schwachen Körper nicht mehr aufrecht halten konnte. Er brach zusammen in dem kleinen Häuschen, das dem Bahnsteigpersonal ein bisschen Schutz bot bei Wind und Kälte. Als der Fahrer des Aussetzzuges nach Baumschulenweg ihn fand, verwundert, dass er nicht abgefertigt wurde, war es schon zu spät. Anton war tot, wenige Wochen vor der Pensionierung. Doch Anton konnte selbst als Toter nicht von seinem Bahnsteig lassen. Jede Nacht kommt er her, um nach dem Rechten zu sehen, die Uniform gebügelt, die Mütze strahlend rot. Auch die Kelle hat er bei, man weiß ja nie.

"Na, Anton, du oller Schaffner, was guckst du so missmutig?" Veilchen legt Anton zur Begrüßung die Hand auf die Schulter und setzt sich neben ihn. Veilchen heißt eigentlich richtig Gisela, aber jeder sagt Veilchen zu ihr. Sie hat Blumen verkauft, unten auf dem Bahnsteig E, nach Ostbahnhof in die eine, nach Erkner in die andere Richtung. Eines Tages stieß sie aus Versehen einen kleinen Wassereimer um, in dem schon etwas verwelkte Nelken standen. Sie rutschte aus, fand keinen Halt und stürzte auf ein Stück Styropor. Pech für sie, dass in dem Styropor lange Drähte aufrecht steckten, mit denen sie eigentlich die Köpfchen der Nelken abstützen wollte, um sie frisch und kräftig aussehen zu lassen. Einige der Drahtenden bohrten sich direkt durch die Brust in ihr Herz.

"Ich weiß nicht, ich weiß nicht", sagt Anton, "ich kann mich einfach nicht an diesen Anblick gewöhnen". Anton deutet mit der Hand unbestimmt über den Bahnsteig. "Wie sieht das denn aus? Das soll unser Ostkreuz sein? Das kann auch genauso gut der Hauptbahnhof von Paderborn sein oder ein deutsches Entwicklungshilfeprojekt für Kambodscha."

"Gibt’s in Kambodscha überhaupt eine Bahn?" Veilchen schaut nachdenklich.

"Keine Ahnung, ist doch egal, aber das hat doch hier alles nichts mehr mit dem alten Ostkreuz zu tun. Das hat doch keine Geschichte, das atmet doch nicht!"

"Anton, du alter Pufferküsser, was schimpfst du schon wieder?" Aus dem halbdunklen Hintergrund taucht Fritz auf, in seiner verblichenen Wehrmachtsuniform, das Käppi schief auf dem Kopf. Fritz hatte in den letzten Apriltagen des Weltkrieges den Wasserturm und die angrenzenden Schrebergärten für seinen Führer gegen Bolschewismus und Zwangskollektivierung verteidigt. Das klappte aber nicht, denn ein russischer Scharfschütze hatte Fritz ein sauberes Loch mitten in die Stirn geschossen. Für Fritz war der Krieg und auch alles Andere damit zu Ende, die Schrebergärten wurden von der Roten Armee erobert. Fritz setzt sich hin, rückt das Käppi zurecht, holt ein leicht graustichiges Taschentuch aus der Hosentasche und poliert damit die Nahkampfspange, die er über der linken Brust trägt.

"Du kannst die Uhr nicht zurück drehen, glaub’ mir, ich weiß das. Der alte Bahnsteig ist weg, futsch, abgerissen, p-u-l-v-e-r-i-s-i-e-r-t." Das letzte Wort dehnt er besonders lang und betont jeden Buchstaben einzeln. Fritz liebt diese bildhafte Sprache, 12 Jahre Wochenschau haben ihre Spuren hinterlassen. "Ist doch so, oder, Richard, was sagst du?" Fritz schaut den Neuankömmling, der in diesem Moment auf sie zukommt, lauernd an. Er kann Richard nicht besonders gut leiden. Richard ist ein ganz und gar unmilitärischer Mensch. In seinem Leben hatte er irgendwas mit Musik zu tun, ist dann aber völlig abgestürzt. Vor einigen Jahren ist er am Heiligabend, nachdem er seine Mutter im Altersheim besucht hat, noch durch einige Eckkneipen gezogen, die es damals noch am Bahnhof gab. Völlig betrunken, ist er dann auf dem Bahnsteig eingeschlafen und in der bitterkalten Nacht erfroren.

Richard zieht die schmalen Schultern hoch und nickt. "Ja, klar, ist alles neu hier. Was war, ist vorbei. Finde Dich damit ab, Anton, jetzt beginnt eine andere Zeit." Richard ist nicht besonders engagiert. Seit Wochen reden sie jede Nacht über dieses Thema. Anton kommt davon nicht los, aber ihm ist es egal. Er hat das Ostkreuz noch nie besonders gemocht, es hat ihm sogar manchmal Angst gemacht. Dunkel, kalt, verfallen, in Stahl und Stein gehauene preußische Eisenbahnkultur. Nee, das war nicht sein Ding. Es kann nur besser werden.

Ein bunter Rucksack fällt vor ihre Füße, mit einem leuchtend gelben Smiley drauf. Ein junges Mädchen taucht leise wie ein Schatten auf und hockt sich wortlos auf die Gepäckablage in der Mitte der Bank. Maria ist noch nicht lange dabei, erst seit dem letzten Sommer. Sie hatte sich vor eine S-Bahn geworfen. Warum, wissen die Anderen nicht so genau. Maria spricht wenig, sie wissen nur, dass sie aus Bosnien kommt und großen Kummer hatte. "Kummer", mehr hatte sie nicht gesagt, als sie sie nach dem "Warum?" fragten. Sie fragten nicht mehr und haben sich inzwischen daran gewöhnt, dass Maria jede Nacht bei ihnen sitzt und nichts sagt. Manchmal lächelt sie ein wenig, aber meistens sieht sie sehr traurig aus. Maria nickt kurz in die Runde, holt Tabak und Papier aus ihrer Jackentasche und dreht sich eine Zigarette.

"Ja, klar, weiß ich doch", Anton fühlt sich missverstanden. "Natürlich ist das alles jetzt weg. Aber so", seine Hand beschrieb einen Halbkreis, "aber so geht das doch auch nicht. Man kann uns doch nicht so einen seelenlosen Kasten hinsetzen. Ob Bahnhof, Einkaufscenter, Hotel oder Flughafen, das sieht doch heute alles gleich aus! Als wenn eine riesige Betonfabrik die Einzelteile ausspuckt und die dann immer nur ein bisschen anders zusammengesetzt werden." Anton rückt sich die Krawatte zurecht und überprüft mit geübter Handbewegung den korrekten Sitz seiner Dienstmütze.

"Und, was willst du dagegen machen?" Fritz ist fertig mit der Politur seines Ordens, steckt das sorgfältig zusammengefaltete Taschentuch ein und schaut interessiert zu Anton herüber.

"Ja, Anton was willst du machen?" hakt Veilchen nach. "Wir sind nur gottverdammte Zombies, die aus irgendwelchen Gründen immer noch hier abhängen, obwohl wir eigentlich schon lange friedlich in der Erde liegen sollten."

"Wir müssen ein Zeichen setzen gegen diese zunehmende Verschandelung, diese kultivierte Leblosigkeit." Anton ist aufgesprungen und schaut die anderen an.

"Diese was?" Fritz blickt irritiert zu Anton auf.

"Er meint diese in Beton gegossene Langeweile, die dann der Öffentlichkeit als große Nummer verkauft wird. Dafür bekommt der Architekt soviel Schotter, dass es dann leider für ein komplettes Bahnsteigdach nicht mehr reicht." Richard sprich leise und schaut dabei auf einen Plakat, dass jemand auf die blinde Scheibe des Kiosks geklebt hat. 'Lebe jeden Tag. Klangschalenmeditation mit Meister Lari Shang.' ist dort zu lesen, dazu das Foto eines gütig dreinblickenden kahlköpfigen Mannes, der wie ein Klon vom Dalai Lama aussieht.

"Genau, Richard hat’s erfasst. Wir müssen zeigen, dass wir uns so das neue Ostkreuz nicht vorgestellt haben."

"Na ja, so schlecht ist das ja bis jetzt auch nicht." Veilchen sieht sich in der Halle um. "Es gibt ein Dach und Wände an den Seiten. Denk dran, Anton, früher hat es immer gezogen wie Hechtsuppe. Man konnte sich ja den Tod holen auf diesem Bahnsteig … äh … uups … Entschuldigung … Anton." Veilchen bricht ab, doch Anton scheint nichts gemerkt zu haben.

"Also, Anton, was schlägst Du denn vor? Sollen wir uns auf die Gleise legen? An die Signale ketten? Ein riesiges Transparent aufspannen: Wir wollen unser altes Ostkreuz wieder haben? Das ist doch alles Quark. Den meisten Leuten ist das doch völlig Wurscht, wie es in ihrer Stadt aussieht. Hauptsache, zu Hause liegt die Häkeldecke ordentlich über dem Fernseher." Richard winkt müde ab und überlegt dabei, was eine Klangschalenmeditation ist.

"Naja, so richtig weiß ich das auch nicht", sagt Anton, leicht resigniert, "du hast Recht, es interessiert doch sowieso keinen".

"Farbe." Maria wirft die Kippe auf den Boden und ignoriert Antons erzürnten Blick. "Hier fehlt Farbe." Alle sind überrascht. So viele Wörter hat Maria bisher noch nie hintereinander gesprochen. "Alles grau hier, nicht gut für die Menschen."

"Sie hat Recht", sagt Veilchen und wirft Maria ein Lächeln zu. "Sie hat völlig Recht. Es gibt hier keine Farbe und keine Blumen. Kein Mensch will auch nur eine Sekunde länger als unbedingt nötig bleiben. Es gibt nichts, woran das Auge sich erfreuen kann. Das sollten wir ändern. Was meinst Du, Anton?"

Anton überlegt noch ein wenig, dann nickt er. "Ja, ich denke auch, dass das eine gute Idee ist. Wir besorgen uns Farbe und machen den Bahnsteig lebendig. Macht Ihr mit?"

Maria und Veilchen nicken.

"Und wie sollen wir das machen? Das mit der Farbe besorgen und so weiter?" Fritz hat inzwischen wieder sein Taschentuch herausgeholt und poliert erneut seine Nahkampfspange.

"Sind wir Geister oder was?" fragt Veilchen herausfordernd. "Lass dir was einfallen, egal was, aber komme morgen ja nicht ohne Farbe."

Fritz schaut zwar noch etwas zweifelnd, nickt dann aber auch.

"Und du, Richard?" Richard denkt immer noch über das Wesen einer Klangschalenmeditation nach und nickt abwesend.

"Gut, dann machen wir das so. Wir treffen uns morgen zur üblichen Zeit, mit Farbe, Pinsel und Rolle. Wie Ihr das Zeug besorgt, ist eure Sache. Und bitte kein Feldgrau, Fritz!"

Anton winkt ihnen zu, dreht sich um und verschwindet. Die anderen folgen ihm.

 

Die ganze Zeit hatte ihnen der alte Mann zugehört, so, wie er es schon seit einigen Wochen machte, seit jener Nacht, als sein herz auf diesem Bahnsteig seinen letzten Schlag getan hat. Auch er steht auf und geht in Dunkelheit.


 

Ilse Treue
Automatisches Schreiben einer Verschwörungs-Verweigerin

 

Als ich das Thema des diesjährigen Ostkreuz-Schreibwettbewerbs las, dachte ich, was haben sie sich nur einfallen lassen? "Ostkreuz-Verschwörung", das hat für mich so etwas wie Sensation oder gar Katastrophe. Nein, dazu wollte ich nichts schreiben. An acht von neun Schreibwettbewerben nahm ich teil. Danach schwor ich mir: Jetzt ist Schluss. Doch das Ostkreuz lässt mich nicht in Ruhe. Es liegt mir am Herzen. Muss man aber an das Ostkreuz in fiktiven Geschichten denken? Kann man sich nicht einfach nur freuen über das, was da entsteht? Die gewaltigen logistischen, technischen und menschlichen Leistungen bei laufendem Verkehr sind beeindruckend. Die neue Ringbahnhalle begeistert mich. Wie imposant das verglaste Gebäude aussieht! Ob ich von der Warschauer Brücke aus zum Ostkreuz schaue oder von der Halbinsel Stralau kommend oder ob ich den bequemen Aufzug am Eingang Markgrafendamm betrete, immer ergreift mich ein erhebendes Gefühl.

Meine Gedanken wandern um Jahrzehnte zurück. Unsere Kinder stiegen mit ihren kleinen Beinen tapfer die vielen Stufen auf und ab. Wir Eltern fuhren täglich vom Ostkreuz zur Arbeit. Treppensteigen war selbstverständlich. In dem Gewirr der Bahnsteige A bis F kannten wir uns gut aus. Das Ostkreuz war Teil unseres Lebens.

Im letzten Winter fror ich auf dem zugigen, ungeschützten Ringbahnsteig erbärmlich und wurde wiederholt regennass, als ich wochenlang täglich von Ostkreuz nach Pankow fahren musste. Warte ich dagegen heute in der komfortablen, großzügig angelegten, verglasten Halle, fühle ich mich gut aufgehoben. Was tut es, wenn die Kioske nicht pünktlich öffnen? Dass wir auf die Rolltreppen noch lange warten müssen, schmerzt natürlich, kann aber die Freude über den Fortschritt der Bauarbeiten nicht schmälern. Zu gerne würde ich den gesamten Bahnhof in seiner neuen Gestaltung noch erleben. Vielleicht ist mir das vergönnt.

Ob Liedermacher eines Tages das Ostkreuz besingen werden?

Mein automatisches Schreiben beende ich in der Hoffnung, dass mir das Verweigern des Verschwörungsthemas verziehen wird.

Buch 2010

 Zu diesem Buch

 

Ein jeder von uns kennt das: Im Leben gibt es Augenblicke, die, noch während sie geschehen, bereits jenes Pathos haben, mit dem wir uns dann künftig an sie erinnern werden. Da geschieht etwas und noch während wir es erleben, wird uns klar: Dies ist ein bedeutender Augenblick, das darf nicht vergessen werden und das werde ich nicht vergessen.

Literaten nennen das die Evidenz des Augenblicks. Und in unserer Hemisphäre sind wir darin eingeübt, sie in mythologische Bilder zu kleiden: als Heilung, als Vision, als Naturspektakel, als Epiphanie. Dabei können es kleine, völlig alltägliche Dinge sein, die das bewirken. In Peter Handkes "Stunde der wahren Empfindung" erblickt der Held in seiner großen Verzweiflung plötzlich drei Dinge zu seinen Füßen: ein Kastanienblatt, eine Scherbe eines Taschenspiegels und eine Kinderzopfspange. Schon lange hatten sie so unbeachtet dagelegen, doch jetzt, mit einem Mal, bedeuteten sie etwas, wurden zu Wunderdingen, die mit der Wundern gebotenen undeutlichen Klarheit verkündeten: He, Mann, wer sagt denn, dass die Welt schon entdeckt ist? Also, worauf wartest du?

Und in seinem Buch "Paare Passanten" erinnert uns Botho Strauß an etwas, was wir alle schon erlebt haben: wie in der formlosen Masse der auf dem Gehsteig an uns Vorüberziehenden ein einzelnes Gesicht aufscheint, das uns schon von weitem in seinen Bann zieht, das uns etwas verheißen will, worauf wir gewartet haben, ein Gesicht, dessen Nachbild in uns weiter zittert, auch wenn es schon längst vorübergezogen ist. Der so Erschütterte wüsste nicht zu sagen, was gerade geschehen ist. Aber sein Gang wird mit einem mal kräftiger, sein Mut froher, seine Gedanken werden klarer, und sei es dies auch nur für eine Zeit lang.

Die Arbeit des Erzählens, des Schreibens besteht nun darin, die Wucht des Augenblicks, das Erschauern, dieses plötzliche Innewerden geschickt in ein erzählerisches Kontinuum einzuweben und möglichst unverdünnt an den Leser weiter zu geben. Das vorliegende Buch bringt einige bemerkenswerte Versuche, beides zu vereinen: eine Geschichte zu erzählen und den Kairos beim Schopfe zu packen.

Augenblicke sind wie Fotografien. Eine Fotografie ist angehaltene Zeit und sie sagt uns — seltsam — vor allem dies: dass die Zeit vergeht und wir ihr nicht entrinnen können. "Verweile doch, du bist so schön", sagt Faust und ist dabei, sich um Kopf und Kragen zu reden. Und doch: Die Augenblicke sind es, die unserem Erinnern eine Struktur, eine Richtung geben.

Dies ist nun die achte Anthologie, die die Texte eines Literaturwettbewerbs, den das Rudi-Nachbarschaftszentrum seit 2002 alljährlich ausruft, versammelt. Mit den sehr unterschiedlichen, sich aber dennoch in gewisser Weise immer wieder überschneidenden Themenstellungen bieten sie, wenn man zurück blickt, ein vielschichtiges Bild des Lebens und Treibens an einem ganz konkreten Ort in Berlin mit dem Ostkreuz als Epizentrum großstädtischen Bebens. Und wir alle sind gespannt, wohin uns das noch führen wird.

 

Rainer Fischer Berlin, im Oktober 2010

Katharina Triebe
Der mit der Bahn fährt

 

Der Tag hatte gleich unglücklich begonnen – mit einem Ehekrach, wenn man so will. Uschi, Dr. Brösikes Frau, benötigte unbedingt das gemeinsame Auto und so hatte der Gatte keine andere Wahl gehabt, als die Dienstreise nach Berlin mit dem Flugzeug von München aus anzutreten. Normalerweise fuhr Uschi mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, aber diesmal mussten verschiedene Wege mit der Schwiegermutter erledigt werden, die nicht mehr gut zu Fuß war. Alle Einwände von Brösike blieben fruchtlos und zu guter Letzt war Uschi Türen knallend gegangen, den Autoschlüssel in der Hand und ohne Frühstück für ihren Mann zuzubereiten.

Mit dem Flugzeug nach Berlin zu kommen, war kein Problem, aber am Flughafen Schönefeld stand kein einziges Taxi bereit. Die Taxifahrer streikten heute. Brösike war hilflos, denn mit öffentlichen Verkehrsmitteln, noch dazu in einer Großstadt wie Berlin, kannte er sich nicht aus. Sehnsüchtig dachte er an seinen schicken neuen Audi A4, in dem sich jetzt wahrscheinlich die Schwiegermama gemütlich durch München chauffieren ließ. Verärgert lief er der Menschenmenge hinterher und gelangte so schließlich zum S-Bahnhof Schönefeld. Dort schaute er sich suchend nach einem Fahrkartenschalter um – nichts. "Hier gibt’s nur Automaten", meinte eine vorbei eilende Frau zu ihm und zeigte auf einen solchen in der Nähe. Brösike begann sich durch das Menü zu klicken. Irgendein Dummkopf hatte das Display zerkratzt und nur mühsam konnte Brösike die Schrift entziffern. Was für einen Fahrschein benötigte er eigentlich? Kurzstrecke oder ABC? Nahm er gleich eine Tageskarte oder fuhren am Nachmittag vielleicht die Taxis wieder? Hinter ihm hatte sich eine murrende Menge gesammelt, die ungeduldig darauf wartete, ebenfalls einen Fahrschein zu lösen. "Mann, jeht denn dit hier nochmal voran?", rief einer von hinten. "Et jibt Leute, die müssen heute noch arbeiten. Helft doch dem Herrn auße Provinz mal!" "Na hören Sie mal, ich komme aus München, von wegen Provinz!" Dr. Brösike wollte eben noch weitere Erklärungen folgen lassen, da kam endlich der Fahrschein aus dem Automaten und die Wartenden drängten ihn beiseite. Fast hätte er vergessen, den Fahrschein zu entwerten, aber eine Frau, die wohl Mitleid mit ihm hatte, wies ihn im letzten Moment darauf hin. Die Bahn kam und Brösike stieg ein, holte seine Zeitung aus der Tasche und begann zu lesen. Von Station zu Station wurde es voller. Alle Sitzplätze waren belegt, da stieg noch eine dicke Frau ein. Mit drei gewaltigen Lidl-Tüten voller leerer Pfandflaschen drängte sie sich durch die Gänge und blieb schließlich schnaufend vor Dr. Brösikes Platz stehen. "Det tut mir leid, Sie sitzen uff 'nem Schwerbehindertenplatz und ick hab 'nen Hüftschaden!" Auffordernd sah sie ihn an. "Oder sind Se ooch schwerbehindert?" "Natürlich nicht!", knurrte Brösike, erhob sich und gesellte sich zu den Fahrgästen, die im Gang standen. Zeitung lesen war jetzt nicht mehr möglich, er faltete sie mühsam zusammen, stieß dabei zweimal gegen den Kopf eines älteren Herren und knüllte das gute Stück schließlich wütend in seine Aktentasche. Herrgott, war das voll. Und so stickig. "Sie gestatten?" Er beugte sich vor und öffnete ein Fenster. "Nee!", rief ein Fahrgast, "das zieht", und rums war das Fenster wieder zu. Brösike schaute sprachlos auf den Fahrgast, der ihm nun auch noch einen Vogel zeigte. So eine Unverschämtheit. An der nächsten Haltestelle stieg ein junger Mann mit Hund ein, stellte sich als Obdachloser namens Heinrich vor, der was dazu verdienen wollte, um nicht anderen zur Last zu fallen. "Möchte jemand den 'Straßenfeger' kaufen?" Keiner wollte, im Gegenteil, außer Brösike schien niemand von dem Mann mit Hund Notiz zu nehmen. Schöneweide. Ein junger Schlaks balancierte mit seinem Kaffeebecher durch den Gang und blieb direkt neben Brösike stehen. Er verströmte einen intensiven Käsegeruch, der wohl aus seinen Turnschuhen aufstieg. Brösike fühlte leichten Schwindel, wurde jedoch jäh wieder in die Wirklichkeit befördert durch einen Stoß in den Rücken. Ein Jugendlicher mit immenser Schulmappe quetschte sich an allen vorbei und verpasste jedem mit dem Tornister einen kräftigen Schubs. Leider erwischte es auch den langen Schlaks, aus dessen Pappbecher sich infolgedessen ein Schwupp Café au Lait auf Brösikes weißes Hemd ergoss. "Bingo!", rief der lange Kerl und hob grinsend den Daumen. Was für eine blöde Angewohnheit hier in Berlin vorherrschte, jeder zweite Fahrgast unter dreißig saugte entweder vor aller Augen an einem Kaffeebecher oder schüttete den Inhalt eines Thermobechers in sich hinein. Das war ja eine richtige Becherkultur hier. Konnten die nicht zu Hause frühstücken? Bei Brösikes wurde daheim gefrühstückt, wie sich das gehörte. Na gut, heute nicht, das war hoffentlich eine Ausnahme. An diesem Punkt wurden Brösikes Gedanken jäh unterbrochen — Musik erscholl. Vier muntere Musikanten rumänischer Herkunft hatten es irgendwie geschafft, in die volle S-Bahn zu gelangen und bemühten sich nun unverdrossen, den genervten Fahrgästen ein Stück rumänischer Volkskunst näher zu bringen. Einer blies Saxophon, der zweite Ziehharmonika, der dritte schwang die Rasseln und der vierte schob sich mit einer Sammeldose durchs Gedränge. "Eine kleine Spende?" Doch da fuhr die Bahn in Ostkreuz ein und Brösike taumelte hinaus.

Er schnappte nach Luft. Endlich war die Tortur vorbei! Doch Irrtum, es sollte noch schlimmer kommen. Wo fuhr die Bahn ins Zentrum ab? Einen Augenblick fühlte er sich verloren zwischen all den hastenden und schubsenden Menschen. "Sagen Sie mal, welche Bahn fährt zur Friedrichstraße?", fragte er einen jungen Mann. Keine Antwort. Mit glasigem Blick schaute der Kerl an ihm vorbei und wippte dabei mit dem Kopf. Ob der Drogen genommen hatte? Doch da entdeckte Brösike, dass dem jungen Mann Schnüre aus den Ohren hingen. Ach, das neumodische Zeugs, iPad genannt. Brösike seufzte. Kommunikation schien langsam auszusterben. Beim Blick auf seine Uhr erschrak er. Nur noch 25 Minuten, bis sein Workshop begann. Marketing und strategische Planung im Kontrastmittelbereich. Da er gleich zu Anfang eine Powerpointpräsentation halten sollte, musste er sich sputen. Zwei junge Mädchen im Backfischalter zeigten ihm, wo die S-Bahn Richtung Friedrichstraße abfuhr. Wie hypnotisiert starrten sie dabei auf seine Kaffeeflecke auf dem Hemd. Dr. Brösike errötete. Um die Reinigung sollte sich zu Hause gefälligst Schwiegermama kümmern … Ihr hatte er diesen ganzen Stress hier schließlich zu verdanken. Er eilte treppauf und treppab. Dieser Bahnhof Ostkreuz glich einem riesigen Bauplatz. Fuhr ein Zug heute noch auf Bahnsteig A ab, konnte er morgen schon auf Bahnsteig C losfahren. Der einzige ruhende Pol schien ein Wasserturm zu sein, der aus der Ferne grüßte.

Endlich hatte Brösike die richtige Bahn bestiegen und fuhr bis zur Friedrichstraße. Mit Gleichmut ertrug er die Wolke Restalkohol, die sein Sitznachbar verströmte. Als der aber schließlich einschlummerte und sein Kopf auf Brösikes Schulter sackte, stand er abrupt auf. Heute blieb ihm aber auch nichts erspart. Endlich fuhr der Zug am Bahnhof Friedrichstraße ein. Vor dem S-Bahngelände angekommen, klingelte sein Handy. Fräulein Cindy war dran, seine Sekretärin. Wo er bleibe, ob er heute nicht ins Büro käme? Was, wieso heute? Ach so, der Workshop in Berlin findet erst morgen statt? Brösike hatte sich im Tag geirrt!


 

Andrea Noeske
Kreuzwege

 

Die Türen krachen zu, begleitet von blinkendem Rotlicht. Ächzend, wie der Atem einer altersschwachen Frau, erwacht der Motor der S-Bahn zum Leben. Ein Ruck geht durch die Wagons und nur langsam nimmt die Bahn Fahrt auf, bevor sie endlich ihren Rhythmus findet.

Das Rattern der Räder ist einlullend. Regentropfen sprenkeln die Scheibe, ziehen lange Streifen im Fahrtwind. Es regnet schon den ganzen Morgen. Der weiße Rauch der Industrieanlage hellt das Grau der Wolken auf, die zwischen Schornsteinen und Häuserschluchten festklemmen. Bäume, die ihre nackten Arme gen Himmel strecken, vervollständigen die Szenerie vor dem Fenster.

Ich spüre den Stillstand, obwohl ich in der fahrenden Bahn sitze. Es geht nicht voran. Man(n) hat mich ausgebremst. Orientierungslos überlasse ich mich der Bahn, die ihrem vorgegebenen Weg auf Schienen folgt und irgendwann, irgendwo ankommen wird.

"Guten Tag. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Mein Name ist Stefan. Ich bin seit acht Jahren obdachlos. Ich verkaufe die neue Ausgabe des "Straßenfeger". Wenn Sie kein Interesse an der Zeitung haben …, ich freue mich auch über jede kleine Spende, etwas zu essen oder zu trinken."

Ich spüre den Lufthauch, als Stefan an mir vorbeiläuft. Versuche den plötzlichen Geruch menschlicher Ausdünstungen, die seit Tagen nicht mit Wasser und Seife in Berührung gekommen sind, auszublenden und schaue genauso beschämt zu Boden, wie die Leute, die mir gegenübersitzen. Nicht bereit, etwas zu geben. Schweigen. Sämtliche Gespräche um mich herum sind verstummt, solange Stefan in unserer Nähe ist. Dann verschwindet er in den Tiefen des Wagons. Nur seine Stimme ist aus weiter Ferne wieder zu hören. Erneut leiert er seinen Spruch herunter, seit nunmehr acht Jahren wahrscheinlich: "Guten Tag. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Mein Name ist Stefan…"

"Mein Name ist Julia", setze ich seinen Monolog in Gedanken fort. "Ich bin Single … seit nunmehr einem Tag. Und ich frage Sie, ist es Liebe, sich per E-Mail aus dem Leben des anderen zu verabschieden?!"

Dieser Gedanke wühlt sich in meine Eingeweide, presst meinen Magen zusammen. Sein unwilliges Knurren erinnert mich daran, dass ich ihn schon viel zu lange vernachlässigt habe. Seit dieser verdammten E-Mail geht gar nichts mehr.

 

"Mama, ich hab dich lieb." Ein dünnes Stimmchen, genauso dünn wie die kleine Gestalt, die augenscheinlich neben ihrer Mutter auf der Bank sitzt und um Aufmerksamkeit, Zuwendung heischt. Vergeblich.

Schweigen, Rattern der Räder, das Trommeln des Regens an den Scheiben, wenn die Bahn ihr Tempo verlangsamt, um in den nächsten Bahnhof einzufahren. "Nächster Halt Rummelsburg."

Es schnürt mir die Kehle zu.

"Rede mit deinem Kind. Es kann doch nicht so schwer sein!"

Die Frau hört meinen stummen Schrei nicht.

Schweigen, Rattern der Räder, Quietschen der Bremsen als die Bahn im Bahnhof hält.

"Es ist Liebe, den anderen gehen zu lassen, wenn er einen neuen Weg einschlagen will, an der nächsten Kreuzung nicht mehr geradeaus an deiner Seite läuft. Liebe heißt … loslassen."

Er hat mir eine E-Mail geschrieben. Kein Anruf, kein abschließendes Gespräch, nur ein paar Worte. Worte, die alles verändern, mich zu dem machen, was ich jetzt bin. Allein.

"He, lass das…" Das darauf folgende Lachen passt nicht hierher, passt nicht zu dem Regen, dem Weltuntergang da draußen.

Ungeachtet meines stillen Widerspruchs, stürzt diese Explosion an Farben in unser Abteil. Karminrotes Haar, vom vergangenen Sommer oder der Sonnenbank gebräunte Haut, ein gallegrüner Trenchcoat, so grün, dass es in den Augen schmerzt. An der Seite des Farbklecks ein junger Mann. Seine Hand ruht auf dem Trenchcoat, schützend über der Hüfte der jungen Frau. Sein Lachen klingt echt und unbeschwert.

Ich spüre, wie ich die Fassung verliere. Greife nach einem Strohhalm, Ablenkung, Ablenkung von diesem Anblick, von den stechenden Gedanken. Vergeblich. Der Strohhalm bricht. Die Dämme vor meinen Augen auch. Es ist nicht eine Träne, die den Weg über meine Wange findet, nein, es ist ein Wasserfall aus Tränen, ein Tsunami, der der Erdanziehung folgt und auf meinen Mantel schwappt. Meine Nase läuft. Quietschend fällt die Tür in meiner Kehle zu, schließt den Schluchzer ein und bewahrt mich davor, auch noch die Aufmerksamkeit der Fahrgäste in meinem Rücken auf mich zu ziehen.

Die Frau mit dem Kind reicht mir ein Papiertaschentuch. Eine Geste, ein neu dargebotener Strohhalm, nach dem ich dankbar greife.

Rattern der Räder. "Nächste Station – Ostkreuz – Übergang zu den S-Bahnlinien …"

"Nein, kein Übergang, Notausgang für mich", unterbreche ich die melodische Stimme in Gedanken. "Ostkreuz, wo alt auf neu trifft. Ich habe die Wahl, wohin wird meine Reise gehen? Nach Norden, Süden oder Westen? Nicht mehr zurück."

Das junge Paar ist verstummt. Betreten oder einfach nur neugierig werde ich von ihnen gemustert. Sie sind noch im Anfangsstadium, ich bereits, mal wieder, im Endstadium der Liebe. Aber das können sie nicht wissen, vielleicht ahnen sie es und werden es ganz schnell wieder verdrängen. Für solche Gedanken haben sie keinen Platz.

Kollektives Schweigen, Rattern der Räder, das leise Trommeln des Regens an den Scheiben, als die Bahn ihr Tempo wieder verlangsamt, um in den nächsten Bahnhof einzufahren, Ostkreuz.

Ich schaffe es, taumle irgendwie zur Tür. Das Liebespaar nimmt meinen Platz am Fenster ein.

Stefan steht plötzlich an meiner Seite. Der "Straßenfeger" klemmt unter seinem Arm. In seinem Coffee-to-go-Becher glitzern ein paar Centstücke, bronzefarben, eine bescheidene Ausbeute.

Ich blicke ihm ins Gesicht und staune, staune über das Lächeln, das er mir schenkt.

Die Türen der S-Bahn reißen zischend auseinander. Stefan hat mir die Tür geöffnet. Kalte Luft strömt mir entgegen. Es hat aufgehört zu regnen. Ein Sonnenstrahl findet zögernd seinen Weg. Genauso zögernd setze ich meinen Fuß auf den Bahnsteig. Die Wolkendecke über mir reißt auf. Ein ungewöhnlich blau strahlendes Stück Herbsthimmel. Ich straffe meine Schultern, ziehe zur Demonstration neu gewonnenen Selbstvertrauens die Nase hoch und laufe los. Geradeaus, vorbei an Altem und Vergangenem des Drehkreuzes. Wer weiß, vielleicht steht ja schon am nächsten Gleis jemand, der wieder ein Stück des Weges gemeinsam mit mir gehen will … aus Liebe.


 

Michael Guske
Ansage beachten!

 

Oh, verdammt, ich hasse diese Abfolge von Geräuschen. Erst dieser tiefe Summton, dann das Knallen beim Schließen der Türen und schließlich das Hochfahren der Elektromotoren. Fluchend überwinde ich die letzten Stufen zum Bahnsteig und sehe die S-Bahn in Richtung Norden davonfahren. Zu spät!

Obwohl es völlig sinnlos ist, überlege ich, wann ich die wenigen Sekunden, die mir zum Erreichen des Zuges gefehlt haben, hätte einsparen können. Aber ich habe alles richtig gemacht. Ich bin am Alex in den ersten Wagen eingestiegen, habe die ganze Fahrt bis zum Ostkreuz an der Tür ausgeharrt und bin sofort nach dem Öffnen derselben aus dem Wagen gesprungen und mit langen Sätzen zur Treppe, die zum oberen Bahnsteig führt, gerannt. Dass oben schon die Bahn stand, beschleunigte noch meinen Schritt. Aber es nützte alles nichts – die Bahn fuhr mir vor der Nase weg.

Mein Blick richtet sich auf den Fahrtrichtungsanzeiger. Kann ja eigentlich nicht lange dauern, bis der nächste Zug kommt. Doch wie zum Hohn war dort nur das zu lesen: "Bitte Ansage beachten!" Das ist so ein Moment, wo aus braven Menschen Amokläufer werden können! Ich war, wie so oft, eh schon knapp in der Zeit oder anders ausgedrückt, die Chance, noch pünktlich zu meiner Verabredung mit Julia zu kommen, war auch gering, wenn ich die letzte Bahn noch erwischt hätte. Zu blöd. Endlich hatte ich es geschafft, sie in mein vietnamesisches Lieblingsrestaurant einzuladen, Treffpunkt in, nun ja, in knapp 10 Minuten am S-Bahnhof Schönhauser Allee. Das kann ich jetzt vergessen. Und alles schien so perfekt. Heute hatte ich mich getraut, sie in der Kantine anzusprechen. Die Gelegenheit war günstig. Wir saßen am gleichen Tisch und ich sah, wie sie etwas missmutig in ihrem Essen herumstocherte. Es sollte wohl irgendwas Asiatisches sein, doch nach dem Aussehen dessen, was auf dem Teller lag, und ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war es wohl eher ein großes Missverständnis des Kochs. Ich bin jetzt noch stolz auf meinem Einfall, Julia einiges über die Unterschiede und die Vielfältigkeit der asiatischen Küche zu erzählen. Von einer europäischen Küche redet ja auch keiner. Jeder dieser unzähligen Fernsehköche würde sich in seine Kochmütze übergeben, wenn man das berüchtigte englische Frühstück im gleichen Atemzug mit italienischen Cannelloni nennen würde. So war es nur folgerichtig, ihr gegenüber mein Lieblingsrestaurant zu erwähnen – eine vietnamesische Gaststätte mit zauberhafter Küche, dezenter Inneneinrichtung ohne gelb-rote Lampions und ohne geschnitzte Drachen in den Stuhllehnen und dem besten Tee, den man in dieser Stadt bekommen kann. Und dann fasste ich mir ein Herz und fragte sie, ob ich sie dahin einladen darf. Ich war aufgeregt wie ein Teenager, der sein erstes Date klarmachen will. Aber es funktionierte. Sie sagte zu, für heute, für gleich – in fünf Minuten. Und ich sitze hier auf diesem verdammten Bahnsteig fest – es ist zum Heulen! Ihre Handynummer habe ich natürlich nicht, das war erst für heute Abend geplant. Ich überlege krampfhaft. Wie lange würde wohl eine Frau auf einen Typen warten, den sie bisher nur vom Sehen kennt, von einigen Guten-Tag- und Tschüs-Phrasen im Fahrstuhl und einem Vortrag über die Vorzüge der vietnamesischen Küche mal abgesehen?

Zehn Minuten? Fünfzehn Minuten oder gar dreißig? Nein, eine halbe Stunde wartet kein Mensch bei der ersten Verabredung. Maximal zwanzig Minuten, dann ist sie weg.

In diesem Moment unterbricht ein Knacken im Lautsprecher meine Gedanken. "Sehr geehrte Fahrgäste. Auf Grund von…", schallt es über den Bahnsteig. Der Rest geht leider im Getöse des unten vorbeifahrenden ICE unter. Nachdem der Zug durch ist, bleibt leider auch der Lautsprecher stumm. Die sehr geehrten Fahrgäste schauen sich fragend an. Ich setze mich resigniert auf einen freien Platz und ergebe mich meinem Schicksal.

Mein Blick schweift über das Ostkreuz, das zu meinen Füßen liegt. Es gibt wohl kaum einen Bahnhof, an dem ich so oft ein-, aus- oder umgestiegen bin. Ich kann nicht unbedingt behaupten, dass ich diesen Bahnhof in mein Herz geschlossen habe. Treppen rauf, Treppen runter und wenn man Pech hat, steht man doch wieder auf dem falschen Bahnsteig. Ortsfremden musste diese Ansammlung von übereinandergestapelten Abfahrgelegenheiten wie eine grandiose Fehlleistung der Verkehrsplaner vorgekommen sein. Eine erkennbare Logik hinter der Anordnung der einzelnen Bahnsteige gab es anscheinend nicht. Der Zug nach Schönefeld aus Richtung Alex hielt hier nicht, kam er allerdings aus Schönefeld und fuhr zurück in Richtung Zentrum, dann schon. Nach Norden konnte man vom Ringbahnsteig fahren, aber auch manchmal vom Bahnsteig A, dann aber nur bis Karow, jedenfalls zeitweise. Zeitweise hieß der Ringbahnsteig auch anders, da es nach dem Mauerbau keinen Ring mehr gab. Inzwischen ist der Ring wieder rund, die Nordkurve weg und das Ostkreuz der Spitzenreiter aller S-Bahnhöfe in allen Wertungen – die meisten Züge, die meisten Fahrgäste und wahrscheinlich auch die meisten Treppenstufen.

Auf den freien Platz neben mich setzt sich ein junger Mann – Typ Student. Er trägt Kopfhörer in der Größe von Ohrenschützern, wie sie Straßenbauarbeiter tragen, wenn sie mit Presslufthämmern Asphalt aufbrechen. Der Sound ist so laut, dass er sich wahrscheinlich nur noch mit eingeschränktem Hörvermögen ertragen lässt. Die Schallwellen, die mein Ohr erreichen, lassen mein Gehirn in meinem internen Musikarchiv suchen. Hört sich nach Brit-Pop an. Blur? Nein, eher wie die frühen Oasis. Ja, Oasis. Der Song "Magic Pie" hämmert meinem Nachbarn gerade ins Hirn. Cooler Song, war 'ne gute Platte. Muss man laut hören, aber nicht unbedingt mittels dieser akustischen Direkteinspritzung.

An mir läuft ein älterer Mann vorbei. Er murmelt leise vor sich hin. Trotz der Sommerwärme trägt er einen alten Mantel. Aus seiner abgegriffenen Aktentasche, die er an sich gepresst hat, schauen einige Exemplare einer Obdachlosenzeitung heraus. Auch er schaut sich fragend um und scheint wohl zu überlegen, ob es sich lohnt, auf den nächsten Zug zu warten oder wieder zurückzufahren. Die Zeitung hier auf dem Bahnsteig zu verkaufen erscheint wenig sinnvoll, da die Menschen sowieso schon wegen der Zugunterbrechung leicht angefressen sind.

Ich blicke wieder zur Anzeige. Immer noch nichts Neues. In diesem Moment müsste ich eigentlich fünf Bahnstationen von hier entfernt sein. Ab jetzt läuft die Soundsoviel-Minuten-zu-spät-Zeit. Ich beschließe, daran zu glauben, dass Julia mindestens fünfzehn Minuten warten wird. Vielleicht bekommt sie ja mit, dass keine Züge mehr ankommen. Vielleicht aber auch nicht.

Ich bin zu unruhig, um weiterhin sitzen zu bleiben und verlasse meinen Platz und die Beschallung durch den Studenten. Innerhalb der nächsten fünf Meter bekomme ich noch mit, dass der Musikstil gewechselt hat – könnte die aktuelle Scheibe von U2 sein – aber das Geräusch einer einfahrenden S-Bahn lenkt meine Aufmerksamkeit ab. Doch das freudige Gefühl, welches mich eben ergriffen hat, verlässt mich gleich wieder. Die Bahn kommt nicht aus der erwarteten Richtung.

In diesem Moment ertönt wieder das Knacken aus dem Lautsprecher und dann folgt etwas, das entfernt an eine Frauenstimme erinnert. Alle Fahrgäste heben die Köpfe in Erwartung, eine weiterhelfende Information zu bekommen. Nur mein Musik liebender Sitznachbar hat sich völlig von der Außenwelt abgekoppelt. Er schaut ins Leere und lauscht in seine unförmigen Halbschalen.

Doch trotz höchster Konzentration meines Gehörs dringen nur Bruchstücke der Ansage zu mir durch, allerdings reichen diese aus, um mir meinen Super-GAU klar zu machen: "Zugverkehr unterbrochen". Die Stimme hätte auch sagen können, dass Hertha BSC in die Kreisklasse versetzt wurde und im Olympiastadion nur noch Volksmusikveranstaltungen fürs Fernsehen aufgezeichnet werden, an denen jeder Berliner mindestens einmal im Jahr teilnehmen muss. Es hätte mich nicht tiefer treffen können. Statt in Julias hübsches Gesicht schaue ich jetzt auf diese monströsen Baugruben im und am Bahnhof Ostkreuz.

Es sieht hier aus wie auf einer Stalinschen Großbaustelle des Kommunismus. Überall wird gebuddelt, geschweißt, Beton verewigt – erstaunlich, dass hier überhaupt noch was fährt. Trotz meines technischen Verständnisses kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie es hier in einigen Jahren aussehen soll. Straßen, Brücken, Bahnsteige – alles neu. Dazu noch eine Untertunnelung für eine Stadtautobahn von fragwürdigem Zweck. Bald wird nichts mehr an das alte Ostkreuz erinnern, Vergangenheitsbewältigung durch Abriss als Zeichen des technischen Fortschritts. Mosaiksteine werden durch Betonplatten ersetzt, alte Brücken, deren Stahlkonstruktionen an den Ausleger eines Tagebaubaggers erinnern und für alle Ewigkeit gemacht schienen, durch freitragende Bauwerke, das Personal durch elektronische Stellwerke und Selbstabfertigung.

Dabei war hier noch vor kurzer Zeit, noch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, die DDR konserviert wie vielleicht an keinem anderen Ort der Stadt. Das Ostkreuz war grau und abweisend, ein Platz, den man am liebsten so schnell wie möglich wieder verlassen wollte. Alles schien irgendwie provisorisch, vielfach geflickt statt saniert, aber doch hat es irgendwie funktioniert. Aus den verdreckten, ehemals sandfarbenen Ziegelmauern hat jahrzehntelang die durchdringende Feuchtigkeit die Salze ausgewaschen und zu kleinen Stalaktiten geformt. Der Wildwuchs am Ende der unteren Bahnsteige hat ein undurchdringliches Dickicht gebildet. Das Bahnhofsklo wurde gemieden wie ein Haus mit Pestkranken im Mittelalter. Aber doch hat man sich mit diesem Bahnhof arrangiert. Nun ja, das ist jetzt vorbei. Ein neuer Bahnhof entsteht, wie er eben im Katalog der Bahnhofsarchitekten enthalten ist – hell, modern, unpersönlich.

Aber das ist mir im Moment egal. Wie ein Tiger im Käfig laufe ich über den Bahnsteig und schaue alle drei Sekunden zur Uhr und dann zur Anzeige, zur Uhr, zur Anzeige. Im Gegensatz zur Uhr ändert sich auf der Anzeige nichts. Vor der Treppe, an der ich gerade vorbeigehen will, steht eine junge Frau mit einem Kinderwagen und schaut mich fragend an. Sie sieht müde aus, gestresst und genervt. Vielleicht lässt sie das Kleine nicht zur Ruhe kommen, vielleicht ist kein Vater da, der hilft und auch mal nachts aufsteht. Ich packe den Kinderwagen kurz über den Rädern und hebe ihn hoch. Das Mädchen fasst den Griff und gemeinsam tragen wir, ich mit krummem Rücken, sie mit hochgestreckten Armen, den Wagen die Treppe runter. Ich weiß nicht, ob später noch Aufzüge eingebaut werden oder ob sie eingespart wurden von Menschen, die nicht wissen, wie es ist, wenn man allein mit einem Kinderwagen unterwegs ist.

Unten angekommen setze ich ab, strecke meinen Rücken durch und bekomme einen kurzen dankbaren Blick aus müden Augen geschenkt. Ich nicke ihr kurz zu und eile die Treppe wieder hoch.

Oben hat sich der Bahnsteig inzwischen gefüllt. An der Treppe stehen mehrere Bauarbeiter, die ihr Feierabendbier gleich hier trinken. Einige Jugendliche mit gegelten Haaren und klobigen Goldketten um den Hals stehen im Kreis zusammen, rauchen und spucken auf den Boden. Gleich daneben stehen zwei stark geschminkte Mädchen, die aufgeregt in ihre Handys plappern. Wieder verfluche ich meine Unfähigkeit, Julia ein Zeichen geben zu können. Die Uhr sagt mir, dass ich jetzt schon zehn Minuten zu spät bin.

Aus der Gegenrichtung kommt die nächste Bahn und entlässt die Menschen auf den Bahnsteig. Eilig streben sie den Treppen zu. Auch der neu erbaute Bahnhof wird wohl niemanden veranlassen, hier länger als nötig zu verweilen. Einsteigen, aussteigen, umsteigen – das Ostkreuz wird wohl immer nur eine Durchgangsfunktion haben.

Wieder steht eine Frau mit einem Kinderwagen an der Treppe und einer der Bauarbeiter stellt seine Bierflasche hin, umfasst den Wagen mit seinen Armen und trägt ihn allein die Treppe hinab. Die Frau lächelt erfreut.

Der alte Mann mit seiner Aktentasche kommt mir entgegen. Er hat doch versucht, seine Zeitung unter den wartenden Menschen zu verkaufen, aber der Erfolg hielt sich wohl in Grenzen. Nach geübtem Blick auf die Bauarbeiter und die rauchenden Jugendlichen kommt er zu dem Schluss, dass er dort erst gar nicht zu fragen braucht. Bei mir scheint er anderer Meinung zu sein, denn er bietet mir ein Exemplar an und rattert mit routinierter Stimme das Inhaltsverzeichnis der aktuellen Ausgabe herunter. Ich bin jetzt eigentlich nicht in der Stimmung, überhaupt irgendeine Zeitung zu lesen, aber nachdem ich einige Münzen gefunden habe, kaufe ich ihm eine Ausgabe ab.

Einer Mutter geholfen, den Kinderwagen die Treppe herunter zu tragen, und einem Obdachlosen eine Zeitung abgekauft. Was muss ich denn noch machen, damit mir das Schicksal gnädig ist und endlich eine S-Bahn schickt. Meine Unruhe wächst.

Dann knackt es wieder und scheppernd klingt der frauenstimmenähnliche Ton: "Nächste Bahn Richtung Schönhauser Allee fährt jetzt ein." Knack. Aus.

Ich kann es kaum fassen. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich es noch schaffe, wenn Julia beschlossen hat, zwanzig Minuten zu warten. Jetzt aber schnell rein in die Bahn. Es wird geschubst, geschoben, gedrängelt. Macht nichts, nur weg hier.

Das Signal über der Tür ertönt, die Türen schließen mit einem trockenen Knall, die Elektromotoren fahren hoch. Oh, ich liebe diese Geräusche.


 

Ute Schoch
Mich gibt’s mehrfach

 

Anfang Juli kam ich mal wieder in meine (eigentlich komme ich aus dem Rheinland) geliebte Stadt Berlin, um meine Kinder zu besuchen.

An einem wunderschönen Samstag wollte ich zum Müggelsee mit dem Schiff. Los ging’s am Ostkreuz zum Pankow-Park, von dort aufs Schiff. Dort war gleich die erste eigenartige Begegnung. Zwei Frauen in meinem Alter sprachen mich an und meinten: "Sie habe ich doch auch schon mal gesehen, ich kenne Sie!"

Etwas überrascht erklärte ich, dass ich im Rheinland sesshaft sei und ich sie überhaupt nicht einzuordnen wisse.

Darauf die Frage, ob ich etwas mit Fernsehen oder Film zu tun habe. Mein Erstaunen wurde immer größer — sah ich danach aus, 67 Jahre, zwar gepflegt, aber mit sichtbarem Alter und recht durchschnittlich, fast schon ein wenig Graue Maus? Wurde ich hier verar… oder was? Nach Verneinung entwickelte sich noch ein nettes Gespräch und das war’s dann.

Leicht amüsiert genoss ich nun die schöne Fahrt mit dem Schiff zum Müggelsee.

Auf der Rückfahrt, nach einem dreistündigen Aufenthalt dort, ging’s wieder aufs Schiff. Und hier das Unglaubliche: Schon wieder wurde ich angesprochen, wieder zwei Damen, mein Jahrgang, vielleicht etwas älter, gepflegt, nett. Wir kamen ins Gespräch, und ich schwärmte von Berlin, der Stadt, die ich so liebe. Nach meinem Monolog über die vielen netten jungen Menschen, das noch zu Erforschende, die Offenheit und Freundlichkeit der Bewohner und, und, und auf einmal: "Ich glaube, ich hab Sie schon mal gesehen, Sie kommen mir sehr bekannt vor". Mir verschlug es fast die Sprache. Kurz, meine schon eben geschilderte Erklärung, ich komme aus dem Rheinland usw. usw. Auch hier wieder die Frage, ob evtl. Film oder Fernsehen? Jetzt war ich aber richtig "platt". Nach Verneinung ergab sich dann ein nettes Gespräch, bei dem mir noch einige Ausflugstipps gegeben wurden.

Sehr nachdenklich und hocherfreut kam ich schließlich am Nachmittag wieder am Ostkreuz an. Dort gehört es bei mir zum Programm, an der Ecke Sonntagstraße ein Bier zu trinken und dem regen Treiben dort zuzusehen. Nachdem ich mich wieder auf den Weg Richtung Knorrpromenade machte, die Straßenseite wechselte, kommt mir eine Dame, etwa Mitte vierzig, entgegen mit der Bemerkung: "Sie sind eine Verwandte von mir." Spätestens jetzt war mein Erstaunen grenzenlos. Wieder mein: "Ich komme aus dem Rheinland", pi pa po.

"Ja , ich habe Verwandte in Bonn — wissen Sie ich bin Jüdin."

Ich war baff.

Meine Antwort: "Jetzt bin ich aber froh, endlich mal eine Jüdin kennenzulernen. Wissen Sie, ich habe mich schon oft gefragt, wieso ich noch nie Kontakt zu Juden hatte. Ich interessiere mich sehr für das Schicksal. Haben Sie Lust mit mir etwas trinken zu gehen?"

Leider war es der Dame aber so peinlich, was sie mir sagte und machte sich verschämt weiter.

Das war ein sehr nachdenklicher Tag für mich, der am Ostkreuz begann und auch dort mit vielen Fragezeichen, aber glücklich zu Ende ging.


 

Manuela Schulz
Der weiße Fleck

 

Eigentlich kenne ich Ostkreuz gar nicht. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob ich dort überhaupt schon mal ausgestiegen bin. Durchgefahren – ja sicher, aber da hatte ich bestimmt gerade meine Nase tief in ein Buch gesteckt und achtete nicht auf die vorbeiziehende Gegend. Der Bahnhof liegt in jenem Teil von Berlin, der für mich lange Zeit nur ein weißer Fleck auf der Landkarte war. Ostberlin war für mich bis zum 29. Lebensjahr Terra incognita. Keine nahen Verwandte oder Freunde, die man besuchen wollte. Und einfach mal so in den "Osten" zu fahren, auf die Idee sind meine Eltern gar nicht gekommen. Dazu war die knappe freie Zeit an den Wochenenden viel zu kostbar. Kein Grund also sich dem nervigen Einreiseprocedere zu unterziehen.

Ein einziges Mal fuhr ich mit meiner Mutter "rüber". Das war im Winter 1963/64. Das erste Passierscheinabkommen ermöglichte erstmals einen Besuch im anderen Teil der Stadt. Wir waren mit der Schwester meiner Mutter irgendwo in Prenzlauer Berg verabredet, eine gemeinsame Bekannte wohnte dort und hatte sich angeboten, ihre Wohnung als Treffpunkt zur Verfügung zu stellen. Die beiden Schwestern hatten sich seit dem Mauerbau nicht mehr gesehen. Für mich war dieser Ausflug sehr abenteuerlich und befremdlich. Ich war gerade dreieinhalb Jahre alt und konnte mit Ost und West, Mauer und dem ganzen Kram nichts anfangen. In meiner Erinnerung sind auch nur zwei Dinge hängen geblieben: Erstens, die seltsame Atmosphäre vor dem Haus unserer Bekannten. Es war kalt und dunkel. Die Gaslaternen in der Straße verbreiteten nur fahles Licht, das die Dunkelheit kaum durchdringen konnte. Mein Gehirn hat diese Szenerie nicht als Bild abgespeichert, sondern als das Gefühl, das ich damals hatte. Ich hatte keine Ahnung, was ich da sollte.

Die Bekannte meiner Mutter hatte einen Sohn, er war etwas jünger als ich. Da wir zur Schlafenszeit in der Wohnung eintrafen, wurde der kleine Junge gerade ins Bett gebracht. Die Mutter verpackte ihn in einem einteiligen, bunt gemusterten Schlafanzug, der praktischerweise einen Hosenboden zum Abknöpfen hatte. Wenn er nachts mal musste, brauchte er nicht komplett aus dem Anzug geschält zu werden. Ich hatte vorher so etwas noch nie gesehen und war total fasziniert.

Warum, um alles in der Welt, merkt man sich solch nebensächlichen Kleinigkeiten? An die Begegnung mit meiner Tante kann ich mich leider überhaupt nicht erinnern.

 

Bis zum nächsten Besuch in Ostberlin vergingen dann viele Jahre. Kurz vor dem Schulabschluss besuchten wir im Rahmen unseres Evolutionskurses in Biologie das Naturkundemuseum in der Invalidenstraße. Wieder kein Grund den Bahnhof Ostkreuz zu entdecken. Wir trafen uns alle am Bahnhof Friedrichstraße. Die Einreise verlief umkompliziert und kurze Zeit später standen wir staunend vor den Überresten diverser Dinosaurier. Am meisten beeindruckte uns natürlich der riesige Brachiosaurus. Weltweit das größte, im Museum zu besichtigende, Dinosaurierskelett. Der von unserem Lehrer so angepriesene Urvogel Archeopteryx wirkte dagegen ziemlich unscheinbar. Ein paar platt gedrückte Knochen auf einer Steintafel. Unser Biologielehrer lief dann jedoch zur Hochform auf. Zwei Stunden lang dozierte er über die antiken Tierchen, ließ sich über die Unterschiede zwischen Vogelbecken und Reptilienbecken aus und blieb gefühlte zwei Stunden vor jedem Exponat stehen. Binnen kürzester Zeit machte sich Langeweile breit. Was dem Einen sein Steckenpferd ist, muss den Anderen bekanntlich nicht in gleichem Maße faszinieren.

Der Nachmittag stand dann zum Glück zur freien Verfügung. Wir schlenderten in einer kleinen Gruppe zum Alexanderplatz und machten uns dran, unsere 25 DM Zwangsumtausch zu verjubeln. Das war gar nicht so leicht. Normalerweise bereitet es Teenager gar keine Probleme, ihr Taschengeld unter die Leute zu bringen. Woran sind Kids in dem Alter interessiert? Musik und Klamotten, und für diese Dinge war Ost-Berlin nicht gerade als Einkaufsparadies bekannt. Am späten Nachmittag wurde es Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Zurück am Bahnhof Friedrichstraße lockte uns eine Konditorei mit Kaffee und Kuchen, also nichts wie rein, wir fanden auch gleich einen freien Platz. Die Auswahl auf der Speisekarte war groß, da wir noch reichlich Geld übrig hatten suchten wir uns das Teuerste aus, was auf der Karte zu finden war — Mokka und Nusstorte. Die Bedienung kam, um die Bestellung aufzunehmen. Sie hörte sich geduldig unsere Wünsche an und antwortete mit einem lapidaren "Ham wa nich". Nun gut, wir ließen uns dann zu normalem Kaffee und gedecktem Apfelkuchen überreden. Aber mit Schlagsahne. Das letzte Geld konnten wir dann noch in ein paar Kugeln Eis umsetzen.

Insgesamt war es ein schöner Ausflug — wenn man von den Vogelbecken absieht.

 

Wieder vergingen die Jahre. Dann kam der Tag, der für so viele alles verändert hat. Langsam tasteten sich meine Familie und ich nach dem 9. November 1989 in diese unbekannten Gefilde vor.

 

Der erste Ausflug mit Mann und Sohn zum Alexanderplatz im Dezember 1989 und es war bitterkalt. Wir liefen vom Brandenburger Tor die Linden entlang. Neugierig schauten wir uns um, einfach so über die Grenze zu gehen, ohne Wartezeit, ohne besondere Kontrollen. Es war fantastisch. Wir konnten es noch gar nicht richtig fassen. In der Vergangenheit hatte man uns viel zu oft an den Grenzübergängen grundlos ewig warten lassen, die Kofferräume durchsucht und bohrende Fragen gestellt. Wir genossen es sehr, spontan und ohne Umstände durch Ost-Berlin zu bummeln. Wir kamen ziemlich durchgefroren zur Markthalle am Alex, eine gute Gelegenheit zum Aufwärmen. Unser Sohn sah sich die Auslagen an und vermeldete, dass er Hunger hätte und auf der Stelle etwas zu Essen bräuchte, da er sonst dem Hungertod erliegen würde. Wir erstanden für 50 Pfennige West ein Paket Kekse. Glücklich machte er sich über seine Beute her. Er kann sich heute noch daran erinnern. Er war damals viereinhalb Jahre alt, es ist schon erstaunlich, Kleinigkeiten bleiben am längsten im Gedächtnis.

 

Schrittweise wurde auch wieder der S-Bahnbetrieb in West-Berlin aufgenommen. Plötzlich war das S-Bahnnetz für uns West-Berliner mehr als doppelt so groß. Was waren das für exotische Stationen, die jetzt erreichbar waren: "Springpfuhl", "Fangschleuse" und "Rummelsburg". Wir wohnten zu dieser Zeit in Spandau und bei unserer Erkundung dieser "neuen" Stadt waren wir meistens mit dem Auto unterwegs. Wieder nix mit Ostkreuz.

 

Im Herbst 1997 hatte ich mir in den Kopf gesetzt, meinem Sohn einen ganz besonderen Adventskalender zu basteln. Er sollte mit Miniaturen von Star-Trek-Raumschiffen bestückt werden. Die gab es gerade in allen Spielzeugläden zu kaufen, drei Stück in einer Packung. Ich hatte schon den größten Teil zusammen, ein Päckchen fehlte noch. Das erwies sich dann als eine größere Hürde. Es war zum Verzweifeln, kein Geschäft hatte es. Heute wäre es kein Problem, im Internet wird man ja immer fündig. Aber damals! Wir fingen an, mit Hilfe der Gelben Seiten alle Spielzeugläden im Großraum Berlin ausfindig zu machen. Unsere Suche führte uns bis in die neu entstandenen Einkaufszentren in Eiche, Weißensee und Hellersdorf. Und was soll ich sagen – es klappte! Ganz kurz vor dem 1. Dezember – ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben — ergatterte ich dann in Helle-Mitte das letzte noch fehlende Päckchen. Es hing ganz hinten im letzten von zehn Verkaufsdisplays. Soviel zum Thema "Ham wa nich". Mein Sohn hat sich sehr gefreut. Er steht inzwischen nicht mehr auf Star Trek, aber er hat mir die kleinen Raumschiffe vermacht. Ich hüte diesen Schatz wie meinen Augapfel. Er wird mich immer an diese Zeit erinnern.

 

Der weiße Fleck auf der Landkarte hat inzwischen die Gestalt eines sehr löcherigen Käses angenommen. Es gibt zwar immer noch Ecken in Berlin, in denen ich noch nie gewesen bin, aber die werden von Jahr zu Jahr weniger. Dementsprechend gibt es natürlich auch S-Bahnstationen, die ich höchstens vom Durchfahren kenne. Aber das gilt für ganz Berlin, bis Lichterfelde-Süd bin ich zum Beispiel auch noch nicht gekommen.

 

Ich muss unbedingt nächstes Mal Ostkreuz aussteigen.


 

Malvina Petrat
Nachbarschaftliche Mutmaßungen
Gryphiusstraße 2007

 

In einem der oberen Stockwerke zerknitterter Enddreißiger,
schlecht gelaunt und auf Hinterhöfe urinierend.
Im Vorderhaus in der Mitte passionierte Raucherin Anfang 50
mit vollem Kühlschrank und Wut im Bauch,
schulterlanges Haar auf verlebter Haut.
Revolutionsschmiede im zweiten Stock und verdreckte Klos im vierten.

Geputzte Fenster links unter mir und zerleierte Tapes nebenan.
Erfüllte Leben und leere, laute Stimmen zwischen leisen.
Kindergeschrei gegenüber und Techno aus dem Autoradio.
Grillen fressende Laubfrösche im Wohnzimmer unter mir
und mediterrane Kochkünste im Erdgeschoss.
Sex mit geschlossenen Augen zwischen Rotweinflecken auf dem Küchenboden.

Flackernde Bildschirme und besetzte Telefonleitungen.
Nachtschwärmer und Tagträumer, Entdecker und Verlierer.
Geschichtensammler und andere Handwerker,
Toastbrotverzehrer und Weinliebhaber wachend oder schlafend,
leben oder leben lassen.
Linkshänder und Schlafwandler in bunten Hoffnungen,
zwischen täglicher Müllabfuhr und Geruch nach frischen Brötchen.


 

Jan Mike Singer
Berlin tut Paule jut

 

Paul Müller saß zusammengekauert im letzten Wagen der S-Bahn nach Westkreuz. Er versuchte etwas zu dösen, aber es gelang ihm nicht. Zu viele Gedanken gingen in seinem Kopf herum. Der ältliche Mann befand sich auf seinem Weg zur Arbeit ganz allein im Abteil. Müde sah er aus, fertig und auch etwas vernachlässigt. Die alte graue Stoffhose faserte an einigen Stellen aus, die blaue Trainingsjacke war ausgeleiert und der Wollmantel hätte mal wieder eine Reinigung vertragen können: also alles bester Berliner Schick! Seine Augen jedoch blickten selbstbewusst umher. "Kein einziges Mal die Bahn verpasst und dit in vierzig Jahren, länger als Honecker anner Macht", dachte er voll Stolz.

Es war fünf Uhr morgens. Der Zug hatte gerade den S-Bahnhof Treptower Park verlassen und bewegte sich langsam zuckelnd Richtung Ostkreuz. Kalt und regnerisch war’s. Kein einladender Eindruck.

"Wat hat Gerda immer jesagt? Mensch, Paule, hat se jesagt, Du gehörst doch schon zum lebendigen Inventar der Bahn. Musst uffpassen, dat se dich nicht eenmal da behalten. Jetzt sagt se jar nischt mehr. Schade. Die Alte is doch schon fünf Jahre tot. De Wohnung is seitdem nur noch kalt und viel zu groß. Ohne ihr…"

Weiße-Flotte-Schiffe lagen verlassen an der Anlegestelle vor Anker. Einige Eisschollen trieben auf der Spree umher. Am dunklen Horizont blinkten schwach die Umrisse des Riesenrads vom Vergnügungspark Plänterwald hervor.

"Mensch, hätt' ick nie gedacht, dass mir die Olle so fehlen würde. Früher hat se mich fuchsteufelswild gemacht, wenn se unbedingt zu Hause bleiben wollte. Kultur im Heim nannte se dat. Heute vermisse ich sowat. Wie jerne würd’ ick heute mit ihr auf’m Sofa sitzen. Dann könnt ick sogar den Mist in der Röhre ertragen. Andererseits, keen Fernsehen ist ooch nicht so schlimm. So kommste wenigstens früh ins Bett. In die Kneipe um de Ecke jeh ick ooch nicht mehr. Bei vier richtjen Mark für 'ne Molle kann ick mir das nur noch selten leisten. Da musst de ja zu Hause bleiben. Bist der Glotze schutzlos ausgeliefert. Die einzige Selbstverteidigung ist jar nicht erst Anschalten. So wie jestern wieder. Bin ick heute also wieder pünktlich in Baumschulenweg eingestiegen. Werd' rechtzeitig an der Warschauer Straße sein. Vierzig Jahre immer dieselben fünf Stationen: Baumschulenweg, Plänterwald, Treptower, Ostkreuz und dann die Warschauer. Bis 1992 zu NARVA und als se dit Glühlampenwerk jeschlossen haben, zum Imbiss in der Modersohnstraße. Alte Kollegen und Kumpels treffen. Dat jing aber nicht lange jut, irgendwie hatte man sich nischt mehr so richtig wat zu sagen. So ohne produktive Arbeit und so. Einen janzen Arbeitstag nur vorm jepflegten Jelben zu schweigen, war mir uff Dauer echt zu langweilig.

Fand dann ooch wat anderes schnell. Jetzt verkoof ick den Kurier – die Zeitung von hier. Besser als nischt. Reich wirst de davon zwar nich, aber immerhin… So stell ick mich uff die große Brücke von der Warschauer Straße und bring die Zeitung an den Mann. Oder Frau. Wer eben so die Zeitung liest. Intellektuelle sind det nich. Eher Leute wie Gerda und ick. Is aber interessant da! Die janzen jungen Leute kommen von ihrem Beatklub und Diskothek nach Haus, wenn ick anfang' zu arbeiten. Hätt‘ ick nie jedacht, dass et solche komischen Vögel jibt. Tätowierungen und Metallringe aus der Haut und so. Zu jern hätt' ich Gerda davon erzählt, die würde 'nen Ooge machen… Jeht aber jetz nich mehr."

Der Zug passierte den Bahnhof Ostkreuz. Dunkel war’s und kein Mensch weit und breit zu sehen.

"Na, hier is es wie vor vierzig Jahren. Hat sich nich viel jeändert. Trotz Wende und Demoktratismus. Ick meen, den Osten will ick nicht wiederhaben, aber den Westen brauch ick nicht jeschenkt. Hab allet, wat ick brauch. Von 'ner Ollen mal abgesehen. Und 'nem bisschen mehr Jeld."

Die S-Bahn fuhr schließlich auf dem verwaisten Bahnsteig des S-Bahnhofs Warschauer Straße ein. Paul Müller nahm seine Zeitungsbündel und suchte sich eine windgeschützte Ecke. Auf der Brücke war noch reichlich Leben angesagt. Vergnügungssüchtiges Partyvolk zog in Dutzenden von Friedrichshain nach Kreuzberg und zurück. Paul mittendrin. Etwas unruhig war er. Kein klassisches Kurierpublikum hier. Aber das wird schon. Hoffte er.

Eine auch nach internationalen Maßstäben elegant gekleidete Frau näherte sich plötzlich Paul. Sie war etwas jünger als er und hübsch. Sehr hübsch. Einen Kurier wollte die sicher nicht haben. Ihr Burberry-Schal und der dunkle René-Lezard-Mantel passten eher in die mittlerweile langweilige Mitte Berlins als nach Friedrichshain. Sie strahlte eine Klasse aus, die man um diese Zeit hier nicht erwartete.

"Excuse me, can I ask you something?", wandte sie sich an Paul.

"Nee, ick versteh jar nüscht", war Pauls klare, unmissverständliche Antwort.

Die Frau versuchte es nochmal: "Entschuldigen Sie, darf ich Sie etwas fragen?"

"Warum eijentlich nich? Versuchen kost' ja doch nix."

Die aparte Frau war einige Sekunden lang irritiert. Dann setzte sie wieder an:

"Mein Name ist Paula Gertie Tates. Ich komme aus New York. Ich bin auf der Suche. Locations für einen Berlin-Film. Ich wollte fragen, ob Sie helfen können."

Kurze Pause. Paul räusperte sich.

"Liebe Frau Teetz. Ick weeß nich, ob ick helfen kann, aber nur los. Wat suchen Se denn?"

Nach einer weiteren Pause der Unsicherheit begann Paula wieder:

"Ich suche typische Berliner, you know. Ich dachte vielleicht, dass sie als Adviser und Extra arbeiten könnten."

Paule verstand nur Bahnhof. Und das in der Warschauer Straße.

"Wat heißt hier denn extra? Wieviel springt denn da für mich raus, so finanziell?"

"Sind Hundert Euro pro Tag o.k. for you?" fragte Mrs. Tates vorsichtig. "Und this then for ein Monat?"

"Is o.k.", war Paules beinah sprachlose Antwort.

"Well, o.k. then", konstatierte Paula. "Nice to meet you", sagte sie und gab Paul Müller ihre Visitenkarte. Angestrengt kramte sie ihre letzten Brocken Deutsch zusammen.

"Please, rufen sie mich tomorrow – morgen - an, o.k.?"

Zum Abschied drückte sie ihm noch einen Hundert-Euro-Schein in die Hand.

"Für some costs. Tschüs. See you tomorrow. Bis morgen."

Paul starrte ungläubig auf das Geld und die Visitenkarte. Er nickte nur. Seinen Stapel Zeitungen auf der windigen Brücke allein zurücklassend, wankte er zum Bahnsteig zurück. Er rang nach Atem. Ihm war schwindlig. Die S-Bahn fuhr laut ein. Mit dem Wort "Paula" fiel Müller in den Wagen und wartete ungeduldig auf die Abfahrt. Hundert Euro wollten ausgegeben werden. Das so schnell wie möglich.

Die Bahn fuhr übrigens nach »Nicht einsteigen«. Aber das nur by the way.


 

Boel Holm
Mama ist auf dem Ring

 

Mama ist auf dem Ring. Das ist das Signal, was jeden Sonntag bei Papa alles beendet. Wenn Mama auf dem Ring ist, muss er die Spielsachen und den Schlafanzug in seinen Rucksack packen, ein letztes Mal aufs Klo gehen. Er hat eine halbe Stunde.

Jeden zweiten Sonntag nimmt Mama den Ring zum Ostkreuz. Sie steigt nicht aus. Er soll auf dem Bahnsteig warten und dann ganz vorne einsteigen. Und jeden zweiten Freitag nimmt Papa den Ring zum Westkreuz und steigt nicht aus.

Bevor sie festgestellt haben, dass dieses das Einfachste war, haben sie sich oft gestritten. Papa hat ihn zu spät abgeholt, zu früh zurück gebracht, zu früh abgeholt, zu spät zurück gebracht. Mama war nie zufrieden. Papa war böse und seine Wut hing wie eine dunkle Wolke über dem Spielplatz, über dem Eisessen und den Zeichentrickfilmen.

Jetzt textet Mama, wenn sie vom Westkreuz losfährt. Dann wissen sie, dass sie eine halbe Stunde haben. Jetzt müssen Mama und Papa nie reden und können sich auch nicht streiten. Das haben sie sich gut ausgedacht.

 

Sie haben nicht immer gestritten. Es gab eine Zeit, bevor Papa in der Nacht ausgezogen ist, bevor statt Papa der Sven in Mamas Bett geschnarcht hat und bevor Jennifer auf der Welt war.

Sven holt nie die Jenni ab. Sie wird zur Omi gebracht oder zu einer von Mamas Freundinnen. Dann macht Mama sich hübsch und manchmal hat sie schon eine Flasche Wein geöffnet bevor Papa auf dem Ring ist. Er mag nicht, wie sie aus dem Mund riecht, wenn sie seine Wange küsst, bevor Papas Hand ihn findet und ihn in den ersten Wagen zieht und Papa und er endlich allein sind.

Der Rucksack ist gepackt und er hält Papas Hand. Er hat keine Angst, dass er sich verläuft oder auf dem löchrigem Bürgersteig stolpert. Er mag es einfach, Papas Hand zu halten.

Sie laufen an der Wurstbude vorbei. Da wo sie jeden zweiten Freitag Wurst kaufen. Man muss den ersten Biss vorsichtig beißen, sonst trifft ein heißer Spritzer in den Gaumen, und man muss mit offenem, erstauntem Mund den ganzen Weg nach Hause keuchen. Wie ein Hund. Sein Mund öffnet sich keuchend nur von dem Gedanken und Papa schaut ihm besorgt zu.

Es wäre alles einfacher, wenn sie sich vertragen könnten. Sven ist ja nicht mehr da, also gibt es wieder Platz für Papa. Aber klar, sie können sich ja nicht vertragen, wenn sie nicht miteinander reden. Mama redet manchmal über Papa. Nennt ihn Arsch. "Du hast natürlich nicht die Zähne geputzt bei dem Arsch." Manchmal hält er sich die Ohren zu und schreit, dass Papa nicht Arsch heißt. Manchmal lacht sie und manchmal packt sie ihn hart am Arm und sagt er soll in sein Zimmer gehen und da bleiben.

Papa redet nie von Mama, außer wenn er sagt, dass sie auf dem Ring ist.

 

Im Fernsehen gab es Bilder von einem Mädchen, was verschwunden war. Ihre Eltern saßen zusammen auf einer Couch und weinten und sagten: "Wenn irgendjemand unser kleines Mädchen gesehen hat..." Wenn er plötzlich weg wäre, würden sie dann zusammen weinen?

Jetzt geht es ja nicht. Er kann nicht Papas Hand einfach so loslassen und auf dem Bahnsteig verschwinden. Er könnte sagen, er muss Pipi machen, und da er ein ganz erwachsener Junge ist, kann er dass selbst erledigen. Aber er war gerade auf Klo und Mama kommt in sechs Minuten, so meint Papa sicher, dass er warten kann bis er zu Hause ist.

" Was passiert, wenn man vor den Zug fällt?", fragt er Papa.

" Man stirbt."

" Immer?"

" Also, wenn du Glück hast, brichst du vielleicht einen Arm oder Bein, aber mit so einem Glück soll man nicht rechnen. Warum fragst du?"

" Nur so."

 

Sollte er vor den Zug fallen und sich ein Bein brechen, müssen sie miteinander reden. Sie könnten zusammen in dem Krankenwagen fahren und ihn mit ängstlichen Augen ansehen. Vielleicht nimmt Papa dann Mama in den Arm und dann könnte er die Wohnung in der Sonntagstraße verlassen. Und nach Hause kommen.

Selbst muss er vielleicht mit Krücken laufen. Oder sogar im Rollstuhl sitzen. Manche werden sicher sagen, dass es voll doof war, alle wissen doch, dass man aufpassen muss, wenn der Zug kommt. Aber damit kann er leben. Es wird es schon wert sein. Je mehr er daran denkt, desto besser findet er seinen Plan.

 

Jetzt kommt der Zug. Papas Hand liegt leicht auf seinem Rucksack.

 

Es passiert so schnell. Ein paar schnelle Schritte und ein Sprung in die Luft. Papas Hand, die seinen Rucksack greift und eine Stimme, die schreit und fragt, was er vorhat. Seine Füße sind zurück auf dem Bahnsteig. Mamas wütende Hand reißt ihn in den Wagen hinein und ihre wütende Stimme schreit:

"Willst du, dass das Kind sich umbringt, Mistkerl?"

Und er sieht, wie Papa zusammenschrumpft hinter den Türen als sie schließen. Mama schimpft den ganzen Weg. Sie dreht sich entsetzt zu fremden Leuten.

"Mensch, man kann ja dem Arsch nicht vertrauen. Er darf den Kleinen nie mehr nehmen!"

 

O.k., dumm gelaufen. Nächstes Mal wird er das mit dem Verschwinden versuchen.


 

Barbara Lemko
Prost Neujahr!
Mit Goijko Mitic im Schneesturm

 

Meine Geschichte vom Ostkreuz passierte im Winter. Es war die kälteste und schneereichste Silvesternacht, die ich je erlebte. Meine Tochter war damals noch klein, und Gott sei Dank! bei Mama. Das Handy war noch nicht erfunden.

"Es kann spät werden, ich habe eine Lifesendung!", hatte ich noch so salopp gesagt und nicht gewusst, dass es so spät werden würde.

Die Lifesendung war eine Stundensendung mit Kindern beim Berliner Rundfunk der DDR und mit einem Stargast, der damals ein riesengroßer DEFA-Filmstar war. Alle Kinder liebten ihn, schwärmten von ihm, er war der Held, der Gute, der Tapfere, der edle Indianer, der die Weißen besiegt. Goijko Mitic war das, der schöne und gut gebaute Jugoslawe, den auch die Erwachsenen liebten. In der Vorbereitung hatte ich ihn schon in seiner Wohnung am damaligen Leninplatz, dem heutigen Platz der Vereinten Nationen, besucht. Das heißt, es war wohl auch die Wohnung seiner damaligen Lebensgefährtin Renate Blume, der schönen, schwarzhaarigen Schauspielerin, die auch eine DDR-Filmindianerin war. Sie kochte uns Kaffee und spielte mit meiner Tochter Anja.

"Zdravo, Goijko Mitic!"

"Dobar dan!"

Goijko erzählte. Und wie schön er war! Er erzählte von seiner Großmutter, die in den Bergen von Jugoslawien so naturverbunden wie eine Indianerin lebte, die alle Kräuter kannte und Heilpflanzen, die sich mit Luna, dem Mond, unterhielt, die mit Wurzeln, die sie im Wald auflas, die Suppen würzte. Und er erzählte, dass er einen echten Indianerfilm in den USA drehen würde, einen von den heutigen Indianern. Ich staunte. Ich war eine DDR-Frau und durfte, obwohl ich Journalistin war, nie hinter die Mauer. Ich war kein Reisekader. Aber Goijko war Jugoslawe, für ihn war die Welt groß und er hatte sich für die DDR entschieden und die tolle Möglichkeit, gute Indianerfilme machen zu können.

Bei der Sendung zu Silvester erzählte er das alles.

Ich erinnerte mich an meine Großmutter, Anna Lemko von den Karpaten, die genauso wie Goijkos Großmutter mit der Natur verbunden war, die Heilkräuter sammelte und Wurzeln. Ich sagte das Goijko und wir lachten, dass uns die Tränen in die Augen kamen.

Die Kinder fragten Goijko aus. Was sie alles wissen wollten!

"Hast du Kinder?"

"Wollen sie Indianer sein?"

"Wo reitest du in Berlin?"

"Kannst du keine Weißen leiden?"

Zum Schluss der Sendung brachte uns Goijko ein Lied bei, das er von seiner Großmutter kannte. Wir sangen und freuten uns. Ende der Sendung. Tschüss.

 

Als wir aus dem Studio kamen, war es schon dunkel. Die Kinder wurden mit dem Bus nach Hause gebracht.

Goijko und ich gingen in die Kantine, die große Rundfunkkantine, die übrigens rund um die Uhr geöffnet hatte und so auch Silvester. Wir schwatzten und hörten die Kantinenleute über unsere Sendung reden.

"Toll! Gut! Eine schöne Stimmung war das bei euch im Studio."

War es auch. Als wir zum Ausgang gingen, der kleinen Pforte an der Goijko seinen Passierschein abgeben musste und dafür seinen Pass zurück bekam, schneite es. Nein, nicht liebliche Schneeflöckchen fielen vom Himmel, es stürmte, der Schnee fiel wie eisige Sturzbäche über uns her, Schneewehen wanderten in aller Eile auf dem Funkhausgelände umher und versperrten uns den Weg. Schneeberge türmten sich auf dem Parkplatz.

"Du kommst mit mir", hatte Goijko schon in der Kantine gesagt, als wir noch nichts von dem Unwetter wussten. Ich hatte das Angebot, mit dem Kinderbus mitzufahren, ausgeschlagen.

Im Schneesturm lief ich hinter Goijko her. Sein Auto unter dem Schnee noch immer feuerrot.

"To je vrlo nezgodno, der verdammte Schlüssel! Ich habe ihn nicht. Ich habe ihn im Auto gelassen."

Es war spät. Es gab wie gesagt noch kein Handy und Taxen waren bei diesem Wetter und zu Silvester und in dieser Gegend und in der DDR ohnehin nicht zu bekommen. Es schneite noch immer. Es stürmte.

Goijko blieb cool. Seine Oma hat ihn gut erzogen. Und meine mich auch. Ich blieb auch cool.

"Fahren wir mit der Straßenbahn!"

"Hmm!"

"Ist auch besser bei dem Wetter."

"Hmm."

Wir gingen langsam durch den Schneesturm bis zur Straßenbahn, der 13. Wir warteten. Es schneite noch immer. Viel dichter waren jetzt die Schneeflocken, aber der Sturm hatte nachgelassen. Keiner außer uns war da. Aber es kam auch keine Straßenbahn. Wir warteten. Eine halbe Stunde. Nichts. Wir tauschten Pilzrezepte unserer Großmütter aus. Wir schwatzten.

Schließlich liefen wir, uns bei den Händen haltend, in Richtung Ostkreuz. Der Wind blies uns vorwärts.

Die Rummelsburger Landstraße zog sich endlos dahin. Und sie war triste. Die Riesentürme des Kraftwerks Klingenberg begleiteten uns auf dem Weg bis wir an den Drahtzäunen der Gefängnishäuser vorbeikamen, den Wachposten der Armee. Immer behieten wir den dicken, dunklen Turm im Auge. Eingehüllt vom Schnee wie ein Weihnachtsbaum vom Engelshaar, der Wasserturm vom Ostkreuz. Jetzt sprachen wir schon nicht mehr. Wir liefen.

Endlich! Der Wasserturm wie ein riesengroßer Baumstamm direkt vor uns. Ostkreuz!

"Fahren wir bis zur Schönhauser Allee!" sagte Goijko.

"Und du? Wie kommst du denn nach Hause?", fragte ich jetzt sehr vertraut.

"Geht schon", sagte Goijko. Wir lachten. Alles schien nun doch noch ein gutes Ende zu nehmen.

Am Bahnsteig keine S-Bahn. Es waren auch keine Leute da. Keine Lautsprecheransage, keine Anzeige. Nichts. Es wird kalt. Unsere Laune war getrübt. Wir schauten schweigend in die Richtung, aus der die S-Bahn kommen sollte. Sie kam nicht. Wir schauten auf die Uhr. Es ging auf Mitternacht. Es war Silvester. Silvester am Ostkreuz!

Schließlich, als wir schon alle Hoffnung aufgegeben hatten, kam die Bahn. Wir fuhren zusammen bis zur Schönhauser Allee. Küsschen! Tschüsschen!

"Sretnu novu godinu!"

"Gesundes Neues Jahr!"

"Do skoro!"

"War schön."

Über zwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Ich hatte Goijko vergessen. Und er mich offensichtlich auch. Aber den dicken Wasserturm, den alten Baum und den Hinterausgang zu den Bahnsteigen vom Ostkreuz gibt es noch immer. Und als ich neulich im Fernsehen ein Interview mit Goijko Mitic sah, fiel mir die Geschichte wieder ein.

Do videnja, Goiko Mitic! Wäre schön, dich zu treffen!


Sonja Hoffmann
Eine Woche am Ostkreuz
Eine Geschichte von Schreihälsen, Bomben und herrenlosen Schuhen

 

Irgendein Montag im Juni, 8.00 Uhr:

"Jasmin! Jasmin!" Wir drehen uns um, aber es ist niemand hinter uns. Vielleicht verwechselt der Typ mit den wirren grauen Haaren und dem zerknitterten Trenchcoat mich mit einer Frau namens Jasmin. Er wackelt an uns vorbei, würdigt uns nicht eines Blickes und ich bin mir nicht mal sicher, ob er uns überhaupt wahrgenommen hat. Kaum ist er an uns vorüber gezogen, schreit er erneut mit einer schrillen Stimme nach Jasmin und quetscht sich vorbei an einem jungen Mann, der wild gestikulierend an uns vorbeischießt. Auch er ist allein, was ihn nicht davon abhält, mit einem zickig-ironischen Ton vor sich hin zu zetern: "Ja, genau, ich weiß, ich bin ein Lügner und DU machst immer alles richtig… ja, ja, toll…ach? Ist das so, ja? Ach, dann leg doch auf…" Er greift erst in seine Tasche und zieht dann genervt den Headset-Knopf aus seinem Ohr. Er scheint telefoniert zu haben – ganz im Gegensatz zu dem alten Herren, der sprach mit sich selbst. Nicht immer ist es so eindeutig wie in dieser Situation, aber am Ostkreuz befassen sich nur noch Touristen aus der Kleinstadt mit der Frage, ob der sprechende Einzelgänger per Headset telefoniert oder nicht.

 

Irgendein Dienstag im April, 15.30 Uhr:

Wir haben frei und nutzen den Tag, um auf dem Markt am Maybachufer einzukaufen. Von dort aus ist es über das Paul-Linke-Ufer nur ein Katzensprung bis zum Markgrafendamm, wo wir leben. Während wir die Einkäufe im Kühlschrank verstauen, hören wir von draußen undefinierbare Megaphon-Durchsagen. Schon wieder eine Demo? Kann schon sein, denn normalerweise bekommt man von derartigen Aktionen meistens erst etwas mit, wenn man die Abendschau im RBB ansieht. Wir denken uns nichts dabei und genießen den freien Tag mit einem Buch auf dem Sofa. Die Durchsagen hören jedoch nicht auf und so öffnen wir das Fenster und versuchen, die Botschaften zu entschlüsseln: irgendwas ist gesperrt… hm, naja, wie dem auch sei. Kurze Zeit später klingelt es dann an der Tür und zwei uniformierte Schränke bauen sich vor mir auf und weisen mich darauf hin, dass wir die Wohnung verlassen müssen, weil am Ostkreuz eine Bombe zu entschärfen sei. Na toll, also wird das Buch zusammengeklappt und wir begeben uns auf einen unfreiwilligen zweiten Spaziergang, denn sich mit etlichen anderen in die Turnhalle einer Schule zu hocken, war nun nicht unsere perfekte Vorstellung eines freien Tages.

An der Boxhagener Straße stehen drei Mädchen, die sich selbst als Visual Key bezeichnen würden mit bunten Manga-Comic-Kleidchen und Sonnenschirm, an der Bushaltestelle. So, wie sich in Kleinkleckersdorf die örtliche Dorfjugend eben auch an der Bushaltestelle trifft. Eigentlich ist sich doch alles so ähnlich und über die pubertierenden Jungbauern entrüsten sich die Anwohner jenseits der 70 ebenso wie hier bei uns. Die Bombe ist so nah und trotzdem läuft hier alles seinen Weg, schon beeindruckend, wenn man darüber nachdenkt.

 

Irgendein Mittwoch im Mai, 17.45 Uhr:

Seit einigen Minuten stehe ich am Ostkreuz und warte auf eine Freundin. Nur wenige Meter von mir entfernt steht ein junges Paar, ich schätze beide sind so Ende zwanzig und wenn man sie so mit dem Stadtplan hantieren sieht, drängt sich einem unweigerlich die Vermutung auf, dass die beiden als Touristen in die Hauptstadt kamen – sie sind also im Urlaub. Was Erholung und Freude bringen soll, führt bei zahlreichen Menschen jedoch zu Aggressionen und Bluthochdruck und so bildet auch das Paar neben mir keine Ausnahme.

Sie (mit schrillem und hasserfülltem Unterton): "ICH hab gleich gesagt, dass wir hier falsch sind, aber du hörst ja eh NIE auf mich...!"

Er (mit pulsierender Ader an der Stirn): "Ja, wer wollte denn, dass wir nach Berlin fahren, hä?! Ich war ja für Malle, da hätten wir alles inklusive gehabt und hätten keine Scheißbahn suchen müssen und Fabian und Melanie wären auch mitgekommen, dann hätten wir nicht die ganze Zeit aufeinanderhängen müssen...!"

Sie: "Ey, ich hab’s so satt. Du kümmerst dich NIE um irgendwas und dann ist immer alles Scheiße!"

Er: "Ach, halt doch die Klappe, die beschissenen zwei Tage Urlaub kriegen wir ja wohl noch rum..."

Es folgt eine Phase eisigen Schweigens und als endlich die ersehnte Bahn einfährt, frage ich mich, ob das der erste und letzte gemeinsame Urlaub der beiden war oder ob das jedes Jahr so abläuft.

 

Irgendein Donnerstag im März, 8.24 Uhr:

Die Frühstückskultur Berlins scheint sich am Ostkreuz in Ost und West zu trennen. Während in den Bahnen, die sich Richtung Westen bewegen hauptsächlich belegte Körnerbrötchen, Coffee to go und Croissants verspeist werden und wohlige Gerüche verströmen, sitze ich in einer der Bahnen Richtung Osten.

Der Osten frühstückt scheinbar anders, denn statt des Aromas von frisch gebrühtem Kaffee steigt mir der aufdringliche Geruch eines Döners "mit alles" in die Nase. Ja, es ist kurz nach acht Uhr in der Früh und ich bin relativ glücklich, morgens schon über ein recht unempfindliches Riechorgan zu verfügen. Zu dem Döner gibt es natürlich keinen Kaffee, denn das würde ja absolut nicht passen und man muss ja schon auf Etikette achten und so wird das gesunde Frühstück mit einem kräftigen Schluck Bier runtergespült.

Um für Abwechslung zu sorgen, steht natürlich auch die Curry-Wurst ganz oben auf der Frühstücksfavoriten-Liste Ost und auch das eine oder andere Eisbein wurde schon vor meinen Augen zur wichtigsten Mahlzeit des Tages.

Ost und West: so viele Unterschiede wurden schon abgebaut, aber vielleicht sollte die Politik sich auch noch mal im Sinne der Menschen mit einer empfindlichen Nase für die deutsche Einheit einsetzen.

 

Irgendein Freitag im Juli, 18.00 Uhr:

Nach Feierabend will ich noch schnell ein paar Dinge besorgen, schiebe mich an den unzähligen besetzten Sitzmöglichkeiten vor den Cafés in der Sonntagstraße durch die Menschenmengen und stelle fest, dass Friedrichshain wohl tatsächlich auf dem Weg ist, das neue Prenzlauer Berg zu werden. Auf der kleinen Grünfläche an der Sonntagstraße tummeln sich geschätzt 100 junge Eltern mit ihren Kindern, die auf Namen wie Marie Luise und Frederik hören, und diskutieren über Familienpolitik und das Leben im Allgemeinen. Aus ihren bunten Jute-Beuteln ziehen sie hin und wieder Schraubgläser (der Umwelt zuliebe) und geben ihren langhaarigen Söhnen einen Haferkeks in Bio-Qualität. So viele Brüste wie hier sieht man sonst nur am FKK-Strand, dort hängen an ihnen allerdings meist keine Kinder und es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis sämtliche Döner-Grills von Bio-Läden und Windelgeschäften ersetzt werden.

 

Irgendein Samstag im Oktober, 14.35 Uhr:

Wird Friedrichshain also bald das neue Prenzlauer Berg? Die Kinderwagen schiebenden Papas sind auf alle Fälle schon überall in Scharen zu beobachten. Schräg versetzt gehen Ursula von der Leyens Vorzeigemodelle hinter dem Sportkinderwagen, mit dem ihre Partnerin (nicht "Frau", weil heiraten ja viel zu altmodisch ist) nach der Arbeit noch joggen geht, um den Waschbrettbauch drei Wochen nach der Entbindung lässig im Flohmarkt-Shirt zu präsentieren. Obwohl alle Super-Papas behaupten, die Elternzeit sei das beste, was ihnen je passiert ist, hängen ihre Mundwinkel stets nach unten und zwischen ihren Augenbrauen zeigt sich ihre Unzufriedenheit in einer kräftigen Zornesfalte. An der Dauerbaustelle Ostkreuz nähern wir uns mit unseren Fahrrädern von hinten einem ebensolchen Exemplar und bitten ihn höflich, uns vorbeizulassen. Ohne sich umzudrehen pöbelt er: "Dat ist keen Radweg hier!" Um sich das eigene Leben nicht unnötig schwer zu machen flöte ich: "Es ist ein Weg für Fußgänger und Radfahrer und selbst wenn er es nicht wäre, könnte man doch ein wenig nett miteinander sein." Wo es denn stünde, dass es sich um einen gemeinsam zu nutzenden Weg handele? Wir zeigen ihm das Schild am Beginn des Weges und die schlagartige Rotfärbung seines peinlich berührten Gesichts zeigt, dass der ach so entspannte Papa vielleicht doch noch mal zum Yoga gehen sollte...

 

Irgendein Sonntag im August, 9.10 Uhr:

Es gibt Indizien, die eine zuvor vermutete Entwicklung jedoch fragwürdig erscheinen lassen, denn die wirklichen Promis sieht man hier noch nicht. Während es in Mitte ein leichtes ist, Til Schweiger beim Dreh für einen neuen Film über den Weg zu laufen oder in Kreuzberg mit Heidi Klum einen Burger beim großen M zu essen, so trifft man auf den Flohmärkten rund um das Ostkreuz doch eher nur auf abgehalfterte B-Prominenz. Erst nach mehrmaligem Hinschauen erkennt man dann den deutlich gealterten und längst in der Versenkung verschwundenen VJ, der zu Zeiten im Musikfernsehen arbeitete, als noch keine billigen Reality-Date-My-wasauchimmer-Shows in 24-Stunden-Endlos- Schleife, sondern tatsächlich noch Videoclips von nicht gecasteten Bands gezeigt wurden.

Dennoch zeigt das Ostkreuz insbesondere auf der Seite des Markgrafendamms noch großes Potential hinsichtlich der Entwicklung zu einem DER Hotspots in Berlin (ob diese Entwicklung allerdings wünschenswert ist, bleibt eine Frage, über die es zu streiten gilt.).

Der Markgrafendamm hat nämlich zwei Gesichter: Ein Werktagsgesicht und ein Wochenendgesicht.

Montags bis freitags schleppen sich am frühen Morgen die Berufstätigen zum Ostkreuz. Ob mit schlurfenden Füßen und gesenkten Blicken oder mit hektischem Schritt und dem Mobiltelefon am Ohr, wirkt jeder auf die eine oder andere Art unmotiviert oder zumindest unausgeschlafen. Unausgeschlafen sind die Menschen, die sich am Vormittag des Sonntags Richtung Ostkreuz bewegen zwar auch, ihre Müdigkeit liegt aber wohl eher daran, dass sie seit circa 24 Stunden auf den Beinen und diese vom Tanzen derart geschwollen sind, dass sich der eine oder andere auf dem Heimweg seines Schuhwerks entledigt.

Als ich in den Markgrafendamm zog wunderte ich mich über die große Zahl herrenloser Schuhe, die in den Nächten von Samstag bis Montag auf dem Weg zum Ostkreuz auftauchten. Wie für Berlin üblich, sind die wahren Tanztempel auch hier nicht mit einem großen, rotblinkenden Pfeil versehen, sondern liegen wie der Salon "Zur Wilden Renate" derart versteckt, dass sie den auf den Boden gesenkten Blicken der "Arbeitsbienen" meist verborgen bleiben. Aus dieser Unwissenheit heraus resultiert dann eine gewisse Verwirrung hinsichtlich der demographischen Zusammensetzung der Fußgänger, die sich am Sonntag durch den Markgrafendamm bewegen. Während der eine frisch ausgeschlafen und gewaschen auf dem Weg zum Bäcker ist, torkelt der andere ohne Schuhe an den Füßen und mit der letzten Flasche Bier in der Hand zur Bahn. Für knapp 24 Stunden hat das Ostkreuz dann seinen großen Auftritt, um am Montag nur noch durch die einsamen Schuhe zeigen zu können: "Ich war dabei…"


 

Andrea Dehne
Flashmob

 

Es war spät geworden. Er saß in der S-Bahn, den Kopf gegen das Scheibenglas gelehnt und sah draußen die Lichter der Stadt vorüber ziehen.

Die Wagen ratterten über das alte Gleisbett der Ringbahn und er ertappte sich dabei, wie ihm die Augen zufielen.

Am Ostkreuz hielt der Zug, die Türen öffneten sich und Menschen strömten herein. Fast alle Plätze waren auf einmal besetzt und eine eigenartige Stimmung schien den Wagen zu erfüllen. Ein leises Tuscheln und Wispern, das abbrach, als das Abfahrtsignal ertönte und die Türen sich schlossen. Ihm gegenüber hatte eine Frau Platz genommen, die ihre graue wellige Haarmähne mit einem Band im Nacken zu zähmen suchte. Ihr Mund war in der Farbe reifer Süßkirschen geschminkt, ein dunkles Rot, das fast ins Schwarze reichte. Sie trug eine leichte schwarze Strickjacke über einem mit Blumenmuster verzierten hochgeschlossenen Kleid. Irgendwo im Waggon erklang auf einmal Musik. Zuerst ein paar schluchzende Töne. Die Menschen um ihn herum erhoben sich, fanden als Pärchen zueinander, Arme legten sich behutsam um Rücken und Hals, Hände sanft in Hände, alles schien einer einzigen Choreographie zu gehorchen. Man wiegte sich leicht zu den ersten Takten, die Musik wechselte, wurde intensiver, abgehackt, zwingender, sie trieb die Tänzer — denn ohne Zweifel handelte es sich um solche — vorwärts, erst in kleinen Schritten und Drehungen, dann in immer ausgefalleneren Figuren, wobei sie geschickt jede sich auftuende Lücke, jede Nische des Waggons nutzten.

Verwirrt sah er dem Treiben um sich herum zu, lauschte den Klängen bis sein Blick an der Frau ihm gegenüber hängen blieb. Sie hatte aus einer Bastkorbtasche ein paar hochhackige Schuhe genommen und beim Anziehen ihn angelächelt. Dieses Lächeln wurde immer strahlender als sie aufstand, auf ihn zuging und ihm die Hand reichte. Wie in Trance erhob er sich und ehe er es noch begriff oder etwas sagen konnte, wiegten beide sich eng umschlungen die Köpfe leicht aneinander gelehnt und lauschten den Worten der Sängerin:

 

Yo soy maria

de buenos aires

de buenos aires maria

no vien quien

soy yo?

(Ich bin Maria von Buenos Aires, Buenos Aires Maria, sehen Sie nicht wer ich bin?)

 

Sie glitten durch die Nacht wie der Zug, der sie mit sich führte.

 

maria tango,

maria del arrabal,

(Maria Tango, Maria der Vorstadt)

 

Vorsichtig waren ihre Bewegungen, tastend, abwartend. Wenn er einen Schritt auf sie zu wagte, wich sie zurück. Bewegte er sich seitlich, tat sie ihm nach. Wiegte er seine Schritte, folgte sie der Bewegung.

 

maria noche

maria pasion fatal

(Maria Nacht, Maria Leidenschaft fatal)

 

Löste sich ihre Umarmung, dann umkreisten sie einander, lauernd, sich tief in die Augen blickend. Vertrat er ihr den Weg, ließ sie ihren Fuß an seinem Bein ein-, zweimal hoch und nieder gleiten, um es, nach einem kleinen Zögern, zu übersteigen.

Alsbald lehnten sie wieder eng aneinander, nahmen den Takt auf und folgten den Anderen.

 

maria del amor

de buenos aires

soy yo

(Maria der Lieb, zu Buenos Aires, bin ich)

 

So umrundeten sie die Stadt.

Als der Zug wieder am Ostkreuz hielt verstummte die Musik. Die Paare trennten sich, rafften ihre Sachen zusammen und strömten auf den Bahnsteig. Benommen stand er alleine im leeren Waggon. Das Abfahrtsignal ertönte und die Türen schlossen sich.

Der Zug setzte sich in Bewegung — ein leuchtendes Band vor der schwarzen Silhouette der Lagerhäuser und des alten Wasserturms, ein Glühen, das langsam im Dunkel der Nacht entschwand.

 

P.S.
Der kursive Text ist der Tango Opera 'Maria de Buenos Aires' von Astor Piazzolla entnommen


 

Ilse Treue
Das Ritual

 

Herbert pflegt ein Ritual. Alljährlich im Mai pilgert er von seiner Wohnung am Ostkreuz nach Treptow, genießt dort einen erholsamen Nachmittag und pilgert wieder zurück. Es ist wieder Mai und wieder zieht es ihn ans Spreeufer. Ganz gegen seine Gewohnheit nimmt er heute die S-Bahn, nicht ahnend, dass der Tag dadurch eine unerwartete Wendung nehmen wird.

Auf der Rückfahrt am S-Bahnhof Ostkreuz aussteigend, blickt er noch einen Moment vom Ringbahnsteig aus über die riesige Baustelle. Die Kynastbrücke steht schon an ihrem neuen Platz. Vor kurzem wurde sie für den Verkehr freigegeben. Noch lange wird er in seiner unmittelbar am Bahnhof gelegenen Wohnung Baulärm und Schmutz ertragen müssen; aber wenn alles fertig ist, wird das Umsteigen eine wahre Freude sein. Gerda würde staunen, wenn sie das noch erlebt hätte. Früher fuhren sie täglich von hier zur Arbeit und an den Wochenenden hinaus ins Grüne. Als die Kinder noch klein waren, quälten sie sich oft mit dem Kinderwagen treppauf, treppab. Mit dem Aufzug wird das einmal eine Kleinigkeit sein. In Gedanken vertieft wendet er sich dem Ausgang zu.

In dem Augenblick, wo er die Treppe hinabsteigen will, bittet ihn eine Frau um Auskunft. Herbert dreht sich um, stutzt, fragt halb ungläubig: "Brigitte? – Wirklich Brigitte?" Die so Angesprochene staunt ebenfalls: "Herbert, du?" Nach kurzer Pause: "Ich bin heute früh aus Schwerin gekommen und will jetzt wieder zurück, finde mich aber auf dem Bahnhof nicht zurecht. Seit ich das letzte Mal hier umgestiegen bin, hat sich alles total verändert." Bereitwillig kommt Herbert ihr zu Hilfe. Er weist auf die Bahnsteige, zeigt, was fertig und was im Bau ist. "Du bist gut informiert", sagt Brigitte anerkennend. "Ohne dich wäre ich ziemlich hilflos." Der Klang ihrer Stimme weckt in Herbert Erinnerungen. Seit Jahren haben sie einander nicht gesehen. Er will sie jetzt nicht einfach gehen lassen und bittet sie, ihre Heimfahrt etwas hinaus zu schieben. "Ich lade dich zu einer Tasse Kaffee ein. Kommst du mit? Ich würde mich freuen." Brigitte überlegt nicht lange. In der nahe gelegenen Sonntagstraße war sie mit ihrer Schwester Gerda aufgewachsen. Herbert bewohnte nach seiner Vermählung mit Gerda eine Wohnung im gleichen Haus. Straße und Haus würde sie gern wieder sehen.

Kaum fünf Minuten später betreten sie Herberts Wohnung. Schnell ist der Kaffeetisch gedeckt. Schweigend nehmen sie die ersten Schlucke. "Mir ist, als ob ich nach Haus komme", beginnt Brigitte das Gespräch. "Brigitte, du bist schon einmal mit mir nach Haus gekommen", antwortet Herbert, "das ist lange her. Erinnerst du dich?" Dann wird er still. Seine Gedanken gehen um Jahrzehnte zurück. Es war Krieg. Die Zeit der Siege war längst vorbei. In einer furchtbaren Kesselschlacht trafen ihn buchstäblich in den letzten Stunden des Krieges noch zwei Kugeln. Man trug ihn in einen Keller, in dem notdürftig eine Verbandsstelle eingerichtet war. Hilflos war er fremden Menschen ausgeliefert, nicht wissend, was von einer Stunde auf die andere passieren würde. Frauen aus dem Ort versorgten die Verwundeten so gut es ging. Da war vor allem Uschi, die vor keiner Arbeit zurückschreckte und nicht müde wurde, den Soldaten Mut zuzusprechen. Von ihr erfuhr Herbert vom Ende des Krieges. Eigentlich weiß Brigitte das alles. Seit langer Zeit hat er nicht mehr darüber gesprochen. Nun, wo er Brigitte wieder sieht, stehen die damaligen Ereignisse so mächtig vor ihm, dass es ihn zum Sprechen drängt.

"Brigitte, du weißt, dass ich in Halbe verwundet wurde", beginnt er. "Du kannst Dich bestimmt noch auf Uschi besinnen. Sie kam eines Morgens in den Keller und verkündete, dass sie sich zu Fuß auf den Weg nach Berlin machen werde. Sie wolle nach ihren Eltern sehen. In der Hoffnung, dass ihr zu Hause den Krieg überlebt habt, schrieb ich ein paar Zeilen auf einen Zettel und bat Uschi, dieses Lebenszeichen Gerda zu übergeben. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Plötzlich tauchte das Gerücht auf, wer laufen kann, könne auf eigenes Risiko versuchen, in seinen Heimatort zu gelangen. Andernfalls sei mit Kriegsgefangenschaft zu rechnen. Es würden Transporte zusammengestellt werden. Gerücht? Wahrheit? Ich lag gehunfähig im Keller und musste die Ereignisse auf mich zu kommen lassen." Herbert atmet tief, bevor er weiter spricht: "Ich werde nie vergessen, wie mir zumute war. Berlin war zum Greifen nahe. Ich klammerte mich an die Hoffnung, euch dort wieder zu sehen. Das gab mir Kraft. Nun brach die Hoffnung zusammen. Der Abtransport nach Russland schien unausweichlich. Da tauchtest du plötzlich auf. Ich glaubte, eine Fata Morgana zu sehen. Neben dir stand Uschi und lachte. Ich muss wohl sehr dumm drein geschaut haben. Gleich darauf durchzuckte es mich wie ein Blitz: Das ist die Rettung! Alles Weitere verdanke ich dir." Überwältigt von der Erinnerung, greift er nach Brigittes Hand.

Leise, um Herbert in seinen Gedanken nicht zu stören, schenkt Brigitte noch einmal Kaffee ein. Sie nimmt einige Schlucke, ehe sie zu sprechen beginnt: "Ja, ich erinnere mich. Der Krieg war erst wenige Tage zu Ende, da brachte eine fremde Frau Grüße von dir. Als ich hörte, dass du lebst, schlug mir das Herz bis zum Hals. Nun bot sich die Möglichkeit, dich wieder zu sehen, da die Frau nach Halbe zurückkehren werde. Spontan schloss ich mich ihr an. Für Gerda kam eine solche Strapaze nicht in Frage. Sie erwartete euer erstes Kind. Mit Uschi war ich schnell per du. Ich lernte sie als eine couragierte Frau kennen, der man sich getrost anvertrauen konnte. Ich hatte keine Ahnung, was mich in Halbe erwartet. Schon gar nicht war ich darauf gefasst, dich nach Haus holen zu können. Die Gelegenheit, dir die Kriegsgefangenschaft zu ersparen, war günstig, also nutzte ich sie. Uschi half nach Kräften. Im Wald von Halbe wurden wir fündig. Flüchtlinge und zurück weichende Soldaten hatten alles weggeworfen, was ihnen bei der Flucht hinderlich war. Wir fanden einen klapprigen Leiterwagen. Wir fingen ein herrenlos umherlaufendes, abgemagertes Pferd ein. Sogar Zaumzeug fanden wir. Das passte zwar alles nicht zusammen, doch irgendwie würde es schon gehen. Für dich mussten zwei Holzstangen als Gehhilfe ausreichen. Uschi trieb Rote-Kreuz-Binden auf, die wir uns auf die Ärmel hefteten, dazu eine Rote-Kreuz-Fahne und fertig war der Lazarettwagen. So machten wir uns auf den Weg nach Berlin. Wenn ich heute daran zurück denke, wundere ich mich über den Mut, den wir aufbrachten. Wir warfen uns in ein Abenteuer, von dem wir nicht wussten, wie es enden würde. Das Pferd blieb alle paar Meter stehen. Ich wusste nicht mit Pferden umzugehen, Uschi auch nicht. Du wusstest es, konntest aber nur mit Ratschlägen helfen." Herbert unterbrach Brigitte: "Das arme Pferd tat mir leid. Wir hatten nichts zu fressen für das Tier. Das Zaumzeug scheuerte. Es half aber alles nichts, Pausen konnten wir uns nicht leisten. Wir mussten weiter, nur immer weiter. Dann kamen wir an die Stelle, wo der Wald brannte. Ich bekam einen Schreck, befürchtete, das Pferd würde scheuen und den klapprigen Wagen umwerfen. Alles wäre umsonst gewesen. Erstaunlicherweise scheute es nicht. Weißt du noch, wo wir den nächsten Schreck bekamen?" Brigitte weiß es genau. Das war an der Grenze zu Berlin. Ein Schlagbaum versperrte die Straße, die von einem Rotarmisten bewacht wurde. Herbert lag in der Uniform der verhassten Nazi-Wehrmacht auf dem Wagen. "Ich dachte, jetzt ist alles aus", erinnert sich Brigitte. "Aber der Rotarmist blickte auf die Rote-Kreuz-Fahne, öffnete den Schlagbaum und winkte uns durch. Wir waren in Berlin."

Vor ihnen lagen Schuttberge, unpassierbare Straßenzüge, eine einzige Trümmerlandschaft. Nach zweitägiger beschwerlicher Fahrt gelangten sie endlich ans Ziel. Brigitte hatte für ihre Schwester den Mann nach Haus gebracht.

Herbert, kein Freund großer Worte, drückte erneut Brigittes Hand. Ohne sie wäre sein Leben und das seiner Familie anders verlaufen. Wer weiß, was ihm erspart blieb. "Das liegt 65 Jahre zurück", erinnert er Brigitte, "auf den Tag genau 65 Jahre." Er erzählt ihr, dass er und Gerda seitdem diesen Tag besonders würdigen, sei es mit einem Blumenstrauß, mit einem besonderen Essen oder einem Theaterbesuch. Später, als Rentner, verbanden sie diesen Tag gern mit einem Spaziergang zum nahe gelegenen Treptower Park. Dieser Tag des Erinnerns und der Freude wurde für sie zu einem Ritual. Auch seit er allein ist, hält er an dem gewohnten Ausflug fest. Die Jahre vergingen. Herbert muss jetzt für die kurze Strecke die S-Bahn nehmen. "Dadurch haben wir uns getroffen, Brigitte. In dem Augenblick, wo ich vom Ostkreuz die Treppe hinabsteigen wollte, hast du mich angesprochen." Sie lächeln. Schmunzelnd geht Herbert in die Küche und kommt mit einer Flasche Sekt zurück. "Darauf stoßen wir an!"

Immer neue Erinnerungen werden lebendig. Erinnerungen an die Trümmerberge auf dem heutigen Lenbachplatz. Erinnerungen an die kleinen Läden in der Sonntagstraße. Erinnerungen an Nachbarn und Bekannte, die verzogen sind oder nicht mehr leben. Erinnerungen, Erinnerungen.

Brigitte schaut auf die Uhr. Sie muss zurück nach Schwerin. "Besuch mich mal. Meine Tochter vermietet an Feriengäste", bietet sie Herbert an. "Für einige Tage wechselst du von der Spree an den Schweriner See." Herbert ist nicht abgeneigt. Er bringt Brigitte zum Bahnhof. Wenige Augenblicke später nimmt sie der Zug mit sich fort. Noch einmal blickt Herbert über die riesige Baustelle. Hoffnungsvoll klingt sein heutiges Ritual aus. Langsam geht er nach Hause.


 

Momo Noack
Irgendwo zwischen Salami und Freundlichkeit

 

Ich rannte meinem Hund auf der Wiese hinterher. Ich wollte, dass er sich richtig auspowert. Keine Ahnung warum. Es machte Spaß, sich mit dem Hund zu messen. Irgendwann gab ich es auf. Ich ließ mich in das hohe Gras fallen. Was bringt es? Er war sowieso schneller als ich.

Ich schaute zu ihm und konnte gerade noch sehen wie er im Busch verschwand. Ich wusste, dass es meinem Hund hier gefiel. Auch ich konnte mich hier gut entspannen. Im Getümmel der Großstadt fanden wir hier unsere Ruhe, weil nur wenige Leute etwas von dieser Wiese wissen. Meine beste Freundin Sarah, ihre Mutter und ich. Sarah hatte mir diesen Ort einst gezeigt. Die Wiese lag, von der Sonntagstraße aus gesehen, hinter dem Ostkreuz. Es gibt dort eine Straße, deren Namen ich nicht kenne, aber von dort aus kommt man auf dieses Grundstück. Von der Straße aus kann man die Wiese allerdings nicht sehen, nur Sand. Es sieht dann eher wie eine Baustelle aus. Erst wenn man über die Sandhügel herüber geht, gelangt man zur Wiese.

Meistens war ich mit Sarah und meinem Hund Muffin hier. So wie heute auch. Ich sah wie Sarah hinter den Hügeln auftauchte. Sie kam zu mir gerannt und ließ sich neben mir im Schneidersitz fallen. Ich kannte sie schon ziemlich lange. Wir gingen zusammen in den Kindergarten. Es war schon immer lustig, sich mit ihr zu treffen. Sie ist anders als viele Mädchen. Ihr war es egal, was die anderen von ihr dachten. Und sie ist sehr sportlich, so dass ich mit ihr auch immer zusammen durch den Treptower Park gejoggt oder Inlineskates gefahren bin.

Ich hob meinen Kopf und schaute sie an. Sie seufzte und ließ sich auf den Rücken fallen. Darum drehte ich den Kopf zur Seite. Sie schaute mich an und hob die Augenbrauen hoch. Was hatte sie? Ich schaute sie verdutzt an und sie grinste mich an. Ich lächelte hämisch zurück. Dann kitzelte ich sie an der Taille und sie musste heftig lachen und rächte sich. Wir bekriegten uns noch eine Ewigkeit. Es kam mir jedenfalls wie Stunden vor. Doch dann sprang Sarah plötzlich auf.

Wahrscheinlich wollte sie wegrennen. Aber dann sah ich, wie ihr Gesicht ernst wurde, also fragte ich sie: "Was ist?" "Anette", sagte sie und richtete ihren Blick dabei hinter mich. Ich drehte mich um, um "Anette" sehen zu können. Und da sah ich sie auf einem BMX-Fahrrad über die Wiese auf uns zu fahren. Aufgrund ihrer Kleidung hielt ich sie für in unserem Alter, also ungefähr 15. Doch als sie sich uns näherte und ich ihr Gesicht besser erkennen konnte, schätzte ich sie auf Anfang 40.

"Sarah, was machst du hier?", schrie Anette Sarah an. Ich sah Sarah an, aber sie rannte einfach weg. "Hau ab, Tom!", rief sie mir zu. Ich verstand gar nichts mehr. Was soll denn mit dieser Anette sein? Trotzdem sprang ich auf und rief Muffin. Er kam zu mir getrottet und ich rannte los. Wenn sie wegrennt, wird es schon seinen Grund haben.

Ich holte den Vorsprung locker auf. Und kaum lief ich neben ihr, lief sie auch schon schneller. Eigentlich fast zu schnell, aber es war für mich kein Problem mitzuhalten. Jahrelanges Joggen zahlt sich also doch aus! Plötzlich blieb Sarah stehen. Mitten auf dem "Übergang" zwischen der Sonntagstraße und dieser Straße, aus der wir gerade kamen. Man konnte von hier aus zu den S-Bahnen nach Potsdam, Strausberg, Wannsee usw. runter gehen. Wir waren beide aus der Puste und atmeten heftig ein und aus. Ich versuchte meine Stimme wiederzufinden, aber stattdessen bellte ich sie bloß heiser an: "Was sollte das?" Sarah schaute mich mit großen Augen an. Damit war meine Frage eigentlich beantwortet: Sie hatte Angst!

Sarah sprach trotzdem: "Weißt du, diese Frau ist … nicht normal! Sie macht mir Angst. Meine Mutter und ich waren vor kurzem noch mit ihr befreundet. Wie viele andere Leute auch. Aber … sie hatten uns gewarnt gehabt. Uns wurde erzählt, dass Anette nicht ganz … normal sei. Sie sei verrückt. Aber bin ich das nicht auch? Es gibt viele, die verrückt sind! Jetzt weiß ich aber was die anderen meinten mit sie sei 'nicht ganz normal'. Ich wusste es allerdings erst nach einem heftigen Streit. Sie war richtig sauer auf uns, weil wir nicht mehr mit ihr befreundet sein wollten. Sie … drohte uns ernsthaft…. sie meinte, sie wolle uns umbringen." Sarah sprach so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte. Sie lehnte sich dabei gegen das Geländer. "Verstehst du jetzt, weshalb ich solche Angst hab?", sprach sie diesmal lauter, so dass ich sie besser verstehen konnte. Diese Geschichte klang so schlimm, dass man kaum glauben wollte, sie sei echt.

Ich stützte meine Arme auf das Geländer und schaute auf die Gleise und sagte: "Da hätte ich an deiner Stelle wohl auch Angst." Ich drehte mich zu ihr zurück. "Ähm … ich würde es verstehen, wenn du jetzt nein sagst, aber hältst du es nicht für besser, wenn wir Hilfe holen?", fragte ich vorsichtig. Sie schüttelte ihren Kopf. Sie hatte recht. Wozu auch Hilfe holen? Ich konnte sie genauso gut selber beschützen. Jedenfalls wollte ich sie beschützen, sollte Anette sich in ihre Nähe wagen. Aber hier am Ostkreuz würde sie sich eine Auseinandersetzung hoffentlich nicht wagen. Wir befanden uns schließlich an einem der belebtesten Plätze hier im Kiez. Hier gibt es tausende von Cafés und Restaurants. Man kommt von hier aus überall hin. Im Minutentakt fahren die Bahnen ein und man ist schneller am Ostbahnhof, Alexanderplatz oder Hauptbahnhof als manch einer denkt. Und Sarah und ich kannten hier so viele Schlupflöcher, wir konnten einfach darin verschwinden, wenn es sein muss.

Ich musste gähnen. Gestern war ich einfach zu lange wach gewesen. Hunger hatte ich auch. Ich griff in meine Hosentasche und zählte mein Geld. Ich hatte noch 4,82 €. Das reicht locker, um Sarah und mir etwas zu essen zu kaufen. Also nahm ich ihre Hand und führte sie die Treppe Richtung Sonntagstraße runter. Sarahs Hand zitterte stark. "Ich … glaube …, ich glaube, dass ich keine Hilfe brauche. Sie wird uns schon nicht verfolgen", sagte sie und zog ihre Hand langsam weg. Ich sagte: "Ich werde auf dich aufpassen. Lass uns etwas zum Essen holen!" Sie musste lächeln. "Klar!", sagte sie. Sie lehnte ihren Kopf an meine Brust und ich legte meinen Arm um sie. Ich hatte sie wirklich gern. Und um nichts in der Welt würde ich ihr die Freundschaft kündigen.

Wir schlenderten zum Bäcker direkt gegenüber vom Bahnhof, wo ich ihr ein Tomate-Mozzarella-Baguette und mir ein Salami-Baguette kaufte. Ich ging hier des Öfteren mal eine Kleinigkeit kaufen, weil es recht günstig ist. Mein großer Bruder nannte ihn deshalb immer den "99-Cent-Bäcker". Wir gingen wieder zurück zum Bahnhof. An einer Mauer hockte ein kleiner arabischer Junge, den ich auf höchstens acht Jahre schätzte. Ich ging zu ihm und drückte ihm mein Restgeld in die Hand. Er war sehr glücklich darüber und bedankte sich. Für ihn wird es wohl viel Geld gewesen sein. Ich weiß noch, wie sehr ich mich freute, wenn ich in seinem Alter mal ein bisschen Taschengeld bekommen hatte. Heute verdiene ich mein Taschengeld selbst, indem ich Zeitungen austrage.

"Was wollen wir jetzt machen, Sarah?", fragte ich sie und drehte mich zu ihr um. Aber sie war nicht mehr da. Wo war sie hin? Hatte sie sich in Luft aufgelöst? Ich schaute mich um, aber da war keine Spur von Sarah.

Wo konnte sie denn bloß sein? Versteckte sie sich vor mir? Oder wurde sie vielleicht entführt? Ich konnte mir das alles einfach nicht erklären. Ich stand doch die ganze Zeit neben ihr! Ich fluchte innerlich. Wie konnte ich bloß so unaufmerksam sein? Und was um Himmels willen war passiert?

Ich fragte den Jungen, ob er das Mädchen neben mir gesehen hätte. "Da waren kein Mädchen. Du alleine da", erklärte er mir. Ich sah ihm an, dass er wirklich keine Ahnung hatte, was ich meinte. "Ich dir helfen soll suchen?", fragte er mich anschließend. Natürlich war ich ihm sehr dankbar dafür und nahm es an. Als erstes erzählte ich ihm ziemlich alles über Sarah. Zum Beispiel, dass ich sie schon seit dem Kindergarten kenne, sie meine beste Freundin ist und wie sie aussieht. Ich erzählte ihm sogar von dieser Frau. "Und dann war sie plötzlich verschwunden", beendete ich die ganze Geschichte. Ich merkte, wie plötzlich Tränen in meine Augen schossen. Ich war mehr wütend als traurig oder verzweifelt. Weshalb habe ich nicht gut genug aufgepasst? Hoffentlich ist ihr nichts passiert, ich würde mich für den Rest meines Lebens nicht mehr anschauen können. "Nicht weinen! Darfst nicht weinen! Mädchen bald wieder hier!", versuchte der Junge mich zu trösten. Ich musste lächeln. Ich fand den Jungen toll. Er schien sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Und obwohl ich ihn kaum kannte, mochte ich ihn sehr.

Wir schauten wirklich auf allen Gleisen und in allen Läden nach. Aber nirgendwo konnten wir Sarah entdecken. Je mehr Zeit verging, desto wütender wurde ich. Ich konnte den Gedanken, dass ich sie nicht beschützen konnte, nicht ertragen. Von zu Hause abhauen würde sie nie. Jedenfalls nicht freiwillig. Sie hat immer von ihrer Familie geschwärmt. Und ich weiß, dass ihre Familie wirklich toll ist. Aber was ist mit dieser verrückten Frau? Was ist, wenn diese Frau ihr etwas angetan hat? Mit schlechtem Gewissen überlegte ich weiter, wo sie noch sein könnte. Verschwunden, irgendwo auf dem Weg vom Bäcker und bis zum Jungen. Und wenn sie nicht an den Gleisen oder in den Geschäften war, dann gab es ja eigentlich nur noch eine Möglichkeit: die Wiese!

"Sie könnte auf der Wiese sein", erklärte ich dem Jungen. "Wir nachschauen!", kreischte er fast vor Begeisterung. Ich rannte los. Muffin und der Junge folgten mir. Unterwegs flüsterte ich Muffin ins Ohr, er solle Sarah suchen. Er rannte los. Nun rannten der kleine Junge und ich dem Hund hinterher. Muffin rannte über die Sandfläche und verschwand hinter den Hügeln.

Auf der Wiese angekommen, traf mich fast der Schlag. Ich blieb kurz stehen und sah sie auf der Wiese Tee trinkend mit Anette. Langsam lief ich wieder los. Irgendwie machte es mich wütend, Sarah dort ganz entspannt Tee trinken zu sehen. Friedlich saß sie dort und unterhielt sich mit Anette, während ich den ganzen Bahnhof nach ihr absuchte!

Muffin kam als erstes bei ihr an und stupste sie mit seiner Nase. Sie drehte sich um und streichelte ihn, während sie mir zuwinkte. Sogar der Junge kam lange Zeit vor mir an. Ich sah, wie er mit ihr redete und wie sie immer nur nickte.

Ich dagegen gab mir erst keine Mühe schnell zu laufen und schlenderte ganz langsam über die Wiese zu ihr hin. Da hörte sie auf zu reden. Ich steckte meine Hände in die Hosentaschen und senkte meinen Blick.

"Tom! Bist du sauer auf mich?", fragte Sarah. Sollte das etwa ein Witz sein? "Was sollte ich deiner Meinung nach sein?", fragte ich sie. "Es wäre ein Anfang, wenn du mich anschauen könntest", antwortete sie. Ich hob den Blick und sah sie an. Ich starrte sie an. "Besser?", fragte ich sie und starrte sie noch mehr an. Aber sie verdrehte bloß die Augen und redete weiter: "Anette wollte mit mir reden. Wegen der Sache mit dem Streit. Das hatte ich dir doch gesagt, bevor wir losgegangen sind."

Ich wollte zwar, aber konnte ich mich nicht daran erinnern.

"Hey, warum bist du so wütend? Mohamed hat erzählt, du wärst, seist richtig verzweifelt gewesen? Es tut mir ehrlich leid. Wahrscheinlich warst du so in deinem Gespräch mit Mohamed vertieft, dass du mich gar nicht gehört hast. Naja, weißt du, ich hätte auf eine Antwort von dir warten sollen!"

Ich musste einen kurzen Augenblick nachdenken, mit Mohamed konnte sie eigentlich nur den kleinen arabischen Jungen meinen.

"Ach, schon gut! Ich bin froh, dass ich dich gefunden habe. Tut mir leid", sagte ich und umarmte sie. Dann mussten wir beide lachen.

Es gibt Tage wie diese, an denen aus einem kleinen Missverständnis ein großes wird. Aber so etwas ist das, was unsere Freundschaft täglich auf die Mutprobe stellt. Und ohne solche Missverständnisse wäre unsere Freundschaft bestimmt nicht das, was sie heute ist!

Und falls ihr euch fragt, was mit Mohamed passiert ist: Mohameds Eltern waren vor einem Jahr gestorben. Und darum beschloss ich, meine Eltern zu überreden, ihn bei uns aufzunehmen. Nicht nur meine Eltern, sondern sogar sämtliche Ämter waren am Ende damit einverstanden, was das ganze erst ermöglichte. Er und Sarah verstanden sich vom ersten Augenblick an genauso gut, wie ich mich mit beiden. Seither sind wir drei unzertrennlich!


 

Reimund Maria Spitzer
Es wird dunkel

 

Es wird dunkel, sogar die dunkle Revaler Straße wird noch dunkler, funzlige alte Ostlampen aus grobem Beton und mit runden Dächern stehen in der Querstraße, wo früher mal eine Schule war, die lange leer stand, umzäunt und mit eingeschlagenen Fenstern, spitz in die leeren Höhlen ragend das zerbrochene Glas. Wurzeln haben den Gehweg gesprengt, zwischen Wasser und Schlamm parken langweilige Autos und neben mir stehen übrig gebliebene besprühte Mauern, dass sie aussehen wie Bilder und man die Tore nicht mehr sieht, da glänzt es silbern und grün. Füße aus Beton für die lila Leitung, die das Grundwasser aus der Baustelle holt, die neben dem Haus gewachsen ist, das immer allein dastand wie ein Außenposten, jetzt kriegt es Gesellschaft und ein Gebirge aus weißsteinigen Mauern erhebt sich jetzt da hinter einem gelben Zaun und ein Kran hat seinen Arm über die Straße gehoben. Eine Matratze lehnt an der Wand und fällt gar nicht auf zwischen zerrissenen Plakaten, dann beginnt das Gestrüpp der Brachen.

Eingesunkene Bordsteine mit Resten von Farbe, der Wind weht in die Büsche und das Rauschen flüstert mir entgegen auf dem körnigen Weg, der die Schritte knirschen lässt, und ein kleiner Hund kommt mir entgegen ohne mich zu beachten, mit wackligen kurzen Beinen. Langsam wird es Nacht.

Autos fahren weiter in die neue Sackgasse und müssen da wenden in der sich ausbreitenden Dunkelheit und umkehren, ich sehe die verärgerten Gesichter der Fahrer und das Angestrengte ihres Ausdrucks hinter den tropfenbedeckten Scheiben. Hoch gewachsen die Bäume links, sind das Pappeln? Niemand hat sie ausgesät, sie wuchsen in einer vergessenen Ecke, unbeachtet, Schatten spendend, rauschend im Wind, den seltenen Vorübergehenden eine Freude, den wenigen Aufmerksamen davon, den taumelnden Verträumten.

Unsichtbar geworden sind die großen Vögel am Himmel, segelnde schwarze Umrisse, Zeichen des nahenden Herbstes, da wird es noch mehr regnen, hoffentlich.

Eine Bahn fährt an mir vorbei, ich sehe den aufrecht an mir vorbeiziehenden Gestalten ins Gesicht und muss niesen. Ein Rest von dem Blau des Abends ist noch da, ein kleiner Rastapunk stößt mir gegen's Auto, weil ich ihm den Weg versperre und sagt: "Fahr doch weiter, ey." Und vor mir die Straße runter ist alles voller Bars, die auf den ersten Blick alle gleich aussehen, "Cocktails 3,50 auch to go" steht da, und ein paar Leute sitzen an den neuen Holztischen, die unter Markisen stehen, und reden miteinander.

Ein Eingang wie zu einem Arbeitslager, hab ich früher immer gedacht, ein Eingang, ein Tor ohne Türen zu einem finsteren Hohlweg aus Ziegeln und Eisen und oben drüber das grüne runde Schild mit dem weißen 'S', das eine lange vergangene Epoche atmet, wie der Eingang zu einem Zeittunnel, die Mauern geschwärzt wie von Ruß aus den Tagen der brennenden schwarzen Kohle und da sind noch mehr und tiefe Pfützen auf dem Weg, zerfranst wie ein alter Teppich, und oben auf der querenden Hochtrasse der Ringbahn die Aussicht auf rote Lichter, da sind graue Schlote, die man kaum noch sieht, und die Morgensonne, wenn es hell wird, wenn alles zwischen orange und rosa flimmert, im Winter werde ich dort wieder stehen, wenn weißer Qualm wie aus Eis aus den Schloten steigen und alles klar und gefroren aussehen wird und wie ganz weit weg.

Das Fleisch meines Döners ist vertrocknet, ich werfe die leere Silberfolie in eine der kleinen runden Tonnen. Die ankommende Bahn spuckt Menschen aus, die zu den Treppen eilen, ich warte, bis sie sich verzogen haben, dann gehe ich hinterher. Auf der anderen Seite ist die Straße schon fertig und zwischen den schwarzen Mauern liegt der viele Sand, auf dem die ganze Stadt steht, offen herum und in den Ritzen und Rissen des Baustellenasphalts und die Autos geben Gas, bevor die Strecke wieder uneben wird, und ich gehe über den Zebrastreifen und weiter durch die Dunkelheit, durch die das Scheinwerferlicht flattert, und bilde mir schon ein, dass ich das unweite Wasser der Bucht riechen kann. Da drehe ich mich um und sehe vor mir den schwarzen Turm mit der zwiebelförmigen Spitze, der dasteht wie ein Wächter, wie ein Relikt und mein Handy klingelt, hinein in die Stille und ich gehe ran und weiter, bis zum Ufer.


 

Ulrike Neuß
Transit

 

Er rüstete sich für den großen Spurt: Noch während der S-Bahn-Zug den Bahnhof Treptower Park verließ, stand er auf und stellte sich mit seiner prall gepackten Tasche direkt vor die Tür. So würde er einer der ersten auf dem Ringbahnsteig sein und hätte einen Vorsprung gegenüber den anderen. Schließlich musste er auf dem unteren Bahnsteig seine Bahn erreichen und wie immer würde ihm auf der Treppe eine Menschenmenge entgegen wimmeln, die sich nach oben kämpfte und ihm dadurch den Weg versperrte. Höchste Alarmbereitschaft war also angesagt. Dennoch gönnte er sich für einen Moment einen Blick auf die junge Frau, die rechts neben ihm an die Plexiglaswand gelehnt stand. Sie starrte ziemlich gelangweilt durch die zerkratzte Fensterscheibe auf den vorbei ziehenden Fluss, aber – ihm stockte der Atem — was für grüne Augen! Und so dichte Wimpern! Auch ihre sehr vollen Lippen nahm er wahr, aber Martin zwang seinen Blick wieder geradeaus; der Zug fuhr gerade in den nächsten Bahnhof ein, da musste er sich konzentrieren.

Die Bahn bremste ab und hielt, Martin drückte den leuchtenden Türknopf, stürzte hinaus und eilte mit langen Schritten Richtung Treppe. Gerannt war er auf dem Bahnsteig noch nie —oder ganz selten —, irgendwie fand er das würdelos. Die Treppe: Jetzt kam es drauf an! Er kämpfte sich schnell Stufe um Stufe hinunter, drängte einen tätowierten Oberarm beiseite, zwängte sich zwischen zwei fülligen Frauenkörpern hindurch, wich einem Fahrrad aus, das von einem dunkelhaarigen Mann hochgewuchtet wurde, dabei bekam er die Schultertasche eines Mädchens vor die Brust gedrückt. Er sah starr geradeaus, um zu signalisieren: "Ich habe ein Ziel anvisiert! Und ich weiche nicht aus!" Fast hatte er es geschafft, er war schon beinahe unten, als er sah, dass seine Bahn die Türen noch geöffnet hatte, aber die roten Lampen blinkten bereits, nun rannte er doch und die Türen schoben sich zu. "Shit!", entfuhr es ihm. Heute hatte er den Kampf also verloren. "Scheiße!", sagte er noch einmal, diesmal schon etwas leiser.

Es war beileibe nicht das erste Mal, dass er die Bahn verpasst hatte. Die Umsteigezeit war äußerst knapp bemessen, oft klappte es, häufig aber auch nicht. Martin atmete tief durch, vermutlich das erste Mal an diesem Morgen. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, verspürte er gerade sogar ein klein wenig Erleichterung, noch auf dem Bahnhof zu stehen. Zwar würde er sich nun in der Schule stärker beeilen müssen: Er musste sofort zum Kopierer hetzen und sich von dort aus ohne Umwege ins Klassenzimmer begeben. Aber auf diese Weise hatte er jetzt, in diesem Augenblick, endlich einmal eine kurze Verschnaufpause.

Zunächst überlegte er kurz, ob er heute wirklich an alles gedacht hatte: Die korrigierten Klassenarbeiten der Zehner? Ja, hatte er dabei – alles andere wäre auch undenkbar gewesen bei den ständig rummaulenden Zehntklässlern. Das grüne Buch mit den Übungsaufgaben, das er als Kopiervorlage brauchte, roter Hefter, gelber Hefter, der Rohentwurf für den nächsten Unterrichtsbesuch, den seine Mentorin heute sehen wollte, blaue Mappe, Schreibzeug mitsamt Folienstiften, leere Folien, das Kartenspiel für die Gruppeneinteilung — halt: hatte er es wirklich? M. wühlte hektisch in seiner Tasche, bis seine Finger die glatten Kartenoberflächen ertastet hatten. Gut. Alles da. Er blickte um sich. Der nächste Zug kam in acht Minuten, Zeit genug also, um zum Croissantstand zu gehen.

Mit seinem randvollen Kaffeebecher und einem Buttercroissant in einer knisternden Papiertüte ging er zu einem der kleinen Tischchen, stellte den Kaffeebecher auf die grau melierte Kunststoffoberfläche und legte die schwere Tasche neben sich. Genüsslich biss er in sein Blätterteighörnchen und trank einen Schluck Kaffee. Er sah sich um. Eigentlich war es doch ganz interessant hier am Bahnhof Ostkreuz. Am Nebentisch trank eine kleine Gruppe müder Bauarbeiter Kaffee, ein kleiner Junge rannte einer Taube hinterher, bis ihn seine Mutter, entnervt "Kevin! Kommst du jetzt!" rufend, wegzerrte, zwei japanische Touristinnen standen verwirrt herum, schoben ihre Sonnenbrillen in die Stirn, setzten sich dann aber plötzlich zielstrebig in Bewegung. Das Klackern ihrer Rollkoffer auf den Pflastersteinen mischte sich mit einzelnen Gesprächsfetzen und dem Gurren der herumstolzierenden Tauben, als plötzlich mit leisem Rattern und anschwellendem Dröhnen ein Zug einfuhr. Martins Blick wanderte über die angerosteten Stützpfeiler nach oben,wo abenteuerlich zusammengeschnürte Kabel unter dem mit abblätternder hellbrauner Farbe gestrichenen Holzdach befestigt waren. Von hier aus konnte man auch das halb zerfallene, große Gebäude vor dem Bahnhof sehr gut sehen. Wieso um alles in der Welt ließ man so ein tolles Haus einfach vor sich hin modern? Was könnte man nicht alles daraus machen! Er würde ja für eine große Kneipe mit Biergarten plädieren. Er konnte sie schon vor sich sehen: Grüngestrichene Holzbänke und -tische im Garten, rote Sonnenschirme, die ockerfarbenen Hauswände bewachsen mit blühenden hellroten Kletterrosen, an den Tischen eine Menge Leute, die hier aßen und sich dabei entspannt unterhielten. Er sah sich selbst nach der Arbeit in der Schule hier einkehren, vor sich eine Bratwurst mit Senf, vielleicht ja auch ein bisschen Kartoffelsalat! Der Laden würde laufen, dessen war er sich sicher, der Ort war ja geradezu ideal. Sicher wäre es auch eine gute Location für einen Club: OSTZONE stünde in großen, roten, leuchtenden Lettern auf dem Dach. Oder war TRANSIT als Name besser? Im Garten jedenfalls die Chilloutzone, Liegestühle, Lampions, eine kleine aus Holz gezimmerte Bar, er selbst, zwei Drinks balancierend… Es wäre perfekt. Und keiner würde sich durch die Musik gestört fühlen – na gut, oder fast keiner, räumte er ein, als sein Blick auf einige Wohnhäuser gegenüber fiel. Auch die Verkehrsanbindung könnte besser nicht sein. Mein Gott, wieso war denn noch nie jemand auf diese geniale Idee gekommen? Ob Biergarten oder Club, vor der endgültigen Fertigstellung würde er das Haus selbstverständlich der jungen Kunstszene des Kiezes zur Zwischennutzung überlassen. Er sah sich bereits mit einem Rotweinglas in der Hand an den verschiedenen Ateliers vorbeilaufen, eine junge brünette Fotografin lächelte ihm vielversprechend zu. "Einsteigen bitte! — Zurückbleiben bitte!"

Er zuckte zusammen: seine S-Bahn!!!!! Die roten Lichter oben an den Türen blinkten unerbittlich und grell in seine Richtung; hilflos versuchte er, seine Sachen zusammenzupacken, um Richtung Zug zu stürzen, aber bevor er noch seine Tasche über die Schulter werfen konnte, rumsten auch schon die Türen zusammen. "Verdammt!", rief er so laut, dass ein älterer Mann am Nachbartisch zusammenzuckte und sich einige Leute belustigt nach ihm umdrehten. Ja, verdammte Scheiße, dachte er. Jetzt wird’s wirklich knapp. Er ärgerte sich über sich selbst. Wie hatte das nur passieren können? Seinem Gefühl nach waren höchstens drei Minuten verstrichen, nicht acht. "Egal", dachte er. "Es wird halt knapp, aber zu spät komme ich nicht. Wenn ich ganz schnell laufe und vielleicht nicht mehr kopiere, sondern das während einer Stillarbeitsphase in der Stunde erledige…" Ja, es würde noch reichen. Dem Direktor sollte er vielleicht nicht gerade über den Weg laufen, denn der sah es nicht gerne, wenn man auf den letzten Drücker ins Klassenzimmer hechtete. Na ja, würde schon schief gehen.

Jedenfalls musste er sich nun noch weitere zehn Minuten auf dem Bahnhof vertreiben. Wenigstens konnte er auf diese Weise noch seinen Kaffee austrinken. Und nun? Martin beschloss ohne lange zu zögern: Ein zweiter Kaffee konnte nach diesem Schreck nicht schaden, ebenso wenig ein Schokocroissant. Martin ging, mit seinem dritten Frühstück in der Hand, zurück zum Tischchen. Der Kaffee war stark und heiß und tat ihm gut. Er beschloss, sich nicht verrückt zu machen. Eine S-Bahn zu verpassen war ja nichts Ungewöhnliches. Ganz so entspannt wie vorher war er allerdings nun nicht mehr. In wenigen Minuten hieß es aufpassen wie ein Luchs! Er stellte zur Sicherheit seinen Handywecker auf eine Minute vor der Abfahrt, damit ihm diesmal der Zug nicht entwischte. Auch verbot er sich jegliche Gedankenspielereien zum Gebäude neben dem Bahnhofsgelände und sah sich stattdessen weiter auf dem Bahnsteig um. Insbesondere fiel ihm ein kleiner Blumenladen mit dem erstaunlichen Namen Blumen für 'Sie' auf. Martin sinnierte kurz darüber, was an dieser "Sie" so sonderbar sein mochte, dass man sie in Anführungszeichen gesetzt hatte. Oder wollte der Ladenbesitzer seine Kundschaft direkt ansprechen? Auch dann äußerst merkwürdig.

Plötzliches Knistern und Räuspern im Lautsprecher. "Der Zug nach Ahrensfelde wird ca. sieben Minuten später eintreffen." Martin war geschockt. Das war ja wohl nicht möglich! Jetzt wurde es aber wirklich, wirklich knapp. Sein Atem ging schneller und er rechnete nach, ob er nun überhaupt noch pünktlich sein konnte: Wohl eher nicht. Sein Magen zog sich zusammen. Das durfte einem Lehrer nicht passieren! Und schon gar nicht einem Referendar, der bald seine Examensprüfung ablegen würde! Instinktiv kippte er den Rest Kaffee in sich hinein, die Überbleibsel des Schokocroissants fegte er ärgerlich vom Tisch. Ein paar Spatzen hüpften sofort herbei und machten sich darüber her. Martin fluchte innerlich. Mit so einer Störung konnte man aber auch nicht rechnen! Unter normalen Umständen wäre es überhaupt kein Problem gewesen, den vorherigen Zug zu verpassen. Aber wenn man sich auf die S-Bahn nicht verlassen konnte, dann war einem ja der banalste Fauxpas nicht mehr erlaubt! Dann konnte man nicht mal mehr an einem S-Bahnhof kurz seinen eigenen Gedanken nachhängen und dabei kreative Ideen entwickeln — immerzu musste man nur funktionieren wie ein Uhrwerk. Wie er das satt hatte! Wütend und verzweifelt zugleich sah er auf die schwarze, gleichmütig Ahrensfelde anzeigende Tafel am Bahnsteig. Sein Handywecker klingelte, genervt drückte er ihn aus. Noch sieben Minuten. Tja, was tun jetzt? Wohl oder übel würde er nun im Sekretariat anrufen müssen um anzukündigen, dass er sich heute verspäten werde. Als Grund würde er natürlich "Probleme im S-Bahn-Verkehr" angeben und lieber nicht weiter ins Detail gehen.

Er war schon im Begriff, die Schulnummer zu wählen, als er plötzlich innehielt. Was, wenn sich der Direktor — der ihn mit beurteilen würde bei der Examensprüfung — im Sekretariat aufhielt, während er anrief? Er sah die Szene schon vor sich: Die Sekretärin würde nett lächeln, während sie sagen würde: "Ja, ist gut, Herr Roos. Na ja, halb so wild, das passiert schon einmal. Ich werde der Klasse ausrichten, dass Sie sich heute ein wenig verspäten." Der Direktor, im Stehen eine Notiz lesend, würde sich leicht stirnrunzelnd und mit hochgezogenen Augenbrauen zur Sekretärin mit dem Telefonhörer in der Hand umdrehen. Er würde denken: "Soso, der Herr Roos hat es heute nicht pünktlich geschafft. Soso." Und im Geiste eine negative Notiz anfertigen zum Referendar Martin Roos. Nein, Anrufen war keine so gute Idee, nicht so kurz vor dem Examen. Er beschloss daher, sein Zuspätkommen gar nicht zu melden, zumindest nicht jetzt. Entweder er hatte Glück und konnte sich in die Klasse schleichen, ohne dass irgendeine bei der Prüfung relevante Person dies bemerkte, oder eben nicht, aber dann konnte er sich immer noch mit der S-Bahn entschuldigen und behaupten, er habe heute sein Handy leider zu Hause gelassen. Kurz überlegte er, ob er es wohl wagen konnte, seine Jacke vorher im Lehrerzimmer abzulegen. Aber nein, schlechte Idee, schalt er sich, denn dort saß ja möglicherweise einer der Lehrer mit direktem Draht zum Chef oder seine Mentorin. Er musste sich nur einen Moment lang vorstellen, wie sie ihn anschauen würden, wenn er das Lehrerzimmer kurz nach acht beträte, und es schauderte ihn. Nein, keinesfalls würde er dort vorher hingehen! Und überhaupt: Ein Anruf im Schulsekretariat wegen sieben Minuten? Was waren schon sieben Minuten? Eine Banalität, beruhigte er sich selbst, eine Nichtigkeit. Es stand auch nicht zu befürchten, dass die Schüler sein Nichterscheinen im Sekretariat melden würden; üblicherweise, das wusste Martin, warteten sie damit mindestens zehn bis fünfzehn Minuten.

Ein klein wenig gelassener sah er auf die Uhr am Bahnsteig. Noch eine Minute. Er warf Kaffeebecher und Croissanttüte in einen Mülleimer, griff nach seiner Tasche und ging zum Bahnsteigrand. Die Anzeigetafel meldete: "Strausberg Nord". Strausberg Nord? Strausberg?? Nord??? Etwas in seinem Gehirn rannte Amok. Das war einfach nicht möglich. Wo war sein Zug? Wo war er? Man konnte ihm doch nicht schon wieder seinen Zug nehmen! Erstarrt und fassungslos lief er zum Aufsichtshäuschen und hämmerte dort dreimal fest an die metallene Tür. Nichts regte sich. Er klopfte noch einmal, er hämmerte mit geballten Fäusten an das dunkle Metall, bis schließlich eine verärgerte Aufsichtsbeamtin ihren Kopf aus der Tür steckte und ihn anblaffte: "Sag'n Se ma, allet in Ordnung bei Ihnen? Wat soll dit Jebollere? Wir ham ooch noch andre Sachen zu tun, als alle fünf Minuten Fahrberater zu spielen. Wat woll'n Se?" Martin war außer sich. Er stammelte: "Die Bahn nach Strausberg — das ist nicht richtig – da soll doch jetzt eigentlich die S 7 … ich versteh’s nicht! Ich muss…" – "Na, die S 7 ist ehmd grade abjefahr'n, junger Mann. Nächste kommt in ca. zehn Minuten, ist leider auch etwas zu spät." – "Nein, das kann nicht sein! Die S 7 sollte jetzt kommen, in diesem Moment! Die hatte sieben Minuten Verspätung, ham Sie selbst durchgesagt, und jetzt ist es 7. 41 Uhr, also sollte sie genau jetzt…" "Sollte sie vielleicht", schnitt ihm die Frau brüsk das Wort ab, "isse aber nicht. Die hatte ebend doch nur drei Minuten Verspätung. Sein Se doch froh. Deswegen machen wir ja nur Circaangaben bei unseren Durchsagen." Sie verschwand wieder hinter der Eisentür.

Martin war außer sich vor Wut. Seine Lippen zitterten und er war für ein paar Momente außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Das KONNTE einfach nicht sein! Konnte nicht! Die Züge fuhren, wie sie wollten, sie fuhren an ihm vorbei und er hatte keine Chance einzusteigen — warum auch immer. Er hatte größte Lust, gegen die Metalltür zu treten, seine Schultasche auf die Gleise zu schleudern, die stoische Bahnbeamtin zu schütteln… Es war zum Schreien. Es war grotesk. Er ging auf und ab auf dem Bahnsteig wie ein gehetztes Tier, warf keinen Blick mehr auf die anderen Wartenden oder einen der Verkaufsstände. Und definitiv würde er nun um einiges zu spät in der Schule sein. So viel war klar. Er hasste die Situation schon jetzt, die Hektik beim Aussteigen, atemloses hastiges Kopieren, die menschenleeren Gänge im Schulhaus, die Klasse mit feixenden, fragenden Blicken. Anrufen? Musste er nun wohl. Bei dem Gedanken daran fühlte er eine Welle leichter Übelkeit in sich hochsteigen.

Er lief fast ganz bis zum Ende des Bahnsteigs, da hin, wo das Dach keinen Schutz mehr bot. Es war deutlich leiser hier. Zwei Tauben sonnten sich und pickten ziellos hier und da ein Körnchen auf. Eine Treppe führte empor zu einem anderen Bahnsteig. Man konnte sehen, dass er relativ selten benutzt wurde, schon vor dem Treppenaufgang spross überall Unkraut und saftiges Gras aus den Fugen der Pflastersteine. Martin verspürte den Impuls, die Treppe hochzugehen und sich den Bahnsteig näher anzuschauen. Sich dort auf das Gras zu setzen. Und nichts weiter.

Er wandte sich um und sah den anderen, weit von ihm entfernt stehenden Passagieren eine Weile zu. Mechanisch nahm er sein Handy aus der Jackentasche heraus, wählte die Nummer des Sekretariats und teilte mit belegter Stimme mit, dass er wegen Problemen im S-Bahn-Verkehr leider erst ein paar Minuten nach acht da sein werde. Die Sekretärin reagierte gelassen und freundlich; ja natürlich, sie würde die Klasse informieren und sie wünsche eine gute Fahrt.

Mit steinerner Miene ging Martin zurück und mischte sich wieder unter die anderen Wartenden. Ein Zug fuhr ein, aber es war nur der nach Wartenberg. Okay. Der nächste würde der nach Ahrensfelde sein, sein Zug also. Verächtlich spuckte er auf den Bahnsteig. Dieser Zug würde ja nun wohl hoffentlich tatsächlich in zehn Minuten kommen. Der Gedanke, dass dies nicht der Fall sein könnte, ließ sofort wieder leise Wut in ihm aufsteigen, sodass er sich augenblicklich verbot, länger darüber nachzudenken. Mit anschwellendem Lärm verließ der Zug nach Wartenberg den Bahnhof. Ja, er würde jetzt einfach so lange am Bahnsteigrand verharren, bis sein beschissener Zug da sein würde, bis sich die Türen auseinander schieben würden und er einsteigen konnte. Neben ihm standen zwei Frauen, rauchend und gelangweilt auf die Gleise blickend. "Zug nach Ahrensfelde", sagte eine harsche Frauen-Lautsprecherstimme. In der Tat, man konnte von weitem die beiden Scheinwerfer und die Fahrerkabine der Bahn erkennen. Starren Blickes sah Martin ihr entgegen. Der Zug rollte näher, fuhr in den Bahnhof ein, bremste allmählich ab und kam zum Stehen. Die Türen öffneten sich fast direkt vor ihm, eine kleine Menschentraube drängte nach draußen.

Martin wartete, bis der Eingang frei war und stieg ein. Fast wie sonst auch. Er suchte sich einen Platz am Fenster und starrte nach draußen, als der Zug wieder aus dem Bahnhof fuhr. Sie hatten schon an ein paar Stationen gehalten, als Martin plötzlich unmerklich den Kopf schüttelte. Nein, dachte er. Unmöglich. Dafür war es jetzt zu spät. Beim Einsteigen hätte er die Uhr gern noch zurückdrehen wollen, um das Erlebte ungeschehen zu machen; jetzt aber fand er diese Vorstellung absurd. Er griff nach seiner Tasche, stand auf und stieg am nächsten Bahnhof aus, ohne zu wissen, wo er eigentlich war und was er an diesem Tag noch tun würde.


 

Birgit Wilms
Das Mädchen mit den traurigen Augen

 

Lärm drang an seine Ohren. Er versuchte die Augen zu öffnen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Schmerz war alles, was er momentan wahrnehmen konnte. Seine Augenlider schienen verklebt und so gelang es ihm erst nach einigen Versuchen, sie doch ein wenig zu öffnen. Der Lärm kam näher und wirkte bedrohlich. Wo war er, was ist passiert, warum konnte er sich nicht bewegen? In seinem Gehirn schossen Fragen wie Blitze hin und her, die er sich weder beantworten konnte noch wollte. Der Schmerz nahm ihn so gefangen, dass er nicht in der Lage war, nur einen klaren Gedanken zu fassen. Unter einem völlig verzerrten Grauschleier versuchte er nun zu erkennen, woher dieser unaufhaltsame Lärm kam. Eine riesige Planiermaschine bahnte sich ihren Weg durch eine aufgewühlte Landschaft voller Sand. Wie eine Riesenschildkröte dick bepanzert, kroch sie näher und näher. Angst kam in ihm hoch. In diesem Moment zuckte sein Körper erschrocken zusammen, etwas hatte ihn berührt und den Schmerz kurzzeitig fokussiert. Aufgeregt suchten seine Augen nach dem Eindringling. Da sah er in ihre Augen. Es waren die traurigsten Augen, in die er je geschaut hatte. Niemals zuvor hatte er solch tieftraurige Augen gesehen. Das Mädchen bewegte die Lippen und sprach zu ihm, doch der Lärm der Baummaschine saugte ihre Worte in sich auf, noch bevor sie sein Ohr erreichen konnten. Sie schien aufgeregt, fuchtelte angestrengt mit den Armen, so dass der Bauarbeiter sein Gefährt noch rechtzeitig zum Stehen brachte, und nun telefonierte sie. Sie war so jung, ihre Haut strahlte. Sie war nicht sehr groß und sehr zierlich und hatte dadurch etwas Mädchenhaftes und doch wirkte sie auf eine geheimnisvolle Art und Weise sehr reif. Ihre Kleider waren schlicht und betonten ihre schöne Figur nicht wirklich. Eher machte sie sich damit unsichtbar. In einer Stadt wie Berlin ging sie einfach unter in der grauen Masse, ohne jegliche Aufmerksamkeit. Hier machte sich niemand die Mühe ihr in die Augen zu schauen, in denen ihre Tiefe und Besonderheit zu sehen gewesen wären.

Das Mädchen zitterte vor Aufregung, denn der Mann zu ihren Füßen sah schrecklich aus. Platzwunden waren sowohl im Gesicht als auch auf dem Körper verteilt.

Die Gliedmaßen lagen nicht wirklich in einer gesunden Position und das getrocknete Blut überall ließ die Verletzungen sehr bedrohlich erscheinen. Die Kleidung war sichtlich mitgenommen, obgleich sie wohl auch vor dem Unglück in keinem guten Zustand war. Was war diesem Mann bloß passiert? Wieso hatte ihre innere Stimme sie an diesen Platz hier geführt?

Während sie telefonierte, legte sie eine Hand auf seinen Körper, wahrscheinlich wollte sie so den Kontakt halten aus Angst, sie könnte ihn verlieren bevor Hilfe kam. Ein warmer Strahl durchdrang ihn an dieser Stelle und er hatte das Gefühl, dass der Schmerz ihrer Hand wich und ihn losließ. Dann überkam ihn die Ohnmacht erneut.

Weiß, nichts als Weiß um ihn herum. War er jetzt gestorben? Sieht so der Himmel aus? Wird er nun Gott gegenüber treten? Was soll er nur sagen, er weiß doch nicht mal mehr, wer er war. So wie das viele Weiß um ihn herum war seine Erinnerung ein einziges weißes Blatt Papier mit nur einem Bild darauf, das Mädchen mit den traurigen Augen.

Stimmen drangen an sein Ohr: "Eine junge Krankenschwester hat ihn am Ostkreuz gefunden. Er hatte mehrere Knochenbrüche und Prellungen. Keiner hat etwas gesehen, keiner weiß etwas über ihn. Er hatte keine Papiere dabei, nur abgenutzte Kleidung am Leib, nichts Persönliches, kein Bild, kein Schlüsselbund, Nichts. Er ist zwischen 40 und 50 Jahre alt und es gibt keine Vermisstenanzeige bei der Polizei." Die Stimme der Schwester wurde immer lauter und aufgeregter, während sie dem Oberarzt diese Informationen mitteilte.

Meinten sie etwa ihn damit? Wussten sie also auch nicht, wer er war und was passiert war? Er fühlte sich mit einem Mal sehr einsam und hilflos. Sollte es auf dieser Welt niemanden geben, der ihn vermisste?

Er schaute sich um, überall hingen Schläuche an ihm herum. Schmerzen nahm er keine mehr wahr, allerdings spürte er seinen ganzen Körper nicht mehr.

Schritte, sie kamen näher und plötzlich stand eine Heerschar von Ärzten nebst Schwesterngefolge um ihn herum. Er kam sich vor wie ein neugeborenes Wildtier im Zoo, das nun von allen zuerst bestaunt werden möchte.

Der Oberarzt stellte sich kurz vor und mit einer tiefen warmen Stimme erklärte er ihm, warum er hier war: "Sie wurden stark verletzt aufgefunden. Wir mussten Sie sofort operieren. Es liegen einige Knochenbrüche vor sowie Prellungen und diverse Platzwunden. Wir mussten auch einen leichten Riss in Ihrer Milz behandeln. Sie sind jetzt soweit stabilisiert und Sie werden auch wieder ganz gesund werden. Können Sie uns denn irgendwelche Angaben zu Ihrer Person und den Geschehnissen in der letzten Nacht machen?"

Er wollte antworten, doch seine Lippen und seine Zunge gehorchten ihm nicht, so verneinte er mit einer vorsichtigen Kopfdrehung. "Gut", sagte der Arzt, "ruhen Sie sich jetzt aus, werden Sie gesund, alles andere wird sich finden". Er verließ den Raum genauso schnell wie er ihn betreten hatte und mit ihm sein Gefolge aus Assistenzärzten und neugierigen Schwestern.

Eine Wolke wohliger Müdigkeit umgab ihn und er wehrte sich nicht. Er sank einfach friedlich in die Träume, die ihm die Erschöpfung durch die OP schenkte.

Ein sanftes Streicheln auf seinem Arm ließ ihn wach werden. Er öffnete verschlafen die Augen und da waren sie wieder, die traurigsten Augen dieser Welt. Wie kam sie hier her, wie hatte sie mich finden können? Als er näher hinsah, bemerkte er ihren Schwesternkittel, auf dem befand sich auch ein Namensschild, "Anne". "Was für ein schöner und passender Name", dachte er.

Anne hatte ihre Hand auf eine seiner Platzwunden am linken Ellenbogen gelegt. Wie beim ersten Mal nahm er einen Strahl an Wärme wahr und der Schmerz, der zuerst kurz anschwoll, war mit einem Mal verschwunden. Obwohl er dieses Mädchen nicht kannte, fühlte er sich wohl in ihrer Nähe und sie war momentan die Einzige, die ihm ein wenig Geborgenheit und Sicherheit schenken konnte.

Es dauerte nicht lange, da war er wieder eingeschlafen. Das Mädchen erhob sich still und leise. Auf dem Heimweg konnte sie nicht anders und musste an die Stelle zurückkehren, an der sie den verletzten Mann gefunden hatte. Sie ging hoch auf die Fußgängerbrücke und schaute auf den Schauplatz hinab.

Bauzäune wohin das Auge sah, Bagger und Bauarbeiter tummelten sich wie Bienen in einem Bienenstock auf der riesigen Baustelle des Ostkreuzes. Mit einem Mal erblickte sie den riesigen Kran, der über ihr in den Himmel rankte. Sollte er etwa von dort oben...? Nein, das kann nicht sein, das hätte er nicht überlebt, dachte sie. Aber was sollte ihm sonst passiert sein. Die vielen Brüche und Platzwunden deuteten schon darauf hin, dass er von irgendwo hinab gefallen war. Dieser Mann ließ ihr keine Ruhe. Warum konnte er sich an nichts erinnern und warum vermisste ihn nur niemand? Sie tat in dieser Nacht kaum ein Auge zu, die Ereignisse des Tages hallten zu sehr in ihr nach.

Am Morgen ging sie als erstes zu dem geheimnisvollen Mann, der lächelte als er sie kommen sah. Er hob ihr den linken Ellenbogen entgegen und strahlte.

Sie sah, dass ihre Hände gute Arbeit geleistet hatten, die Wunde war sehr gut verheilt. Niemand hier wusste, dass sie diese Fähigkeiten besaß. Sie selbst hatte es auch erst bei der Pflege ihrer Eltern, die beide an Krebs erkrankt waren, bemerkt. Eines Tages, als sie ihre Mutter gerade wusch, durchfuhr sie ein warmer Strahl, den auch ihre Mutter spüren konnte und der sie erschrecken ließ im ersten Moment.

Die Mutter spürte plötzlich an dieser Stelle keinen Schmerz mehr und von da an verschaffte das Mädchen ihr jeden Tag Schmerzlinderung mit ihren Händen. Diese Gabe konnte jedoch nicht sowohl die Mutter als auch den Vater vor dem Tod bewahren, die Krankheit war schon zu sehr fortgeschritten. Es war ein furchtbarer Verlust, beide Eltern so kurz hintereinander zu verlieren und hilflos zuschauen zu müssen, wie von ihnen immer weniger übrig blieb. Sie hatte diese schlimme Zeit bis heute nicht verwunden. Sie hatte sich seitdem sehr zurückgezogen und konnte keine Freude mehr empfinden, nicht einmal in der Arbeit, die ihr früher viel Spaß bereitete.

Doch diesem Mann hier würde sie helfen, da war sie sich ganz sicher und sein Lächeln war ihr Dank.

Von nun an kam sie vor jeder Schicht und nach jeder Schicht noch einmal zu ihm. Sie sprachen nicht, jedenfalls tauschten sie keine Worte aus. Es war gar nicht nötig, waren es doch die Blicke in ihre Augen, die alles aussprachen, was sie sich zu sagen hatten. Dieser Fremde öffnete ihr das Herz. Plötzlich konnte sie wieder Farben sehen und ein Gefühl von Freude kehrte in sie zurück.

Ein Gefühl als wäre sie völlig aus der Zeit und dem Raum gefallen.

Die Ärzte staunten jeden Morgen erneut, wie schnell die Heilung der Brüche und Wunden bei ihm voranschritt und konnten sich dieses Wunder nicht wirklich erklären.

Eines Morgens stand die Polizei wieder vor ihrer Tür. Sie befragten sie noch einmal ausführlich zu den Umständen des Auffindens und bei dieser Gelegenheit erfuhr sie auch das furchtbare Schicksal dieses Mannes. Die Polizei hatte ihn anhand von Suchanzeigen mit einem Bild von ihm identifizieren können, da er von Freunden aus dem früheren Umfeld erkannt worden war. Er hatte vor einem Jahr seine Frau und sein Kind bei einem Verkehrsunfall verloren und hatte sich von diesem Verlust nicht erholen können. Er konnte nicht mehr arbeiten gehen und zuletzt war er sogar obdachlos geworden. Die Polizei ging davon aus, dass es sich um einen Suizidversuch handelte und er tatsächlich vom Kran gesprungen war. Er muss mehrere Schutzengel gleichzeitig beschäftigt haben, um das zu überleben.

Der Schock in ihren Gliedern saß tief, als sie davon erfuhr und sie konnte sich nur schwer aus der Erstarrung lösen. Dieses Schicksal schien ihr noch schmerzvoller als ihr eigenes zu sein.

Plötzlich wurde ihr klar, warum gerade sie ihn hatte finden sollen. Wer konnte besser verstehen, wie es sich anfühlt, alles, was einem lieb war im Leben, auf einen Schlag zu verlieren und allein zu bleiben.

Sie hatte bis jetzt nur seine äußeren Wunden heilen dürfen. Sie hoffte von ganzem Herzen, dass auch sie noch die Gelegenheit bekommen würde, ihm das geben zu können, was er ihrer Seele geschenkt hatte.


 

Kerstin Janke
Entscheidungen

 

Tim

Er fragte sich, ob er den richtigen Augenblick womöglich verpasst hatte. Der lang ersehnte freie Tag neigte sich unbeeindruckt seinem Ende entgegen, zu schnell waren Minuten zu Stunden geworden. Lena saß ihm gegenüber, glücklich mit diesem Tag genoss sie ihren Milchkaffee, erzählte fröhlich und lachte. Tim wollte so gern über sich reden, über sie beide, ihre Beziehung, ihre Zukunft. Doch eben hatten sich Freunde zu ihnen gesellt und die heitere Runde noch fröhlicher gemacht.

Tim vermochte der belanglosen Nachmittagsunterhaltung nicht mehr zu folgen. Immer schweiften seine Gedanken um die eine Frage: Was würde passieren, wenn er das Job-Angebot in New York annahm? Lena würde enttäuscht sein. Gerade war sie nach Berlin gezogen, wegen ihm, sie hatte sich gerade eingelebt, sie liebte diese Stadt. Was fanden diese Zugezogenen nur immer an dieser Stadt, während viele Berliner lieber heute als morgen wegzögen? Sie hatte gekämpft wie eine Löwin und dann doch ihren Traumjob bekommen. Nein, sie würde das alles hier sicher nicht aufgeben.

Doch würde ihre Liebe eine Trennung mit dieser Entfernung verkraften? Waren nicht manchmal schon kleinere Hindernisse als ein Ozean Problem genug? Wenn er ganz ehrlich war — und es war viel einfacher ganz ehrlich zu sein, wenn man allein seinen Gedanken folgte —, so war er sich nicht einmal ganz sicher, ob er Lena genug liebte oder ob er nicht ja sagen müsste zu Big Apple. Um ein neues Leben anzufangen und alle Unsicherheiten hinter sich zu lassen. Ja, vielleicht sollte er das wirklich tun. Etwas Neues beginnen.

Nachher, wenn er sie zum Ostkreuz begleitete, würde er es ihr sagen.

 

Charlotte

Unterdrückte Tränen erschwerten ihr das Atmen als sie die Praxis verließ. Das hätte nicht passieren dürfen, warum nur war sie nicht vorsichtiger gewesen. Wie ein naiver Teenager hatte sie sich verhalten, eine Party bei Freunden, ein junger gutaussehender Typ. Sie hatte sich in seinem Interesse gesonnt, Öl fürs Selbstbewusstsein. Noch am selben Abend hatten die beiden Sex. Ohne Kondom. An den kleinen Gummischutz dachte keiner der beiden, das Knistern und der Alkohol hatten sie freizügig gemacht. Seitdem hatten sie eine wunderbare Affäre. Nichts Festes, viel Leidenschaft, nach Bedarf. Nicht eben das, was Charlotte sich unter einer Familie vorstellte. Nein, sie konnte dieses Baby auf keinen Fall bekommen. Und zu alt war sie sowieso. Erst vor ein paar Tagen hatte sie die Einladungen für ihren 43sten Geburtstag verschickt. Ein Kind? In dem Alter? Ohne festen Partner? Es war ja nicht so, dass sie nicht ihr halbes Leben von einer eigenen Familie geträumt hätte, zwei oder sogar drei Kinder hätten es schon sein sollen. Doch was sollte man schon machen, wenn der richtige Partner einfach nicht auftauchen wollte. Und unter den jetzigen Bedingungen? Das würde nicht gut gehen.

Gedankenverloren schlenderte Charlotte zum Ostkreuz. Sie wollte nur noch nach Hause. Sie brauchte eine Tasse Tee, melancholische Musik und Zeit zum Nachdenken. Nachdenken, was als Nächstes zu tun war. Und was sie ihm, dem Vater, wohl sagen würde. Oder nein, am Besten wäre es wohl für alle, wenn niemand etwas davon erführe.

 

Daniel

Den ganzen Tag schon war er irgendwie nervös. Der heutige Abend sollte die Entscheidung bringen. Die Entscheidung darüber, ob seine Beziehung mit Beate eine Zukunft haben würde. Chaotische Monate lagen hinter den beiden, voller Liebe und voller Missverständnisse. Dennoch hatte Daniel keine Minute daran gezweifelt, dass sie für einander geschaffen waren. Warum war das nur alles so kompliziert? Beate war niemals pünktlich, hatte sogar Verabredungen mit ihm sausen lassen, nur um hinterher die wildesten Ausreden zu erfinden. Irgendetwas stimmte da nicht, etwas, das sie nicht mit ihm teilen wollte. Ein Freund, dem er sein Leid klagte, brachte ihn auf die Idee, die ihm selbst, blind vor Liebe, niemals gekommen wäre: Beate hatte einen Freund. Womöglich konnte sie sich nicht entscheiden und hielt den anderen ebenso hin wie ihn.

Als Daniel Beate mit seinem Verdacht konfrontierte, war sie vor den Kopf geschlagen. Nein, ein solches Schauspiel traute er ihr nicht zu. Zögernd und leise versprach sie, ihm die ganze Wahrheit zu sagen. Heute Abend, wenn er wie immer donnerstags mit ihr ausgehen würde. Noch nie hatte er einen Schritt in ihre Wohnung machen dürfen, doch heute war er bei ihr zu Hause eingeladen. Sie hatte sogar versprochen, ihn vom Bahnhof Ostkreuz abzuholen, doch er glaubte nicht recht daran.

 

Donnerstag Abend, Bahnhof Ostkreuz

Neidisch schielte Charlotte auf das Pärchen neben ihr, das sich innig umarmt hielt. Offenbar war die junge Frau auf dem Weg nach Hause und ihr Liebster hatte sie bis zum Bahnhof begleitet. Den Gesprächsfetzen entnahm Charlotte, dass die beiden sich erst Sonntag wiedersehen würden und wie traurig sie deswegen waren. Ach, wie wunderbar musste dieses Gefühl der Sehnsucht sein, wenn Trennung schwer fiel und einem das Wissen, dass da jemand auf einen wartete, ein Kribbeln in den Bauch jagte.

Unsicher sah Tim Lena an. Sie schmiegte sich an ihn und ihre Worte, dass sie ihn jetzt schon vermisse und sich so auf Sonntag freue, hallten in seinem Kopf. Er wünschte sich, dass dieser Moment niemals enden würde. Abschied nehmen war schwerer als er dachte.

Die S-Bahn polterte herein.

Aufgeregt klopfte Daniel mit den Fingern an die S-Bahn-Tür. Würde Beate da sein? In diesem Moment zweifelte er daran, dass er überhaupt aussteigen würde, wenn er sie nicht auf dem Bahnsteig sah. Ja, er würde ihr es übel nehmen, wenn sie zu ihrem vielleicht wichtigsten Date zu spät kam.

Erst ratternd, dann quietschend bahnte sich der Zug seinen Weg entlang des Bahnsteiges bis er dessen Ende erreichte.

Aufmerksam hatte Daniel alle Wartenden gescannt. Beate war nicht dabei. Kurz blieb sein Blick an einer traurigen Frau hängen, die Beate etwas ähnlich sah. Sie war jedoch älter, Anfang vierzig bestimmt, und hielt den Blick fest auf die neben ihr Stehenden geheftet. So sah niemand aus, der auf jemanden wartete.

Die Türen öffneten sich.

Daniel stand unschlüssig da, wusste nicht, ob er aussteigen sollte.

Sich langsam lösend stieg Lena ein, blieb dabei direkt in der Tür stehen, um Tim noch einen Moment nahe zu sein.

Charlotte beobachtete die beiden noch immer, ohne sich von der Stelle zu rühren.

 

Ein Wimperschlag noch und alles würde sich ändern.

 

Eine Frau kam die Treppe hoch gerannt. Vor sich hin schimpfend zog sie ein kleines Mädchen hinter sich her, das offenbar für die Eile der Mutter kein Verständnis hatte. Die Kleine hielt ein Eis in der Hand, Gesicht und T-Shirt hatten ebenfalls bereits etwas abbekommen. Die Mutter blickte sich verzweifelt suchend um, bis sie Daniel endlich entdeckte.

Charlotte zuckte zusammen. Ihr Blick wandte sich zu dem kleinen Mädchen, das fröhlich sein Eis schleckte. Süß, die Kleine. Während die Mutter und der Typ, der die S-Bahn-Tür blockierte, indem er unentschlossen da herum stand, sich ansahen, stellte sich das Mädchen neben Charlotte und sah sie neugierig an. Es fragte Charlotte sogar, wie sie heiße und ob sie nicht etwas von seinem Eis abhaben wolle. Gerührt lehnte Charlotte ab.

Endlich stieg Daniel aus. Ein Kind war der Grund für das ganze Durcheinander. Ein Kind. Er war so erleichtert. Er umarmte Beate und küsste sie einfach, als sie zu einer Erklärung anhob.

Der Tür-Gong mahnte zum Einstieg.

Widerwillig ließ Tim Lenas Hand los. Er würde sie schrecklich vermissen. Bis Sonntag war schon viel zu lang. Nein, New York, dahin wollte er nicht mehr. Er wollte nicht ohne Lena sein, er wollte sie nicht vermissen. Er war sich plötzlich sicher, wie sehr er sie liebte.

Im letzten Moment schob sich Charlotte durch die sich bereits schließenden Türen. Als sie sich herum drehte, um hinaus zu sehen, winkte ihr das kleine Mädchen zu und lachte. Wieder schnürten ihr die Tränen den Hals zu. Doch als die S-Bahn schwerfällig Fahrt aufnahm, wusste sie, dass sie am Anfang ihres Weges stand. Auf dem Weg zu einer kleinen Familie.


 

Christine Kahlau
Die Warschauer Brücke

 

Nicht weit entfernt vom Bahnhof Ostkreuz befindet sich die Warschauer Straße, welche stadtauswärts in die Warschauer Brücke übergeht, über die ich heute berichten will.

Ein Vorteil scheint mir bei langer Sesshaftigkeit zu sein, dass einem hin und wieder mit Orten eine ganz eigene Geschichte verbindet. So ein Ort stellt für mich die Warschauer Brücke dar und das eigentlich auf eher unspektakuläre Weise. Wobei ich mir natürlich der Nähe zur architektonisch und historisch bemerkenswerten Oberbaumbrücke sowie zur Eastside Gallery durchaus bewusst bin.

Wohl gibt es in Berlin schönere Orte als die Warschauer Brücke. Die Autostraße von Treptow her kommend oder von Mitte, vom Alex her, führt geradewegs über die Warschauer weiter ein Stück durch den Bezirk Friedrichhain hindurch und bis nach Prenzlauer Berg. Von dort aus Richtung Norden und in die andere Richtung immer weiter nach Osten, irgendwann sogar bis nach Warschau… Ein asphaltiertes, hässliches Band, in der Mitte mit Straßenbahnschienen versehen und — früher jedenfalls — drei Himmelsrichtungen mit einander verbindend.

Mit der Wende kam noch eine vierte Richtung hinzu, die zuvor politisch nicht gewollt war, die Verbindung von und nach dem Westen — über besagte Oberbaumbrücke, welche die Spree so dekorativ überspannt — bis nach Kreuzberg hinein und hindurch…

 

Ungeschützt geht es zu auf der Warschauer Brücke, geht doch der Wind hier ungehindert drüber. Doch hat man dafür den freien Himmel über sich. Wenn man auf der Brücke steht, schweift der Blick unweigerlich rechts über die Weite der Gleisanlagen, links wird er etwas aufgehalten durch die auseinander gezogenen Bahnhofsanlagen der S-und U-Bahn. Auf dieser Seite strömen tagsüber dahin eilende Passanten, von beziehungsweise zu den Bahnen hin. Am Abend, besonders an den Wochenenden, drängelt sich vor allem vergnügungssüchtiges Volk auf dem schmalen Fußsteig. Auf Grund der Enge dicht aneinander vorbei wandernd, manchmal auf den Fahrdamm ausweichend, auf dem Fahrradfahrer vorbeisausen, direkt neben dem stetig dicht dahin fließenden Autoverkehr. Auf der gegenüberliegenden Seite dagegen laufen nur wenige Passanten entlang. Obwohl hier seit Jahren mehrere Ferngläser aufgebaut stehen, durch die man über die Gleise hinweg sehen und die nicht bei allen beliebte neue Veranstaltungshalle gegenüber dem Spreeufer in Augenschein nehmen kann. Häufig nutzen Touristen diese Seite auf dem Weg zur weltberühmten Eastside-Gallery, einen bezahlten Blick durchs Fernrohr nehmend.

An den Wochenendabenden, vor allem während der wärmeren Jahreszeit, sind auf der Warschauer hin und her ziehende Massen jüngerer Menschen unterwegs, zwischen den verschiedenen Freizeittreffs von Friedrichshain und Kreuzberg pendelnd. Manche von ihnen lassen sich direkt auf dem spärlichen Rasen auf der Fußgängerseite nieder, bevölkern die Haltestellen oder den begrünten Mittelstreifen auf der Warschauer Straße. Manch einer von ihnen entdeckt die Schönheit der untergehenden oder der aufgehenden Sonne von der Warschauer Brücke aus, auf dem Weg zur ersten Party des Abends beziehungsweise von der letzten kommend. So sah ich neulich ein Grüppchen dort sitzend, auf einer Treppe über den Gleisen, den goldenen Schein der Abendsonne genießend…

2008 stürzte der Neffe einer Freundin von der Warschauer Brücke aus in die Tiefe der Gleise. Die Ursache ist bis heute unklar, ob aus Übermut oder gar Lebensverdruss. Vielleicht passierte es beim Balancieren auf dem Brückengeländer? Von seiner Tante erfuhr ich, dass Simon den Sturz zwar wie durch ein Wunder überlebte, aber lange nicht aus dem Koma erwacht war. Inzwischen weiß man, dass der junge Mann wohl zeitlebens auf fremde Hilfe angewiesen sein wird.

 

Mein eigenes Verhältnis zur Warschauer Brücke ist von recht unterschiedlichen Erlebnissen geprägt. Früher war die Gegend optisch vor allem vom Anblick des Glühlampenwerkes Narva beherrscht, das weithin sichtbar wie ein Wahrzeichen der Umgebung seinen tristen Stempel aufdrückte. Dann gab es im Laufe der Jahre immer mal eine Autofahrt ins Umland, nach Sachsen oder Thüringen, zu der man über die Warschauer stadtauswärts, Richtung Autobahn fuhr, über Treptow und Plänterwald. Seit den Siebzigern zeigte einem das Auftauchen des "Telespargels" im Blickfeld an, dass man gleich "zu Hause" war.

Später dann, nach der Wende zog auch hier der Geist der Veränderung ein. So verschwanden lang vertraute Einrichtungen wie das "Kinderkaufhaus" an der ehemaligen Bersarinstraße, Ecke Frankfurter Tor. Dafür wurden jede Menge unterschiedlicher Läden entlang der Karl-Marx-Allee, der Frankfurter wie auf der Warschauer Straße eröffnet. Manche nur von kurzer Dauer, andere sich bis heute haltend. Die Wohntürme am Frankfurter Tor wurden durch Sanierung optisch wieder ansehnlich und plötzlich entdeckte man die historische Schönheit einer ehemals verhassten Staatsarchitektur. Einst erbaut für verdiente Werktätige des Volkes, bewohnt dann von Funktionären und ehemaligen Verfolgten des Naziregimes, beeindruckt sie heute durch ihre prachtvolle Bauweise und ihre großzügigen Anlagen.

Irgendwann kam zu diesen mehr alltäglichen Erfahrungen mit der Gegend um die Warschauer herum ein weiteres, fast irrational anmutendes Moment hinzu. Es geschah in den Neunzigern, also weit nach Öffnung der Mauer. Eines Tages wartete ich an einer der Straßenbahnhaltestellen auf der Danziger Straße auf die Bahn. Ich befand mich auf der Seite, die in Richtung Warschauer Straße fuhr, als ich plötzlich eine körperlich fühlbare Verbindung spürte zwischen mir oder vielmehr eines Teiles von mir und der geradeaus vor mir liegenden Strecke. Diese vielleicht am ehesten energetisch zu nennende "Verbindung" begann oder endete(?) im Zentrum meines Unterbauches und zog sich gefühlt wie ein unsichtbares Band bis hin zur Warschauer Brücke. Damit einhergehend durchströmten mich intensive Empfindungen von einer Art Vorahnung von etwas Fernem, vor mir Liegendem, welches mich eines Tages herausfordern und mir viel abverlangen würde. Damals durchforstete ich mein Gehirn nach einer dazu passenden Situation, konnte aber nichts finden, was einen konkreten Bezug vermuten ließ. Außer vielleicht meine Verbindung zur Stadt Warschau, begründet durch die Freundschaften zu einigen dort lebenden Polen. Doch schien mir dies zum damaligen Zeitpunkt nicht relevant genug zu sein.

 

Seit dem fuhr ich viele Male besagte Strecke entlang, vor allem mit dem Fahrrad.

Hin und wieder biege ich links oder rechts ab von der Warschauer. Entweder über Ostkreuz nach Lichtenberg radelnd oder tiefer in die Straßen von Friedrichshain eintauchend, dabei immer wieder unbekannte Orte entdeckend.

Und noch häufiger ging und geht es über die Warschauer Brücke hinaus nach Kreuzberg, mitunter bis nach Neukölln… und das bei jedem Wetter!

Diese und jene neuen Verbindungen entstanden in dieser Zeit und lösten sich wieder und manch alte Freundschaft wie die zu den Warschauern, von der man glaubte, sie hält ein Leben lang, hielt dann doch nicht. Und jedes Mal ist es dann auch ein Stück von einem selbst, das dabei mit zu verschwinden scheint…

Doch wie die Zeit nicht stillsteht und das Herz weiter schlägt, so bleibt die Warschauer Brücke ein von Leben pulsierender Ort und die Warschauer weiterhin ein verbindendes Band — in alle Himmelsrichtungen.

So führte mich eine erst in diesem Sommer geschlossene Freundschaft mit einem Maler in eine auf gerader Strecke liegende kleine Galerie in Kreuzberg, ein wenig später nach Brüssel – mitten ins Herz des inzwischen aus Ost und West wieder zusammen wachsenden Europas. Und entdeckte verblüfft, wie viel Schönes und Bemerkenswertes diese Stadt bietet und wie wenig ich bisher über Belgien und seine Geschichte wusste.

Auf dem kleinen Balkon meines Freundes sitzend, sah ich in das freundliche Blau des Brüsseler Himmels, welcher mir irgendwie anders blau erschien als daheim. Und dachte dabei auch an den weiten Himmel und den Wind, auf der Warschauer Brücke…


 

Katja Odenthal
Tante mag das Alte nicht

 

Der Zug hält am Ostkreuz, meine Verwandtschaft kommt angereist, von Schönefeld her. Mit rotem Kopf schimpft sie, meine Tante, mit all ihren 80 Jahren auf einen Mann ein, der mit ihr aus der S-Bahn steigt. Er hat sich ein Berliner Augenzwinkern zum Schutz aufgelegt, die alte Dame dringt nur bedingt zu ihm vor. "Wie zu DDR-Zeiten sieht es hier aus, wie soll man denn hier seinen Koffer ziehen?" "Und wo muss man überhaupt lang?" "Das ist ja wie in Russland!"

 

Sie zieht ihren Koffer über die Füße anderer Fahrgäste auf dem holprigen Bahnsteig. Einer jault, die meisten tun, was am Ostkreuz zum guten Ton gehört: ignorieren und vorwärts, mit der nächsten Welle von Menschen mit und bloß weg hier. Ich komme den Sprachfetzen immer näher, die die alte Dame aus ihrem Mund abfeuert. Meine Tante. Sie erkennt mich nicht zwischen all den Menschen. Ich genieße den Moment, in dem nur die dicken Brillengläser meiner Tante, ihr Maulwurfsblick zwischen ihr und mir und einer Umarmung liegen.

 

Über dem Platz liegt ein Geräuschteppich. Für mich ist das Ostkreuz das Lärmkreuz, so wie überhaupt auf die ganze Umgebung bis zum Nöldnerplatz den ganzen Tag eingehämmert und eingeschlagen wird: Asphalt aufreißen, ausbaggern, Betonmischer, Pflastersteine, Umleitung, Stau, hupen, Baustelleneinfahrt, Gedränge, hier nicht lang, da lang, aufpassen!

Es ist schön, wenn’s schöner wird und es wird toll, wenn es am Ostkreuz eines Tages für die tausenden, zigtausenden, Millionen Leute übersichtlicher und vor allem noch schneller wird. Was in meinen Ohren knirscht, was ein Geräusch macht wie Fingernägel über Kreidetafeln, sind die Zusammenhänge.

Rutscht meine Mieterhöhung nicht direkt über die glatte Rutsche des Wortes Mediaspree in meinen Briefkasten? Und wieso klingt Gentrifizierung nur nach Doktorarbeit, nicht nach Widerstand? Mein Bauch brennt, schreit: "Achtung! Achtung!", sobald ich sehe, wie was Altes weggemacht und was hübsch Neues draufgesetzt wird.

Soll sich das O von Ostkreuz bald auf O2–Arena reimen? Ich phantasiere, wie in einer Casting Show jemand aus dem Off sagt: "Nee, aber dit Ostkreuz, dit muss noch mal inne Maske, so jeht dit nich, noch mal richtig dick Schminke drüba, so wat Abjeranztes will doch keener sehen, da zahlt doch keener wat für!"

 

Und unter einer Haifisch-Maske in der Jury kommt Dieter Bohlens Gesicht zum Vorschein, er singt im Duett mit dem Chef der Deutschen Bahn: "…der hat Zähne und die trägt er im Gesicht." Hinter ihm stimmt ein Chor aus Immobilienmaklern ein, sie haben sich aus Bauplänen der Rummelsburger Bucht und dem Berliner Mietspiegel kleine Fackeln gebaut, die sie wie sich selbst hin und her schaukeln.

 

Es zupft ganz heftig an meinem Kapuzenpulli. "Kind, da bist du ja! Ist das ein furchtbarer Lärm hier!" Ich spare mir die herzliche Umarmung, denn Tante läuft mit Affenzahn auf den rettenden Aufgang zu. Ich ahne, was da kommt. Sie hält inne. Ihr Blick mit all der Autorität ihrer 80 Jahre durchbohrt mich. Ich kann nur mit dem Kopf schütteln: Nein, es gibt hier keine Aufzüge.

 

Ich schließe zu ihr auf. "Schön, dass du gekommen bist, Tante!", und sie bekommt einen Kuss auf ihre rote, alte Wange. Ich entwinde ihr den Koffer und versuche, mein schlechtes Gewissen zum Schweigen zu bringen als wir vor den Treppenstufen stehen.

Siehe, die alte Dame hat mehr Atem als ich, sie poltert die Treppen hinauf und dann auch hinunter: "In Schönefeld, ich musste zehn Minuten laufen, das soll ein internationaler Flughafen werden? Und wie viel das kostet, von unseren Steuern, wir haben schließlich jahrzehntelang eingezahlt." "Ja, willkommen reiches Rheinland!", versuche ich sie einzudämmen und es funktioniert für einige Sekunden. Sie schaut auf, vielleicht muss sie nur durchschnaufen.

Eine alte Tante in all dem Chaos von Berlin, wie soll das auch gehen?

 

Während ich in ein Taxi steige, für die letzten zwei Kilometer bis zu meiner Wohnung, bleibt ein Teil von mir oben auf der Treppe am Ostkreuz stehen. Er sieht, wie diese schmale Frau davoneilt mit ihrem Koffer, wie sie sich in ein fünfzehnjähriges Mädchen verwandelt, wie sie und meine Familie das ehemalige Deutschland durchqueren, von Kattowitz über Dresden, über Berlin nach Köln. Mit russischen Soldaten im Nacken und Hunger, echtem Hunger im Gepäck. Durch Trümmerlandschaften und über von Bomben aufgerissene Pflastersteinstraßen, vielleicht über Bahnhöfe wie dem am Ostkreuz.

Tante mag das Alte nicht, Tante mag das Alte nicht mehr sehen, aber ich stehe dort und horche. Der Lärm, alte Steine, der Rost, die Unruhe. Das Alte erzählt Geschichten und ich höre zu.


 

Stephan Schmauder
Die rote Mühle am Ostkreuz

 

1 Anfang

"Wumms!", tönt es, als hinter Pjotr Panda die Tür zum Vorderhaus an der Sonntagstraße wieder ins Schloss fällt. Mit mulmigem Gefühl lässt Herr Panda die Sicherheit der eigenen vier Wände fahren, in die er sich viele Wochen lang schon wieder verkrochen hat. Draußen ist es wärmer geworden, nachdem es am späten Nachmittag noch heftig geregnet hatte. Sogar ein heftiges Gewitter war niedergegangen und begleitete Pjotr auf seinem Weg zum Boxhagener Platz die Wühlischstraße hinauf, als er kurz vor Torschluss noch etwas Essbares auf dem Wochenendmarkt organisieren musste, um nicht hungrig diese Nacht zu begehen. Das Wetter gestattet sich in diesem späten Oktober kuriose Kapriolen, wie es nur ein loser Schelm zu tun pflegt. "Oder liegt das jetzt vielleicht an dem dichten Kunstpelz, in den ich eingeschmiegt bin?", sinniert Pjotr, der sich heute, in der Nacht von Halloween, vorgenommen hat, als Winnie the Pu verkleidet die Festlichkeiten zu begehen, ausnahmsweise, ganz gegen seine Gewohnheit als menschenscheuer Partymuffel.

Den alten Bärenpelz des Honignaschers aus dem berühmten Kinderbuch hatte seine Mutter einst als Faschingsballkostüm für seine ältere Schwester genäht. Als das Kostüm niemand mehr haben wollte, rettete Pjotr es vor dem unbarmherzigen Weg in die Mülltonne, indem er es der begehbaren Kleiderkammer einverleibte, die im verwinkelten Flur seiner kleinen Ein-Raum-Wohnung im 4. Stock des Hinterhauses einen Gutteil des kärglich vorhandenen Platzes ausfüllte, von ihm in den letzten Jahren jedoch kaum genutzt wurde, denn normalerweise zog er immer die ewig gleichen Klamotten an im Alltag seiner verschliffenen Großstadteremitenexistenz.

Pjotrs notorisch miesepetrige Laune klart sich heute jetzt aber doch allmählich auf. Er beginnt sich nun wohlig warm, ja subtropisch umhüllt in der abenteuerlichen Vermummung zu fühlen. Schon beinahe im Pirschgang wechselt er von der Gryphius- runter Richtung Simplonstraße. Das bisschen Schwitzen in dem dichten Pelz, das gefällt ihm, die leichte Transpiration hat ihm eigentlich noch nie was ausgemacht, Pustekuchen, als geübter Dauerläufer, der er ja auch ist, in einer strikt getrennten Parallelwelt zu seinem Indoor-Alltagsleben; wenn er sich denn mal aufrafft, das Haus zu verlassen, was selten geschah in den letzten Wochen. Auf Pjotrs sich gerade aufbauender Blickachse Richtung Südosten wird er jetzt überrascht von einem prangenden, riesiggroßen, ja regelrecht unförmigen Vollmond, der von einem blutorangefarbigen Vorhof eingerahmt aus dem Viereck des plötzlich gemäldehaften Blickfeldes zu quellen scheint. Starke Winde pusten wüstenhaft warme Luftböen durch die dunklen Straßen, Wolkenfetzen ziehen ohrenheulend über Pjotrs Bärenhaupt hinweg. Die Nacht scheint wirklich nicht allein zum Schlafen da. Pjotr zieht es gleich mit aller Macht an den Schienenstrang zwischen RAW-Gelände und Osthafen. Unter all den vorüber treibenden Halloween-Masken, die bei gefühlten 17 Grad Celsius im Spätnovember auch alle, sagen wir mal, leicht overdressed wirken, fällt Winnie the Pu weiter gar nicht auf. Pjotr spürt das Gefühl des Isoliertseins, das ihn die letzten Wochen, ja Monate, wie eine dickhäutige Gummiblase umschlossen hat, allmählich vom Fell abperlen. Auf dem RAW-Gelände scheint sich gerade eine gewaltige Party zu entzünden, aufzuspannen wie der schnell wachsende Schirm eines Tintlings, lokal häufige Pilzart, gekennzeichnet durch rasches Werden und Vergehen (Pjotr hat sich zu einem leidenschaftlichen Pilzgänger entwickelt in den letzten Jahren, eines seiner wenigen Hobbys neben dem notorischen Joggen) — in der Ferne wummern tieffrequente Klänge. Einerlei, ob das Musik, nächtliche Bauarbeiten der Bahn oder das zurückkehrende Gewitter ist. Pjotr drückt sich durch einen Bauzaun an der Revaler Straße, kurz hinter der Modersohnbrücke, in das Niemandsland zwischen verwitterten Bahnanlagen, verwildertem Berliner Stadtbrachen-Dschungel und den topographischen Eroberungen einer Haudrauf-amüsier-20+x-something-Post-all-of-Now-Schickeria. The Pu steht, nachdem er einen wie von Riesenhand geworfenen Wall aus Baumstämmen überklettert hat, in einem dichten Birkenwäldchen, voll obskuren Unterholzes, um jetzt mal kurz Pipi zu machen. Er nestelt sich den Pelz auf, seine Mutti hatte natürlich damals beim Nähen des Mummenschanzes nicht an derlei allzu irdische Bedürfnisse gedacht.

Keine fünf Meter von ihm entfernt läuft eine Füchsin die Böschung entlang, ohne Notiz von ihm zu nehmen. Sie schleicht einmal um den Busch, kommt auf der anderen Seite wieder herunter, just da, wo er den oberen Teil seines Bärenpelzes gebunkert hat. Hier nun kommt Pjotr selbst zu Wort, wie er das Ganze seiner Kumpeline erzählt, denn da gab‘s kein Halten mehr, als er ihr einige Wochen nach den Ereignissen ausführlich Bericht erstattete: Stell dir vor, die Füchsin späht um die Ecke und bemerkt mich nun endlich. Sie bleibt stehen und "nimmt wohl an", dass ich sie nicht gesehen hätte. Ich fixiere selbstbewusst die mich beim Urinieren ertappende Dame im Rotpelz, die sich mir zaghaft noch weiter annähert, nicht geplagt von der menschlichen Scham. So stehen wir uns gegenüber, keine vier Schritte voneinander entfernt: "Wildes Tier" und so genannter "zivilisierter Mensch" draußen in dieser imposanten Vollmond-Nacht. Wir mustern einander. Ich breche das Schweigen, indem ich was sage. "He, Genossin, ich kann nicht pinkeln, wenn mir jemand dabei zusieht!" Die Füchsin, die sich hier frei in ihrem Revier bewegt, wendet sich mir zu und spricht, nicht ohne dabei kräftig in ein lokales Idiom zu verfallen: "Ja, nu, wie der Namenspatron dieser Stadt siehste nu wirklich nicht aus, Mensch Meier, von Würde keine Spur, nicht mal beim 'Stangenwasser inne Ecke stellen'. Eher wie 'n ungetrunkener Schluck Pfütze. Nüscht für unjut. Aber woher kommt‘s, dass er so neben seinem Pelz steht, statt in seinem Pelz eine wackere Figur abzugeben? Vertrau'n Se sich mir an, wo Sie grade mittenmang meinem Revier stehn…" Pjotr: "Wie Sie sehen, Madame Rotpelz, folge ich dem Ruf der Wildnis, ganz genau wie Sie, alte Eierdiebin und Hundeverschmäherin, die Sie sich jetzt schon länger wieder in der Menschenstadt heimisch fühlen. Genug mit dem förmlichen Gehabe, mit 'Sie' und so, wir sind unter uns, also, was ich sagen möchte, wie wäre es denn mit 'n bisschen Verständnis für meine momentan eher klägliche Situation?"

"Solange du nich' auf den Tunnel-Zugang des selbstverwalteten Wildtier-Kindergartens pinkelst, is allet jut, mein Lieber, achte mal besser 'n bisschen auf deine Umgebung, schärfe die Sinne, lausche auf die Stimme deiner Instinkte, Intuition haste ooch, weniger auf die ,scheint's, bei euch Menschenwesen allerorten überstrapazierte, übermächtige Vernunft, dann kommste besser klar, haste wieder Spaß, oller Griesgram - und - hej noch was, Menschenmann, wenn ick dir 'nen Tipp geben darf, mach dich jetze mal auf 'n Weg nach Osten, immer schön dem Schienenstrang lang. Heute ist ne janz besondere Nacht für Männeken, auch für so schräge Vögel wie dich. Der Osten steht seit jeher in unseren Breiten für 'n Neuanfang im Tanz der Windrichtungen um die olle Himmelsoße, äh, -rose, die Weichen werden heut' Nacht früh frisch jestellt, damit das alte Dampfross künftig im neuen Gleisbett läuft wie geschmiert, is ooch jut für die alten Jelenke."

Pjotr wehrt sich gegen den aufkommenden Fluchtreflex, reibt sich die Augen, eine beredt das Wort schwingende Füchsin, das ist bei aller reiflichen Überlegung dann doch einen Tick zu heftig an diesem komischen Tag, der ja für ihn immer noch erst gerade angefangen hat. "Ruhig Brauner, hör mir zu, renn nicht gleich weg, wenn dir Gevatterin aus dem Zylinder was hervorzaubern möchte! Im Ernst, zieh los, sonst entgeht dir was! Ist doch so 'ne schöne Nacht, warum soll sich so 'ne alte bärenfellbehangene Nebelkrähe wie du nicht auch mal amüsier'n? Alter, mach dich auf'n Weg, wirst es schon nicht bereuen. Dann kann ick hier ruhig weiter nach einem saftigen Midnight-Snack Ausschau halten. Neuerdings gibt's hier wieder wilde Kaninchen — und jetze zieh Leine, biste noch nicht unterwegs - ab die Post!"

Pjotr folgt den Einlassungen der beredten Füchsin und ihrer Aufforderung, nicht ohne sich vorher höflich von ihr zu verabschieden. Ein bestimmtes Gleis ganz links ins Auge fassend, dem er unbeirrt durch den dichten Überwuchs an Flora Richtung Osten folgt, zieht der Bärenmensch weiter. Der Wind scheint mit dem Blätterwerk des ihn umgebenden Wildwuchses der verlassenen Bahnanlage seine Sprach-Spiele zu treiben, denn für ihn hört es sich an, als raunten die Bäume ihm ermunternd zu: "Rasch, wie in flüchtigen Augenblicken, lass dich treiben im Weben der Zeit, on the road again, doch bald kommst du an. Geh deinen Weg, verschließ deine Sinne nicht vor der Schönheit des Augenblicks, alter Bärenesel!" Der wandelt weiter seines Wegs auf unausgetretenen Pfaden. Die Vögel in den Wipfeln beginnen ihm heitere Botschaften zuzuzwitschern Eine vorüberfliegende buntgescheckte Taube rezitiert Passagen aus Nietzsches "Also sprach Zarathustra" und dionysische Dithyramben, als wüsste sie um die Qual und Selbstzweifel der letzten Zeit: Die Krähen schrei'n und ziehen schwirren flugs zur Stadt... (zit. n. A. Carter: The Infernal Desire Machines of Dr. Hofman, London 1969 u. nach F. W. Nietzsches Gedicht). Ein Rabenvogel, die junge Elster, folgt ihm von Baum zu Baum, auf Schritt und Tritt keckert sie geknittelte Verse aus Fausts Walpurgisnachtstraum hinter ihm her. Eine große Ameisenschule im Vorüberziehen hält inne, sammelt sich unter diversem, gezirptem Signalaustausch um Meister Petz, beginnt durch eine grafische Anordnung ihrer Leiber vor ihm in den Sand neben den Gleisen zu schreiben:

"Ess koi Buchstab'nsupp' mer,
und unns itzt au idd',
alt's Schleckermaul,
reih selber Buchstabenfolgen
ruhig au mal aufs Budderbrot-Babbir.
Bei dem, was du so erlebst,
dürdte dir seller Stoff zum Verzelle
nidt unbedingdt so flott idt ausgehe,
Purche!"

Entweder war diese Ameisenschule aus der ersten oder zweiten Klasse ausgebüchst, oder sie stammte ursprünglich von allemannischen Sprachinseln, aber egal. Dem Bärenmenschen hat es längst die Spucke verschlagen vor so viel allbelebter Natur um ihn, die beredt mit dem All-Eins-Sein, das ihn seit Wochen wie einen dichten Kokon umsponnen hat, zu korrespondieren scheint, als klopfe eine alles durchwirkende Kraft ihn mit aller Macht aus dem selbst gewählten Gehäuse seines Einsiedlerkrebs-Lebens heraus. Der Bärenhäuter fühlt sich fein umwebt von pantheistischem Welterleben, wie er es nur aus den glücklichsten Momenten seiner wahrhaft weit zurückliegenden Kindheit kennt - das ozeanische Gefühl desjenigen, dessen feste Grenzen durch das noch ferne Erwachsensein jederzeit sich flugs aufzulösen imstande sehen.

Pjotr greift zu der in der Kängurutasche in seinem Pelz verstauten Flasche schweren roten Rebensafts (die hatte er für alle Fälle gebunkert) und entkorkt sie fachgerecht. Es ertönt ein mächtiger Plopp, als der Geist aus der großen Buddel entweicht. Der befiehlt ihm nur lapidar: "Trink!" Er gehorcht willig und sieht sich selbst in einer fernen Zukunft, wie Karlsson auf dem Dach des Hauses an der Sonntagstraße sitzend, Farben und Formen der Jahreszeiten ziehen wie im Hui an ihm vorüber und mit flinker Feder wirft er textliche Exzesse in einem wahnwitzigen Tempo aufs Papier. Es scheint, als hätte er in wenigen vorbeirasenden Vegetationsphasen Jahrzehnte an verloren geglaubter künstlerischer Produktivität nachzuholen. Gleich versucht Pjotr sich wieder auf die ungefilterte Gegenwart zu konzentrieren, beginnt seine Aufmerksamkeit tatsächlich mit dem Augenblick zu teilen, als sei dies ein alter Freund, dem er nur ewig lange nicht mehr "Hallo" gesagt hat. Das Birkenwäldchen hat sich gelichtet, während er weiter ausschritt. Pjotr ist am Gleisbett weiter Richtung Osthafen gelaufen. Von Ferne sieht er im hellen Mondlicht auf der Spree eine Armada kleiner Segelboote, Typ "Pirat", mit dem Wind in beeindruckendem Tempo spreeaufwärts pflügen. Der Fluss erscheint aufgewühlt von den warmen Winden, die in Böen aus unterschiedlichen Richtungen die Wasser furchen. Hatte er etwas im Radio von einer Segelregatta auf der Spree mitgeschnitten? Von Zikaden auf den lose bewachsenen Sandbergen am Osthafen raspelt es wie Süßholz mit Engelszungen zu ihm hin: "Geh einfach, geh, wundere dich nicht: 'Paradise is NOT lost!'"

 

2 Der Tunnel

Bald steht Pjotr ein wenig ratlos an einem vor Dunkelheit nasstriefend klaffenden Schlund, sieht aus wie der Zugang zur ewigen Verdammnis. Über dem von mattgrünem Moos behangenen Portal spiegelt sich ein Schild trübe im Schimmer der nächtlichen Sonne, bunte bewegliche Buchstaben leuchten kurz auf und ziehen in unregelmäßigen Abständen vorüber:

"Magischer Tunnel +++ Zugang zum Varieté aller irrenden, aber wenigstens suchenden Seelen +++ Eintritt nicht für jederfrau oder jedermann +++ Nur für Entgleiste +++ Ticket gibt's nur gegen Abgabe des Verstands an der Garderobe +++ Amanita-Amelia kommt kurz nach 12 an + ist unterwegs zum Turm +++ Geh jetzt los! +++ J E T Z T" (angelehnt an H. Hesse, Der Steppenwolf, Frankfurt a. M.: 1927).

Der Eingang gehört zu einem Tunnel, der ganz offensichtlich eine sanfte Biegung nach links macht, so viel ist noch zu erkennen. Der bepelzte Held fragt ein wenig ermutigt duch den Zuspruch von so viel Kreatur, die sich durchgehend freundlich gesinnt an ihn wendet, leise in die Runde: "Ich habe leider meine Taschenlampe zu Hause vergessen. Kann mir jetzt vielleicht trotzdem jemand weiterhelfen?" Seine Worte sind im Echohall, den der offenbar abgrundtiefe Tunnel wirft, kaum verklungen, da sieht Pjotr erste Lichtpunkte auf sich zuglimmern. Zuerst sind es nur sechs, sieben Leuchtkörper, die ihn umsausen, dann potenziert sich die Anzahl und kaum dass er es sich versieht, ist er von einer unfassbaren Zahl von Glühwürmchen umfangen, die den Eingang des finsteren Tunnels in ein sanftes Licht tauchen. Nicht dass dies Freundschaftsdienst genug wäre, nein, die Käferchen formieren sich zu einem Schlauch und bilden einen Lichtkorridor aus ihren Leibern, um ihm den letzten Rest Muffensausen zu nehmen vor der allumfassenden Finsternis des gleiskörperführenden Gewölbes, das im Übrigen bei näherem Besehen gar nicht abwärts, sondern vielmehr sanft aufwärts zu führen scheint. Es gibt nun selbst für den ängstlichen Pjotr nicht länger Grund zu zaudern, und so tritt er gemeinsam mit seinen neuen insektoiden Begleitern, den immer freundlichen und sanften Irrlichtern, die ihn geschmeidig umsummen, den letzten Teil seiner Reise an. Bald umtost Pjotr nur noch der pochende Klang des Rauschens der eigenen Blutzirkulation, er hört seinen beruhigenden, sonoren Puls, der so regelmäßig zu schlagen scheint wie ein Schweizer Uhrwerk. Ein beruhigendes Bollwerk gegen die Unwägbarkeiten der unsteten Zeitläufte, die Pjotr sich einbildet, zeitlebens zu durchqueren. Die vielfarbenen, in allen Facetten des infraroten Lichts schimmernden Leuchtkäfer hüllen ihn in einen spiralförmigen Kokon ein, in dem er vorangleitet wie auf einer imaginären, sich drehenden und dehnenden Zeit-Achse, wurmlochartig. Sie führt ihn immer näher an ein Gefühl des Erlebens einer Unendlichkeit, in der die Zeit still steht, oder einfach kein sinnstiftender Parameter mehr ist. Aufgehoben ist das Maß, zum Stillstand gekommen, abgebrochen wie eine halbe Riesin, die im Asphalt einer Titanenenzeit steckenblieb, deren anmaßende Epoche durch neu hereinbrechende, scheinbar chaotische Kräfte zu einem natürlichen Ende gekommen ist.

 

3 Halloween am Ostkreuz

Am Ende des Tunnels ist irgendwann ein Licht zu erkennen für den in Trance vor sich hin wandelnden Bären, der auf den Namen Pjotr hörte. Winnie the Pu kehrt zurück ins mondbeschienene Licht der Welt. Die leuchtenden Käferchen umfleuchen und illuminieren sanft seine Gestalt, wie er ins Freie tritt und in der Ferne den alten Bahnsteig F des Ostkreuzes auf sich zu bewegen fühlt, als ob nicht er zum Bahnhof, sondern der Bahnhof zu ihm her robben würde. Der große Passagier-Umschlagplatz liegt menschenverlassen da. Nur der tief stehende Vollmond beleuchtet die von werktätiger Hand geschaffene Landschaft und taucht sie in ein sanftes, silbrig glänzendes Licht, in dem es problemlos möglich wäre, das "Neue Deutschland" trotz seiner kompakten Typografie zu lesen. Da! Aus den Augenwinkeln erhascht er eine schnell sich bewegende, vierbeinige Gestalt, die unten am Bahnsteig hinter das Fahrkartenhäuschen huscht! Nein, da ist noch mehr Bewegung zu erkennen, bald an jeder Ecke sieht Pjotr graue, schwarzweiß bepelzte langohrige Vierbeiner, die sich geschickt hinter jede Deckung ducken. Gegenüber auf Ost, am Bahnsteig der Ringbahn, taucht ein riesiger Wolf scheinbar aus dem Nichts mit einem Sprung auf das Treppengeländer in Pjotrs Blickfeld, balanciert ohne jegliche Anstrengung auf dem schmalen Grat und verfällt im Wimpernschlag in ein ohrenbetäubendes, jede Faser seines Herzens durchdringendes Geheul - die lange Ode der Kreatur an den Vollmond. Der viel beachtete Kongress der sizilianischen Steppenwölfe findet also in diesem Jahr auf dem Ostkreuz statt. Jeden Augenblick erwartet er das Auftreten einer Band wie Wolfmother real oder Dio aus den Grüften des Jenseits, Spannungsbogen aus Heavy Metal ein Nichts dagegen, aber das polyphon nach Skaldenart angestimmte, in geordneten Chören vorgetragene Heulen der nun vielstimmig einsetzenden Waldfreunde verhallt so abrupt wie es begonnen hatte, ungehört von den Menschenwesen in der angrenzenden Großstadtwildnis. Haben sie jetzt das letzte Stück Zivilisation zurückerobert? Aber husch, wie im Augenblick ist der Spuk der Wildnis vorüber. Das große Rudel scheint so plötzlich verschwunden zu sein wie es aufgetaucht ist. Pjotr lauscht noch lange den langgezogenen Klagetönen nach; war das jetzt wieder eine Halluzination wie heute früh? Der Kongress der Steppenwölfe - warum eigentlich habe ich dazu keine Einladung bekommen? Der Bärenhäuter schaut sich noch einmal lange, ja ein wenig verunsichert um. Sein Blick schweift schließlich zurück zu dem Mond, der auf der pickelhaubenartigen Kappe des Wasserturms behände einen Solo-Walzer tanzt. Die Säule des Wächters über das Ostkreuz scheint in dunklen Rottönen zu pulsieren. Der Mond zwinkert mit verschmitzten Augen, zuerst nur kurz, zaghaft, dann schneller, bis sich sein Blinzeln auf exakt 18 Augenaufschläge/-blicke die Sekunde erhöht und einpegelt, so wie die synchronen 72 Hertz von Pjotr im Tunnel. Die Zeit kehrte mit dem Gedanken an die Zeitung im Traum zurück. Raschelnd wird irgendwo ein Filmstreifen eingelegt, da gleich mit theatralischem Gong die Vorführung starten wird. Von der alten Stralauer Dorfkirche weht Klock zwölf der tiefe Klang der Glocke herüber. Auf den letzten Schlag erwacht die Szenerie am Ostkreuz in Cinemascope zu einem traumhaft mitternächtlichen Leben, dieses Mal das der Menschenwesen - wie sie es wohl nur ganz besonders luzide Vollmondnächte, in nur entlegenen astronomischen Zeitläuften zu beziffern, hervorzubringen imstande sind. Alle Zeit der Welt schien sich nun am und um dieses Ostkreuz zu bündeln - dem lang gedienten Verkehrsknotenpunkt der Stadt. Mit jenem letzten Gong der Alten von Stralau, anmutig wie in einem berühmten Kintopp-Palast der 1920-er Jahre angeschlagen, erhellen augenblicklich mehrere 100.000 niedrigvoltige, buntfarbene Lichtquellen wie chinesische Lampions die Nacht, keine grellen allenthalben, sondern sanfte Illuminationen wie auf einem großen Jahrmarkt, an die mitternächtliche Stunde wohltemperiert gemahnend. Das Ostkreuz ist im Nu von Menschenhand überschwemmt, die Wesen auf zwei Beinen strömen wie auf Zuruf eines rotbefrackten Zirkusdirektors in einer Szene von Fellini von allen Zugängen her auf den vielgestaltigen Bahnhof, der wie ein großer Krake in alle Himmelsrichtungen der Stadt mit seinen vielen starken Armen die Menschen herbei schafft. Von überallher scheinen die Menschen von den warmen Winden herbeigeweht, aus allen Epochen, die dieser Bahnhof mit seiner wahrhaft würdevollen und langen Geschichte durchlebt hat. Selbst Menschen aus anderen Zeiten tauchen wie aus Zeitlöchern gefallen auf, von dem gigantischen Jahrmarktgelichter des zentralen Kreuzungspunktes angezogen wie fahlflüglige Insekten, die aus der Dunkelheit ins Licht streben. Ein Mann in Fellen geschlungen schwankt, auf merkwürdig verklärte Art tanzend und dabei melodisch gereihte Gutturallaute ausstoßend, an ihm vorüber, das Gesicht von einer Hirschmaske bedeckt, die Pjotr glaubt, im Märkischen Museum schon einmal gesehen zu haben. Er wirbelt mehrmals um die eigene Achse, denn er kann sich an der Vielfältigkeit des bunten Treibens kaum satt sehen.

Zischend und dampfspeiend rauscht eine riesige schwarze Schnellzuglokomotive vor ihm auf dem Bahnsteig mit hohem Tempo ein - es ist die legendäre Baureihe 108, gerade pünktlich drei Minuten nach Mitternacht. Auf einem Abteilschild ist der Fahrtstrecken-Anzeiger zu lesen: Genua, die Hafenstadt am Mittelmeer - ihren weiteren Weg durch Italien, Österreich und die Schweiz rauschte die gusseiserne schwarze Lady über Süddeutschland nach Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Dessau, durch das südliche Brandenburg, über den hohen Fläming nach Berlin. Pjotr staunt nicht schlecht über die einstmalig offenbar reibungslos funktionierende Bahntechnik und die schiere Weite des Wegs, den die legendäre Baureihe genommen hatte, Tempo 150 im Schnitt mindestens bei den eingehaltenen Fahrzeiten, die akribisch ausgewiesen sind, als die Passagiere beginnen, dem Zug zu entsteigen. Vor ihm verlässt eine Gestalt mit ledernem Kostüm das Coupé, auf dem Kopf eine Haube in Rosttönen, die rußbedeckte Fliegerbrille auf die Stirne geschoben - Venus in artificial Furs. Unschwer erkennt Pjotr sie als Amelia Earhart, eine legendäre US-amerikanische Pionierin, die mit ihrem Doppeldecker so manchen Flieger-Rekord ihrer männlichen Kollegen gebrochen hatte - noch heute ziert sie als Namenspatronin eine Schule in Treptow auf Höhe des Plänterwalds. Die verschollen geglaubte Abenteurerin und bekennende, ja sagenhafte Bruchpilotin steuert direkt auf ihn zu und spricht ihn in überraschend fließendem Deutsch an: "Herr Panda, Pjotr, erkennen sie mich gar nicht? Heute ist Halloween, da sind wirklich fast alle verkleidet, selbst Sie als alter Partymuffel, wie ich Sie gekonnt und richtig gleich einschätzt habe, und - ja, auch ich, Ihre für Sie eigentlich viel zu junge, schöne und viel zu nachsichtige Arbeitsvermittlerin, Wanda Wagner, erkennen Sie mich denn immer noch nicht, haben Sie 'nen Balken im Auge? Sie waren doch erst vorige Woche bei mir einbestellt, sozusagen länger zu Besuch gewesen, nicht ohne die vereinbarte Sprechzeit weit über Gebühr durch Ihre durch keine Intervention zu bändigende Gesprächigkeit bis an die Zerreißgrenze auszudehnen. Wissen Sie, seit so vielen Monden unterstütze ich nun schon Ihren unsteten Lebenswandel im Zeichen des sprichwörtlichen Faulpelzträgers, den Sie jetzt hier im wahrsten Sinne des Wortes anscheinend auch noch stolz zu Markte tragen! Ohne zu murren halte ich Sie von allen Maßnahmen und gesetzgeberischen Sanktionen, von jeglichen Unwägbarkeiten fern, steuere taktvoll aus der Ferne den enorm komplizierten amtlichen Schriftverkehr in Ihrem Sinne sanft an Ihrer Akte vorbei, ohne welchen Sie schnurstracks bei Ihren Qualifikationen Ihren Weg zurück in den Schoß der werktätigen Bevölkerung gefunden hätten, - (Frau Wagner schöpft frischen Atem) - da können Sie jetzt auch mal was für mich tun! Wie Sie sehen, bin ich unterwegs am Ostkreuz auf dem Weg zu einer fantastischen Party, zu der ich gleich zwei Eintrittskarten mit mir führe, denn mein kafkaesker Kollege aus der nachrangigen Fachabteilung sieben Stockwerke unter meinem Bürotrakt, mit dem ich gelegentlich und eigentlich jetzt verabredet war, hat mal wieder die Gripp', sagt er, oder gibt mir gegenüber zumindest vor, diese zu haben, aber wahrscheinlich mal wieder nur Ärger mit der Frau zu Hause, naja, das Übliche, nicht weiter dramatisch, Sie verstehen? Jetzt treffe ich ganz unvermittelt Sie hier und, mit Verlaub, meine weiblichen Sympathien begleiten Sie trotz der scheinbar unüberbrückbar scheinenden sozialen Kluft zwischen uns schon lange; in dieser an exzentrischem Beigeschmacke nicht ganz armen Situation möchte ich nun doch höflich insultieren, ohne gänzlich in Sie dringen zu wollen, hätten Sie nicht Lust, sich für den Rest der Nacht an meine grüne Seite zu schwingen? Seien Sie doch auch einmal mein abenteuerlicher Begleiter, wenn ich Sie verwaltungsamtlich schon so lange durchschleuse, lieber Freund - heute Nacht, sage ich Ihnen, liegt die Stadt uns zu Füßen - und die Welt ist unser Garten!" Pjotr (schüchtern, denn er hat schon lange auf die Frau Wagner insgeheim ein Auge geworfen, obschon sie als Mitarbeiterin des Arbeitsamtes eigentlich eher dem gewohnten Feindbild anheim fallen müsste, aber wie der Zufall so will, ist die Welt halt manchmal zu recht derben Scherzen aufgelegt): "Naja, wenn Sie mich schon so herzlich einladen..., komme ich jetzt mal mit. Hat mir schon geschwant, dass hier heute noch Denkwürdiges passiert, ohne dass mir mutmaßlich der Puls merklich in die Höhe gehen wird."

Pjotr fühlt sich an den Traum von der verstrahlten Zone erinnert, der genau besehen erst ein paar Stunden zurück liegt. Es fühlt sich an, als lägen Äonen an verflossener Zeit dazwischen, wenn es denn eine Maßeinheit für sich verflüssigende Zeit gäbe. "Wo findet die Party denn statt oder ist das hier alles schon diese fantastische Fete, von der Sie sprachen?", fragt Pjotr die Frau Wagner unter etwas sardonischem Grimassieren. "Spielen Sie nicht die Grinsekatze, Sie verkrachter Polarbär, Sie", repetiert Frau Wagner in ihrer buchstäblich berlinischen Sprachbeweglichkeit, "schau'n Se doch mal rüber, wohin der Strom der Menschenmassen sich bewegt." Sie weist mit der Hand die Richtung. Als Pjotr sich tapsig dreht, den Kopf hebt und in die gewiesene Richtung blickt, stellt er fest, dass dem Wasserturm am Ostkreuz inzwischen vier Flügel gewachsen sind, die sich munter im warmen Wind drehen, wobei alle Viere behände jeden Augenblick die schimmernde Farbgebung in alle Kontraste wechseln. "Moulin Rouge mitten in Berlin!", entfährt es dem jetzt doch fassungslosen Pjotr. Die mit nostalgischem Flair vollgesogene Energie des Fin de Siècle, getragen von der Majorität der Maskenträger, die sich mittlerweile mit all den anderen Epochen zu einer typischen Varieté-Atmosphäre durchmischt, macht auch vor ’Cabaret' von Bob Fosse nicht Halt. Gerade schlendert Liza Minelli, die Melone um ihren Zeigefinger zwirbelnd, vorüber, natürlich ein Liedchen trällernd wie je ein Berliner Spatz von Welt es täte an ihrer Stelle, Claire Waldoff inbegriffen, und wenn auch gleich die Jungs von der Glatzow-Bande hier auftauchten und das ganze Ostkreuz von der Balustrade der Ringbahn gegenüber herab unter schwirrendes Blei setzten, auch das könnte Pjotrs Puls nicht mehr in die Höhe treiben oder gar Monty Python Ehre machen.

"Lassen Sie uns schnurstracks in dieselbe Richtung gehen wie Junker Wodan & GenossInnen", merkt Wanda beiläufig an, hakt sich gelassen beim Bären ein und beide schlendern ab in Richtung Treppe. Als sie an der Hauptstraße am Wasserturm angelangen, ist die Warteschlange noch recht überschaubar. Im Nu sind sie an der Reihe, erhalten gegen Aushändigen der zum Zutritt berechtigenden Einlasskarten zwei kompakte, seltsam anmutende tornisterähnliche Rucksäcke in signalorangener Farbe, den sich v. a. Pjotr mit einiger Mühe und unter viel Ächzen über die fellige Pelle zieht. Der Herr am Einlass, vielleicht besser: Türsteher, allseits bekannt vom Kino Intimes, weist vorsorglich darauf hin, dass die kurze, grün phosphoreszierende Leine am Tornister frei über die Schultern nach vorne zu baumeln hat nach dem Anlegen, während er Pjotr noch einmal die Schultergurte überaus korrekt, ja penibel nachstellt. Der Sinn der Mühe sei dann später selbsterklärend, nuschelt verschmitzt der Türsteher.

Wie bei einem Leuchtfeuer am Meer hat sich die pickelförmige Haube des Wasserturms auf der dem Ostkreuz zugewandten Seite in eine präzise geschliffene Glaslupe, in ein Objektiv verwandelt. Dahinter entzündet sich im Augenblick ein riesenhaftes Glühleuchtfeuer, die gleichmäßig schwingenden Windmühlenflügel des gedrungenen Turmes fungieren als Malteserkreuzflügel oder Shutter, der magische Film aus dem unerschöpflichen Fundus der Gebrüder Skladanowsky, startet nun und verwandelt den alten Wasserturm in einen gigantischen Projektor, als beherberge er das Arsenal der verwirklichten und unverwirklichten Träume aller lebenden, toten, noch nicht geborenen Bewohner des Stadtbezirks und wirft sie auf eine imaginäre Projektionsfläche in dieser Nacht Allerseelen, welche den Bahnhof in eine infernalische, kollektiv wirkende Kinomaschinerie verwandelt, die Albert E. Hoffman, dem Erfinder etlicher Synthesen und Elixiere im Dienste der Synapsenverschmelzungen, zu aller Ehre gereichen würde. Wanda und Pjotr sind inzwischen in das geheimnisvolle Innere des Wasserturms hineingetreten. Eine spiralförmige Geländertreppe führt in endlos scheinenden Windungen nach oben zu dem gleißenden Licht, das über der ganzen Szenerie schwebt und das Ostkreuz in ein Meer dramatischer Träume taucht. Was erwartet uns drinnen im Turm? Nun, was könnte jetzt noch überraschen? Eng umschlungen von dem spiralförmigen Treppenaufgang strebt als Achse des Turms eine frei schwebende Säule empor, gefüllt mit perlendem Champagner aus besten Lagen, in dem die rasende Menge frei schwebend taucht, surft, schlürft, tanzt, trinkt und sich allmählich auf eine gemeinsame Ekstase zu wälzt, die diese Welt in ihrem gegenwärtig kollektiv geteilten Enthusiasmus selten erlebt hat. Unio mystica ist rar geworden. Wanda und Pjotr tauchen mit einem schnellen Sprung im Stile des geflügelten Götterbotens in die sprudelnde Flüssigkeit ein, lassen sich von der perlenden Musik nach oben tragen, wo sie wieder auf den Hirschmaskenmann aus Biesdorf treffen, welcher bereits einen Grad der Verzückung erreicht zu haben scheint, die jeder nüchternen Beschreibung spottet. Kunststück, der Mensch hat den meisten Gästen 5.000 Jahre an Erfahrung im Feiern ekstatischer Rituale voraus. "Und wenn das Fest zum Sieden kommt, dann sät der Teufel Äschen drein" (zit. n. H. Wittenwiler, Der Ring, Konstanz: ca. 1407). Pjotr und Wanda lassen sich mit all den anderen Tanzwütigen auf einer Welle der Ekstase hin zu einem Kulminationspunkt tragen, der in einer kollektiven Explosion sich Bahn bricht, als der Hirschmann mit seiner von einem imposanten Geweih gekrönten Maske mit dem zuckenden Haupt den gewaltigen Brenner der Projektionslampe durchbricht, so dass sich die geballte Energie wie in einer entkorkten gigantischen Champagnerflasche nach oben hin entlädt. Der Wasserturm speit aus der Sicht einer filmischen Totalen gewaltige Mengen in buntes Licht getauchte, heraus sprudelnde Flüssigkeiten über die vollkommen im Rausch taumelnde Welt der Ostkreuzgäste, im Hintergrund brennt "Treptow in Flammen ab", während die tanzenden Insassen der Orgie im Turm gleich winzigen Pollen der Pusteblume im orgiastischen Sturm in die rauschende Nacht hinauskatapultiert werden - und segeln sanft dann unter ohrenbetäubendem Gejohle, Freudengeheule und wüstem Geschrei friedlich am ausgelösten Fallschirm auf die Wasser der Rummelsburger Bucht und auf die Dächer und Bäume der Stadt herab. Unter sich sehen Wanda und Pjotr eine mit vom Wind geblähten Segeln vorwärts gleitende Viermastbark, die den hell erleuchteten Stralauer Fischzug anführt und gerade klar zur Wende macht, bevor sie an Pauls & Paulas Ufer zu stranden droht. Die Gemeinde feiert ein längst verschollenes Fest aus der historischen Weite des alten Berlins. Gegenüber, am lebenden Arm der Spree ist der Plänterwald hell erleuchtet, dort dreht sich das illuminierte Karussel hurtig im Wind, das renovierte Riesenrad zirkuliert endlich wieder mit johlenden Gästen an Bord, feiern die Dinosaurier fröhliche Urständ, während der Spreepark offenbar gerade endlich seine lang ersehnte, fröhliche Auferstehung feiert.

Und wenn Pjotr und Wanda nicht in der Rummelsburger Bucht oder gar auf der Viermastbark im Zeichen der neptunischen Stralauer Festgemeinde gelandet sind, werden sie als Gäste von der Nixe am Kai und ihrem Vater, dem Wassergeist, bewirtet in dem versunkenen Feen-Palast auf dem Grund des Rummelsburger Sees oder aber sie haben sich bald auf die Liebesinsel gerettet, trinken Schampus aus der Flasche, tanzen, verlustieren und wälzen sich im Rausch zur Musik der orphisch-synthetischen Klänge der Musikteppiche, die vom Ostkreuz herüberwehen, Zeit und Raum durchtränken, noch heute, denn "Paradise is NOT lost", wie es selbst die Zikaden zirpend sagen und die müssen es ja nun wirklich wissen...

Buch 2009a

Zu diesem Buch
Von Rainer Fischer

Träumen und Ostkreuz gehören zusammen, sogar wenn das Träumen nicht ausdrücklich Thema des Wettbewerbs ist, wie vor drei Jahren, wo der Erzähler in Warten auf Maria auf einen disparaten Zeitreisenden trifft: "Ja, ja, das Ostkreuz war schon immer ein Ort für Träume, es inspiriert ungemein, regt die Fantasie an, macht geradezu high."

Mit diesem Literaturwettbewerb nun wurden die Schreibenden ausdrücklich zum Träumen eingeladen. Und was dabei Erstaunliches herausgekommen ist, sehen wir in dem Vorliegenden. In den meisten der hier versammelten Texte nehmen die Träume der Protagonisten ihren Anfang in etwas ganz Alltäglichem. Der Alltag scheint uns unentwegt Sprungbretter in den Weg zu legen, von denen aus wir uns, wenn wir nur beherzt genug sind, in die skurrilsten und buntesten Träume stürzen können.


Von Träumern zu erzählen, heißt auch, von deren Scheitern zu erzählen, das ist offenbar unvermeidlich. Träume fliegen hoch, bunte Seifenblasen, und zerplatzen schließlich an einer kruden, traumfeindlichen Wirklichkeit. Aber Träume werden nicht wertlos oder überflüssig, weil sie der Realität nicht standgehalten haben. Träume sind das was unseren Wünschen eine Richtung gibt. Ohne sie wären wir Lebewesen ohne Transzendenz.

Leute ohne Träume nennen sich Realisten, ein Euphemismus: "Ja, ja, träume nur weiter", sagte die Mutter zu dem Fünfjährigen, der gerade eben sein Berufsziel, Lokomotivführer, verkündet hatte.

Für ein Kind sind Lesen und Träumen dasselbe. Deshalb machte es auch nichts, dass die allermeisten Bücher meiner Kindheit rein gar nichts mit der mich umgebenden Wirklichkeit zu tun hatten. Beim Lesen wurde ich Odysseus, Siegfried, Phillipp Marlowe, Tarzan, Kapitän Nemo und Daniel Düsentrieb und erhielt so, träumend, einen Begriff, eine vage Ahnung davon, was Welt ist.

Die echten Träume, die uns im Schlaf widerfahren, enthalten, so bizarr und aberwitzig ihr Plot auch immer sein mag, diese zwei Grundmuster menschlicher Erfahrung: das vergebliche Ringen um eine Sache bzw. das Geschehenlassen von etwas.

Aber Träume können, wenn sie millionenfach geträumt werden, durchaus die Wirklichkeit verändern. "I have a dream", rief Martin Luther King 1963 in Washington aus. Ein gutes Jahr später war die Rassentrennung in den USA endlich aufgehoben, jedenfalls gesetzlich.

 

Träume, auch Ostkreuzträume, sind stets Zeit- und Ortsverschiebungen. Es gibt vorwärts und rückwärts gewandte Ostkreuzträume. Die vorwärts gewandten sind meistens computergeneriert und voll Verheißungen von Komfort, Bequemlichkeit, Sauberkeit und Effizienz, also all dem, was das alte Ostkreuz nicht hat. Wie es aussieht, werden diese Träume der Architekten, Ingenieure und Planer irgendwann Wirklichkeit. Und es gibt heute schon Leute, die den Verlust ihrer alten Ostkreuzträume, der unvermeidlich ist, beklagen. Bleibt zu hoffen, dass es neue Ostkreuzträume geben wird. Aber das wäre dann ein anderes Buch.

 

Berlin, im November 2009


 

Ilse Treue
Vier Haikus eines Ostkreuzträumers

 

Sommersonne lockt
Fort auf Schienen ins Grüne
Wochenendträume

Hastend im Regen
Fluchend Bahnsteige suchend
Ostkreuz-Albträume

Stahl Glas Aufzüge
Technisch vollendete Pracht
Zukunftstraum Ostkreuz

Ständig eilt der Mensch
Züge rollen pausenlos
Unendliches Lied


Inka Engmann
Wenn ich im Lotto gewinne

 

Drei Männer sitzen auf Werkzeugkisten auf der Großbaustelle Ostkreuz, sie essen ihre Stullen und trinken schwarzen Kaffee dazu.

"Bahnhöfe schick machen, für sowat hamse Jeld!" sinniert Kalle.

"Na sei doch froh, so haste wenigstens Arbeit!" brummt Schulle,

"Wenn ich Geld hätte...", sagt Arne.

"Du nu wieder!" lacht Schulle.

"Wenn ich im Lotto gewinne", fährt Arne unbeirrt fort, "dann kaufe ich mir den Turm da." Er zeigt auf den alten Wasserturm am Ostkreuz.

"Mann, hast du 'n Rad ab", ruft Kalle, "so 'n oller Turm, inne Luft gesprengt jehört der!"

"Ich bau das Dach aus", sagt Arne, "da kommen rundrum Fenster, damit ich in alle Richtungen gucken kann. Und oben drauf kommt 'ne Glaskuppel, da kann ich in den Himmel gucken!"

"Du oller Spinner", grinst Schulle, "Feierabend jehn wa aber zu Rosi, wa?"

Rosi stellt krachend die Biergläser auf den Tisch. "Also, heute jibt's Roulade mit Rotkohl oder Bauernfrühstück, und 'ne Bockwurscht kann ick euch ooch machen. Die Roulade tat ick empfehlen!" sagt sie und guckt Arne an.

"Nee laß mal, ich nehm die Bockwurscht!" sagt der.

Rosi seufzt leise, dann nimmt sie die Bestellungen der anderen auf. Sie hat so einen schönen dicken Busen, fährt es Arne durch den Kopf. Kalle und Schulle ziehen mit kräftigen Ausdrücken über den Polier her. Aber Arne ist das heute irgendwie gleichgültig. Er ißt seine Wurst, dann klopft er auf den Tisch, sagt "bis morgen" und geht.

Zu Hause bereut er, daß er so früh gegangen ist. Immer noch besser, mit Kalle und Schulle in der Kneipe zu sitzen, als hier so ganz... Er wischt den Gedanken fort und zappt sich durchs Fernsehprogramm. Bei der Lotto-Werbung hält er inne: "35 Millionen im Jackpot!" Morgen ist Freitag, da muß er seinen Lottoschein holen. Arne zappt noch ein bißchen, dann schaltet er den Fernseher aus und geht ins Bett. Aber schlafen kann er noch nicht, er denkt an den alten Wasserturm. Aus einem der Dachfenster kann er die Rummelsburger Bucht sehen, da hat er Wasser und was Grünes. Aber eigentlich guckt er lieber zur anderen Seite, aufs Ostkreuz... Dort ist immer was los, immer Leben... Da bin ich nicht so... allein... Da ist es, dieses verdammte Wort, schnellstens will er es wieder wegschieben... Er sieht plötzlich Rosi vor sich... "Jeden Tag 'ne ganze Kneipe voller Männer!" murmelt er ärgerlich und zwingt sich, wieder an den Turm zu denken. Daran, wie er seine Wohnung dort gestalten wird. Darüber schläft er endlich ein.

Vor dem Lottoladen hat er lange in der Schlange gestanden, aber das tut Arnes guter Laune keinen Abbruch. Sein Herz klopft, während er den Lottoschein ausfüllt. Das wird was, das hat er im Blut! Er grinst bei der Vorstellung, wie er Kalle und Schulle in seinem Turmzimmer empfangen wird.

Später, als er in seiner Wohnung sitzt, ist das Hochgefühl wie weggeblasen. Kalle ist heute im Sportverein und Schulle bei seiner Freundin. Ja, Schulle, der macht was her, der ist erst 35... Arne steht auf und schlurft ins Bad. Man müßte vielleicht mal 'ne Kontaktanzeige aufgeben... Er pinkelt, dann blickt er in den Spiegel. Er seufzt. Der Bauch wird immer mehr, dafür die Haare immer weniger... Und überhaupt, mit 47... Er geht in den Flur, zieht sich Schuhe und Jacke an. Aber wohin? Zu Rosi? Ohne Kalle und Schulle? Arne holt sich ein paar Flaschen Bier vom Spätkauf, dann geht er wieder nach Hause und setzt sich vor den Fernseher und trinkt, bis er auf dem Sofa einschläft.

Am Sonnabend ist Arne mit Schwung bei der Arbeit. Er arbeitet gern am Wochenende, da gibt's ja die Zuschläge, und überhaupt... Heute kann er allerdings den Feierabend kaum erwarten, deshalb klotzt er richtig ran, denn so vergeht die Zeit schneller. Doch er hält immer mal wieder inne und schaut auf den alten Wasserturm. "Heute abend!" grinst er.

Abends sitzt er vorm Fernseher und zittert vor Ungeduld: "Können die sich nicht mal beeilen mit ihrer Scheiß-Sportschau, das interessiert doch keine Sau!"

Dann endlich: "Die Ziehung der Lottozahlen!" Arnes Herz klopft zum Zerspringen. Die Kugeln trudeln in dem runden Behälter herum, dann fällt die erste.

"3"

Die hat er schon mal. Die Kugeln trudeln weiter, die zweite fällt.

"17!"

Jau! Auch die 17 hat Arne!

"38!"

Wow, das ist schon mal ein Dreier!

"43!"

Hat er auch! Arne zappelt vor Aufregung ganz wild herum.

"30!"

"32!" schreit Arne. "Ich hab die 32!" Er schmeißt die Fernbedienung krachend gegen die Wand. Aber das reicht nicht, eine unbändige Zerstörungswut überfallt ihn. Raus hier, eh' ich die Bude zerkloppe, denkt Arne. Er rennt auf die Straße und geht los, ohne nachzudenken, wohin. Er läuft und läuft und weiß schon bald nicht mehr, wo er ist, aber das ist ja auch egal.

Einfach weiterlaufen.

Irgendwann kommen ihm die Straßen wieder bekannt vor. Sein Herz klopft auch wieder ruhiger. Dann steht er plötzlich vor Rosis Kneipe. Er geht hinein und setzt sich an einen Tisch. Rosi steht hinter der Bar und guckt ihn mit großen Augen an. Dann strahlt sie. Arne blickt sich um und sieht, daß er der einzige Gast ist. Muß spät sein.

"Du willst wohl Feierabend machen..." sagt er und will aufstehen. Aber sie ist schon an seinem Tisch und stellt ihm ein Bier hin. "Bleib sitzen!" ruft sie. Dann läuft sie zur Tür und schließt zu und läßt die Rollos herunter. Arne sieht ihr mit offenem Mund zu. Schon ist sie wieder an seinem Tisch, und plötzlich liegt sein Kopf an ihrem Busen, und ihre Finger wuschein durch sein Haar. "Dass du's endlich mal merkst..." flüstert sie.

Im ersten Moment weiß Arne nicht, wo er ist, aber dann hört er Rosis ruhige Atemzüge neben sich. Er sieht ihr rundes Gesicht mit den verwuschelten Haaren und muß sich zwicken. Aber nein, es ist kein Traum. Arne streckt sich, steht auf und geht zum Fenster. Er guckt und ruft: "Nee, das ist doch nicht wahr!" Da sind die Schienen, eine S-Bahn zuckelt vorbei. Links das Ostkreuz. Und dort drüben steht der alte Wasserturm.

"Was'n los?" murmelt Rosi verschlafen, "Komm doch wieder ins Bett!"

Arne strahlt und geht zu ihr. "Viel besser!" sagt er. "Viel besser als 'n Lottogewinn!"


 

Peter Grünwald
Aus dem Traumbuch für Ostkreuzler

 

3

El Merlino, so nannte er sich nun einmal, war der wohl populärste Wahrsager am Ostkreuz. Seine Tarotkarten waren S-Bahn-Fahrscheinen nachempfunden, den alten, diesen gelblichen Dingern aus steifem Karton, die noch von Hand, meistens von ehrwürdigen alten Männern in Reichsbahnuniformen, die in tonnenartigen Behältern am Bahnsteigseingang residierten, mit der Zange geknipst wurden. Seine Karte für den Tod war die von einer S-Bahn-Fahrt zwischen Frankfurter Allee und Jannowitzbrücke. Es hieß, El Merlino sei der militante Arme der einstigen Bürgerinitiative  "Rettet die Nordkurve!" gewesen.

 

8

Eine Lizenz, am Ostkreuz Traumsand verkaufen zu dürfen, ist sehr schwer zu bekommen. Es gäbe zu viele Schwindler und Betrüger, sagt das Ordnungsamt, das meiste wären Mogelpackungen: Sand aus alten Getrieben, von Straßenbahnen abgezweigter Bremssand, der Sand alter Eieruhren und so weiter. Über dies wäre der amtliche Traumsandexperte derzeit in ärztlicher Behandlung und nicht einsetzbar. Er habe vor Tagen bei einem betrügerischen Traumsandpapierverkäufer ein Auge zugedrückt, und das wäre ein Fehler gewesen.

 

9

Am Ostkreuz bin ich im Lauf der Zeit mindestens drei Traumfrauen begegnet. Mit einer von ihnen lief es gar nicht gut. Wir waren kaum drei Wochen zusammen, da begrüßte sie mich, wieder am Ostkreuz, mit dem Satz: "Troll dich!" Ich war von der altmodischen Schnittigkeit dieser Aufforderung so fasziniert, dass ich ihr gern nachgekommen wäre. Aber meine Noch-oder-schon-Ex-Freundin sprang in eine S-Bahn in Richtung Friedrichstraße und weg war sie. Wie trollt man sich, so allein, fragte ich mich, so allein auf dem Bahnsteig. Ich wusste es nicht. Also ging ich nach Hause und kam mir dabei wie ein Fliehender vor, wie einer, der sich nur schnöde verdrückt.

 

17

Als Nikolaus, der einbeinige Zar – der mit dem Auge, wohlgemerkt, derselbe, den manche den Einäugigen mit dem Bein nennen, das ist eine Frage des Standpunkts, des Aspekts – auf die Terrasse hinaus geschoben wurde, empfand er das Schweigen der Menge auf dem Schlossplatz als eine gelinde Bedrohung. Aus dem Meer der Köpfe wurde ein Transparent emporgereckt: "Wer das träumt, ist doof!" konnte ich gerade noch entziffern, dann wurden die Demonstranten von den Bütteln des Zaren zu Boden gerissen.

Was war denn das? Ein Schachteltraum? Und diejenigen, die auf der ordensgeschmückten Zarenuniform das Große Ostverdienstkreuz am Band nicht bemerkt haben, werden jetzt wohl noch fragen, was dieser Traum mit dem Ostkreuz zu tun hat!

 

23

Der wohl glückloseste Ostkreuzträumer war Karl-Heinz Schirrnagel oder Gonzo, wie er in seiner Sonntagstraßen-Schnorrerclique genannt wurde. Er stieg, so erzählt man, am Ostkreuz in den Zug, schlief ein, wachte am Ostkreuz wieder auf, meckerte in sich hinein: "Jehtet hier nu ma los oder watt!", schlief wieder ein und so weiter. Schadenfrohe behaupten, Gonzo habe diese Runde insgesamt sieben Mal gemacht, bis es Nacht wurde, und es ihm dämmerte. Ich halte das für übertrieben. Aber sieben gefällt mir. Das hat so etwas Rituelles, Atavistisches. Darüber könnte ich selber zum Träumer werden.

 

29

Eine schon recht alte Nummer von Psychologie heute, die Kurt K. im Wartezimmer eines Zahnarztes durchgeblättert hatte, brachte ihn auf eine Geschäftsidee. Er mietete auf dem Bahnsteig der Stadtbahn, gleich neben dem türkischen Gemüsestand, einen Kiosk, stattete ihn mit einer alten Couch, über die er eine persische Ornamentik imitierte Wolldecke breitete, aus, kaufte sich einen Schreibblock und einen Satz spitzer Bleistifte und hängte ein Schild über die Tür: "Dr. Sigmund Freud, Psychoanalytiker". Die Praxis soll ganz gut gelaufen sein, bis mehr und mehr Besserwisser, Neunmalkluge, Erbsenzähler und Krümelkacker auftauchten, die behaupteten, der echte Sigmund Freud hätte in der Wiener Berggasse praktiziert, und das schon vor hundert Jahren. K., nicht im mindesten geniert, erwiderte "Wassndasfürnscheiß!" und "Glaub ich nicht!" und schaltete auf Stur. Was die Gewerbeaufsicht, die den Laden dann schloss, am meisten erboste, war die Anmaßung eines akademischen Grades. Das Ladenschild hat Kurt dann "für teuer Geld", wie er verschmitzt durchblicken ließ, bei Ebay verhökert. Die Träume von Traumdeutern sind eben eine Sache für sich.

 

31

Neulich landete ein Ostkreuzträumer mitten auf dem nagelneuen Ringbahnsteig. Aus der Traum!


 

Sandra Hübner
Regenkleider

 

Ich sag mal so: ich glaube, wenn ich schreiben könnte, also einer dieser Schriftsteller wäre, würde ich immer und ständig über die Liebe schreiben. Sagen Sie mal, gibt es ein wichtigeres Thema? Ich meine, wenn Sie mal nachdenken: worauf geht alles zurück? Wofür machen Sie sich morgens schön vor dem Spiegel? Na? Ganz einfach: Sie wollen geliebt werden. So ist das. Wofür studieren Sie? Lernen Sie? Wofür brauchen Sie Geld? Denken Sie einmal nach. Es kommt immer auf dasselbe heraus: Sie wollen geliebt werden. Und nun stellen Sie sich das vor: ich werde geliebt. So ist das. Ich habs geschafft. Jawoll.

Ich sehe jetzt nicht so unbedingt aus, als könnte da einer auf die Idee kommen, denken Sie? Wegen der Haare? Der Klamotten? Dem Geruch? Ach, wissen Sie, das hat doch alles gar keine Bedeutung wenn man liebt. Wenn man nur liebt. Wissen Sie? Und vor allem wenn man selbst lieben darf. Mir hat mal einer erzählt, und der musste es wissen, der war studiert, der jedenfalls erzählte mir, dass es nach Prozenten wichtiger ist, selbst zu lieben als geliebt zu werden. Und nun stellen Sie sich vor: ich hab beides. Ich werde. Und ich tue. Was sagen Sie dazu?

Ich sehe Ihnen die Frage fast an: wo haben wir uns kennengelernt, das wollen Sie wissen, ja? Klar, das ist immer die schönste Geschichte. Das Kennenlernen. Der erste Moment. Das Erkennen. Klar. "Und er erkannte sie", ich kenn das alles noch. Bin ja konformiert.

Nun, Sie werden staunen, das war hier. Auf dem ollen Bahnhof, das alte Teil das. Jetzt machen sie ihn schick, ziehn ihm was Schönes an, peppen ihn auf, strahlt er danach wieder und sonst ändert sich nichts. Würde sich bei mir was ändern, wenn mir einer ein neues Kleid anzieht? Wär ich nicht immer noch die alte, dieselbe Erika mit ihren Geschichten, ihren Jahren, den Runzeln, den Bildern im Kopf? Egal. Hauptsache sie lassen uns die Bänke. Hier war das, auf der Bank hier. Es hat geregnet, so wie jetzt gerade, dicke schöne Fäden. Sollte mal einer ein Kleid aus Regenfäden machen, oder was denken Sie? Ich würds anziehen. Echt. Ein Kleid aus Regenfäden für meinen Liebsten. Glitzerkram. Durchsichtig. Stehn die doch drauf, kenn ich doch. Bisschen Romantik, bisschen nackig sein. Fischers Tochter aus dem Märchen. Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Na, ich schweife ab. Also, wie schon gesagt, und Sie wolltens ja wissen, hier wars, auf der alten fetten Bank hier. Gutes Teil, steht schon ewig, wird hoffentlich noch ewig stehen bleiben. Die Bänke sind gut. Neues Kleid für das Ostkreuz hin oder her, die alten Strumpfhalter halten immer noch am besten. Oder nicht? Also, ich saß hier, genau hier, und das mit dem Regen hatte ich ja schon. Und er setzte sich da hin. Eine Weile saßen wir so, ist ja klar, man quatscht ja nicht gleich jeden an, nur weil der sich da hin setzt. Sitzen wir also da. Und dann sagt er: "Paß auf, ich hol uns ein Bier, wenn du die Bank hier warmhälst. Was sagste?" Ich dachte, bankwarmhalten, das kann ich, das kenn ich. Und schenk ihm ein Lächeln, so ein frisches. War ja sonst auch frisch, wegen dem Regen, und war November und alles. Also ich frisch und fruchtig gelächelt und er geht los und ich denke plötzlich, Mensch, der kommt doch nicht wieder. Wegen der Zähne, wissen Sie? Hab da nicht dran gedacht. Die vom Zahnarzt passen nicht. Und den einen hier vorne und den anderen da seitlich hat er stehen lassen, habs nicht verstanden, sagte was von erhalten und provisorisch und so. Die zwei hab ich jetzt noch. Die anderen passen alle nicht.

Jedenfalls sitz ich da und der Schreck sag ich Ihnen, der Schreck, der fährt einmal rein in den Bauch und einmal wieder raus. Und ich denk, der kommt doch nicht wieder, Mensch! Der doch nicht! Wissen Sie, der ist jung. Klar, alt bin ich auch noch nicht. Noch nicht mal fünfzig. Aber der, der ist wirklich jung. So ein Jüngelchen. Nicht mal vierzig. Bestimmt nicht. Und das mir? Und ich grins den da an und denk nicht dabei? Vergess die Zähne, die passen ja nicht. Und mir rumort der Bauch und ich denk, ich habs vermasselt. Und das geht eine zeitlang so. Und mir wird der Hals trocken. Und die Uhren, die sind stehengeblieben, wie mein Herz, und ich denk, der, der kommt doch nicht wieder.

Jedenfalls, er kommt wieder. Setzt sich hin. Gibt mir das Bier. Sagt Prost. Und dann erst mal nichts mehr. Aber Sie kennen das auch, so ist das, man braucht gar nichts mehr sagen. All das Gerede immer. Braucht man nicht. Sitzt man da, guckt in den Regen, trinkt sein Bier, und alles paletti. Und mir ist gleich so, als ob das mehr werden könnte mit dem. Das mit dem Bier, das gibt zu denken, verstehen Sie? Am Ende lädt der mich in seine Wohnung ein, denk ich. Hat vielleicht ne Wohnung, denk ich so. Eine eigene vielleicht. Weiß man ja nicht. Guck mir den so an, vorsichtig natürlich, seine Sachen und so, und beschließe, ja, hat er, der hat eine Wohnung. Der ist sauber. Muß auch einen Wasserhahn haben. Dusche vielleicht sogar. Badewanne. Weiß man ja nicht, wie Wohnungen so ausgestattet sind hier. Ist ja Friedrichshain. Ich hatte hier auch mal was. Aber ohne Badewanne. Und hatte es auch nicht lange.

Wir reden immer noch nichts, wir brauchen das einfach nicht, wissen Sie? Das klappt einfach zwischen uns. Die Bank ist gut. Das Bier ist gut. Die Bahnen fahren ein und aus, spucken ihre Leute aus oder fressen sich gleich an den nächsten satt, und dann ist die eine weg und die andere kommt. Und was soll nach dem ganzen Erneuerungskram da anders sein, frage ich Sie. Das kommt und geht, das klappert mit den Absätzen und klingelt mit den Türen, das blinkt und scheppert, schiebt sich gegenseitig vorwärts, das schimpft, das guckt sich schief von der Seite an und traut sich nicht und das küsst. Vor allem küsst es. Ich habs gesehen. Ist ein Bahnhof der Liebe, das Ostkreuz, das sag ich Ihnen. Ich habs gesehen. Das küsst und küsst, wo Sie hinsehen wird geküsst. Die Tauben, die werden ganz kirre davon. Die Täuberiche gurren was das Zeug hält und machen Knickse und sind halb wahnsinnig im Kopf davon. So ein kleiner Kopf und so ein großer Wahnsinn. Sowas.

Wir jedenfalls, wir fühlen uns wohl. Uns geht’s gut. Wir haben alles was wir wollen. Uns kann keiner. Da können sie gucken, da können sie überlegen, ob sie sich zu uns setzen und es dann sein lassen und die nächste Bank nehmen. Wir wollen sowieso lieber für uns sein. Wär nicht schön, wenn uns da einer stört. Ich hab mir das immer so vorgestellt, dass man so dasitzt, sich liebhat, sich eins ist und mehr brauchs nicht. Viel hab ich davon nicht gehabt bisher. Aber ich hab immer gewusst, Erika, das wird noch, das kommt noch und dafür lohnt es sich. Und dann brauchts dafür diesen verrückten Bahnhof, diese Baustelle, auf der alles neu werden soll und den Täuberichen der kleine Kopf platzt.

Und ich, ich platze auch, vor Freude, dass er mich so nimmt, jetzt, so wie ich jetzt bin. Daß es ihm egal ist, die Haare, die Zähne, die Schuhe und die Klamotten. Ich hab das immer gewusst. Da kommt einer, der sieht dein Inneres, Erika. Der erkennt Dich. Der fragt dann später, wenn ihr bei ihm seid, wo er mit höchster Wahrscheinlichkeit eine Badewanne hat, da fragt er dann, wie das alles so war. Wie das gekommen ist. Mit dem Rudi. Bei dem hab ich die Zähne gelassen. Gut. Haare auch. Aber damals wuchsen sie noch nach, die Haare zumindest. Ich war nicht mal zwanzig. Dann kam Herbert. Herbert war ein Guter, der hatte Arbeit. Zwei Kinder, aber die sind dann weg, ins Heim, weil Herbert, also der trank wirklich zu viel, trotz der Arbeit, und ich hatte zu tun mit ihm. Und wenn ich gar nicht weiter wusste, und dann waren die Kinder ja auch weg, da hab ich mir auch einen genehmigt, auch wegen der Kinder, und dem Ärger mit dem Herbert. Na, und so kamen und gingen sie, wie das so ist. Und ich, ich wusste immer: eines Tages, Erika, eines Tages kommt er. Der Eine. Der kommt. Mußt nur durchhalten.

Einfach ist das nicht. Da klauen sie dir den Schlafsack, und Du würdest mit den Zähnen klappern nachts, wenn Du noch welche hättest. Und dann verkaufst du alles was du hast, und irgendwann hast du nichts mehr als dich selbst. Für was zu Essen und ein Bier reichts. Mensch, ich war manchmal drauf und dran aufzustecken. Stellen Sie sich das mal vor! Dann hätt ich das nicht erlebt, dass er mich doch noch findet. Das gibt’s aber doch, dass man füreinander bestimmt ist, und dann findet man sich auch und dann macht man auch weiter. Züge kommen und gehen, Zeiten, Männer, Kinder, man muß nur dabeibleiben. Immer wieder neu einsteigen. Und aussteigen, ja Mensch, aussteigen muß man auch mal lernen.

Wissen Sie, wir sitzen und trinken unser erstes gemeinsames Bier, als wärs immer schon so gewesen. Und wird’s nun auch immer so sein. Was da alles von mir abfällt, das glauben Sie nicht. Klar, die ganzen Ängste. Wie solls weitergehen? Wohin heute? Wovon morgen? Das fällt alles runter. Plumps macht es. Hört aber keiner sonst. Aber ich. Ich höre es. Und sehe es. Wie der ganze Angstkram da runterplatscht und sich zwischen die Pflastersteine verzieht und weg ist er. Schön ist das.

Und dann denke ich auch ständig an seine Badewanne. Ich denke mir, dass wir am Abend auch gemeinsam in die Badewanne gehen könnten. Obwohl ich mir auch Sorgen mache, natürlich, ob das nicht zu schnell ist. Aber wo wir ja jetzt doch zusammenbleiben werden. Man verlässt sich ja doch nicht mehr, nicht in meinem Alter. Wir werden es gemütlich haben. Er redet nicht drüber, aber ich nehme an, er hat noch einen Ofen zum Heizen. Ich persönlich mag das ja sehr gern. So ein Ofen, das hat doch was. Heizungen, na ich weiß nicht, ich erlebe das immer wieder auf den Ämtern, ich kriege da immer einen trockenen Hals von, das ist nicht gut auf die Dauer. Immer so eine trockene Kehle. Wenn ihm das unangenehm ist mit dem Ofen, dann muß ich ihm das noch sagen, dass ich das aber mag. Ich mag Öfen. Wirklich. Und schön wärs, wenn er eine Waschmaschine hätte. Falls nicht, dann gehen wir zusammen ins Waschcenter, da hab ich öfter geschlafen, da ist es meistens ganz schön. Ja, da gehen wir zusammen hin. Sitzen davor, auf einer Bank, in der Boxhagener, kennen Sie das? Da gibt’s eine kleine weiße Bank davor, da können wir sitzen. Gucken uns die Straße an und warten bis die Wäsche fertig ist. Falls er keine Waschmaschine hat. Da steht die Sonne auch immer drauf, auf der Bank. Also wir sitzen da und machen die Augen zu und drinnen wäscht das Bettzeug. Und das ist es doch. Dasitzen und warten aufs Bettzeug.

Wissen Sie, das sind alles diese Kleinigkeiten, nicht wahr? Das machts doch aus, dieser Kleinkram. Ich hab immer gewusst, dass das noch kommt. Wirklich. Und manchmal hab ich gedacht, ich schaffs nicht mehr bis dahin. Aber wissen Sie, was die Italiener sagen? Die sagen, man muß immer sein Herz auf der offenen Hand vor sich hertragen, egal wie oft es einem schon zerknautscht wurde. Und das denke ich auch, als er da neben mir sitzt. Und ich hab es in der Hand. Es liegt da. Auf meiner Hand.


 

Guido Woller
ER

 

Ich laufe schnell,
mein Herz schlägt stumm,
am Wasserturm vorbei.
Ich muss sie schaffen,
die nächste Bahn-
ich fühl´ mich leer und frei.

Nun bin ich da,
schau´ auf die Uhr,
die Bahn kommt kurz vor zehn.
Ich hab noch Zeit und setze mich,
meine Gedanken dreh´ n.

Ich träum von ihm, von seiner Haut,
die weicher ist als Seide,
von seinem Bauch,
von seinen Augen.
Ich fühle, wie ich leide.

In jeder Nacht, in der ich spür´,
er liegt an meiner Seite
und glücklich bin - mehr als verliebt!,
ich seinen Puls begleite.

Schon wenn er lacht und traurig schmollt,
zerfließe ich zu süßem Wein.
Würd´ er mich schlagen, treten, quäl´ n,
göss´ ich ihm davon machtlos ein.

Wenn ich ihn rieche, atme, schmecke,
fahr´n meine Sinne Achterbahn.
Wenn ich aus Liebe fast verrecke,
schenk´ ich ihm meinen Lebensplan.

Amor hat sein Werk vollbracht,
der Pfeil ging voll ins Herz.
Vielleicht war es auch Belzebub,
identisch pocht der Schmerz.

Dies´ hört sich alles kitschig an,
vielleicht auch triefend schmalzig,
doch ist er nun einmal für mich
besonders drogenhaltig.

Jetzt kommt die Bahn, die zu ihm fährt,
die Zeit rückt immer näher,
dass ich ihn seh´ zum letzten Mal.
Ich weiß, es ist kein Fehler.

Nur eines wünsch´ ich mir von ihm,
um diese Phase zu beenden,
dass er mir gibt zurück mein Herz
aus seinen zarten, blassen Händen.

Mein nächstes Leben ohne ihn
Wird Morgen, Tag und Abend haben,
doch Nächte in denen Sonne schien,
muss ich zu Grabe tragen.


 

Josef Ludwig
Zerrissene Träume

 

Meine tiefsten Kindheitserinnerungen sind mit dem Krieg verbunden. Sie liegen deshalb weit zurück.

Es war im vorletzten Kriegsjahr. Ich lag in einer Kinderklinik, nur wenige Kilometer von der großen Stadt entfernt. Immer häufiger heulten die Sirenen, man hörte die Detonationen der Bomben und das Bellen der Flak. Auch die Evakuierungen nahmen zu, aus Sicherheitsgründen, wie man uns sagte. Das alles und so manches andere machte ängstlich und ließ das Heimweh immer stärker werden.

Aber es wurde auch Frühling, obwohl das mit dem militärischen Getöse in größtem Widerspruch stand. Doch die Vögel sangen und ein warmer duftiger Hauch strömte in den Raum und durchzog ihn mit milder Frische. Das schönste aber war eine gewaltige Kastanie. Sie stand unweit meines Fensters und leuchtete in voller Pracht, als seien zehntausende von Kerzen zu ihrem Schmucke angezündet.

Das Krankenhaus war überbelegt. Und obwohl es eigentlich eine Kinderklinik war, lagen hier auch viele Soldaten; dicht gedrängt füllten sie vor allem die Flure. Einer der meist jungen Verwundeten hatte sein Bett gleich am Eingang zu meinem Zimmer. Mit ihm konnte ich mich des öftern unterhalten. Nicht selten sah ich Tränen in seinen Augen. Und ich fragte: "Klaus, hast du Schmerzen?" gerührt gab er Antwort, kindesgemäß, ich zählte ja erst fünf Jahre: Zu Hause hatte ich ein Vögelchen, klug, lustig und bunt. Ich liebte es so sehr. An einem Morgen aber war mein Mäxchen nicht mehr da. Die Mutter tröstete mich; es ist weggeflogen, sagt sie, und wohnt nun wieder hoch oben in seinem schönen warmen Nest. Sei nicht traurig, es wollte halt wieder zu den Eltern zurück.

Eines Tages lag ein anderer Soldat im Bett nah meiner Tür. Die Schwester sagte mir, Klaus wäre nun wieder bei der Mutter daheim, wie er das stets auch wollte. Ich verstand die Antwort, zumindest ahnte ich ihren Sinn.

Nachts quälten mich schreckliche Träume, es war wohl die Trauer um Klaus. Die vielen bunten Schmetterlinge, mit denen mein Zimmer ausgemalt war, flogen dann weg, durch Türen und Fenster hinaus zum Licht. Hässliche rote Flecken blieben zurück. Schon des Abends begann ich zu zittern, aus Furcht vor dem Blut, das ich im Schlafe dann sah.

***

Wieder ist Frühling, von ganzem Herzen nehmen wir ihn auf. Nichts stört, die schrecklichen alten Bilder sind verschwunden, seit Jahrzehnten schon.

Aber sind sie das wirklich? Ist nicht fernes Grummeln zu hören, einem nahenden Gewitter gleich? Umzuckt uns nicht gespenstisches Wetterleuchten? So mancher fragt darum furchtsam-ahnungsvoll: Soll Klaus denn etwa auferstehen, um noch einmal zu sterben?


 

Katharina Triebe
Rundum glücklich

 

Brauschke rieb sich die Hände. Das war doch mal eine Geschäftsidee, die Sache mit den Träumen. Gekommen war sie ihm neulich, als er lange am Ostkreuz auf seine Anschlussbahn warten musste. Nachdem durch den Lautsprecher durchgesagt worden war, dass die Ringbahn witterungsbedingt zwanzig Minuten Verspätung hätte, war er über den Bahnsteig E geschlendert und hatte dort die diversen Kiosk-Angebote inspiziert. Für Leib und Seele war gesorgt, davon konnte er sich schnell überzeugen. Bratwurst, Bockwurst, Obst und Gemüse prangten in den Auslagen. Zeitungen und Zeitschriften lockten mit Riesenschlagzeilen. Brauschke aber war satt und zum Lesen war es zu dunkel. Er sehnte sich nach etwas Kurzweiligem, Spannendem, einem besonderen Zeitvertreib während der zwanzigminütige Wartezeit. Nur was das genau sein sollte, wusste er nicht. In Gedanken stellte er sich vor, was er verkaufen würde, um Leute anzulocken. Er geriet ins Träumen – und plötzlich kam ihm die Idee. "Träumen" war das Zauberwort – er könnte Träume verkaufen – an einem eigenen Stand auf dem Bahnsteig E. Genau das war es, was dem Bahnhof Ostkreuz fehlte, das Innovative, Durchgeknallte, das Mystische, Geheimnisvolle. Und er, Brauschke, hatte soeben diese Marktlücke entdeckt. Da passte es auch wunderbar, dass sein Ein-Euro-Job gerade auslief; er also genügend Zeit für Neues hatte.

Am nächsten Tag ging es los. Gemeinsam mit seiner Frau Roswitha brachte er den alten Klapptisch aus dem Schrebergarten wieder auf Vordermann und besorgte sich Tüten und feuchte Tücher aus einem der zahlreichen Billigmärkte. Die Gattin besprühte die Tücher mit geheimnisvollen Düften aus ihrem Parfümschrank und beschriftete sie sorgfältig. Brauschke beschloss, erst einmal drei Sorten anzubieten: Träume von einem Lottogewinn, Träume von einer schönen Frau und Träume vom Chefposten. Roswitha erwies sich als wahre Perle, sie etikettierte die Tüten so liebevoll, dass sie schließlich sowohl hand made als auch professionell wirkten. Ein Label hatten sie sich auch ausgedacht: "Brauschkes Traumfabrik" sollte ihr Miniunternehmen heißen.

Brauschke besorgte sich eine Standgenehmigung und baute am Montag Morgen seinen Klapptisch auf Bahnsteig E auf. Das Firmenschild hing als Tuch vor dem Tisch, die Tüten waren ordentlich und übersichtlich platziert. Der frisch gebackene Businessman spürte ein unbestimmtes Kribbeln im Bauch. Würde seine Geschäftsidee einschlagen oder stand ihm eine Blamage bevor? Vielleicht fanden die Leute seine Idee ja albern? Doch schnell verdrängte er die Zweifel, schließlich hatte er nichts zu verlieren.

Mittags hielt es Roswitha, die daheim geblieben war, vor Neugierde nicht mehr aus. Würde ihr Bruno resigniert und einsam an seinem Klapptisch stehen? Frieren und insgeheim über seine verrückte Idee fluchen? Wer kaufte schon Träume? Just in diesem Moment klingelte es. Bruno stand draußen mit strahlendem Gesicht. "Roswitha, wir machen Karriere! Ich habe alle Träume verkauft und brauche allerdringlichst Nachschub!" Begeistert erzählte er, dass die Leute erst zögerlich, dann immer häufiger an seinem Klapptisch stehen geblieben waren und zum Schluss hatte sich sogar eine kleine Schlange von immerhin zwei Personen gebildet! Wie gut, dass es bei der S-Bahn ständig Verspätungen gab, dadurch hatten die Fahrgäste viel Zeit. Ungestüm umarmte er seine Roswitha und drehte mit ihr eine Runde Polka durch die Küche, was wahrlich schon lange nicht mehr vorgekommen war.

Nun starteten sie richtig durch. Brauschke besorgte sich einen stattlichen Vorrat an Traumtüten und erweiterte auch sein Sortiment. Auf die Idee hatten ihn seine Kunden gebracht, die nach den verrücktesten Träumen fragten. So bot er jetzt auch "Träume von einer Kreuzfahrt", "Träume vom Auswandern", "Träume von einer flinken Sekretärin" und "Träume von einer eisernen Gesundheit" an. Besonders gut lief auch das Sortiment "Albträume", was er gerne als Geschenkidee für Schwiegermütter anpries. Gerade zu Weihnachten entpuppte sich diese Traumrichtung als echter Renner. Eine Variante hatte er allerdings wieder vom Markt nehmen müssen, das waren die "Träume von einem fülligen Haarwuchs". Hier hatte er nach dem Verkauf zweimal Beschwerden erhalten, dass die Träume nichts helfen würden. Trotz seiner Erklärung, dass er ja kein Haarwuchsmittel, sondern nur den Traum davon verkaufe, waren die Kunden unzufrieden davongegangen. Sein Konzept sollte aber ein voller Erfolg sein und da er kein Risiko eingehen wollte, nahm der die Träume von einem fülligen Haarwuchs seufzend wieder aus seinem Angebot.

Auch äußerlich hatte sich der Stand von Brauschkes Traumfabrik erheblich verändert. Der Klapptisch war wieder in den Schrebergarten verbannt worden; ihn hatte er gegen einen Kiosk ausgewechselt. Das Logo prangte professionell auf dem Dach des Kiosks, fand sich aber auch auf den Traumtüten wieder, die Brauschke inzwischen von einer Agentur drucken ließ. Er selbst hatte die Freizeitjeans gegen eine schicke Bundfaltenhose eingetauscht, das Baumwollnicki gegen ein Marken-T-Shirt mit Logo "Brauschkes Traumfabrik", ebenfalls von der Agentur hergestellt und passendem Basecap. Seine Roswitha hatte inzwischen ihren 400-Euro-Job bei Kaiser's aufgegeben und ging ihm vollzeit zur Hand. Anders war der Andrang auch gar nicht zu meistern. "Brauschkes Traumfabrik" war zu einem Markennamen geworden, es hatte sich herumgesprochen, dass hier am Ostkreuz etwas Besonderes angeboten wurde, sowohl durch Mundpropaganda als auch durch Brunos wöchentliche Inserate in der Berliner Woche und im Berliner Abendblatt. Brauschke genoss seinen Triumph. Immer wieder kamen Fahrgäste zu ihm und erzählten, dass ein Traum, den sie bei ihm gekauft hatten, in Erfüllung gegangen sei. Einer hatte tatsächlich im Lotto gewonnen und ein anderer endlich die Sekretärin mit Rundumbetreuung gefunden. So etwas hörte er nicht nur gerne, er nahm es auch gleich in seine Werbung für die nächsten Traumtüten mit auf.

Nach einem Jahr war Brauschke als Geschäftsmann ganz oben angekommen. Doch nicht nur das, er hatte auch eine gewisse Summe Erspartes beiseite gelegt, denn auch er besaß einen Traum - endlich einmal mit Roswitha auf dem Luxusliner Aida einschiffen. Nun hatten sie fest gebucht, Oberdeck mit Außenkabine, das war drin im Budget. Für zwei Wochen würde der Kiosk auf Bahnsteig E am Ostkreuz verwaist bleiben.

Brauschkes genossen die Kreuzfahrt in vollen Zügen. Wie schön doch das Leben war! Nur manchmal dachte Bruno etwas zu häufig an die Arbeit, wie Roswitha fand. Eines Abends saßen sie auf dem Oberdeck in ihren Liegestühlen, fürsorglich in dicke Wolldecken gehüllt und blickten in den Sternenhimmel. Bruno tastete nach Roswithas Hand. "Weißt Du, wenn wir wieder zuhause sind, sollten wir unser Geschäft mit den Träumen expandieren. Wir könnten Filialen gründen und Leute einstellen." Als er das skeptische Gesicht seiner Frau sah, fügte er beschwichtigend hinzu:"Vielleicht müsstest Du dann gar nicht mehr arbeiten, bleibst zuhause, ich verdiene ja genug." Sie strahlte. Ja, das wäre nach ihrem Geschmack, der Verkaufsstress war ihr ehrlich gesagt schon längere Zeit etwas unheimlich geworden. Eifrig stimmte sie zu und bot ihrerseits an: "Vielleicht könntest Du dir dann ein eigenes Büro einrichten und den Außendienst Deinen Angestellten überlassen?" Geschmeichelt nickte der Gatte. "Ja, das will gut überlegt sein. Warum eigentlich nicht?" Auch über Preiserhöhungen würde er nachdenken. Und über einen Buchhalter, der die Schreibarbeit übernehmen könnte. Sie genossen die Zukunftsträumerei und waren rundum glücklich.

An einem Sonntag legte die Aida in Rostock an und die Reise war beendet. Brauschkes eilten mit den Koffern auf den Bahnhof, um auf ihren ICE zu warten, der sie nach Berlin bringen würde. Plötzlich stockten ihre Schritte. Auf dem Bahnhof stand ein Kiosk mit einem Schild: "Käpt'n Brises Traumfabrik". Misstrauisch näherten sie sich und glaubten, ihren Augen nicht trauen zu können. Das Angebot ähnelte dem von Brauschke wie aufs Haar. Nur die Verpackung war anders, die Träume waren in Dosen verpackt. Auch der Preis lag 13 Cent unter dem von Brauschke. Erschüttert schauten sie auf den Ladentisch. Auf der Rückfahrt war Bruno wie vor den Kopf geschlagen. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Am Berliner Hauptbahnhof stand ebenfalls ein Kiosk "Träumen Sie sich gesund – Bio-Träume von Pflanzenkuno". Während der S-Bahnfahrt entdeckten sie auf fast jedem Bahnhof solche Kioske. Man kann sich gut vorstellen, wie Brauschkes zumute war. Mit hängenden Köpfen zogen sie ihre Rollkoffer hinter sich her. Am Ostkreuz schließlich der letzte Schlag. Auf Bahnsteig A stand ebenfalls ein solcher Kiosk.. Der Verkäufer sah ihre sauren Gesichter und rief ihnen zu: "Wie wäre es mit dem Traum vom Glück? Heute im Schnäppchenangebot! Sieht aus, als könnten Sie es gebrauchen!" Roswitha traten die Tränen in die Augen. Stumm drehte sie sich weg und stolperte davon. Bruno war schon ein ganzes Stück vor ihr. Sein Rücken gebeugt, die Schultern hängend. Ein elender Anblick. Der Traum von der Marktlücke war ausgeträumt.


 

Holger Hermann
Löwes Land

 

Es war an einem betongrauen Sonntagmorgen, als ich neun Jahre alt war. Über ganz Stralau lag kirschblütenweißer Schnee. Nicht nur die Halbinsel, sondern auch die ganze dazugehörende Bucht war mit dem gegenüberliegenden Rumelsburger Festland zusammen gefroren. Bis heute war es der einzig wirklich klirrend kalte lange Winter, den ich je in der Stadt erlebt habe. Die Stromversorgung brach teilweise zusammen. Züge fuhren nicht mehr, Betriebe stellten ihre Produktion ein und selbst die Kohlen zum Heizen meiner Schule gingen aus, weil die Braunkohletagebaue einfach eingefroren waren.

Damals wäre ich beinahe ins Eis eingebrochen. Ich bin dem Einbruch knapp entgangen, doch dafür zerbrach vieles in mir, von dem, was mir wichtig war.Es vergingen Jahre, bis ich mich von diesem Morgen erholt hatte. Jahre, die ich für immer verloren habe.

Meine ganze Kindheit habe ich auf dieser Halbinsel verbracht. Zu jener Zeit war es nicht, wie heute, ein neues begehrtes Wohnviertel an der Spree, mit breiten gut gesicherten Uferwegen, sondern eine verlebte Industriegegend mitten in der Stadt. Nur wenige Bewohner lebten, verstreut zwischen alten Fabriken und Hafenanlagen auf ihr.

Obwohl der belebte Bahnhof Ostkreuz nur einen Steinwurf entfernt lag, war die Gegend sehr abgeschieden. Es war, als würde eine unsichtbare Mauer sie von der übrigen Stadt trennen. Als Kind waren es nur die Geräusche der Stadt, des Plänterwalds, der Ausflugsschiffe, der Züge, die mich davor abhielten, nicht gänzlich zu glauben, mich in einem verlassenen Dorf zu befinden.

Die Wohnung meiner Eltern befand sich in einem langsam verfallenen Gründerzeithaus in der einzigen reinen Wohnstraße der Halbinsel. Der Blick aus dem Fenster meines Kinderzimmers, welches nach hinten raus ging, fiel auf einen schmalen kalten Hof. Hohe Mauern nahmen jede weitere Sicht. Auch die kleine trostlose Wohnstrasse endete nicht am Wasser, sondern an der Mauer eines alten Glaswerkes. Überhaupt gab es nur sehr wenige Stellen, an den man zum Wasser gelangen konnte. Die Kinder und Erwachsenen der Strasse benutzten deshalb, wenn in der Glasfabrik nicht gearbeitet wurde, einen alten Schleichweg entlang des schlecht gesicherten Werksgeländes zum Ufer der Bucht.

Mein bester Freund, Löwe, wohnte im Haus gegenüber. Eigentlich hieß er Richard, aber alle nannten ihn Löwe. Er war ein schmächtiges, aber ungemein liebenswürdiges Kind mit blonder Wuschelmähne und beinahe mädchenhaften Gesichtszügen. Löwe ging auf eine Musikschule, und ich besuchte ihn oft, um mit ihm zu spielen. Vor allem aber um ihn auf dem Klavier zu hören. Es freute mich regelrecht, dass, wenn wir uns sahen, er immer erst noch eine Weile üben musste. Ich saß dann in einem alten Ledersessel neben dem schwarzen Klavier und lauschte seinem immer besser werdenden Spiel.

Im Gegensatz zu ihm und zu den anderen Kindern war ich für mein Alter ungewöhnlich groß und robust. Fünf mal die Woche ging ich zum Schwimmen. Ab nächstes Schuljahr sollte ich auf ein bekanntes Sportinternat gehen.

In den Zeitungen und im Radio wurde wie immer, wenn sich das erste Eis gebildet hat, davor gewarnt, es zu betreten. Ebenso hatten die Lehrer in der Schule und meine besorgten Eltern mich über die Gefahren belehrt. Für mich wiederum war es jedes Jahr das Signal, mich heimlich auf den Weg zur Bucht zu machen. Die ganze Woche über hatte ich den Sonntag ersehnt. Meine Eltern schliefen dann immer lange. Kaum war es hell geworden, machte ich mich auf den verbotenen Trampelpfad über das alte Glaswerk auf.

Löwe war auch schon auf und kam ebenfalls nach draußen. Obwohl wir die ganze Woche über nichts anderes geredet hatten, fragte er ernsthaft. "Wo willst du hin?" "Ich will zur Bucht", sagte ich ebenso feierlich. "Vielleicht ist sie schon zugefroren, und man kann über das Eis bis zur anderen Uferseite laufen." Freudig schloss er sich mir an. Schnell liefen wir über das Fabrikgelände ohne uns wie sonst mit den unzähligen leeren Glasflaschen und verfallenen Industriegebäuden zu beschäftigten. Wir setzten uns auf die alte Kaimauer und betrachteten schweigend die unberührte Bucht. Der Winter mit seiner majestätischen Ruhe prägte die Landschaft. Soweit wir sehen konnten, war Eis, sanft überzogen mit einer frischen Decke Schnee. Lachend rief Löwe: "Wir sind die Entdecker dieses unbewohnten Landes". Spöttisch rief ich: "Ja, bis der Frühling es wieder klaut, heißt es: Löwes Land". In der Mitte des Eises lag ein schwarzer Punkt, der unsere Aufmerksamkeit erweckte.

Vorsichtig tasteten wir uns auf das Eis. Es trug uns, und wir wagten uns immer ausgelassener weiter vorwärts. Rasch kamen wir dem schwarzen Punkt näher. Dazwischen entdeckten wir unzählige eingefrorene Glasflaschen, Möbelstücke, Autoreifen. Häufig versuchten wir vergebens einiges davon aus dem Eis heraus zu brechen. Der schwarze Punkt entpuppte er sich aus der Nähe als eine große schwarze Holzkiste. Wahrscheinlich stammte sie aus einer der Fabriken und war irgendwann ins Wasser gefallen und wieder hochgekommen. Vor der Kiste stehend, entdeckte ich um sie herum feine Risse im Eis. "Lass uns lieber verschwinden", sagte ich zu Löwe. Aber er schien mich nicht mehr zu hören. Er wollte nur noch die Kiste öffnen. Mein Versuch, ihn von der Kiste wegzuziehen, stachelte ihn umso mehr an. "Lass mich", rief er wütend. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, wollte er etwas ganz alleine bewältigen. Beleidigt ging ich ein Stück in Richtung Ufer zurück.

Enttäuscht rief seine Stimme einen Augenblick später, als er den Deckel der Kiste endlich aufbekommen hatte: "Ist leer". "Löwe, das Eis bricht, komm jetzt". Die Risse dehnten sich unmerklich. Aus früheren Beobachtungen wusste ich, das Eis würde gleich brechen. Einer Eingebung folgend, drehte ich mich und lief los. Im gleichen Moment zerbrach das Eis um Löwe tatsächlich. Kurz vor dem Brechen des Eises hörte ich noch ein anderes Geräusch, welches als Flüstern begann und schließlich sich wie das Zerreißen von Papier anhörte. Ich blieb stehen und schaute nach hinten. Das Wasser kam gleichzeitig, ein gurgelndes Geräusch produzierend, von überall hervor. Löwe starrte fassungslos auf seine blitzschnell im Wasser versinkenden Füße. Erst sein endgültiges Einbrechen erweckte ihn aus seiner Erstarrung. Als er anfangen wollte, weg zu rennen, war es schon zu spät. Die Kiste versank laut krachend und nahm Löwe mit unter das Eis. Löwe war verschwunden. Verzweifelt wollte ich zu ihm zurücklaufen und ihn aus dem Wasser zerren. Aber als ich in seine Richtung lief, schnitten mir meine Angst und das immer weiter aufbrechende Eis nach ein paar Schritten den Weg ab. Noch einmal tauchte er kurz auf und versank wieder unter das Eis. Weder schrie er dabei um Hilfe, noch versuchte er zu schwimmen oder sich an ein Stück Eis zu klammern. War er bewusstlos? Er sah mich nur kurz fragend an, dann sackte sein Kopf nach vorne, als würde er mich nicht mehr ansehen wollen. Wie erstarrt, unfähig mich zu bewegen, stand ich da. Ich spürte, wie sich in mir etwas verhärtete. Dann war es plötzlich ganz still, so als hätte jemand einfach den Ton ausgemacht. "Hilfe, Hilfe", brach es verzweifelt aus mir heraus, als meine Stimme wieder einsetzte. Kläglich füllte sie den leeren Raum, und ich rannte kopflos in Richtung Ufer. Zwei Männer und ein Hund kamen mir entgegen. Sie hatten anscheinend alles beobachtet und rannten zu Löwe. Kaum waren sie an mir vorbei gelaufen, fiel ich hin und verlor mein Bewusststein.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem Zimmer im Krankenhaus.

Zwei Tage hatte ich geschlafen und hohes Fieber gehabt. Die beiden Männer hatten Löwe nicht mehr retten können. Als sie ihn aus dem Wasser zogen, war er schon tot. Die Kiste hatte sein Genick zerbrochen.

Löwes Eltern verzweifelten in ihrer Trauer und zogen nach seiner Beerdigung fort. In den wenigen Gesprächen bis zu Ihrem Weggang warfen sie mir jedoch nie vor, dass ich ihn mit zur Bucht genommen hatte und nicht gerettet hatte. Sie sagten, dass ich Löwe wie einen Bruder geliebt hätte. Auch meine Eltern sprachen nie wieder darüber. Aber meine Seele hielt mich für schuldig. Sie wusste, dass ich Löwe hätte retten können. Kurz bevor das Eis brach, hätte ich es noch schaffen können, ihn wegzuziehen.

Aber meine Angst hatte mich überwältigt, und ich hatte nur mich alleine gerettet. Damit begannen meine Alpträume, und bald zogen auch wir von der Bucht weg. Gegen meine Alpträume half der Umzug wenig. In meinen Träumen sah ich Löwe. Fragend sah er mich an, um dann sich, für mich schämend, den Kopf nach unten zu senken, hinab in sein eisiges Grab. Ich hörte auf mit Schwimmen. Viele Jahre ging ich überhaupt nicht an einen See, auf ein Schiff oder in ein Schwimmbad. Später wurde ich Buchhalter. Zwar hatte ich Freundinnen, blieb aber bei keiner länger. Ich konnte nicht mit ihnen zusammenleben. In fast jeder Nacht dieser Jahre kamen Schuldgefühle und Alpträume unerbittlich zurück und bestimmten auch am Tage mein Leben.

Dann erhielt ich eines Samstagmorgens ein Paket von einem Nachlassverwalter mit einer alten Schallplatte. Löwes Mutter, von der ich seit seiner Beerdigung nie wieder etwas gehört hatte, war wie ihr Mann ein Jahr zuvor, gestorben. Sie hatte mir nur die Platte vermacht. Die Aufnahme war von Löwes Kinderorchester eingespielt. Löwe spielte bei mehreren Liedern am Klavier. Es war sogar ein Solostück, die "Ballade Pour Adeline", nur von ihm alleine gespielt, darauf. Während unserer Kinderzeit war sie durch die Version von Richard Clayderman sehr populär. Tag um Tag hörte ich immer wieder Löwes Interpretation an, und irgendwann begann sich in mir etwas zu lösen. Vor mir erschien Löwes treuherziges kindliches Gesicht. Eine innere Stimme sagte mir: "Geh zur Bucht zurück".

Ein paar Wochen später zog ich in eine kleine Wohnung in meiner alten Strasse. Ich hätte mir nie vorstellen können, wie die Gegend sich seit damals verändern würde. Die Fabriken und auch das Glaswerk sind bis auf ein paar vereinzelte Häuser abgerissen. Der Blick ist dadurch aus den Zimmern meiner Wohnung frei und man kann jederzeit zum Wasser gehen. Den Bahnhof kann man nun auch sehen und nicht nur hören. Die Halbinsel ist wieder Teil der Stadt.

Von meinem Wohnzimmerfenster aus kann ich wie früher auf Löwes inzwischen saniertes Wohnhaus sehen. Dort wohnen jetzt hauptsächlich junge Familien mit Kindern. Fast jeden Morgen gehe ich auf den Uferweg in die neue große Schwimmhalle schwimmen. Manchmal im Winter, wenn die Bucht zugefroren ist, bleibe ich stehen und sehe dann für einen kurzen Augenblick "Löwes Land" zurückkehren.

Meine Alpträume sind verschwunden und in den Nächten finde ich wieder Schlaf. Ich weiß, mein Leben neigt sich und ich werde vieles, was ich versäumt habe, nicht mehr nachholen können. Aber ich bin glücklich, nicht weiter von meinen Alpträumen gequält zu werden. Löwes Klavierspiel und die Zeit haben mich geheilt.


 

Siegfried Matzka
Träumen am und über den S-Bahnhof Ostkreuz

 

Der S-Bahnhof Ostkreuz, der gewiß größte und bedeutendste, wie wohl auch der älteste Knotenpunkt der Berliner S-Bahn, besitzt schon eine lange und turbulente Geschichte. Ohne die S-Bahn wäre ein städtisches pulsierendes Leben in dieser Riesenstadt Berlin nicht möglich. Dieser bunten Ansammlung von vielen Dörfern und Gemeinden, kleinen Städten und Ortschaften, rund um die eigentliche, fast noch mittelalterliche Residenzstadt Berlin, die alle schon in der Gründerzeit des 19.Jahrhunderts mehr und mehr und zunehmend in rasantem Tempo zueinander zusammenwuchsen, und Berlin selbst die erste Millionenstadt des Deutschen Reiches wurde, und die dann 1920 mit dem Zusammenschluß dieses ganzen Sammelsuriums umliegender brandenburgischer, damals sagte man eher "märkischer", Ortschaften mit Berlin zur Riesenstadt Groß-Berlin wurde und einen weiteren bedeutenden Wachstumsschub erlebte. Ohne diese S-Bahn, wie sollte das gehen?

Und mit dem Bau der Ringbahn bekam das Ostkreuz eine herausragende Bedeutung als Umsteigebahnhof für die Ringbahn, die Stadtbahn und die Außenstrecken zu den Berliner Vororten.

Aber das Ostkreuz war vor allem nach dem 2.Weltkrieg immer ein Provisorium gewesen, nach den Zerstörungen durch die Bomber der Alliierten, wie auch durch die Artillerie und die Kampfhandlungen der unaufhaltsam heranrückenden Roten Armee, gegen Ende des Krieges, aus dem Osten und Südosten des Umlandes. Was davon übrig blieb, fiel weitgehend den Demontagen durch die Besatzungsmacht zum Opfer, beispielsweise die komplette S-Bahnstrecke nach Erkner.

Aber schon bald nach dem Ende der Naziherrschaft begann die Wiederherstellung des S-Bahnnetzes. Die auch für die Siegermächte so bittere, weil so schwer erkämpfte und verlustreich erzwungene bedingungslose militärische Kapitulation der faschistischen Wehrmacht ließ alle Optionen für das besiegte Deutschland offen. Bedingungslos - ein sehr bedeutungsvoller Begriff, schicksalsschwer, ungemein bedrohlich! Aber was nützt dem Sieger eine völlig zerstörte, entvölkerte, ausgehungerte, funktionslose Stadt? Also war es sinnvoll, diese Riesenstadt wieder aufzurichten, die Zerstörungen schnellstmöglich zu beseitigen, den Wiederaufbau voranzutreiben, die Lebensgrundlagen dieser Stadt wieder herzustellen und den Berlinern eine neue Zukunft zu bieten. Und dazu gehörte nicht unwesentlich die Wiederherstellung des städtischen öffentlichen Nahverkehrs.

Die Träumer vom Ostkreuz - das betrifft wohl im besonderen Maße die Älteren von uns, die mit diesem Bahnhof so viele Erinnerungen verbinden. Träumen heißt ja auch sich erinnern, wie es mal war, was alles stattgefunden hat, wo man dabei gewesen ist, aber auch, was in der Gegenwart ist, was werden kann und sollte, wie auch, was entstehen wird. Also, beispielsweise die Wiederherstellung der Südkurve, deren Brücke über den Markgrafendamm zerbombt war. Über jene Straße, die an ihrem nördlichen Ende mit ihrer starken Kurve in die Hauptstraße Richtung Rummelsburg mündet. Und da nach Kriegsende mehr oder weniger alles völlig am Boden lag, war es wohl von deutscher Seite aus nicht möglich, gleich wieder Brücken bauen zu können, denn es mangelte buchstäblich ja an allem. Also haben russische Pioniere, wie es heute noch heißt, diese Brücke der Südkurve wieder neu errichtet. Und so steht sie noch heute unverändert. Allein ein neuer Anstrich schon vor Jahrzehnten hätte ihr sicherlich auch gut getan. Und das ist typisch Ostkreuz. Wichtig war und ist, daß die Brücke verkehrssicher ist, und das ist sie wohl auch bis heute. Auf Äußeres wurde auf diesem Bahnhof nie Wert gelegt, deshalb ist schon so viele Jahrzehnte auch so häßlich.

Wer sich noch erinnern kann, der weiß, daß das Verkehrsaufkommen in früheren Jahren, also in den Fünfzigern bis zum Ende der achtziger Jahre, wesentlich größer war als heute. Hier war dichtestes Großstadtleben, brodelnder Verkehr,beängstigendes Gedränge, turbulentes Treiben und hektisches Leben hautnah zu erleben. Zigtausende Menschen drängelten hier beim Ein-, Aus- und Umsteigen über die Bahnsteige, Treppen und Wege, schubsten und stolperten, eilten und hasteten den ganzen Tag über in allen Richtungen. Und das besonders zu den Hauptverkehrszeiten morgens und abends. Oftmals war es schwer, währenddessen die Treppen rauf oder runter zu kommen. Überall drängten und schoben sich die Massen mühselig voran. Man hatte vielfach den Eindruck, der Bahnhof ist viel zu klein geworden. Rund um das Ostkreuz gab es viele große Industriebetriebe, mit Tausenden von Beschäftigten, wie auch viel kleine Handwerks- und Gewerbebetriebe, letzteres vor allem im Friedrichshainer Gebiet, dem ehemaligen Boxhagen. Also auch hier das verbreitete Berliner Prinzip: Vorne wohnen, hinten arbeiten, also Handwerk und Gewerbe. Die Großbetriebe waren vor allem direkt neben dem Ostkreuz. Das Berliner Bremsenwerk (BBW), vormals die KNORR-Bremse, traditionsreich und weltbekannt, mit seinen Bremssystemen, besonders für Eisenbahnen, vor und während des Krieges wie die meisten ein Rüstungsbetrieb, danach deshalb enteignet und zurück in den ursprünglichen Fertigungsbereich, unter neuem Eigentümer. Dann gleich nebenan der VEB Elektroprojekt und Anlagenbau, nach dem Krieg neu entstanden, (ELPRO), der zum Teil mit im großen Knorr-Gebäude beheimatet war. In dieses imposante Bauwerk zog nach der Zerschlagung der DDR-Industrie durch die Treuhand die BFA (Bundesversicherungsanstalt für Angestellte) ein, dafür kamen Erweiterungs- und Neubauten hinzu. Und auf dem Platz der heutigen Victoria-Höfe standen die Werkhallen und Produktionsstätten von ELPRO.

Dann war in der Neuen Bahnhofstraße/Gürtelstraße, also gleich um die Ecke vom BBW, der VEB MESSELEKTRONIK, ein großer arbeitskräftereicher Ingenieurbetrieb. Auf der Halbinsel Stralau war das traditionsreiche und bedeutende GLASWERK STRALAU, ferner die Brauerei ENGELHARDT, sowie mehrere Werften und Einrichtungen der Binnenschiffahrt, u.a. die HANSAWERFT. Heute noch sieht man schon von weitem das imposante Gebäude des alten ÖLSAATENSPEICHERS. Über die Spree geschaut,waren da die ELEKTRO APPARATE WERKE (EAW). Die vielen tausend Arbeiter und Angestellten dieses sehr großen Industriebetriebes, die aus den östlichen oder südöstlichen Bezirken Berlins kamen, mußten ja in Ostkreuz umsteigen. Wie auch die Werktätigen, die mit der Ringbahn aus dem Norden Berlins kamen und zum BERLINER GLÜHLAMPENWERK (BGW) wollten, vormals OSRAM und später, ab den sechziger Jahren NARVA, an der Warschauer Brücke. Gegenüber, über die Bahngeleise, befand sich das RAW "Franz Stenzer"(Reichsbahnausbesserungswerk), benannt nach einem antifaschistischen Widerstandskämpfer und Eisenbahner. Außerdem war da noch direkt an der Warschauer Brücke der Großbetrieb VEB KÜHLANLAGENBAU. Nach 1989 war darin das Bezirksamt von Friedrichshain einquartiert. Und nicht zu vergessen, direkt am Ostkreuz die Ingenieurschule für Schwermaschinenbau und Elektrotechnik (ISE) mit ihren Aberhunderten von Studenten. Bei den Großbetrieben galt natürlich nicht das alte Berliner Prinzip "Vorne wohnen, hinten arbeiten". Deren unzählige Beschäftigten kamen ja aus allen Bezirken Berlins, und das zumeist mit der S-Bahn. Und das ließ besonders werktags auch das Ostkreuz "brummen".

Aber nicht nur mit der Zerschlagung der DDR-Industrie nach ihrem Ende sind diese gewaltigen Fahrgastströme ausgeblieben. Auch mit der hermetisch abgeriegelten Teilung der Stadt durch den Bau der Berliner Mauer vollzog sich eine wesentliche Veränderung.

So verlor auch die Nordkurve des Bahnhofs Ostkreuz an Bedeutung und ihr Betrieb wurde 1966 eingestellt.

Die Nordkurve und die Südkurve, die, vom Nordring und vom Südring kommend, beide am Bahnsteig A und seinen beiden Außenbahnsteigen B und C in die Stadtbahn mündend, wobei die Südkurve in beiden Richtungen befahrbar war und bis heute ist, während die Nordkurve nur allein vom Nordring der Ringbahn in die Stadtbahn führte, konnten ihren Betrieb erst recht spät wieder aufnehmen, nach dem Beseitigen der Kriegsschäden und dem mühseligen Wiederherstellen der Bahnanlagen, die Südkurve ab 1946, die Nordkurve ab 1951. Letztere war auch nicht so bedeutend, wie schon erwähnt, war sie nur in einer Richtung befahrbar.

Der Bahnsteig A, der ja der ursprüngliche Kern des Bahnhofs "Stralau-Rummelsburg" war und so bis 1933 hieß und erst dann, als Gegenstück zum "Westkreuz", mit Vollendung des elektrifizierten Vollrings in "Ostkreuz" umbenannt wurde, dieser Bahnsteig A, besonders seine beiden Außenbahnsteige B und C, die durch einen Fußgängertunnel unter dem Bahnsteig A verbunden waren und einen eigenen Ein- und Ausgang zur Sonntagstraße/Revaler Straße hatten, verloren so ihre Bedeutung. Außerdem machte die fortschreitende Baufälligkeit, besonders am Bahnsteig C, die Schließung und Stillegung 1966 erforderlich. Die Nordkurve wurde seitdem gar nicht mehr befahren, die durchgehenden Züge gab es nicht mehr, durch Umstellung des Fahrregimes nach 1961. Und die Züge, von Mitte und Ostbahnhof kommend und schon zu DDR-Zeiten nach "Flughafen Schönefeld" fahrend, rauschten am Ostkreuz ohne Halt durch, beides wie heute auch noch. So hieß es immer in den vorhergehenden Stationen in den Ansagen für den Schönefelder Zug:"Hält nicht in Ostkreuz!"

Träumen am Ostkreuz! Ich kann mich gut erinnern, wie zu Beginn der sechziger Jahre der Bahnsteig A mitsamt seinen beiden Außenbahnsteigen B und C auch sehr belebt war. Allerdings gab es die direkte Fußgängerverbindung vom Bahnsteig A zum Ausgang Markgrafendamm nach dem Krieg nicht mehr. Beim Wiederaufbau der Brücke der Südkurve über den Markgrafendamm durch die russischen Armeepioniere Ende 1945/Anfang 1946 hat es für die Wiederherstellung des Fußgängersteges neben der Stahlträgerkonstruktion der Schienenbrücke nicht mehr gereicht oder wurde für nicht so wichtig angesehen. Auch hier wieder die Beobachtung: Immer nur das Nötigste erledigen! In all den vielen Jahren des Mangels in den Wiederaufbaujahren nach dem Krieg war es von Anfang an so und blieb es auch. Diese Art zu reparieren, wieder instandzusetzen, neu zu bauen zieht sich bis heute wie ein roter Faden durch die Nachkriegsgeschichte des Ostkreuz-Bahnhofs. Nun, nach so vielen Jahren der Verzögerung in Sachen Generalrekonstruktion des Bahnhofs Ostkreuz und dem endlichen Neuanfang dessen soll es ja nun ganz anders und richtig gut werden.

Wer also auf dem Bahnsteig A, wie auch B oder C ausstieg und zum Ausgang Markgrafendamm wollte, mußte erst zu einem der unteren Bahnsteige D oder E die Treppe hinabsteigen und dann die Treppe der großen Fußgängerbrücke wieder hinauftraben, danach die Treppe zum Eingangsgebäude am Markgrafendamm wieder hinunterstiefeln. Wahrlich nicht fahrgastfreundlich! Fahrstühle hat es auf dem Bahnhof Ostkreuz nie gegeben.

Aber die Fußgängerbrücke von Nord nach Süd, quer über den Bahnhof, also vom Eingangsgebäude an der Sonntagstraße zu jenem am Markgrafendamm, war schon sehr beeindruckend. Sie wurde nach den Plänen von Richard Brademann gebaut, dem wohl bedeutendsten Berliner S-Bahnarchitekten. Er lebte von 1884 bis 1965, war ein Baumeister der "Neuen Sachlichkeit". Später bezog er expressionistische Elemente in seine Architektur ein, etwa am Bahnhof "Wannsee". Von ihm stammen auch die beiden genannten Eingangsgebäude im Ostkreuz. Er baute u.a. auch die Bahnhöfe "Bornholmer Straße", den Bahnhof "Humboldthain", den Bahnhof "Wannsee", die Bahnsteige der Nord-Süd-Bahn im Bahnhof "Friedrichstraße", wie auch die Bahnhöfe "Unter den Linden" und "Oranienburger Straße" der gleichen Strecke, das Funktionsgebäude am Bahnhof "Halensee", außerdem auch den weiter außerhalb liegenden Bahnhof "Sundgauer Straße" der Wannseebahn. Seine Bahnhofsbauten waren verbunden und gingen einher mit der Elektrifizierung des Vollrings und der bedeutenden Außenstrecken der S-Bahn, wie beispielsweise der Wannseebahn. Dies alles in der zweiten Hälfte der Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.

Was Alfred Grenander für die Bahnhöfe der Berliner U-Bahn (BVG) war, das bedeutete vergleichsweise Richard Brademann für die Berliner S-Bahn. Solche Baumeister müßte es heutzutage wieder geben! Davon kann man träumen, wenn man heute auf der provisorischen Fußgängerbrücke steht, denn die Brademannsche Brücke wurde kürzlich aus Gründen des Baugeschehens und der nötigen Baufreiheit für die Rekonstruktion abgerissen. Sie soll aber originalgetreu wieder aufgebaut werden. Sie war ja nach 1945 sowieso nicht mehr original, denn besonders der südliche Teil des Bahnhofs, also zum Markgrafendamm hin, war stark kriegszerstört. Betroffen war nicht nur die Südkurve, sondern auch das Eingangsgebäude, das fast völlig zerstört war, wie auch die südliche Hälfte der Fußgängerbrücke.

Auch hier, beim Wideraufbau dieses Brückenteiles war das Notwendige zu tun, nur hinreichend zum sicheren Betrieb wiedererrichten, nicht mehr! Das war auch hier das beim Ostkreuz nach 1945 übliche Prinzip. So habe ich mich immer gewundert, daß die solide Überdachung der Brücke direkt am Abgang zum Bahnsteig E (Erkner) abrupt aufhörte, so auch die Holzdielenbeplankung ab hier in Betondielen überging; und der Treppenabgang zum Markgrafendamm auch irgendwie anders war und aus dem Rahmen dieses Brückengebäudes herausfiel.

Die Fußgängerbrücke hieß auch umgangssprachlich "Rennbahn", sicherlich ein sehr treffender Spitzname, denn alle ihre Passanten hatten es immer eilig. "Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit!", so heißt es schon bei Kurt Tucholsky über das Berlin in den Zwanziger Jahren. Beim Zugang von der Sonntagstraße war die jeweilige Situation auf den ebenerdigen (D und E) Bahnsteigen etwas übersichtlicher als beim Betreten vom Markgrafendamm her, man konnte sogleich sehen, auf welchem der beiden Bahnsteige gerade ein Zug einfuhr, und dabei war es ganz egal, ob dieser Zug gerade nach stadteinwärts oder stadtauswärts kam. Die Bedeutung hing davon ab, wohin man selber gerade wollte. Und wenn man den für sich zutreffenden Zug in den Bahnhof einfahren sah, dann galt es, schleunigst und schnurstracks die Treppenstufen der Fußgängerbrücke hinauf zu hetzen, möglichst zwei Stufen auf einmal, oben den Gang entlang hasten, rennen, springen, stürmen, je nachdem, wozu man fähig und gerade in der Lage war, dann den entsprechenden Treppenabgang hinunter stürzen, möglichst wieder zwei Stufen auf einmal, dieses hing von den sportlichen und turnerischen Fähigkeiten des Hastenden ab, um so, wenn man nicht gerade zwischendurch hinstürzte, den begehrten Zug doch noch zu erreichen, bevor einem die Türen vor der Nase zuschlugen und man das Nachsehen hatte. Deshalb die Bezeichnung "Rennbahn".

Es war eine allgemeine Gepflogenheit, daß Passanten, die stadteinwärts fahren wollten und ihren Zug gerade verpaßt hatten, oben im Durchgang der Fußgängerbrücke standen und gespannt durch die Scheiben der recht hoch angesetzten Fenster starrten, um möglichst frühzeitig mitzubekommen, auf welchem Bahnsteig der für sie nächste Zug einfuhr, um dann eiligst die entsprechende Treppe hinab zu hetzen. Und wenn ich einmal selber hin und wieder in solcher kurzen Wartezeit zwischen den beiden möglichen Treppenabgängen stand und auf den für mich nächsten Zug lauerte, und hinter mir so unendlich viele eilige Passanten vorbeihasteten, konnten deren Geräusche und Töne, die sie mit ihren Schuhsohlen und Absätzen auf den Holzplanken des Fußbodens der Brücke hervorriefen, in der vielartigen Unterschiedlichkeit schon sehr leicht träumerisch in eine ferne entrückte Welt entführen. Davon fiel mir oftmals eine mögliche geheimnisvolle Vorstellung von einem fernen vorzeitlichen afrikanischen Urwaldtrommeln längst vergangener Eingeborener ein. Dieses Krachen, Poltern, Wummern, Klopfen, das hämmernde Stakkato der spitzen Pfennigabsätze hochhackiger Damenschuhe, aber auch das behäbige Schlurfen, Schaben und Stampfen weicher Gummisohlen, die es nicht so eilig hatten, war schon wie ein unwirkliches Konzert dieser beinahe wie ein riesiges Instrument tönenden Holzdielen des langen Ganges der Brademannschen Fußgängerbrücke; aber, wie gesagt, nur bis zum Abgang des Erkner-Bahnsteiges (E), also nur im überdachten Bereich der Brücke. Auf den anschließenden Betondielen war nichts mehr von solchen verzaubernden, träumerischen, zuweilen phantasiebeflügelnden Tönen und Geräuschen zu vernehmen. Außerdem wirkte die Überdachung der Brücke über den Holzdielen verstärkend wie ein Resonanzkörper. Der besondere Vorteil der Überdachung ist es gewesen, daß man vor Regen sicher und einigermaßen windgeschützt war, während es oben auf der "Brücke", also dem Bahnsteig der Ringbahn (F) von jeher sehr zugig, naß und ungemütlich ist.

Ob bei der wiedererrichteten originalgetreuen Fußgängerbrücke, nach den alten Plänen von Richard Brademann, dem eigentlichen Wahrzeichen vom Ostkreuz, neben dem von 1912 stammenden Wasserturm mit seiner lustigen Pickelhaube, auch wieder solche Holzbohlendielen eingebaut werden, ist wohl durchaus fraglich. Ohne sie, mit ihrem Tönen und Klingen, wird es wohl nicht mehr möglich sein, solcherart zu träumen und seiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Aber man wird künftig auch nicht mehr auf den zunächst einfahrenden Zug spitzen müssen, denn die künftigen Bahnsteige D und E werden nach der Richtung eingeteilt, also ein Bahnsteig nur die stadteinwärtsfahrenden Züge (D) und die stadtauswärtsfahrenden auf dem anderen Bahnsteig (E) fahren. Wie schön!

Träumen am Ostkreuz ist gegenwärtig wohl kaum möglich, wo schon seit geraumer Zeit alles nur provisorisch, nüchtern, kahl, zweckmäßig und abrissbedingt häßlich ist. Der morbide Charme dieses ewig unfertigen, immer etwas bröckelnden und abblätternden Bauensembles Ostkreuz, nach dem Krieg immer nur teilweise und notdürftig repariert und nur zweckmäßig funktionstüchtig erhalten, lange schon so stark alternd, wird mit dem neuen, modernen und durch viele Aufzüge so bequemen Bahnhof Ostkreuz für immer erloschen sein.


 

Günter Dittrich
Die schwarze Barbara

 

Die ältere Frau steht schon fast eine Stunde am Anfang des oberen Bahnsteiges am "Ostkreuz" und schaut in Richtung Bahnhof "Frankfurter Allee". Sie hält sich mit den Händen am Absperrgitter fest. Es sieht von meiner Position so aus, als ob sie sich selbst davor bewahren will auf die Gleise zu treten. Langsam gehe ich auf sie zu. Nur nicht erschrecken, denke ich, sonst rennt sie wirklich los...

Endlich bin ich auf ihrer Höhe. Wir sind beide fast gleich groß und könnten auch gleich alt sein. Die Gesichtszüge der Frau kommem mir bekannt vor. Die grauen Haare nicht aber der kleine freche Pferdeschwanz, der von einer schwarzen Stoffschleife zusammengehalten wird und diese braunen Augen. Sie schaut mich an, spricht gleich los: "Keine Sorge, junger Mann, ich will nicht auf die Gleise und ich will nicht unter die S-Bahn geraten... Ich habe nur so vor mich hingeträumt... habe in das kleine Gleisdreieck geschaut... Hier waren mal Trampelwege zu einem kleinen Garten zwischen den Gleisen..."

Bevor sie weiterspricht ergänze ich: "Das eine Gleis führte in Richtung Warschauerstraße und das andere in Richtung Treptow... und dazwischen hatte Opa Barabasch seinen Garten... nicht größer als eine Vierzimmerwohnung, aber mit kleiner Laube und Außenklo..."

Sie strahlt mich mit ihren immer noch feurig wirkenden Augen an und fragt vorsichtig: "Bist du es wirklich, das kleine Kerle aus der 'Fünf A', der schmächtige blonde Junge mit der Klammer im Haar, weil die störischen Haare nicht sitzen wollten und der Zahnklammer, die nicht wollte wie sie sollte...?"

Langsam nehme ich ihre Hände vom Gitter und halte sie fest: "Klein bin ich immer noch, auch wenn in meinem Ausweis mittelgroß steht und die Haare sind mehr grau als blond... ich bin es, der verrückte Gerd aus der 'Fünf A'... und du bist die Barbara Barabacz mit weichem basch hast du immer gesagt. Die schwarze Barbara!"

Sie winkt ab: "Schwarz war mal... gestern... vor Jahren. Ich habe es vergessen, wie so vieles... Deshalb stehe ich ja hier! Warte auf den Tagtraum! So wie früher!"

"Komm Barbara, lass uns auf einer Bank Platz nehmen. Mir werden die Knie weich. Ich dachte nämlich. Du wolltest..."

"Kerle, wo denkst du hin! Ich bin fünffache Großmutter, da springt man nicht vor die S - Bahn! Ich habe den Garten gesucht, Erinnerungen, Kinderfreundschaften. Alles weg. Es sieht so trostlos aus, seitdem die hier bauen. Reißen alles ab... auch Erinnerungen!"

Es läuft mir warm über den Rücken dieses "Kerle". Ihr Vater hatte es das erste Mal gesagt, hier im Garten: "Na, Schulbub! Du bist ja ein schlankes Kerle!" Und dabei blieb es. Alle Familienmitglieder ihrer Familie nannten mich nur noch Kerle. Irgendwann in dem Schuljahr erzählte mir Barbara, als wir wieder einmal im Liegestuhl Tagträume hatten: "Weißte Kerle, wenn ich einmal Gerd zu dir sagen werde, dann ist das ein besonderer Tag. Bei uns bedeutet das, daß ein Mädchen ihren Bräutigam gefunden hat und irgendwann, wenn die Eltern der Braut es erlauben, auch heiraten darf... Dann schwieg sie an diesem Tag, schaute in den Himmel und summte Melodien, die schwermütig klangen und ich hatte Zeit sie ungestört anzusehen. Sie, die schöne, schwarze Barbara mit ihren schlanken, langen Fingern, den beginnenden runden Schultern... Ich hatte damals nur Augen für sie aber keine Ohren. Ich hätte mehr zuhören müssen. Bei jedem Treffen in diesem Garten erzählte sie ein wenig über das Leben in einer Zigeunerfamilie!  

Meine rechte Hand hält jetzt ihre linke Hand und ich lasse beide Hände kreisen. Fange an zu sprechen: "Wir machen es wie damals, wenn wir bei deinem Opa Barabasch im Garten waren, holen die Liegestühle aus Holz aus der Laube... Pst... Mache einfach die Augen zu! Jetzt siehst du die Liegen oder?"

Sie nickt, hält die Augen geschlossen, flüstert: "Erzähl weiter, vielleicht kommt er, der Tagtraum auf den ich seit Jahren warte!"

Behutsam setze ich das Kreisen unserer Hände fort. Auf dem Bahnsteig sind wenige Fahrgäste, die sind alle mit sich selbst beschäftigt, so daß sie uns nicht beachten bei unseren Traumreise-Vorbereitungen...

"Stell dir vor, es ist herrliches Sommerwetter und wir liegen in den Liegestühlen. Alle zwanzig Minuten knattert eine S - Bahn vorbei aber wir sind schon so weit in den Kinderträumen, daß wir sie nicht hören... nicht die quietschenden Bremsen oder das laute Rufen des Zugabfertigers - Zurückbleiben! Wir sind wieder Kinder oder sind wir schon Jugendliche? Egal! Du siehst aus wie der damalige "Sarotti - Mohr"... Diese Werbefigur auf der Schokoladentafel und ich bin der Blassschnabel, der jedesmal einen kleinen Sonnenbrand bekommt in diesem Garten. Dein Opa läßt uns zwei Stunden alleine, damit wir in Ruhe Schularbeiten machen können... vertreibt sich die Zeit in der S- Bahnklause. Trinkt ein paar Bierchen... Ich schaue mir dein schwarzes Haar an, fasse vorsichtig mit zwei Fingern hinein und höre trotz Schienenverkehr dein Haar knistern. Ich bin stolz, fühle mich riesig, denn ich darf dein Schulfreund sein... platonisch, rein platonisch hat Opa Barabasch uns geraten. Sonst donnert es im Karton... Und du fängst wieder an zu erzählen von dir von deiner Familie... und ich höre zum ersten Mal, was es heißt Zigeuner zu sein."

"Es klappt, Kerle, es klappt!", ruft Barbara: "Ich sehe uns, Opa ist weg, spüre deine Finger in meinem schwarzen Haar. Lass mich jetzt weiterträumen oder war es Wahrheit, damalige Wahrheit? Jedenfalls, bekam ich ein komisches Magengefühl, als deine Finger in meinem schwarzen Haar waren... ach ja... Weißt du noch ... mein erster Schultag in der Fünften. Der Lehrer stellte mich vor die Klasse und sagte: "Das ist die neue Schülerin, Barbara Barabasch, geschrieben mit cz, gesprochen asch. Sie wohnt in einem Wohnwagen am Bahnhof Ostkreuz... Die Eltern sind Schausteller... In Berlin sagt man auch Rummelleute dazu!"

Alle Schüler haben mich angeschaut, einige haben gekichert weil der Lehrer das "asch" so in die Länge gezogen hatte. Du nicht! Du hast auf deine Füße geblickt. Nach dem Unterricht habe ich dich gefragt warum du zu Boden geschaut hast und du hast mir geantwortet, du hättest dich geschämt für den Lehrer... Und dann hast du mich gefragt woher der Name Barabasch kommt und ich habe geantwortet. Das sei ein alter Zigeunername... Nach einer Weile hast du damals gesagt, ach so, das sind die Leute, wo man die Wäsche reinnehmen muß! Und du hast gelacht... Ich war traurig, aber du hast mir erklärt, daß dein Vater wenn er zuviel getrunken hat, auf den Balkon geht und laut ruft : "Leute nehmt die Wäsche von der Leine, die Zigeuner kommen und klauen sie!" Ich habe dich traurig angesehen und gefragt, ob das auch deine Meinung wäre. Du hast geschmunzelt und gesagt. Das wäre alles Quatsch mit dem Klauen, denn Klauen können alle, egal warum und dein Vater hätte den Spruch von den Zigeunern als sie gemeinsam auf Rummelplätzen waren. Lange vor dem letzten großen Krieg, als diese Weltwirtschaftskrise war, dein Vater dadurch arbeitslos wurde, sich übergangsweise mit einer Losbude voller Schokolade zum Beispiel "Sarotti" sein Geld verdienen mußte. Da die Schokolade schon überlagert war, durfte sie in den Geschäften nicht mehr angeboten werden aber für den Rummelplatz war sie noch gut genug... Und ich habe dir erzählt das mein Vater eigentlich Musiker war, wie fast alle Zigeuner, ein Geiger, auch Akkordion war seine Stärke und dann habe ich dich in den Garten eingeladen und deinen Vater und der kam auch... Weißt du noch?"

"Ja, das war an dem Tag, als wir das erste Mal die Liegestühle rausholten. Von einer Zukunft träumten von einer gemeinsamen, dein Vater, mein Vater, mein Opa, du und ich... Es war ein herrliches Jahr... hier im Garten!"

Barbara fährt fort mit ihren Erinnerungen: "Bitte, bitte trenne diesen Traumfaden nicht ab. Lass ihn uns weiterspinnen. Was wäre wenn dein Vater nicht ein Wäschegeschäft eröffnet hätte, sondern sein Klavierspieltalent genutzt hätte, um mit meinem Vater, so wie wir wollten gemeinsam ein kleines Orchester aufzubauen? Was haben die beiden hier im Garten geübt... Hörst du sie, die Melodien von damals, bunt gemischt, mal Schlager, mal Volkslieder, mal Zigeunerlieder und die Leute auf diesem Bahnsteig haben geklatscht, wollten Zugaben... Hörst du sie, die einen, wie sie spielen und die anderen, wie sie klatschen?"

"Ja, Barbara, ich höre sie, die fröhlichen und die schwermütigen Lieder. Sehe deinen Vater dort unten mit der Geige, deinen Großvater mit dem Bass und meinen Vater mit einem Akkordeon, denn das Klavier passte nicht in den kleinen Garten. Es hätte vielleicht nicht das große Orchester werden können aber das kleine Quartett wäre möglich gewesen..."

"Kerle, lass uns noch zehn Minuten träumen. Die Sonne wärmt so schön wie damals. Ich muß dir erzählen, warum wir nicht länger in Berlin geblieben sind, warum wir uns nicht mehr in dem Wohnwagen am Ostkreuz heimisch fühlten. Einverstanden?"

Ich nicke nur. Sie fragte wieder: "Einverstanden?"

Jetzt sehe ich, daß sie die Augen immer noch geschlossen hält. "Ja!", sage ich zu ihr.

Sie holt tief Luft und erzählt weiter: "Als ich in die fünfte Klasse kam, dachte meine Familie, daß das Schlimste seit Ende des Weltkrieges überstanden sei. Wir lebten vor dem Ersten Weltkrieg in Ungarn. Wir waren geduldet, weil wir viele waren. Dann wollte Großvater nach Deutschland nach Berlin. Er wollte ein Riesenrad oder eine Achterbahn bauen... entweder hier am Bahnhof Ostkreuz oder in Treptow am Plänterwald. Alle Verwandten hatten zusammgelegt und das Geld war nicht das Problem. Nein, auch nicht der Standort, egal ob Ostkreuz oder Treptow. Das Problem war unsere Herkunft: Zigeuner haben keine Lobby, wie das Neudeutsch heißt und dann kam das Jahr 1929 und Opa Barabasch hatte alles "gut" angelegt. Denkste! Weg war alles Geld! Hatten die Amerikaner verjubelt an der Börse! Opa mußte arbeiten gehen und fing bei der Reichsbahn an. Hier am Bahnhof Ostkreuz... Er arbeitete sich hoch. Vom Hilfseisenbahner, der den Bahnsteig sauber machen muss, zum Fahrkartenverkäufer bis zum oberaufsichtsführenden Eisenbahner am Ostkreuz. Pachtete den Garten und das war´s! Denkste. Meine Eltern waren fast genauso gefährdet wie die Juden im Dritten Reich. Also, raus aus Deutschland, ab nach Amerika!. Nach dem Krieg, also dem Zweiten Weltkrieg kamen wenige wieder und so kam ich in die Klasse. Opa wollte endlich sein Riesenrad am Ostkreuz oder in Treptow, mein Vater wollte seine Kapelle und ich wollte diesen Garten... Schönes Durcheinander was? Weißte, Kerle, manchmal weiß ich nicht mehr, was ich hier geträumt habe in diesem Garten oder in der Nacht oder was nur in meiner Phantasie möglich wäre und dann stehe ich halt am Gitter. Warte auf den Tagtraum... Es ist mir völlig egal ob nun die Wahrheit aus jener Zeit mich erfasst oder ob es Wunschträume sind. Ich weiß nicht mal ob es dich wirklich noch gibt oder ob du nicht auch in den Westen gegangen bist wie so viele aus der Klasse!"

Da sitze ich nun neben ihr, still, fast unbeweglich, immer noch ihre Hand haltend. Meine schwarze Barbara wieder am Ostkreuz! Meine erste Schulfreundin, rein platonisch wie es sich in dem Alter gehört. Ich hätte sie gerne damals mal auf die Wange geküßt. Nur um mal diese braune Haut zu spüren aber ich traute mich nicht. Sie lag so dicht neben mir im Liegestuhl... Alle Jungens aus der Klasse beneideten mich. Einige Mitschüler versuchten uns zu belauschen aber Opa Barabasch zeigte uns unterirdische Gänge im Bahnhof. So konnten wir sie immer wieder abschütteln. Wir lagen in unserem Paradiesgarten und träumten. Wir vertrauten uns gegenseitig Geheimnisse an, die wir bisher keinem Menschen anvertraut hatten. Wir schworen uns nichts aufzuschreiben. Vielleicht ist deshalb vieles an Wünschen und Träumen verloren gegangen bei ihr bei mir?

Sie hält noch immer die Augen geschlossen. Ich frage vorsichtig, um den Tagtraum nicht zu zerstören: "Wohin seid ihr gegangen? In welche Schule bist du gekommen? Seid ihr in Berlin geblieben?"

Barbara schweigt. Ein paar Tränen treten aus den geschlossenen Augen hervor. Ich tupfe sie mit dem Taschentuch weg und sage dabei zu ihr: "Barbara, du mußt mir nicht antworten, wenn es schmerzt nach so vielen Jahren".

Langsam öffnet sie die Augen. Schaut mich an, flüstert fast: "Bei uns darf man schon mit dreizehn heiraten. Nicht mit Hochzeitnacht und so... du weißt schon. Nein, man wird versprochen. Zwei Familien treffen sich und der Sohn der einen Familie und die Tochter der anderen Familie werden per Handschlag der Eltern "verheiratet"... Ich habe mich ein Jahr gewehrt! Keiner war mir gut genug... Ich wollte in meinem Herzen nur dich! Ich schwörs Kerle, bei meiner Großmutter! Aber ich durfte nicht. Mein Vater war sogar bei deinem Vater und wollte dir bei der Gelegenheit auch noch eine neue Mutter zur Seite stellen weil doch deine so früh verstarb... aber dein Vater war nur einverstanden, daß wenn wir erwachsen sind, heiraten dürfen... du solltest erstmal die zehnte Klasse machen oder Abitur und er hätte jetzt selber einen Garten vierzig Kilometer von Berlin entfernt, kein Lärm, keine S - Bahn... nur Wald ringsum und ein kleiner Badesee.

Ich mußte einen Mann aus meiner Sinti Sippe heiraten."

Sie macht eine Pause, atmet schwer und redet leise weiter: "Das Riesenrad kam... Jahre später aber nicht hier am Ostkreuz sondern im Plänterwald in Treptow und Opa durfte Fahrkarten für das Riesenrad verkaufen. Er war jetzt Rentner. Mein Vater ist mit mir nach Hamburg gegangen. Dort spielte mein Vater in einer kleinen Zigeunerkapelle. Oma blieb bei Opa ohne zu murren und meine Mutter blieb in Hamburg. Mein Mann starb auf dem Rummel mit einer Flasche in der Hand... Mehr will ich dazu nicht sagen... und du Kerle was hast du erreicht?... du warst plötzlich weit weg für mich durch unsere ungeschriebenen Gesetze. Kinder habe ich aber die haben immer zum Vater gehalten... und du, bestimmt hast du auch Kinder?"

Wieder nickt ich, denn jetzt hat Barbara die Augen offen.

"Zwei, ein Pärchen und die haben schon wieder selber Kinder und..."

Ich schwieg. Ihr Blick ist nicht nur durch neue Tränen eingetrübt. Da liegt Schmerz drin. Sie fragt nur ganz leise: "Warum lassen uns unsere Träume nicht los. Warum dürfen wir nicht für immer Schulkinder sein und kleine Gärten haben mit Liegestühlen?"

Sie holt ein Taschentuch aus ihrer kleinen Handtasche, die einen kleinen Plastik "Sarotti - Mohr" als Anhänger hat, schnaubt sich gründlich die Nase und fängt wieder zu sprechen an: "Ich mag die kleinen Telefone nicht... es ist kein Menschenersatz... Ich mag auch keine Computer, keine schnellen Eisenbahnen... man sieht keine Landschaft beim Reisen... Ich mag keine Bum-Bum-Musik, dieses elektronische Gekreische... Diese hektischen Menschen auf den Straßen sind auch nicht mein Fall..."

Wieder folgt ein Schneuzen in das Taschentuch: "Manchmal gehe ich zu einer Wagenburg. Sie befindet sich in der Nähe der Modersohnbrücke. Dort ist es fast wie früher, als ob die Zigeuner nur zweihundert Meter weiter gezogen wären... Aber dort wohnen keine Zigeuner, sondern sogenannte Aussteiger der Gesellschaft... schreiben die Zeitungen. Die Menschen haben dort Hunde, weil sie Angst vor Überfällen haben. Auf einigen Wohnwagen sind Sonnenplatten.. ach nein, die heißen Solarplatten, liefern Strom und Wärme... Wir hatten damals Lagerfeuer und kuschelten uns aneinander... Ich glaube, ich passe nicht mehr in diese Zeit... oder?"

Ich nehme wieder ihre Hände, drücke diese sanft, versuche sie mit Worten zu trösten: "Barbara, du solltest rausziehen aus Berlin. Auf den Dörfern ist es ruhig, fast zu ruhig. Für die Gesundheit und die Nerven ideal... Ich könnte mich mal umhören. Vieleicht gibt es Wohnraum, in dem Ort wo wir unseren Garten, besser gesagt eingezäunten Wald haben. Es ist dieses Waldgrundstück, daß damals mein Vater kaufte. Meine Frau ist vor zwanzig Jahren, als die Mauer fiel in den Westen gegangen... Wir haben zwar noch Kontakt aber nur wegen der Kinder und Enkelkinder. Von meinen Träumen hier am Ostkreuz ist auch nicht viel realisiert: Mein halbes Leben habe ich auf Schulbänken zugebracht, um mir dann sagen zu lassen, ich wäre überqualifiziert und sollte lieber vorzeitig in den Ruhestand treten und die Freiheit genießen... Im Laufe der Jahre habe ich meine neuen Ruhepunkte gefunden: Lange Spaziergänge im Wald. Da kann mam laut oder leise Selbstgespräche führen und im Winter baue ich mit meinen Enkelkinder an Modelleisenbahnanlagen oder versuche mich an Computerspielen. Gut, manchmal treibt es mich hierher zum Bahnhof Ostkreuz... aber diese schönen Erinnerungen werden immer kleiner... Übrigens, in meinem eingezäunten Waldgrundstück stehen zwei uralte Holzliegestühle mit Stoff bespannt. Als deinem Opa die Pacht gekündigt wurde, habe ich die zwei Stühle, die in der Laube standen einfach mitgenommen... Du kannst sie ja mal ausprobieren! Hier wird in den nächsten Jahren alles neu gebaut. Da ist kein Platz mehr zum Träumen aber bei mir draußen!"

Barabara schaut mich lächelnd an: "Ach, Kerle, was haben wir beide alles versäumt!"

Ich nicke nur. Denke so für mich: Frühling und Sommer haben wir versäumt aber der Lebensherbst kann auch noch schöne Tage haben und ich bin einer der glücklichen Menschen, die ihre Schulfreundin wiedergefunden haben und nicht enttäuscht darüber sind...


 

Annette Ludwig
Für Samten, meinen sanften Freund

 

Runder Kopf und fette Beinchen
laufen wankend hin und her
fallen hin und krabbeln weiter
widerstehen fällt so schwer
wenn die blauen Augen lachen
glucksend, jauchzend, manchmal schrill
fragt man sich so tausend Sachen
was wohl die Bestimmung will
träumt sich weg und träumt sich weiter
alles hat nur einen Sinn
wenn dein kleiner sanfter Körper
ist in ihrem Universum drin
keine Frau auf dieser Erde
kann dich lieben so wie keine
und das nehme mit dir fort
es ist die Einzige, die Eine
die in dir sieht Gottes Wort.

deine Mutter


 

Thomas Rehaag
Brainstorming

 

Die Hegelrunde war zu Ende. Sie standen am Fenster und blickten hinaus. Jeder in seinem Abteil die etlichen Gläser Hanftee und den Riesenjoint schwarzen Afghanen des Schweizer IT - Professional verdauend. Nach und nach waren die anderen Gäste gegangen und sie hatte das Licht gelöscht.

Linkerhand ließ das Neonkreuz des Bahnhofs seinen Laternenfortsatz heraushängen und Big Boy starrte auf den blauen Schriftzug des Allianz – Hochhauses geradezu. Er besaß eine andere Note als die grün eingeebneten Streifen des BASF – Gebäudes rechts neben der Brücke fand er sich abwechselnd drin versenkend. Und sein Trauma leuchtete ihm heim:

Das ins Treppenhaus flackernde Blaulicht der Polizeiwagen vor dem Haus, die glänzenden Stiefel des die Treppe hoch stürmenden Einsatzzuges…  Irgendwelche Kerle über seiner Mutter… Damals musste er circa vier Jahre alt gewesen sein und sein Bett und ihr’s standen im selben Zimmer. Nachher begann er sich plötzlich vor dem Lichtschalter neben seinem Bett zu fürchten, besonders nachts, und vor allem wenn sie "aus" war. Mutterseelenallein schrie und schrie er bis sie ihn irgendwann an die Brust nahm.

Mit steifen Bewegungen zündete er sich eine Camel an, inhalierte und nebelte das Hochhaus ein. Wer die Bullen benachrichtigt hatte und ihn ins Treppenhaus brachte war ihn entfallen. Diskret blickte er zu Eudämonia rüber.

Geistesabwesend stand sie da, den rechten Ellenbogen in die linke Hand gestützt und zog eine durch. Wahrscheinlich träumte sie mal wieder von der Weltrevolution auf dem Weg zu "Alle Menschen werden Brüder".

Er wandte sich wieder ab und nahm das Zwielicht im Augenschein. Daraus erwuchs ihm ein Haus tief im Wald nebst zwei prächtigen Doggen um Gutmenschelnde Wandersleute abzuschrecken, ein Harem pubertärer Schweinigeleien, ein am Himmel hängendes Flugzeugkabinett und ein unendlich leuchtend und funkelndes Modelleisenbahnareal… Der Schub ebbte ab und Eudämonia kam ihn wieder in den Sinn.

Für ihn war sie eine kommunistische Visionärin mit rationellem Kern und eine Hysterikerin deren Temperament des Öfteren mit ihr durchging. Sie hingegen hielt ihn von Anfang an für einen "Frozenmann": Starre Miene und kalte Augen. Trotzdem verliebte sie sich in ihm. Vielleicht war sie ja christlich erzogen worden, dämmerte es ihn im Nachhinein.

Blindlings schnipste er die Kippe in den Ascher. Was soll’s… Unten fuhr nur ab und an noch eine S – Bahn vorbei und ringsum herrschte eine gespenstische Ruhe. Er zündete sich noch eine an und fixierte das rote Nummernschild neben den Eingang des seltsamen Häuschens ein Ende weit rechts.

Schaut aus wie n Abgetarnter Puff, dachte er, aber das rote Licht törnte ihn mehr an als die Nutten drin. Beim näheren Hinsehen wuchs es sich aus zu einem Rummel über dem er wandelte wie durch rot illuminierte Götterspeise, Arm in Arm mit seinem linken Gesichtsfeldverfall, und sich an Zuckerwatte überfraß….

Sich wie ein beseelter Stein fühlend lugte er zu Eudämonia rüber.

Den Kopf leicht gesenkt kräuselte sie die Brauen, rauchte und schien ein quengliges Gesicht zu ziehen. Entweder brütete sie über einer der durchgekauten Fragestellungen aus der "Phänomenologie des Geistes" (Heute war "Das unglückliche Bewusstsein" an der Reihe) oder sie heckte irgendwas aus oder aber sie hob an auf eine völlig andere Art wie er zu träumen, grübelte er und warf einen verstohlenen Blick auf ihre orthopädischen Schuhe, welche Gewehr bei Fuß standen. Irre grinsend hob er den Blick und starrte hinaus.

Urplötzlich erschien direkt vor ihn eine Horde grüner Affen, hangelte sich hinab auf die Gleise und machte Sperenzchen. Und aus den Front– und Heckscheiben der parkenden Autos auf der gegenüberliegenden Straßenseite lugten lauter rußiger Gesichter, und nur weil er sich selbst beim Perplexsein zu sah, wähnte er sich noch bei Verstand. Die Affen verschwanden doch die Gesichter blieben. Er riss sich los und kollidierte mit Eudämonias orthopädischen Schuhen, unheimlich gross und über ihm schwebend. Mechanisch ließ er die Kippe in den Ascher purzeln und duckte sich weg. Meine zwei Sorten Glaukomtropfen plus das Hanfgelumpe, schwante es ihm. Macht die Inkarnation ihres Traumas…

Steifnackig wandte er sich ihr zu. Mit fidel scheinender Miene richtete sie den Blick geradeaus, rang die Hände und knickte ihr linkes Bein ein. Unter den Schuhen verbargen sich die Muttermale ihrer verflossenen Liebe, ihre verkrüppelten Füße. Intelligente Männer bewunderte sie abgöttisch, doch ihr Guru trieb es noch mit einer weitaus jüngeren treudeutschen Landpomeranze. Kurzum es gab einen erbitterten Ehekrieg und eines Tages warf sie sich vor die Straßenbahn. Danach besuchte er sie einige Male in Bonnies Ranch und wenn sich heute zufällig mal ihre Wege kreuzten bekam sie hysterische Anfälle. Ratlos wandte er sich wieder ab und lugte nach oben. Ihr Trauma hatte die Fühler eingezogen wodurch er sich ermutigt fühlte einen Blick Richtung Straße zu riskieren.

Auch die Autos sahen wieder normal aus. Vielleicht geht der Rausch den Bach runter, freute er sich. Zeit ein wenig Eigeninitiative zu entwickeln. Er hob den Blick und fixierte das Allianzgebäude. Selbst der blaue Schriftzug obendrauf verlor seinen Glanz so sehr er auch drauf starrte. Langsam wandte er sich den Bahnhof zu und ließ sich durch den Lampenfortsatz inspirieren. Tatsächlich es klappte.

Da war sie wieder die Mojavewüste durch die er im gleißendem Sonnenlicht mit seinem Möchtegernschulfreunden im Cowboykostüm ritt. Unendlich lange und immer zur selben Melodie: Once Upon A Time In The West… Ein schwarz- weißes Standbild ohne Dame an dessen Rändern sich der Tot brach…

Geblendet wandte sich Big Boy ab, tastete nach den Zigaretten, nestelte eine raus, führte die Packung zum Mund, schnappte sich den Filter, rauchte sie an und ließ den Blick über die Gegend schweifen.

An helllichten Tagen träumte er so gut wie nie. Dafür war er zu skeptisch und abgeklärt. Höchstens während er onanierte. Weil ihm allmählich die Wichsvorlagen ausgingen. Denn in der Typenauswahl war er geschmacklich eine Art reiner Ästhet. Seine nächtlichen Träume hingegen hielten was sie versprachen. Jedoch kurz nach dem Aufwachen hatte er Mühe sie sich zusammen zureimen.

Beim Sex bevorzugte er 3 – 4 Positionen, und zwar immer solche bei denen er den "Partner" bzw. die "Partnerin" unter Kontrolle hatte. Bei den "Partnern" war es eine Position mehr… Taschenbillard spielend kostete er seine Erektion aus. Geradezu trafen sich zwei S–Bahn-Züge und die vorüber huschenden Lichterstränge gaben den nötigen Funken. Seine Erektion piesackend fuhr er fort, es sich alle Register ziehend auszumalen und nach einem Weilchen spürte er seinen Slip feucht werden. Tief einatmend nahm er die Hand raus, genoss seine Camel und dachte über ihr Verhältnis nach.

Vorigen Sonnabend nach der Runde unterhielten sie sich unter vier Augen und sie brachte die Sache mit den "Frozenmann" an. Nichts erwidernd zuckte er mit den Schultern. Durch eine Anzeige im Internet war er dazu gestoßen, weniger aus Interesse, mehr aus Neugierde. Ihm hinterhältig zulächelnd stand sie auf und humpelte aufs Klo. Derweilen schmökerte er in ihrem Konspekt, konsumierte seinen Jagetee und zündete sich eine Camel an. Als sie zurückkam umschlang sie ihm von hinten und rieb ihre Wange an seinen Bartstoppeln. Er hörte auf zu lesen, zog seinen Kopf aus der Affäre und sie musterten sich ein Weilchen. Ihm fiel auf dass sie sich entgegen der Gewohnheit die Lippen und Brauen fett angemalt hatte. Muss wohl daran liegen dass ich vorhin einige Sachen auf den Punkt gebracht habe, dachte er. Obwohl ich die ganze Zeit über wie ein Honigkuchen in mich hinein geschmunzelt habe und meine Ecke hütete, verdamm mich…

Er wusste auch nicht was in ihm fuhr. Plötzlich stuckte er die angerauchte Zigarette in den Ascher, riss sich herum, packte sie bei den Hüften und vergrub das Gesicht in ihrem Schoss. Konnte sein dass es an ihren hautengen Leopardenleggins lag, vergegenwärtigte er sich. Leider trug man sie nur noch selten. Er fuhr einige Male mit der Zunge drüber, nahm den Kopf zurück und sah zu ihr auf. Mit einem wissenden Lächeln reichte sie ihm die Hand. Er erhob sich und sie schlenderten nach hinten ins Schlafzimmer.

An der Tür klebte ein Schildchen mit der Aufschrift "Privat". Nun hat mich also das Gestirn der Runde an der Angel, dachte er, während sie eintraten. Stumm kleideten sie sich aus und er rekelte sich rücklings aufs Bett. Bevor sie sich zu ihm gesellte, zündete sie die Reihe Teelichter auf ihrem Schreibtisch an und löschte das Licht. Er hob den Kopf und schmulte nach ihren Füßen, weil ihm interessierte, was die Tram noch drangelassen hatte. Am linken fehlte die vordere Hälfte und am rechten die Zehen. Er ließ den Kopf wieder sinken, starrte an die Decke und wartete. Kurz darauf vernahm er ihr Humpeln. Sie stieg zu ihm auf und legte sich hin. Zwar wusste er was zu tun war aber nichts von ihren speziellen Vorlieben. Geruhsam wälzte er sich auf den Bauch, ackerte sich runter auf Pelzchenhöhe, spreizte ihre Schenkel, zwängte seinen Kopf zwischen und begann sie zu lecken. Von unten zur Klitoris und wieder von vorn. Sie wurde nass und krallte sich hastig atmend in sein Haar. Er sah kurz zu ihr auf, hob den Hintern und richtete seinen Ständer. Die Füße in seine Lenden stemmend wartete sie ab. Ihre langen Loden fielen schief über das Kissen. Mit drallem Becken und wohlproportionierten Brüsten reichte sie ihm bis zur Schulter. Er griff ihr unter die Oberschenkel und schleckte seinen Radius… Sie begann zu wimmern und nahm ihn bei den Ohren und er spürte wie sie ihr Haupt hin und her wand. Das Tempo erhöhend schöpfte er die gesamte Bandbreite aus. Ab und zu blickte er zu ihr auf. Er sah nur noch ihr Kinn zwischen den sich hebenden und senkenden Brüsten.So mag ich’s besonders, freute er sich und fuhr fort zu schlecken. Zusammen kamen sie. Nach dem sie etwas zu Atem gekommen waren robbte er zu ihr hoch, knutschte ihre Lippen nass, rollte sich auf den Rücken und starrte relaxend an die Decke.

"Huch bin ich Happy!", jauchzte sie plötzlich und schwang sich hoch. "Ich geh dann mal noch ein bisschen an meinen Hegel…" Hastig knetete sie seine Eier, stieg aus dem Bett, zog sich ihren Bademantel über und wetzte nach vorne zu ihren Büchern. Nach einer Weile quälte er sich hoch und ging pissen.

Auf dem Weg zur Kloschüssel überflog er wie immer die an den Wänden klebenden Comicbilder mit den Debor- und Marxsprechblasen, schlenderte weiter, nahm seinen Schwengel zwischen die Finger und drückte als ob er an Verstopfung litt.

Den Tag darauf zog er bei ihr ein, behielt aber seine Wohnung in der Boxe.

Wegen der Weltwirtschaftskrise bekamen sämtliche kommunistischen Zirkel regem Zulauf und Eudämonia war der Ansicht um Marx zu begreifen müsste man sich zuerst mit Hegel befassen. Bevor er sich zu der Runde gesellte hatten sie bereits seine zwei Bände Logik durchgearbeitet und rundum musste jeder von ihnen das nächste Kapitel zusammenfassen. Aber in die "Phänomenologie des Geistes" vernarrte sie sich nach Strich und Faden und mit den Werken von Marx war sie regelrecht verheiratet.

Zum Frühstück aßen sie täglich zwei frische Käse – oder Wurstbrötchen, tranken einen Milchkaffee und rauchten ihre erste Zigarette. Währenddessen sie das folgende Kapitel der "Phänomenologie" konspektierte griff er sich Descartes’ "Abhandlung über die Methode" und vergrub sich drin. Ab und zu sahen sie auf und küssten sich.

Die Hauptwerke von Kant, Descartes, Schopenhauer, Hegel, Marx, Engels, Lenin, Mao, Freud, Reich, Lukacs, Debor, Dutschke und Adorno hatte er bereits die Jahre davor konspektiert: Immerhin der beste Zeitvertreib um Geld zu sparen, die tägliche Sinnlosigkeit zu strukturieren sowie sich mental zu wappnen, war er der Ansicht. Gegen Mittag legten sie eine produktive Pause hinten in ihrem Privatgemach ein, in welcher er Position zwei und drei testete und danach die ganze Sache wieder von vorn anging.

Aber gestern Abend kriegte sie einen ihrer spleenigen Rappel. Sie ließ ihre Bücher sein, stand auf, schlüpfte aus dem Bademantel, wetzte zum Bett, haute sich neben ihn hin, schmiegte sich an ihn und säuselte: "Ich bin ein ganz kleines Mädchen, hmmmm… Ein klitzekleines Mädchen." Und schließlich pflanzte sie sich auf seinen Podex und begann ihn zu massieren. Jedoch anstatt sich zu regen schrumpfte sein Geschlechtsorgan auf Murmelgröße. Er schloss die Augen und markierte den toten Mann.

Nach einer Weile verlor sie die Geduld, sattelte ab und brüllte: "Ich muss fließen verstehst du!? Aber du willst das ständig dominieren! - Ach leck mich doch du Volltrottel!" Wutentbrannt schwang sie sich vom Bett, wetzte zur Tür und riss sie auf. "Ich schieb denn mal ne Kassette von Herman van Veen ein! Ich kenne doch deine geheimsten Träume!" fuhr sie fort zu brüllen und startete Richtung Vorderzimmer durch.

Vorigen Dienstag hatten sie sich nämlich bei einer Flasche Kokinelli in Anwesenheit ihres vollbärtigen altachtundsechziger Verehrers die Bälle zu geworfen und der Freak gab seinen psychoanalytischen Senf zu…  

Wie gelähmt mit dem Bettzeug verwachsend und mächtig geschockt ließ er’s über sich ergehen: Ihre Brüllkanonade erinnerte ihn an die Ausbrüche seiner Mutter, deren Grabstellenlimit nächstes Jahr ablief.

Noch am selben Abend packte er seine Tasche, ging an den Kühlschrank, riss ihn auf, langte nach der angebrochenen Pulle Aquavit, kiekte ihn wieder zu, stahl sich aus der Wohnung und lötete sich unterwegs nach Hause zu.

Gestern gegen Mittag rief sie ihn überraschend an und bat ihn weiterhin an der Runde teilzunehmen. Wir können zwar ab und zu noch miteinander vögeln aber die theoretische Arbeit erachte ich als wichtiger… Ich endlieb mich eben auch rasch wieder", machte sie ihm klar und legte auf.

Beinahe quarzte er den Filter heiß. Hastig ließ er die Kippe in den Ascher fallen und checkte die Aussicht. Affen und Gesichter schienen endgültig verschwunden zu sein. Auch die unterschiedlichen Noten des Blaulichts gaben nichts mehr her. Steiflastig wandte er sich Eudämonia zu. Blindlings trafen sich ihre Blicke. Instinktiv musste sie auf denselben Riecher gekommen sein. Vorige Nacht in einem seiner Träume, besann er sich seltsamerweise, hatte sie sich in einem weinenden Phallus verwandelt, der sich mit einer Grabwespe stritt während er dazwischen stand und lauschte. Schließlich stieg die Wespe auf, attackierte ihn von hinten und stach ihm in die Kranzfurche. Er sank nieder und statt seiner erschien vor Big Boy’s Füssen urplötzlich eine sterbende mit den Flügeln schlagende Fledermaus… Rasenden Herzens und konfus wachte er auf und fuhr hoch.

Eventuell war’s ja mein herausgerissenes Herz oder das Trauma wahrer Liebe, fantasierte er sich zu Recht, kam wieder von ab und versuchte die Sache mit gewohnter Skepsis anzugehen, derweilen Eudämonia und er sich im Fadenkreuz behielten.

Vielleicht bestand der Liebreiz aus nichts weiter als unterschwelligen Schönheitsnormen, Mutteridolen, sexuellen Erwartungshaltungen oder Gewohnheiten sowie aus verdrängter Agoraphobie, mutmaßte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Eudämonia schien sich eins zu feixen.

Big Boy jedenfalls hoffte so schnell wie möglich fündig zu werden. Zwecks der drei bis vier Positionen auf der Endlosschiene. Kunststück es so zu gestalten das es nicht langweilig wurde, schloss er, ließ ein Zahntriefendes Grinsen stehen, wandte sich dem Fenster zu, nestelte eine Camel aus der Packung und rauchte sie an. So ne Art dreckiger Sisyphosarbeit, schwante es ihm. Donner Schock aber auch… Weise schmunzelnd hörte er sie davon humpeln. Aber wenn ich so meine Laterne hebe wird’s langsam aber sicher genauso sinnlos von zu träumen…

Die Lulle im Mundwinkel drehte er sich um und schlenderte Richtung Flur. Die Tür zu ihrem Privatgemach stand sperrangelweit offen und die brennenden Teelichter verbreiteten eine anheimelnde Atmosphäre. Er ließ sie links liegen, zog sich seinen Ledermantel über und machte dass er raus kam.

Als er aus dem Hauseingang trat knurrte ihm der Magen. Im "White Trash Fast Foot" in Mitte gab’s um Mitternacht ein Konzert der Band "Rummelsnuff". Er sah auf die Uhr. In gut dreißig Minuten, dachte er. Mit ner Droschke müsst es eigentlich dicke zu schaffen sein. Er wandte sich nach links und marschierte los. In der Nähe des Bahnhofs winkte er sich ein Taxi heran, stieg ein und gab die Adresse an.


 

Barbara Skop
Auf dem Weg zum See    

 

Kaum hatte ich die schwere Messingklinke unserer Wohnzimmertür, mit dem geriffelten, tropfenförmigen Knauf, der mich an das Haus einer Weinbergschnecke erinnerte,  herunter gedrückt, stand ich auch schon im hohen Flur unseres Mietshauses.

Die Türklinke reichte mir zu jener Zeit bis zu den Schultern.

Ich hatte weiße Kniestrümpfe an, die immer ein wenig ins Fleisch schnitten, weil der Gummi am Rand zu straff war. Am Abend zeichnete sich an meinen Waden ein Muster ab, und genau an diesen Stellen juckte es dann jedes Mal unaufhörlich. Der weinrote, karierte Plisseerock, den ich an diesem Tag trug, war am Bund zweimal umgekrempelt. Er war noch etwas zu groß; ich hasste Röcke. Aber er galt als besonderes Kleidungsstück und sah jederzeit schick aus. Flecken sah man so gut wie nie, und er knitterte nicht. Ich konnte ihn den ganzen Sommer über tragen. Er war von Tante Elli- fast jedes Kind hat so eine Tante Elli-, die gar nicht meine Tante, sondern eine entfernte Verwandte war. Wir nannten sie nur so. Sie schickte uns ab und zu ein Packet mit sehr schönen Sachen.

 

Damals wohnten wir im ersten Stock, und ich hatte kaum Mühe, die steile Treppe in wenigen Sätzen hinab zu springen. Viel anstrengender war es, nach wildem Spiel die hohen Stufen, die entweder fürchterlich staubig waren oder aber alle vierzehn Tage nach Bohnerwachs rochen, zu bewältigen. An der Haustür war eine glatte, unförmige, langweilig moderne Aluminiumklinke angebracht, bei der sich hin und wieder der Stift löste. In diesem Fall schob Frau Fischer, eine aufgedonnerte Witwe und unsere Vermieterin, einen riesigen, herrlich robusten Holzkeil, aus dem grobe Splitter herausragten, unter die Tür. So stand die Haustür meist den ganzen Tag offen. Abends wurde sie dann abgeschlossen. Jede Mietpartei hatte einen solchen Schlüssel und war dazu angehalten worden, die Tür Punkt neun abends, im Winter aber schon vor Anbruch der Dunkelheit, zu verschließen.

 

Vor mir lag nun die Straße. Sie war mit einer unebenen, langen, nacheinander angeordneten Steinplattenkette gepflastert, die aber immer vor den Toreinfahrten endete und in ein mit verschiedensten Holpersteinen befestigtes Durcheinander mündete. An dieser Stelle mussten wir Kinder unsere Rollschuhe entweder abschnallen oder vorsichtig hinüber staksen. Zu beiden Seiten waren kleine Steinwürfel in mühevoller Arbeit eingehämmert worden. Ich ging rechter Hand die Steinstraße hinunter. Die leichte Neigung widersprach irgendwie meinem Vorhaben.

 

Ich wollte behutsam, ja feierlich, in Vorfreude auf das Kommende, meinem Ziel, das sich letztendlich in zwei zeitlich und bildlich zutiefst widersprüchlichen Erlebnissen ausdrückte, entgegen schreiten.

 

Zeit misst man ja nicht nur; auch fühlt man Zeit- als quälend endlos, herrlich weit, mit Leichtigkeit und Genuss verrinnend oder zu schnell dahinjagend.

Und wie fühlt man sich gegenüber der Zeit? Man fühlt sich ihr machtlos ausgeliefert. Man fühlt sich ohnmächtig und verzweifelt, aber auch beruhigt - wegen ihrer Unaufhaltsamkeit, wegen ihrer Flüchtigkeit, wegen ihrer Fähigkeit, sich uns einfach zu entziehen, sich schmerzhaft schnell uns zu entreißen oder sich uns aufzudrängen, aber auch uns die Verantwortung für das Vergehen abnehmend…

 

Ich liebte nun zum einen diesen überwältigenden in Zeitlupe herannahenden Augenblick, in dem das trostlose Bild der heruntergekommenen Fischbänkenstraße in Bruchteilen von einer Sekunde in die lebende mal sanfte- mal tobende Idylle umkippte - und dann wieder mit einer Zuverlässigkeit die ungeheure zeitliche Weite bot, die der Ruppiner See für mich war.

Der Anblick entführte mich in ein "Überglücklichsein". Immer abwechselnd atmete ich bis an die Grenzen tief ein/aus und hielt dann den Atem an…, bis ich das Gefühl hatte, mit der Natur eins zu sein; ja, bis ich das Gefühl hatte, mich wieder zu haben.

 

Nun wollte ich doch dorthin nicht geschubst werden! Ich wollte noch Zeit haben, um mich auf diesen glückseligen Zustand vorzubereiten.

Ich wollte wirklich bereit sein, um in diese Stimmung eintauchen zu können, ja die verstreichenden Momente leibhaftig zu spüren. Ich wollte jeder Sekunde, jedem kleinsten Augenblick eine Empfindung entgegensetzen, ein bestimmtes Gefühl zuordnen können.

Ich wollte das erstrebenswerte Verhältnis zwischen den Dingen und der nötigen Zeit dazu finden - die Zeit greifbar machen, die diese Dinge brauchen, wenn sie diese Zeit und die Erinnerung verdienen -, um deren Augenblicke tief ins Gefühl und damit ins Gedächtnis zu brennen.

 

Niemand wird bestreiten, dass die Dinge, die wir erlebt haben und die mit einem riesigen Gefühl verbunden waren, niemals mehr vergessen werden.

Hingegen die Dinge, denen wir nicht genügend Gefühl entgegenbringen und eine gewisse Andacht, Bedächtigkeit, Demut, Konzentration verweigern, sind im Nu in uns hinabgestürzt.

Natürlich muss unbedingt vieles in uns hinabstürzen.

Aber die Dinge, die wir uns bewahren wollen, sollen wir mit unserem ganzen Dabeisein in uns aufnehmen, einatmen.

Wir Erwachsenen erleben diese intensiven Momente so selten. Die uns begrenzenden Alltäglichkeiten, die unser Leben auszufüllen scheinen, zeigen sich mitunter so überzeugend, dass wir selber daran glauben, ja daran glauben wollen. Manchmal sind sie aber auch unentbehrlich, weil sie für die Wunden in unseren Herzen lebenswichtiger Balsam sind.

 

Es war nicht so, dass ein Tag einfach linear so vor mir lag; so und so viele Erlebnisse für mich hatte, das ahnte ich spürbar, sondern es waren zahllose miteinander verstrickte, sich mit aus anderen Zeiten verbindende und sich verselbstständigende Eindrücke, Gefühle, Empfindungen, durch die sich der Tag in mir niederschrieb.

Diese Erlebnisse brannten sich unter meine Haut, in mein Gehirn, in meine Seele, denn ich hatte und nahm mir die den Erlebnissen entsprechende notwendige Zeit und erlebte mit allen Sinnen.

So konnte ich das in mir Aufgenommene als Lebenslust, Bestürzung, grenzenloses Glück -und was auch immer- wieder freilassen und zurückgeben.

 

Nach so einem Tag hatte ich keine Lust mehr, die zwar nur leicht aber stetig ansteigende Straße zu bezwingen. Ich war erschöpft.

Ich mochte es überhaupt nicht, zu irgendetwas gezwungen zu werden. Ich wurde dann immer ungelenk. Alles stand sich in mir selbst im Weg, so dass ich für die einfachste Tätigkeit riesige Kräfte aufbringen musste.

Geblieben von all dem sind die Erinnerungen an diese tiefen Empfindungen und Gefühle, die ich jetzt begreife und vor allem mir erklären kann.

 

Es gab eine Reihe möglicher Wege, auf denen ich an mein Ziel gelangen konnte. Nur drei davon aber kamen in die engere Wahl. Andere waren entweder zu weit oder aber war es mir verboten worden, diese allein zu gehen.

Dann später übrigens, auf dem Heimweg, benutzte ich, mir unverständlicherweise, wie von Geisterhand geführt, immer dieselbe Straße; eine mittelalterliche Gasse, die wie aus einer anderen Welt geschaffen war, als ob ich nun selbst nach der Berührung mit meinem See, auch einer anderen Welt entsprang. Jedenfalls schien sie zusammengeflickt; kein Stein, kein Strauch, kein Baum passten zueinander. Vielleicht stimmte sie aber auch deshalb in sich in ihrem Ungeordnetsein. Sie führte an der zerfallenen Stadtmauer, auf der unzählige Glasscherben eingemauert waren, die vor Eindringlingen zu Zeiten der Burgen und Schlösser die Stadtbewohner schützen sollte, entlang, und sie barg die Gefahr, einem "Kinderschänder" zu begegnen. Doch sicherte sie mir auf dem Heimweg das Alleinsein, das ich nach meinen Abenteuern und Erlebnissen suchte und genoss. Ich hatte zwar manchmal Angst, dennoch siegte der Drang, das Erlebte ungestört in mir nachwirken zu lassen. Es steigerte mein Lebensbewusstsein, es steigerte mein Lebensgefühl- und wog alle Gefahren auf.

 

Doch jetzt zog es mich ja an einen meiner Lieblingsorte, zum See an der großen Wichmannlinde.

 

Ich beschloss, die mir bekannteste Route einzuschlagen. Sie gehörte zu dem Karree, das für uns Kinder aus der Nachbarschaft immer eine Rollschuhrunde bedeutete. An der zweiten Ecke war ein klitzekleiner Konsum, der von einer dicken, schwerfälligen, unfreundlichen Mittefünfzigerin beherrscht wurde. Ich ging fast jedes Mal, wenn ich vorbei kam, in diesen unscheinbaren Laden, um herauszufinden, warum die Verkäuferin so mürrisch, ja bärbeißig war. Aber egal, wie ich mich verhielt, sie wirkte immer übel gelaunt. Ich kaufte Lebensmittel nur dort; ich wollte ihr zeigen, dass ich es ernst meine und keine freche Göre bin; dass ich mich nützlich machen kann, meistens keine Grimassen schneide und ihr auch nicht "alte Kuh" hinterher rufe, weil noch niemand von uns Kindern sie je freundlich sah. Später aber gab ich meinen guten Willen auf und ignorierte sie beim Einkaufen, sprach nur das Notwendigste, packte die Sachen ein und ging.

 

Als es sich unter uns Kindern herumsprach, dass es woanders Stieleis und den von uns heiß begehrten "Kalten Kuss" gab -das war ein sahnehaltiges, in Silberpapier eingewickeltes Vanilleeis, das zu einem Großteil mit einer dünnen Schicht Halbbitterschokolade überzogen war und damals 35 Pfennig kostete-, wechselte auch ich den Lebensmittelladen. Neben der gläsernen Tür des Konsums, die mit einer quer angebrachten, immer kühlen Metallstange versehen war, thronte eine freundliche, immer zu einem Spaß aufgelegte Verkäuferin. Sie war wohl auch so um die fünfzig und hatte graues, leicht dauergewelltes, nach hinten gekämmtes Haar, das sie versuchte, mit zwei großen, gelbbraun melierten, leicht gewölbten Hornkämmen, wie ich sie auch von meiner Großmutter kannte, zu bändigen. Hinter ihrer randlosen Brille lauerten zwei freundliche, stets spitzbübisch dreinblickende, blaue Augen.

Die andere Verkäuferin, die hier beschäftigt war, hatte glattes, rabenschwarzes Haar und war übermäßig stark geschminkt, so dass sie von weitem etwas finster wirkte, aber in Wirklichkeit burschikos, witzig und auch sehr freundlich war. Sie schaute mir manchmal, wenn der Laden nicht so voll war, hinterher, was ich bedeutend fand. Einige Jahre später verdiente ich hier in den Ferien mein erstes Geld, wovon ich mir den ersten, heiß ersehnten Plattenspieler kaufte.

 

Aber mein eigentlicher Weg führte mich an diesem Tag weiter quer über den Rollschuhplatz. Links davon lag der kleine Spielplatz mit den Kettenschaukeln und die Heißmangel, die von einem kinderlosen, älteren Ehepaar geführt wurde.

Etwa einmal im Monat belud meine Mutter den kleinen Holzhandwagen, der mit festen Gummirädern ausgestattet war, mit unserem schön geflochtenen Wäschekorb, in dem sich die draußen durch Wind und Sonne getrocknete, duftende Wäsche befand. Ich durfte den Wagen bis vor die Tür der Heißmangel kutschieren. Dann aber kam der ältere Herr und holte den Korb in den Parterre gelegenen, feuchtwarmen Raum. Hatten wir einen Termin, konnten wir die Wäsche gleich dort mangeln. Manchmal war es sehr still, wunderbar still, und die Arbeit ging voran, als ob wir uns in einer Geheimsprache verständigt hätten. Das Arbeitstempo schrieb uns die monoton, träge vor sich hin drehende Heißmangel vor, so dass wir uns nicht vorwerfen konnten, eventuell zu langsam zu arbeiten. Meistens ging es sehr heiter zu. Sie trieben sehr oft ihre Späße mit mir, und ich wusste manchmal nicht, was ich davon ernst nehmen sollte. Wenn sie mich so nachdenklich sahen, lachten sie über mich- aber nie bösartig. Ich war ihnen sehr zugetan.

Der Ablauf beim Wäschemangeln war ziemlich einfach. Meine Mutter und ich falteten zum Beispiel ein Bettlaken erst auseinander, hielten jeder die zwei Ecken der jeweils kürzeren Seite, gingen soweit auseinander, bis sich das Laken straffte und kräuselten es dann längst zusammen. Das geht so: Man lässt die Finger und den Daumen der rechten und der linken Hand mit dem gestärkten Wäschestück aufeinander zulaufen, bis sich beide Hände treffen, spannt sie zu zwei Fäusten und reibt sie schnell, immer abwechselnd aneinander, aber im gleichen Rhythmus wie sein Gegenüber. Nach dem Auseinanderfalten streicht man das geschmeidige Wäschestück glatt und legt es vorsichtig auf gleicher Höhe an die heiße, ständig rotierende Walze, die sich das Wäschestück greift, es verschlingt und immerfort drehend gegen die Heizplatte presst. Nach wenigen Augenblicken wird es, kaum noch wieder zu erkennen, auf der anderen Seite der Mangel sichtbar.

 

Rechts, neben dem Rollschuhplatz, der zwischenzeitlich auch als Autoteststrecke und im Winter als Schlittschuhbahn genutzt wurde, lag da diese Fischbänkenstraße. Sie bestand aus winzigen, zerfallenen zweistöckigen sich aneinander schmiegenden und sich gegenseitig haltenden Häuschen, die mich heute an dickbauchige Trickfilmhütten erinnern. Man hat wohl vergessen, sie abzureißen oder rechtzeitig instand zu setzen, denn sie drohten schon beim Betrachten einzustürzen. Nun musste man sehr vorsichtig über die Straße gehen. Nicht, dass hier riesiger Autoverkehr herrschte, es war wohl eher eine ruhige Straße, aber ab und an krachte ein russischer Militärwagen vorbei, der einen in Angst und Schrecken versetzte. Die Soldaten fuhren sehr beherzt und sahen auch die Bordsteinkanten nicht als wahres Hindernis. Sie waren mir nie so ganz geheuer. Man erzählte sich viel. Sie behausten am See eine riesige Kaserne, vor der eine unscheinbare Mauer hochgezogen war. Im so genannten "Russenmagazin" durften auch Deutsche einkaufen. Es gab dort wunderbare Sorten verschiedenster Waffelpralinen, die in glänzendes Papier eingewickelt waren. Man konnte sich eine bunte Mischung zusammenstellen lassen. Die Pralinen wurden dann in eine hellgrüne oder graue, stumpf wirkende, spitze Papiertüte hineingeschüttet. Das Überraschende für uns Kinder war dann immer, dass man aus so einer ollen Papiertüte, die herrlichsten Pralinen der Welt herauszaubern konnte. Auch gab es da mal Bananen oder Apfelsinen oder Mangosaft, wenn es in allen übrigen Läden nichts Vergleichbares gab. Trotzdem war ich als Kind immer sehr froh, wenn wir wieder aus dem Backsteinbau heraus waren. Es war ein Gebiet, das man lieber mied. Soldaten sah man kaum. Nur manchmal liefen zwei Uniformierte eilig umher, um das riesige Eisentor zu öffnen. Ein Militär-LKW kam in der Regel dann herausgedonnert. Ich zuckte jedes Mal höllisch zusammen. Im Winter sah man die Soldaten gelegentlich mit freiem Oberkörper und barfuss durch den Schnee preschen. Im Sommer profitierten sie von der Lage am See. An dem klitzekleinen Strand, an dem sonst die Schwäne hoch gewatschelt kamen, schoben sie ihre Fahrzeuge ins Wasser, um sie kostengünstig zu reinigen. Einmal bin ich nachts aufgeschreckt. Da kam die Feuerwehr. Die Offiziere hatten lange gefeiert und gesoffen. In der Kaserne loderte ein Lagerfeuer bis tief in die Nacht. Am Morgen war der Dachboden heruntergebrannt. Das Haus wäre sicher längst abgerissen worden. Aber man schreibt das Jahr 1996, es ist inzwischen viel geschehen. Und - das Land hat neue Herren.

 

Noch unzählige Male machte ich mich in meiner Kindheit und Jugend auf den Weg zum See. Zwei der entscheidendsten und unglaublichsten Glücksmomente erlebte ich als Kind, wenn ich in Vorfreude, mit genauen Vorstellungen vom letzten Mal und aber auch neuen Erwartungen durch die Straßen diesem Ort entgegenlief, dann genau dort innehielt, wo das Bild dieser vergessenen Gasse in eine nie erwartete Idylle umkippte; wo dieses Bild mir die Möglichkeit offenbarte, dass sich das menschliche Leben mitunter ebenso verhielt, dass vielleicht die für einen stehenden Dinge manchmal in einem winzigen Augenblick ebenso umkippen und sich ins Gegenteil verkehren konnten. Dieses Gefühl gab mir eine gewisse Zuversicht und Vertrauen zu meinem Körper und in die Natur der Dinge, Vertrauen -aber auch eine gewisse Wachsamkeit- zu dem sich außen abspielenden Leben und zu dem Sinn einer scheinbaren Unordnung.

Und obwohl ich diesen wundervollen Ort schon so oft genossen hatte, stand ich letztendlich doch immer wieder fassungslos, staunend und gierig alles in mich aufnehmend vor diesem mich tief beeindruckenden Fleckchen Erde.

 

Hier konnte ich meinen Gedanken, meinen Gefühlen und vor allem meinen und meinem Sinnen freien Lauf lassen. In dieser Urlandschaft fühlte ich, wie Energien in meinen Körper zurückströmten, die mir der Alltag gnadenlos abzapfte, wie sich der Stau in meinem Kopf löste, wie ich die Kraft meines Körpers wieder fühlte, wie sich die Teile in mir wieder zu einem harmonischen und übereinstimmenden Ganzen zusammensetzten.

 

Hier, an meinem See, hatte ich erstmals den Verdacht, dass dies eine Möglichkeit ist, durch ein für sich selbst aufgedecktes und geklärtes, tief gefühltes Zeit-, Gedanken- und Gedächtnisgeflecht das eigene Leben zu verlängern.

Hier erlebte ich den Verdacht, dass uns vielleicht statt eines linearen Denkens ein räumliches Denken ein tiefes und lang gefühltes Leben ermöglicht.

 

Auch heute noch führen mich die Sehnsucht nach Lebenstiefe und die Suche nach Antworten und der nie abreißende Strom von geklärten und ungeklärten Momenten - scheinbar in meinem wohlbehüteten Rucksack verstaut - immer wieder auf den Weg zum See. Ich habe in meinem unglaublichen "Glück" Synonyme für meinen "Weg zum See" gefunden, die ich als göttliche Schlüssel des Sehens, eines entwirrenden Sehens empfinde, so dass es mich immer wieder erneut in einen Zustand des "Mit mir im Reinen sein" führt.

Ich denke, das ist Glück! Ich denke, das ist "Ich- Glück". Und wenn das jeder für sich finden könnte…!

 

Es ist ein Genuss, und es ist befreiend, die schmerzhaft kurzen Momente, nochmals nachzuerleben, sie zu konservieren und dabei die ungetrübte Hoffnung zu haben, keinen Moment wirklich zu verlieren,

die schmerzhaft langen Momente, endlich abzustreifen und einzumotten,

die glücklichen Momente, auf verschiedenen Ebenen und in Nuancen wiederholt zu erleben,

die traurigsten Momente des Lebens, endlich zu verarbeiten und die Trauer ausleben zu können.

 

Es ist ein wahres und hohes Fest des Verstandes und des Geistes und der Seele, all die geklärten und ungeklärten Momente aus verschiedenen Zeiten des eigenen Lebens fruchtbar zu verknüpfen, dieses wertvolle Geflecht aus Sinn und Sinnen, Gedanken und Gedächtnis, Gefühlen, Orten, Zeitebenen, in das eigene Herz zu brennen, sich großzügiger zuzulassen und ein schönes "Ich" daraus zu formen.

 

Vielleicht wird uns ja auch im Laufe unseres Lebens die Lebenszeit dann nicht immer schneller und schneller davonrennen. Vielleicht werden uns dann die erlebten Momente dicht an dicht zugänglich sein. Vielleicht fliegt uns so dann das Leben nicht davon.

 

Na ja, inzwischen wurde "mein Weg zum See", der mein Leben so wunderbar geprägt hat, zu einem anderen, "modernen" Leben genötigt.

Er hat sich nicht selbst prostituiert. Und er konnte sich bisher nicht wehren.

Aber irgendwann vielleicht können die großen Geister aus ihrer Verbannung mit einem neuen Weltbild zurückkehren.


 

Kerstin Janke
Der ewig Gestrige

 

Er war hoch gewachsen. Stets bedacht darauf, den Rücken gerade zu halten. Immer aufrecht. Seine Augen in ständiger Bewegung. Aufmerksam beobachtete er die Welt um sich herum. Das graue Haar gepflegt, adrett geschnitten. Sein langer schwarzer Mantel war altmodisch zwar, doch tadellos in Faltenwurf und Form. Sein Revier: Bahnhof Ostkreuz. Gemeinsam waren sie in die Jahre gekommen.

Fast täglich wandelte er umher, sog den Duft ein, den die Reisenden aus allen Himmelsrichtungen hierher brachten und vermischten. Oft stand er reglos auf dem Bahnsteig, die Hände auf dem Rücken verschränkt, forschend. Diese Geschwindigkeit, diese Rastlosigkeit. Das war früher anders. Damals kam man auch irgendwann an.

Oft half er älteren Damen die Treppen hinauf, stützte sie oder trug ihr Gepäck. Wenn sich eine dieser Damen bedankte, machte er eine dezente Verbeugung. Dies sei ja wohl das Mindeste, was er für eine solch edle Lady tun könne. Entzückt waren die Damen von ihm, allesamt.

"Hat der charmante Gentleman einen Namen?" fragte ihn einmal eine jener Frauen.

"Nennen Sie mich Paul", antwortete er, jedes Wort deutlich aussprechend, und küsste ihre Hand.

Immer dann, wenn sich der Berufsverkehr auf den Bahnsteigen drängelte, zog Paul sich ein wenig zurück. Zu hektisch geriet das Treiben dann, es machte ihm ein wenig Angst. Damals, als er so jung war, wie diese Umherpendelnden, war S-Bahn fahren noch etwas ganz Besonderes. Der Fahrschein war für ein Vermögen von zehn Pfennig zu haben. Für die Fahrt selbst putzte man sich heraus, Schuhe und Hut extra gesäubert. Die Kinder sprachen tagelang von nichts anderem. Überpünktlich stand man dann aufgereiht in knisternder Vorfreude auf dem Bahnsteig, grüßte mit einem Kopfnicken nach rechts und hob den Hut in linker Richtung. Ratternd fuhr das neumodische Ungetüm ein, Kinder jauchzten, Erwachsene gerieten in Aufregung. Meist ging die Reise dann an den Stadtrand ins Grüne, Sonntagspicknick.

Ja, früher, daran dachte Paul oft, während er versuchte, den vorbeieilenden Gesichtern einen Ausdruck, ein Gefühl zu entlocken.

Jeden Abend wartete er, bis allmählich ein wenig Ruhe am Ostkreuz einkehrte. Späte Reisende waren stets langsamer, gar glücklich manchmal. Still wandelte er umher, beobachtete, half einem Stadtstreicher seiner in zahllosen Plastiktüten verstauten Habe Herr zu werden. Die Nacht kroch die Bahnsteige entlang, ergriff Besitz von ihnen.

Die Frau vom Blumenhäuschen schloß ab und winkte ihm zu. Bedächtigen Schrittes trat er auf sie zu:

"Wie darf ich Ihnen behilflich sein, Lady?"

"Ach Mensch, Herr Paul", sagte sie, "ob ick Se wohl mal umen Jefallen bitte dürfte?"

"Immer gern", antwortete er in gewohnter Eleganz mit sanfter Stimme.

"Sie sinn doch eh immer hier. Ob Se wohl immer maln Blick uff mein Häuschen werfen könnten. Irgendwer hats letzte Nacht beschmiert. Ick jeb Ihn ochn bissl Jeld oder nen Blumenstrauss gratis."

"Ehrenwerte Lady ich helfe gern. Aber bitte keine dinglichen Almosen." Er verneigte sich ein wenig. "Verlassen Sie sich auf mich."

Die Blumenfrau war hingerissen, Dankesschwüre murmelnd ging sie davon.

Bedächtig lief er um das Blumenhäuschen herum. Er verstand diese Jugend von heute nicht. Was sollte es für einen Sinn ergeben, ein kleines Blumenhäuschen zu verschandeln? War dies moderner Kunst zuzurechnen, deren Zugang sich ihm verwehrte? Was war das nur für eine Welt geworden, in der solche Respektlosigkeiten stattfinden konnten.

Die Stunden verstrichen, der Nachtschwärmer wenige nur waren noch unterwegs. Paul nutze einen Moment, in dem der Bahnsteig verlassen dalag und durchsuchte mit geübtem Griff die Mülleimer. Er zog zwei Pfandflaschen heraus und steckte sie geschwind unter seinen Mantel. Peinlich berührt sah er sich um. Nein, zum Glück hatte niemand etwas bemerkt. Wäre dies eine gewöhnliche Nacht, ginge er jetzt auf einen anderen Bahnsteig, um dort ebenso nach zurückgelassenen Werten zu suchen. Doch heute würde er hier verweilen, er hatte der Blumenfrau sein Wort gegeben.

So schritt die Nacht voran, die Zeit hielt niemals an. Ehe man sich versah war das Heute schon zum Gestern geworden. Und das Gestern lange Vergangenheit. Die Nacht blieb so ruhig wie eine Ostkreuz-Nacht eben so war. Am Ausgang saß eine Gruppe Obdachloser, ihr Erscheinungsbild als Provokation. Sie zwangen die Fußgänger auszuweichen, pöbelten und feierten, so wie jede Nacht. Paul hatte sich mit ihnen arrangiert, man grüßte einander gar. Einst hatte einer von ihnen Paul eine leere Flasche hingehalten. "Hier Opa", hatte er gesagt. Paul hatte dankend abgelehnt. Eilig war er davon geschritten.

Als der Morgen dämmerte, wurde Paul von einem vorbeiratternden Zug geweckt. Er musste eingenickt sein, hier auf der Bank. Schnell stand er auf, ging um das Blumenhäuschen und, zum Glück, alles in Ordnung. Zusehens belebte sich der Bahnhof, Frühaufsteher trafen auf Nachtschwärmer. Auch die Blumenfrau kam früh und war nicht wenig verwundert, als sie Paul sah.

"Herr Paul, Se ham doch nich etwa die janze Nacht hier jesessen?"

Er hob die Hand zum Gruße. "Aber natürlich Madame, so war es versprochen." Untertänig neigte er den Kopf und zwinkerte ihr zu.

"Es hätte gereicht, wenn Se immer mal geguckt hätten, so lang Se eh hier sind. Dit kann ick nie wieder jut machen", sagte die Blumenfrau und fingerte ihr Portemonnaie aus der Manteltasche. "Nehmse doch wenigstens ein paar Cent."

"Werte Dame, bitte kein Geld", intervenierte er. "Ihr Dank ist mir Belohnung genug."

"Sie sin mirn komischer Kauz", rief sie kopfschüttelnd und widmete sich ihren Blumen.

Indes Paul war müde, er trat den kurzen Heimweg an. In seinem bescheidenen Heim angekommen hängte er seinen Mantel auf einen Bügel und strich ihn sorgfältig glatt. Ein wenig peinlich berührt nahm er die zwei Flaschen aus den Innentaschen und stellte sie zu einigen anderen auf die Flurkommode. Gedankenversunken betrachtete er sie. Was war nur aus ihm geworden? Er, der einst so weltgewandt und gebildet zur vornehmen Gesellschaft gehörte. Er, der damals eine viel beachtete Doktorarbeit verfasste, die halbe Welt bereist hatte und es liebte über Politik und Wirtschaft zu philosophieren. Heute stocherte er in anderer Leute Müll für acht Cent pro eroberten Pfandwertstück. Einen tieferen Punkt gab seine Skala des Lebens nicht her.

Langsam und behutsam legte er die graue Decke zurecht, die seinen alten Schaukelstuhl etwas gemütlicher machte. Dieser fristete ein einsames Dasein, nur ein kleiner Couchtisch leistete ihm Gesellschaft. Den Rest des Mobiliars hatte Paul schon vor langer Zeit verkauft. Damals hoffte er noch, dass diese Finanzspritze für den Start in ein anderes Leben reichen würde. Traurig setzte er sich nieder, wie so oft ganz von Melancholie befallen. Er griff das Foto, welches das Tischchen schmückte. Seine Frau war darauf, damals noch jung, so hübsch und fröhlich. Ja, damals gehörte sie auch noch zu ihm. Er betrachtete es und träumte sich in die Vergangenheit, in eine bessere Zeit. Gemeinsam hatten sie die Stadt durchstreift, Ausstellungen besucht, gemütlich in Cafes gesessen, sich geliebt. Gemeinsam hatten sie die Spree und ihre Ufer genossen, die Stadtluft geatmet, den Winter gehasst. In seinen Erinnerungen sah er sich immer und immer wieder mit ihr am Ostkreuz stehend darüber diskutierend, welchen Bahnsteig sie zu benutzen hatten, um an dieses oder jenes Ziel zu gelangen. Meist hatte sie Recht behalten, stets kam ein "Siehst Du, Du alter Zausel, Du kannst mir glauben" über ihre lächelnden Lippen. Dann kauften sie sich zwei Fahrscheine vom bereits zu Hause abgezählten Kleingeld und fuhren nach Hoppegarten, Erkner, Bernau. Eine schöne Zeit. Vergangenheit.

Sie war weg. Und mit ihr war das verschwunden, was für ihn das Leben war. Er zog sich mehr und mehr zurück, langsam entglitt ihm der Alltag. Unfähig seinen alten Weg fortzusetzen und gleichsam zu schwach einen neuen zu beschreiten, verrichtete die Zeit ihr retuschierendes, vertuschendes Werk. Heute, so schien ihm, lebte er mehr als Schatten denn als reale Person, strich umher, keine Arbeit, kein Geld, kein Sinn. So war er zum Beobachter, zum Tagträumer geworden, der die Allgegenwärtigkeit der Gegenwart kaum ertrug, der die Tage nicht mehr zählte, sondern nur deren Vergehen ersehnte. Der Bahnhof diente ihm als Tor zu seinen Gedankenreisen in die glückselige Vergangenheit.

Paul war eingenickt. Als er erwachte, war die Last des Gestern von seinem Schoß gerutscht; das Bild lag auf dem Boden, die Glasscheibe zerbrochen. Mühsam erhob er sich, sah einen Moment lang traurig die kleinen Splitter an und wand sich ab. Wie jeden Tag nahm er seinen Mantel und ging zum Ostkreuz. Was sonst sollte er tun?

So stand er wie er es immer tat auf einem Bahnsteig und sah den Menschen zu, die eilig ein- und ausstiegen, drängelten, schimpften. Ein kleines Mädchen hüpfte fröhlich über den Bahnsteig, zog seine Mutter hinter sich her.

"Du sieh mal, Mama", rief es. "Das ist der Opa, von dem ich Dir erzählt habe." Sie zeigte auf Paul. "Der mit den Flaschen." Sie zog ihre Mutter zu sich herunter und fügte flüsternd hinzu: "Er schämt sich deswegen ein bisschen." Paul fühlte sich zutiefst gekränkt, erniedrigt, erwischt. Hastig sah er sich um, Passanten blickten ihn an, so viele hatten es gehört. Er senkte den Kopf und wünschte nicht da zu sein, ach dieser Bahnhof, dieser Ort brachte ihm einfach kein Glück. Diese Schmach, er wusste nicht was er tun sollte, stand wie angewurzelt. Zu allem Überfluss steuerten das Mädchen und ihre Mutter auch noch direkt auf ihn zu. Die Mutter reichte ihm eine Plastiktüte voller leerer Flaschen und sagte leise:

"Die hat die kleine Maria für sie gesammelt."

Paul fühlte sich plötzlich unglaublich alt. Er hatte sich geirrt, als er sich sicher glaubte, nicht tiefer sinken zu können.

"Nein, nein", wehrte er verzweifelt ab. "Das kann ich nicht annehmen."

"Aber Sie würden Ihr eine große Freude machen. Sie will Ihnen helfen."

Maria sah Paul mit ihren großen, strahlenden Augen an.

"Ich kann noch mehr sammeln", flötete sie fröhlich. "Ich mache Dich reich. Und dann brauchst Du auch nicht mehr heimlich in den Mülleimern zu gucken."

Paul schloss die Augen. Das durfte einfach nicht wahr sein. Das war einfach mehr, als er ertragen konnte. Er nahm die Tüte wortlos, dies schien ihm der geeignete Weg zu sein, dieser unsäglichen Situation so schnell wie möglich zu entkommen.

"Darf ich Opa zu Dir sagen?" Marias helle Stimme drang wie aus großer Ferne an sein Ohr, Paul brachte keinen Ton heraus.

"Wir müssen jetzt gehen, Maria", sagte die Mutter endlich.

"Bis morgen", rief die Kleine noch, dann waren sie verschwunden.

Paul stand noch immer versteinert, wie im Schock, er musste sofort weg hier, er würde niemals wiederkehren. Wie ein gehetztes Tier schlich er nach Hause, warf seinen Mantel in eine Ecke und sank erschöpft in seinen Sessel. Warum war das Leben so grausam zu ihm?

Tagelang quälte er sich, konnte nichts essen, sank immer wieder in einen flachen Schlaf, versuchte vergebens Trost in den Gedanken an bessere Zeiten zu finden. Wütend zertrat er eines Morgens die ohnehin kümmerlichen Überreste des Bildes seiner Liebsten. Immer wieder dachte er an Maria, welch süßes Mädchen, wie fröhlich, wie unbedarft im Umgang mit der Welt.

Und dann wusste er, was er tun musste. Er zog seinen Mantel an, vergaß in der Eile, den Stoff zu glätten und eilte zum Ostkreuz. Bei der Blumendame kaufte er eine Osterglocke, stellte sich vor neugierigen Blicken geschützt unter eine Treppe, von wo er jene Stelle beobachten konnte, an der die eigentümliche Begegnung mit Maria stattgefunden hatte. Und tatsächlich, um dieselbe Zeit wie Tage zuvor, lief die Kleine mit ihrer Mutter dort entlang. Er trat ihnen entgegen, beugte sich hinab und sagte:

"Kleine Dame, diese wunderschöne Blume ist für Sie."

Maria jauchzte, jubelte und fiel Paul um den Hals.

"Danke, Opa", rief sie. "Und ich dachte schon, Du wärst für immer vereist."

Paul schämte sich ein wenig ob seines plötzlichen Rückzuges.

"Verzeih", antwortete er leise. "Ich bin ein vielbeschäftigter Mann."

"Macht nichts", rief die Kleine und winkte zum Abschied. "Bis morgen, Opa."

Überpünktlich stand Paul am nächsten Tag mit penibel geglättetem Gewand an eben jener Stelle und wartete geduldig. Auf Maria. Er hatte einen Krokus am Wegesrand gepflückt und hielt ihn stolz dem Mädchen hin. Ebenso stolz überreichte Maria ihm eine Tüte mit leeren Flaschen. Er bedankte sich mit einer Verbeugung und einem Handkuss, sie lachte.

Beinahe täglich wiederholte sich nun dieses Ritual, bis Marias Mutter eines Tages fragte, ob er nicht Lust hätte, die beiden auf den Spielplatz zu begleiten und sich ein wenig zu ihnen zu setzen. Er zögerte, wagte jedoch nicht, erneut die Flucht zu ergreifen, so ging er mit.

Am Spielplatz nahmen sie Platz auf einer Bank. Paul war unsicher, blickte nervös um sich, wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Maria löcherte ihn mit Fragen und lauschte neugierig seinen zunächst knappen, dann immer ausführlicheren Antworten. Woher er komme, wie alt er sei, warum er immer auf dem Bahnhof umherging, Maria wollte alles wissen. Und so erzählte er von seinem Leben, von seiner Liebsten, von der Vergangenheit. Je mehr Maria wissen wollte, umso mehr geriet er ins Schwärmen, begann seine Geschichten auszuschmücken und lebendig zu zeichnen. Maria staunte, fragte weiter, versuchte zu verstehen. Die Stunden verstrichen, die Dämmerung mahnte den Heimweg an.

Sie verabschiedeten sich und versprachen einander sich wiederzusehen.

"Darf ich Dich noch ein was fragen?" bat Maria zum Abschied und sah ihn mit ihren großen Augen an.

"Natürlich, kleine Dame, was brennt Dir auf der Seele?" fragte er zurück und lächelte sie ermunternd an.

"Warum träumst Du eigentlich nicht mal von morgen?"


 

Roman Kieß
W+O+I

 

Sie war zierlich, blass und Walter bewunderte ihr Durchhaltevermögen. Jeden Morgen trafen sie sich auf dem Bahnsteig der Ringbahn. Ingrid, um den "Straßenfeger" an den Mann zu bringen. Er hingegen war einfach nur so da. Nun ja, zugegebenermaßen war er nicht nur so da. Das Ostkreuz war sein Arbeitsplatz.

Gewesen.

Die Aufsicht zu führen war nicht besonders ereignisreich, aber man hatte Verantwortung. Und Walter war damals froh, mit Mitte 40 nochmal einen Job zu bekommen. Nur einen Zeitvertrag versteht sich. Aber er hatte gehofft, sich durch Fleiß und vorbildliches Verhalten unentbehrlich zu machen. Als sein Arbeitsvertrag auslief und die Deutsche Bahn Walter trotzdem für entbehrlich hielt, ging er dennoch jeden Morgen zum Ostkreuz. Er wusste einfach nicht, wie er es seiner Frau hätte beibringen sollen. Und hoffte auf eine Eingebung.

Erst waren es Wochen, dann Monate. Eines Tages, knapp zwei Jahre später, musste Walter nichts mehr verheimlichen. Seine Frau war gegangen.

Vor zwei Monaten hatte sie ihn zum ersten Mal angesprochen. Walter hatte sie schon viel länger beobachtet, aber nicht den Mut gehabt, sich ihr zu nähern. Sie wirkte etwas zerzaust und hatte einen harten, sehr abweisenden Zug um ihren Mund. Nein, die ließ man besser in Ruhe.

Es kam auch nur ein flapsiger Spruch. Aber der traf Walter nicht weiter und zumindest hatte er schon mal ihre Aufmerksamkeit gewonnen. Am Donnerstag darauf traf er sie wieder auf dem oberen Bahnsteig vom Ostkreuz an. Walter nahm all seinen Mut zusammen und bot ihr einen Kaffee aus seiner Thermoskanne an. Zu seiner Verwunderung nahm sie – freudig überrascht – die Plastetasse an. "Jar nich ma schlecht, dein Muckefuck", frotzelte sie. Etwas irritiert schaute er ihr in die Augen. Ihre Lachfältchen ließen sie jung und unbeschwert aussehen, aber er spürte, dass dies nicht die ganze Wahrheit sein konnte.

Wie jeden Tag packte Walter seine Thermoskanne und zwei Butterstullen aus. Zuerst war Ingrid sehr zurückhaltend gewesen. Doch so nach und nach stellte sie fest, dass Walter völlig harmlos war und freundete sich mit ihm an. "Mensch, Walter, du sollst dir doch nich imma so in Unkosten stürzen", sagte sie zwischen zwei Bissen und stieß ihm freundschaftlich mit ihrem Ellenbogen in die Rippen. Walter reichte ihr einen Becher mit Kaffee.

"Und?", ihr Blick heftete sich fragend auf sein Gesicht.

"Nein, wieder nichts."

"Dit jibt es doch jar nich." Sie schüttelte ihre zerzauste Mähne. "Du kannst doch nich tagelang jar nüscht jeträumt haben."

Inzwischen war es sowas wie ihr Erkennungszeichen geworden, die Frage nach dem Traum.

Walter schaute in die Ferne, drüben sah man den Turm von der alten Stralauer Fabrik.

"Und bei dir? Du hast bestimmt auch nichts geträumt."

"Ja, leider. Seit fast eenem Jahr ist da nüscht, an det ick mich morgens erinnern könnte", musste Ingrid eingestehen. Sie schmiegte sich an ihn: "Mir ist kalt." Sie zog einen Schmollmund. Walter wurde verlegen. Während er noch grübelte, ob er seinen Arm um sie legen sollte, war sie schon aufgesprungen. Sie mache mal einen Rundflug und sprang flugs in die 42, als schon der Warnton sein durchdringendes Möp-Möp abbrach.

In den Monaten, bevor er Ingrid kennen lernte, hatte er philosophiert, tagelang die Leute beim Ein- und Aussteigen beobachtet, sich Notizen über das Wetter gemacht. Einfach die Zeit totgeschlagen. Was hätte er sonst tun sollen? Einmal hatte er in einer liegen gelassenen Zeitung einen Artikel über Neuseeland gelesen. Plötzlich verspürte er eine Sehnsucht. Dort könnte man sein Glück finden. Für Walter war dies ein Traum. Hier war der leuchtende Pfad, den es nur zu beschreiten galt. Sicher war es schwierig, die Brücken hinter sich abzubrechen und neue Wege einzuschlagen.

Aber es konnte ja nicht ewig so weitergehen. Außerdem wusste er nicht so recht, für wen er das Spiel am Ostkreuz noch veranstaltete.

Allerdings gab es substantielle Hindernisse. Sein Schulenglisch war gelinde gesagt lausig. Startkapital war von Nöten, doch Walter hatte alle Reserven aufgebraucht.

Egal, er hatte wieder ein Ziel!

Sie pries den "Straßenfeger" an wie sauer Bier, aber heute wollte echt niemand was vom Obdachlosenmagazin wissen. Ein schwieriges Geschäft. Na, immerhin, auf einem Rundflug mit der Ringbahn war sie meist vier oder fünf Exemplare losgeworden.

Es war immer wieder ein Erlebnis die Gesichter der in der Bahn Angesprochenen zu sehen. Gleichgültigkeit, Schamgefühl, Ablehnung, manchmal sogar Mitgefühl, alles an menschlichen Gemütsregungen war vertreten. Vereinzelt wurde sie sogar belästigt, aber mit etwas Chuzpe und vorlautem Mundwerk hatte sie sich bisher immer retten können. Gott sei Dank.

Aber nach einem dreiviertel Jahr dieser meist gleichgültigen oder ablehnenden, zu Masken erstarrten Gesichter, konnte sie es fast nicht mehr ertragen. Erst träumte sie noch davon, dann gar nichts mehr.

Die Wärme und linkische Freundlichkeit Walters waren Balsam für ihre Seele. Dennoch wusste Ingrid, es musste sich etwas ändern. Sie musste raus aus diesem Film, bevor es zu spät ist. Er träumte zumindest noch von etwas. Erst vor Kurzem hatte er ihr von seinem Lebenstraum Neuseeland erzählt. Völlig utopisch, fand sie. Er würde nie genug Knete zusammen bekommen, geschweige denn dahin fahren.

Sie machte sich nichts mehr vor. Nach drei Jahren Talfahrt hatte sie keine Illusionen mehr.

Sie war müde, das lag nicht nur am Schlafmangel, es war eine allgemeine Erschöpfung die sich langsam in ihren Körper fraß. Walter hatte sicher noch etwas warmen Kaffee in seiner Thermoskanne.

Der Bahnsteig war inzwischen zu seiner Heimat geworden. Zu Hause schien alles so eng, er fühlte sich eingesperrt. Walter verstand nicht, wie andere Leute abends ihre Rollläden schließen konnten und sich damit völlig von der Außenwelt abschotteten.

Er hätte sofort das Gefühl gehabt, zu ersticken.

Ein warmes Gefühl wie heiße Lava schoss durch seinen Bauch als er Ingrid aus der 42 auf sich zukommen sah. Trotz ihrer zauseligen Mähne fand er sie sehr attraktiv.

Anfangs hatte ihre Kodderschnauze ihn etwas verunsichert, aber bald spürte er, dass dies auch ein wenig Fassade war und unter der – vorgeblich – harten Schale durchaus ein weicher Kern steckte.

Das Angebot, in sein Stullenpaket zu greifen, nahm sie sichtlich erfreut an. Allerdings kaute sie etwas lustlos auf der Stulle rum.

"Und, hast du heute etwas geträumt?"

"Ja, ähm, nein, diesmal weiß ich nicht mehr, um was es ging." Es war für ihn unverständlich wie sehr sich Ingrid für Träume interessierte, aber selbst keinen Lebenstraum hatte.

Für Walter war es unvorstellbar keine Ziele, keinen Traum mehr zu haben. Aber es hatte bei Ingrid ganz den Anschein, als wenn ihr die Zukunft egal wäre. Sicher konnte man mal antriebslos sein, aber doch nur für eine gewisse Zeit.

Das tat ihm Leid und er nahm sich vor, Ingrid dazu zu bringen, wieder an etwas zu glauben. Aber ihm schwante, dies würde keine leichte Aufgabe.

Die ersten Wochen war es nur kurzes Geplänkel zwischen ihnen. Obwohl es Walter drängte, endlich alles rauszulassen, zeigte er sich verschlossen. Er musste sich erst daran gewöhnen, wieder jemanden zum Reden zu haben. Ingrid hingegen gab sich wie ein offenes Buch. Doch nach einigen Tagen kam Walter dahinter, dass es unsichtbare Grenzen gab, die sie nicht überschritt. Sie schien ihm etwas vorzuspielen. Zuerst war er verletzt, doch dann fragte er sich, welche Gründe sie dazu bewogen. Allein aus dem Erzählten konnte er sich so manches zusammen reimen. Sie hatte wohl schon mehrere heftige Enttäuschungen im Leben erlitten.

Deshalb stellte sie immer ihre harte Schale zur Schau, um ihre Verletzlichkeit zu verstecken.

"Doch wie bringe ich sie wieder dazu zu träumen? Sich Ziele zu stecken, auch wenn sie unerreichbar scheinen, wie die Sterne am Firmament?", fragte er sich.

Walter spürte, sie war etwas ganz Besonderes. Doch dann verließ ihn der Mut. Er fühlte sich überhaupt nicht besonders. Er hielt sich für durchschnittlich, unauffällig, grau. Was sollte sie an ihm finden? Außerdem war sie deutlich jünger. Er fühlte die Frustration in sich hoch kriechen.

Am nächsten Morgen wirkte sie weniger fröhlich als sonst. Sie kam auf ihn zu und ließ sich schwer auf die Bank fallen. "Ick hab die Schnauze sowas von voll. Jetzt drohen die, mich rauszuschmeißen." Ingrid erzählte, wie sie es geschafft hatte, Jahre nach der Wende, sich in einen alten Ostmietvertrag einzuschmuggeln. Sie lebte in der Wohnung einfach unter dem Namen von Frau Schandrach, der 82-jährigen Vorbesitzerin, die sie für einige Hilfeleistungen bei sich aufgenommen hatte. Leider war Frau Schandrach wenige Wochen später verstorben. Aber Dank der weit entfernten Hausverwaltung war es ein Leichtes gewesen, alles beim Alten zu lassen.

Die hatten gar nicht mitbekommen, dass ihre Mieterin verstorben war. Und Ingrid hatte kein Interesse daran, dies zu ändern. Jetzt, Jahre später, waren sie ihr auf die Schliche gekommen.

"Halsabschneider, elende...", fluchte sie grimmig vor sich hin.

Walter wusste nicht, wie er sie beruhigen sollte. "In der Zeitung lieste immer, wie lange es dauert, irgendwelche säumigen Mieter aus der Wohnung zu bekommen. Innerhalb von zwei Tagen hatte ick 'nen Jerichtsvollzieher am Hals."

Sie musste dringend eine andere Bleibe finden. Aber für die paar Flocken, die sie sich mit dem Straßenfeger hinzu verdiente, war nichts zu bekommen, nicht mal Neubau in Buch.

Walter hatte ihr angeboten, bei ihm unterzukommen. "Bitte sei mir nicht böse, Walter. Aber dit is mir nüscht", sagte sie treuherzig. Er war enttäuscht, wenngleich er sie verstand. Ihre Unabhängigkeit war mehr wert als Bequemlichkeit.

"Ick möchte nur meine Ruhe haben. Jeder will was von mir und das macht mich immer noch müder. Ick kann kaum mehr schlafen vor lauter Müdigkeit. Hört sich blöde an, wa?"

"Verstehe schon, doch damit habe ich glücklicherweise keine Schwierigkeiten."

Walter überlegte: "Meinst du nicht, das kommt von der unsicheren Lebenssituation in der du dich befindest?"

Da lachte Ingrid: "Hast du 'ne Ahnung in was für "unsicheren Lebenssituationen" ick mir schon befand und da hab ick jeschlafen wie 'n Baby."

Ein Schulterzucken war seine Antwort.

Am Freitag Abend wollte Walter schon zusammen packen. Den ganzen Tag hatte er vergeblich auf sie gewartet. Da sah er sie aus der Ringbahn taumeln, im Gesicht blutverschmiert. Er sprang erschrocken auf, rannte ihr entgegen und fing sie in seinen Armen auf. Ingrid schluchzte und zitterte und er wusste gar nicht, was er zuerst tun sollte. Beruhigen, erstmal beruhigen, dachte er sich, und dann ablenken.

Am Besten mal das Blut aus ihrem Gesicht waschen.

"Um Himmels Willen, was ist dir denn passiert?", fragte er und geleitete sie zur Bank. Walter zückte ein Taschentuch und goss den letzten Rest Wasser aus seiner Plastikflasche darauf. Dann tupfte er behutsam ihren blutverschmierten Mundwinkel ab.

"Diese Schweine", sie zitterte vor Wut „da war so'n Scheiß-Fußballspiel." Sie brach ab. Ingrid atmete ein paar Mal tief durch. "Diese Dreckskerle mit ihren weiß-roten Schals. Sie hatten mich in eine Ecke jedrängt, mich beschimpft. Als ich einen davon anspuckte, hat er mir eine mittenmang ins Jesicht verpasst." Sie zitterte immer noch.

"Ich dachte, jetzt hat mein letztes Stündlein jeschlagen", berichtete sie atemlos. "Ein zweiter Schlag, mir schien es als ob mein Kiefer jebrochen wär. Ick kieke also an den Mistkerlen vorbei und rufe ´Ah, Herr Kontrolleur, helfen Sie mir bitte!´ Die Idioten schauten sich tatsächlich alle um, ick hab mir losjerissen, meinen Ellenbogen in irgendjemanden jerammt, der mir im Wege stand und bin durch die offene Tür auf den Bahnsteig jeflüchtet, die Treppe runter und weiter, immer weiter, bis ick nich mehr konnte." Ingrid durchlebte das Ganze noch einmal und sie starrte um sich wie ein gehetztes Tier.

Dann saßen sie eine Weile, sie hatte sich an Walter angelehnt und er dachte angestrengt nach. "Mein Rucksack ist weg, mit den janzen Zeitschriften, meinem Portemonnaie und dem Wohnungsschlüssel", fügte sie kleinlaut hinzu. "Walter, kann ick heute Nacht bei dir schlafen?"

"Selbstverständlich", ihm hüpfte das Herz vor Freude. Sie hatte Zutrauen zu ihm gefasst.

Eine weitere Stunde verging und sie saßen immer noch eng umschlungen da. Ingrid wendete ihren Kopf, blickte ihm tief in die Augen und küsste ihn auf die Wange. Er versuchte sie zu beschwichtigen: "Mach dir keine Sorgen. Wir kümmern uns morgen um deinen Rucksack. Vielleicht ist er abgegeben worden. Wir fragen beim Fundbüro nach." Es war dunkel geworden. Die Neonlampen am Bahnsteig verbreiteten ein diffuses Licht. Die Sichel des zunehmenden Mondes war über Stralau zu sehen.

Und plötzlich wusste Walter, was zu tun ist.

"Warte kurz, ich muss noch schnell etwas erledigen, dann gehen wir heim." Er erhob sich von der Bank, kramte in seiner Jackentasche nach seinem Schweizer Armeemesser und ging zu einem der Eisenträger der Dachkonstruktion. Nach kurzer Zeit klappte er zufrieden grunzend das Taschenmesser zusammen, ließ es in die Jackentasche gleiten und kam zurück.

"Komm, Ingrid, lass uns gehen. Morgen ist ein neuer Tag. Neuseeland soll ganz grün sein..."

Walter nahm seine Tasche, schlang den Henkel über die Schulter und gab Ingrid seine Hand. So schritten sie die Treppe hinunter.

Ein Pendler hatte die Sache verfolgt und fragte sich, was Walter wohl an dem Eisenträger gemacht hatte. Nachdem er sich etwas seitlich postierte, damit Licht auf die Stelle fiel, sah er, dass dort etwas in großen Lettern eingeritzt war. Er schmunzelte. Da stand "W+O+I".

Buch 2008

Zu diesem Buch
Ein Vorwort

Als im Spätherbst 2007 der Aufruf zu diesem Schreibwettbewerb erging, hielten viele der interessierten Schreiberinnen und Schreiber das Thema für eine gute Idee; aber nur wenig später konnte man auch Stimmen vernehmen, die – etwas kleinlauter – das Ostkreuz-Spiel für zu schwierig, zu kompliziert hielten. Spiel – das klingt beim ersten Hinhören nach Leichtigkeit und Unernst. Aber dann ist es in der Tat so, dass die Ambiguität des Wortes Spiel zunimmt, je mehr Sätze mit diesem Wort einem in den Sinn kommen: Das Spiel machen. Spielchen spielen. Was wird hier gespielt? Das ist doch kein Spiel! Aus Spiel wird Ernst und umgekehrt. Alles nur gespielt. Das Spiel ist aus! Spiel 's noch einmal, Sam! – Und schon ist man mittendrin in einem komplexen Wort-Spiel, in dem es um das Wort spielen geht.

Die ältesten Gesetze der Welt sind Spielregeln.

Das Spannende am Spiel ist dessen ungewisser Ausgang. Und selbst im Siegen und Gewinnen ist man mitunter nicht ganz sicher, ob es sich wirklich gelohnt hat. Die Pyrrhussiege, die Danaergeschenke, jeder kennt das. Wir spielen, wenn wir Mutmaßungen über den Ausgang künftiger Ereignisse anstellen oder Details vergangener Ergebnisse modifizieren, um zu sehen, was dann dabei herausgekommen wäre: das Was-wäre-wenn-Spiel oder das Es-ist-nicht-so-wie-es-aussieht-Spiel oder das Nehmen-wir-mal-an-Spiel. Oder wir kombinieren spielerisch scheinbar disparate Dinge wie Mozart und Osterglocken, wie eine Ringbahnfahrt und Beethovens Dritte Sinfonie. In einer anderen Geschichte in diesem Band werden die Fabelwesen aus älteren Ostkreuzgeschichten zitiert und zusammengebracht: ein sprechendes Hündchen, ein Zeitung lesender Fuchs, Gleismännlein und Ostkreuzmännlein. In einer anderen Geschichte lässt der Erzähler die recht skurrile Personage seiner früheren Ostkreuz-Literaturversuche kritisch Revue passieren.

 

Spielen, schreiben – über das Spielen schreiben, da ziehen auch schon die großen Spieler der Weltliteratur an uns vorüber, von Dostojewskis unglücklichem Aleksej, der das Spiel als Herausforderung des Schicksals und als Lust an der Selbstzerstörung erlebt und daran krank wird, über den wahrhaft kosmologischen, an schierer Größe scheiternden Glasperlenspielen des Magister Ludi Josef Knecht bis zu Borges' "Die Lotterie von Babylon", wo die Versuche der lotteriebesessenen Babylonier, Zufall und Glücksstreben in einen gesellschaftlichen Zusammenhang zu integrieren, schließlich die groteskesten Blüten treiben. Schiller indes hatte wohl Höheres im Sinn, als er den Homo ludens zur Krone der Schöpfung ernannte. In seinem 15. Brief "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" heißt es: "… der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur ganz Mensch, wo er spielt."

Spielen, das ist kein Kinderkram, so viel ist sicher. Kinder lernen etwas über die Wirklichkeit, indem wir ihnen Nachbildungen aus der Wirklichkeit als Spielzeug in die Hand geben. Der Erwachsene wähnt sich über das Alter des Spielens hinaus, dabei unterscheidet er sich vom Kind nur dadurch, dass sein Spiel auf ein anderes Objekt gerichtet ist: es ist die Wirklichkeit selbst. Erst im Spiel macht die Wirklichkeit uns Vergnügen, wird sie uns vertraut, fühlen wir uns in ihr zu Hause.

Für einen Bergsteiger ist das Klettern ein Spiel mit sich selbst, zwischen seinem Geist, der zum Gipfel will, und seinem Körper, der das durchaus nicht will.

Der Feind des Spielerischen ist die Gewohnheit. Die Gewohnheit sagt: Das habe ich schon immer so getan. Im Spiel jedoch wird nichts so gelassen, wie es ist. Da heißt es: Mal sehen, ob es nicht anders besser getan werden kann. Ist die Gewohnheit ein konservatives Herangehen an die Aufgabe, uns die Welt zutunlich zu machen, so ist das Spiel ein revolutionäres.

 

Und zu diesem Spiel gehört letztlich auch das Schreiben selbst. Wenn Literatur, Kunst überhaupt, Vorahnung der Wirklichkeit ist, dann ist sie auch ein Spiel mit der Wirklichkeit. Sie liefert uns, den Lesenden, die sich an diesem Spiel beteiligen, den Spiel-Raum. Und sie liefert uns die Regeln dazu. Denn ohne Regeln könnten wir mit der Wirklichkeit nicht spielen. Wir hätten verspielt.

Wir wünschen diesem Buch recht viele spielfreudige Leserinnen und Leser.

 

Rainer Fischer Berlin, im Juni 2008

 

Christoph Berk
Der erste Zug

1.

Ostkreuz, hat sie gesagt, denke ich und blicke mich auf dem Bahnsteig um, ein wenig zu früh, weil ich gleich in den ersten Zug gestiegen bin, wovon sie allerdings nichts gesagt hat, vom ersten Zug, und vom Bahnsteig auch, weshalb ich mich frage, wo denn am Ostkreuz, und schaue auf den Fahrplan hinter der dreckigen Scheibe, der neun S-Bahnlinien anzeigt, neun Linien inmitten von Gleisen, Brücken, Menschen und Lärm.

 

2.

Ostkreuz, denke ich und blicke den Bahnsteig entlang und ärgere mich, dass ich nicht nachgefragt habe, sie spielt mit mir, denke ich, und ich möchte gar nicht spielen, denn mir ist es sehr ernst, glaube ich jedenfalls, und jetzt stehe ich hier und weiß nicht, wo ich hin soll und habe ihre Handy-Nummer nicht, sie hat kein Handy, hat sie gesagt, und gelacht, dass ihre weißen Zähne geblitzt und mich geblendet haben, vielleicht waren es auch ihre Augen, aber vielleicht ist auch das nur ein Teil des Spiels, denke ich und ärgere mich weiter, obwohl ich an ihre Zähne denken muss, das ärgert mich noch mehr und ich blicke auf die Imbissbude ein paar Meter weiter, daneben ist ein Zeitschriftenständer und obendrauf ein Bild von einer Frau, die Werbung macht für Zahnpasta.

 

3.

Ostkreuz, genau so hat sie es gesagt, und ich sagte, ich werde pünktlich sein, was lächerlich ist, wenn man gar nicht weiß, wo man hin soll, und blicke auf die Uhr, schon wieder, und bin immer noch pünktlich, noch ein bisschen, aber nicht mehr lange, denn die Zeit geht weiter und ich werde immer unpünktlicher, je öfter ich auf die Uhr schaue und mit jedem neuen Zug, der einfährt und dann wieder weg, und ärgere mich immer noch, wir hätten uns ja auch im Hauptbahnhof treffen können, denke ich, oder am Zoo oder Ostbahnhof, am besten Hauptbahnhof, da zieht es nicht und man kann sich die Zeit vertreiben, solange es nicht stürmt zumindest, denke ich, dann kann man einen Riegel auf den Kopf bekommen, das muss ja nicht sein, obwohl, denke ich dann, es käme natürlich drauf an, und ich stelle mir ein Schokoladenriegel regnendes Bahnhofsdach vor und denke kurz, das ist vielleicht keine schlechte Todesart, von Kalorien erschlagen werden, besser als von einer Eisbombe zerfetzt zum Beispiel, aber das ist albern, ich schicke den Gedanken weg, mag keine Wortspiele spielen jetzt, mir wird schon übel mitgespielt, ich beharre auf diesem Standpunkt und merke, wie ich unbeweglich werde, hier zieht’s, ärgere ich mich, das auch noch, und ich beginne, auf der Stelle zu treten.

 

4.

Rostkreuz, denke ich und schaue den Bahnsteig entlang und dann hoch, und stelle mir das alles aus der Vogelperspektive vor, über den Haufen geworfene Gleise, ein gordischer Verkehrsknoten, auf die schiefe Bahn geraten der Gute, kein Kreuz eigentlich, eher ein Kraken, amputiert und langweilig allerdings, und doch, ein Kreuz ist es schon, mit dem Treppen Steigen nämlich, keine Aufzüge und Rolltreppen hier, hier muss man noch selber laufen um von A nach B zu kommen, noch eher von A nach E, denn B gibt es hier nicht mehr, aber auch A soll abgeschafft werden, stand irgendwo, und jetzt stehe ich hier und warte und sehe sie nicht, nur Menschen und dann Zäune, Gitter, Absperrungen, hier wird gearbeitet, soll renoviert werden oder umgebaut, Pflaster bloß auf offener Wunde, 'Sie kommen zu spät, Herr Doktor', denke ich, 'notschlachten sollte man oder amputieren, so geht es doch nicht weiter', und muss doch weitergehen, weiterfahren eher, aber es soll ja alles besser werden, habe ich gelesen, dann wird alles neu und schön, hoffe ich, endlich, und dann werden bestimmt wieder Einige betrübt sein, die immer betrübt sind, wenn sich was ändert, weil das Besondere verloren gegangen sein wird, denken sie, weil sie immer Schäbigkeit mit Charme verwechseln im Blick zurück, weshalb früher ja immer alles besser gewesen sein soll, hüben wie drüben, da gab’s noch Jutebeutel und Sozialismus und Gemeinschaftsgefühl, bis zur Wiedervereinigung jedenfalls, dann soll es verschwunden sein und ich frage mich, wohin und wie, vielleicht stand’s ja im Einigungsvertrag, drittes Kapitel Vers 6: Gemeinschaftsgefühl wird abgeschafft oder so, vielleicht war’s auch die Globalisierung, die soll ja auch viel auf dem Kerbholz haben, ich blicke zur Imbissbude neben dem Zahnpastawerbebild und dem Mann mit dem dicken Schnauzbart, der da Brötchen verkauft und Ayran, und frage mich, warum eigentlich, und was die Leute noch früher gesagt haben, als es noch mehr Gemeinschaftssinn gab, dafür aber noch gar keinen Bahnhof, was natürlich auch sein Gutes hätte, denn dann müsste ich hier nicht stehen und warten, und dann fällt mir ein, dass der Gemeinschaftssinn vielleicht doch erst später erfunden wurde.

 

5.

Ostkreuz, sehe ich, ist voller Menschen, was mich erstaunt, denn hier will man doch nicht hin, sondern weg, ich jedenfalls, es zieht noch mehr und ich stelle mich hinter eine Säule und sehe, dass der Imbissbudenmann eine Zahnlücke hat, aber noch kann ich nicht, nicht ohne sie jedenfalls, aber sie ist nicht da, nur andere, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen, es quietscht, ein Zug fährt ein, die Türen öffnen sich und da ist wieder ein Schwall, eine Menschentraube, vom Stock gefallen weil sie zu schwer geworden ist, und schon zerstreut, verschwunden im Erdreich, ein guter Vergleich, denke ich, da düngen sie und wachsen wieder nach, denn irgendwo müssen sie ja herkommen, die ganzen Menschen, es werden nicht weniger, nur sie ist nicht dabei, denke ich, was für ein blödes Spiel, und langsam kriege ich Geduldsfadenkatarrh und ärgere mich, ich mag es nicht, wenn niemand mir sagt, wohin ich soll, dann stehe ich nur rum, aber das darf man nicht laut sagen, dass man sich gerne sagen lässt, wo man hin soll, sonst kommt noch so ein Unausgelasteter vorbei in schicken Klamotten, so ein Zeitgeist-Designer, und pappt einem einen Generation-Irgendwas-Sticker auf die eh schon volle Stirn, wahrscheinlich Generation-Wartesaal, vermute ich, ich warte hier und kann nicht anders, wie denn auch, und vor allem wohin, wenn keiner kommt, das kommt davon, wenn man nicht auf eine Ortsbeschreibung besteht, denn wenn ich mich hier weg bewege, kommt sie bestimmt und ich bin nicht da, jedenfalls nicht da wo ich sein will, hier nämlich, mit ihr, vielleicht wäre ein Verlierer-Sticker der richtige, denn ich glaube, ich verliere das Spiel und kenne noch nicht mal seine Regeln, dabei möchte ich doch nur, dass sie kommt und dann schnell weg von diesem Bahnhof, Spiel zu Ende, Game Over, gewonnen.

 

6.

Ostkreuz, wundere ich mich, was für ein Name für so einen Ort, und ich sehe Kreuzritter vor mir, die russische Steppe und dramatische Szenen in Schwarz-Weiß, zwei Menschen, er im Trenchcoat und mit Hut und sie mit blonden Haaren und leidverhangenem Blick, 'Wo willst du jetzt hin?', fragt sie, und er: 'Mit dem ersten Zug nach Süden', was mir gut gefällt, nach Süden, denn das ist weit weg und verspricht Wärme, Sonnenuntergang und ein neues Leben, anders als, sagen wir mal, 'Mit dem IC um 09.35 nach Ankara, mit Umsteigen in München und Wien', was nach Reisezahnbürste klingt, nach Wechselkurs und Nachsendeauftrag, aber für den Schalterbeamten wäre das natürlich besser, konkreter, denn was soll er denn sagen, der Schalterbeamte, wenn jemand nach Süden möchte, 'Ob’s Schönefeld sein soll, Dresden oder Neapel gar, das müsst’ man schon wissen, bitte schön, gnä’ Herr, und nichts für ungut', würde er sagen oder schnauzen, trotz Trenchcoat und tränender Frau, wir sind ja in Berlin, denke ich und gucke rüber zu dem Imbissstand von dem Mann mit dem Schnauzbart und der Zahnlücke, der eine fleckige karierte Schürze trägt und gerade einen Schnorrer verjagt, allerdings sehe ich keine Fahrkartenschalter, nur Automaten, und denke, so ein Glück vielleicht, denn wer will schon seine Biographie in Stücke reißen, während ein Schalterbeamter zuschaut und schnauzt.

 

7.

Ostkreuz, fürchte ich mich, hier wird sie doch nicht Schluss machen, das kann sie doch nicht, denke ich, wir haben uns doch eben erst kennen gelernt, vor ein paar Tagen, sie hat mich angeblitzt mit ihrem Lachen und ich habe mich verliebt, ein bisschen jedenfalls, und dann denke ich, sie will sich nicht von mir trennen, wir sind ja noch gar nicht zusammen, nicht richtig jedenfalls, heute ist doch unsere erste Verabredung, und schließlich, man trennt sich nicht an S-Bahnhöfen, das wäre stillos, wie Trennung per SMS oder auf einer Autobahntankstellentoilette, dafür braucht es einen Hauptbahnhof oder Flughafen, auch eine Schiffsanlegestelle meinetwegen, wo der Wind die Haare rauft und die Stimmen fort trägt, das hat Charakter und ist schriftlich, mit Brief und Siegel sozusagen, und ich könnte ja gar nicht wirklich nach Süden, vom Ostkreuz, nur bis nach Schönefeld, wo allerdings ein Flughafen wartet, oder mit der Ringbahn zum Westkreuz, das wäre lustig, denke ich, da könnte ich noch mal ganz von vorne anfangen und käme wieder hier an, am Ostkreuz, und da fällt mir ein, per SMS geht ja gar nicht, und ich bin sehr erleichtert, denn sie hat ja gar kein Handy.

 

8.

Ostkreuz, hoffe ich, ist hoffentlich gleich zu Ende, das Ostkreuzspiel, und ich frage mich, warum spielt sie mit mir, das Pfeifen und Rattern eines Zuges füllt meinen Kopf und meine Gedanken, nur kurz, dann ist wieder Platz für mich, wenn ich nur die Regeln kennen würde, könnte ich mitspielen und gewinnen, denn natürlich will ich gewinnen, dafür spielt man ja schließlich, das ist ja der Sinn eines Spiels, sie lässt mich warten, ich weiß nicht ob sie kommt, ich kann nur hoffen und gucke auf die Uhr, ich bin zu spät, schon längst, und dann denke ich, vielleicht aber auch sie, das ist nur eine Frage des Standpunktes, des Standortes, ich kenne aber ihren Standpunkt nicht und frage mich, ob sie meinen kennt, und wie wir zueinander finden sollen, und dann denke ich wieder an ihre weißen Zähne, an ihr blitzendes Lachen, und genau da scheint plötzlich die Sonne auf meinen Kopf, es zieht nicht mehr, ich freue mich über die Sonne und denke, auf sie freue ich mich auch, auch wenn ich nicht weiß, ob sie wirklich kommt, was aber vielleicht nichts macht, beginne ich zu denken, denn noch kann ich sie finden und jetzt schon anfangen, mich darauf zu freuen, was ich vielleicht nicht könnte, wenn ich schon alles wüsste, dann könnte ich nur noch voraussehen und die Freude ist schon verbraucht, bevor es losgeht und sowieso wäre sie dann viel zu spät, und plötzlich bin ich aufgeregt, weil sie vielleicht irgendwo da drin ist und mich sucht, wahrscheinlich, und dann denke ich, was soll’s…

 

9.

…mache ich halt den ersten Zug und gehe einfach los, suche sie, lasse mich zu ihr treiben, die Treppen rauf und runter, an Zäunen vorbei und an Menschen, und beginne, das Spiel zu verstehen, das Ostkreuz-Spiel, es hat keine Regeln, aber es hat einen Namen, Leben heißt es, man muss einfach nur anfangen, und da steht sie plötzlich vor mir, sie lacht, ich bin geblendet vom Weiß ihrer Zähne, vom Glück, mit ihrem Glück küsst sie mich auf den Mund und fragt, 'Wohin sollen wir fahren?' 'Nach Norden', sage ich, aber eigentlich ist es mir egal, wir können auch hier bleiben, einen Kaffee trinken drüben an dem Imbissstand von dem Mann mit dem Schnauzbart und der fleckigen Schürze und der Zahnlücke neben dem Zahnpasta-Werbeplakat, auf dem eine Frau steht und lächelt, ich bin ja schon da und das Spiel hat gerade erst angefangen, hier am Ostkreuz.


 

Ilse Treue
Nächtliche Gedankenspiele

 

Es geht auf Mitternacht zu. Ich bin müde, kann aber nicht schlafen. In meinem Kopf kreisen ärgerliche Gedanken. Am Vormittag hatten mich dringende Besorgungen zur S-Bahn geführt, zum Bahnhof Ostkreuz, der besonders uns Älteren gegenwärtig ein Gräuel ist. Bedingt durch den Umbau stand ich vor dem verschlossenen Eingang am Markgrafendamm. Kein Schild wies den Weg. Es regnete. Nur durch eine große Lücke im Zaun gelangte ich auf das Bahngelände. Der direkte Zugang zum Ringbahnsteig war versperrt, ein Umweg unvermeidlich. Also Treppe rauf, Treppe runter, den Bahnsteig E entlang, wieder Treppe rauf, endlich war ich am Ziel und meine Füße pitschnass. Kein guter Geist hatte mir den neuen Eingang gezeigt, den es gab, den ich aber nicht entdeckt hatte, wie sich später herausstellen sollte.

Ist es nach diesem Ärgernis verwunderlich, dass meine Gedanken noch einmal zum Ostkreuz zurückkehren? Lange verweilen sie bei dem unangenehmen Ereignis nicht. Sie ziehen seltsame Wege. Wundersames soll zuweilen an diesem Ort geschehen. Aus mehreren Ostkreuz-Anthologien erfuhr ich darüber. Ein sprechendes Hündchen, ein Zeitung lesender Fuchs, Gleismännlein und Ostkreuzmännlein kommen mir in den Sinn. Meine Gedanken beginnen zu spielen. Was mag aus ihnen geworden sein? Durch die Bauarbeiten fühlten sie sich alle vertrieben. Ich möchte sie treffen und mir von ihnen erzählen lassen. Aber vielleicht sind sie längst davon gezogen und keiner weiß, wohin? Ob mein Freund, der gute Bahngeist im Wasserturm etwas von ihnen erfahren hat? Meine Gedanken spielen lebhafter. Man müsste ihn anrufen. Anfangs verschlafen, dann aber mit wachsendem Interesse hört er zu. "Kein Problem, Großmutter", sagt er. "In wenigen Minuten habe ich sie beisammen. Noch eins, verzeih mir, dass ich dir heute Vormittag nicht helfen konnte. Ich zeigte gerade mehreren Kindern den richtigen Weg. Wir sind zu wenig gute Bahngeister. Tut mir Leid." "Schon gut", erwidere ich.

Noch ehe ich mich wundern kann, bin ich im obersten Stübchen des Wasserturms. Da sehe ich sie alle um einen großen, runden Tisch versammelt: das Hündchen, den Fuchs und die Männlein. Fragend blicken sie auf meinen Freund, den Bahngeist. "Hier ist eine gute Bekannte von mir", stellt er mich vor, "eine Großmutter, die von euch gelesen hat und Anteil an eurem Schicksal nimmt. Erzählt ihr, was euch bewegt".

Der Fuchs macht den Anfang. Er, der gern wissen will, was in der Welt passiert, sucht noch immer nach einem Platz, wo er in Ruhe die Zeitung lesen kann. Seit die Böschung an dem alten Bahnsteig abgeholzt ist, streicht er ruhelos umher. Weder in der Rummelsburger Bucht, noch im Treptower Park konnte er sesshaft werden. Die dortigen Füchse duldeten ihn nicht in ihren Revieren. Seinen Menschenfreund, mit dem er alle Neuigkeiten bereden konnte, hat er aus den Augen verloren. Eben noch lebhaft, schaut er jetzt traurig in die Runde. Tröstend kraule ich sein Fell.

Nun nimmt das Gleismännlein das Wort. All die Jahre hat es zuverlässig die Gleise, Signalanlagen und Bahnsteige überwacht. Mit dem alten Bahnhof ist es verwachsen. An die moderne Bauweise aus Glas, Beton und Stahl will es sich nicht gewöhnen. Noch hat es sich keine neue Bleibe gesucht. Doch die Zeit drängt.

Nach dem Gleismännlein meldet sich das Ostkreuzmännlein. Die Worte kommen ihm schwer von den Lippen. Zögernd erzählt es von sich und seiner Familie. "Wir waren einmal die guten Geister der Gründerzeit. Alle großen Bahnhöfe begleiteten wir vom ersten Spatenstich an. Die Menschen achteten uns, weil wir ihre Arbeit schützten. Aus Dank schützten sie unseren Lebensraum. An bewachsenen Hängen, im bemoosten Schotterbett neben den Gleisen, in hölzernen Baracken fanden wir ausreichend Unterschlupf. Jetzt wird ein Bahnhof nach dem anderen saniert und es wird nicht mit Glas, Beton und Stahl gespart. Mit dem Ostkreuz wird es nicht anders werden. Die Dämme sind bereits kahl. Ich musste mir sagen lassen, unsere Zeit sei abgelaufen. Das trifft mich hart. Brauchen uns die Menschen nicht mehr? Über 100 Jahre haben wir ihnen treu gedient. Nun schieben sie uns einfach beiseite."

Tief gekränkt endigt das Ostkreuzmännlein. Bedrückt schweigen die anderen. Einen Ausweg sehen sie nur im Fortziehen. Keines will mehr am Ostkreuz bleiben. Einiges von dem, was ich zu hören bekam, war mir aus den Büchern bekannt. Doch wie ich sie jetzt so hoffnungslos vor mir sehe, zieht sich mir das Herz zusammen. Was soll ich ihnen raten?

Da meldet sich das Hündchen, das wieder einmal auf Reisen und erst kürzlich zum Turm zurückgekehrt war. "Ich kann nicht glauben, dass ihr hier überflüssig seid. Im Gegenteil, jetzt werdet ihr erst recht gebraucht. Ich bin auf einigen Bahnhöfen umher geschlichen, habe den Leuten bei der Arbeit zugesehen. Auch am Hauptbahnhof war ich. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was da manchmal los war. Aus großer Höhe stürzte dort ein Stahlträger herab. Wäre das passiert, wenn eines aus eurer Familie die Baustelle bewacht hätte? Bestimmt nicht. Könnte es nicht eine ehrenvolle Aufgabe für euch sein, die Arbeiten an unserem Bahnhof wachsam zu begleiten?"

Eine lange Rede hat das Hündchen gehalten. Der Turm brummt zufrieden. Er ist mächtig stolz auf seinen kleinen Freund. Nach einer Pause meint eines der Männlein: "Schau an, da gibt es Menschen, die über uns schreiben. Das hätte ich ihnen gar nicht zugetraut." Das andere ergänzt: "Es scheint doch welche zu geben, die unsereinen verstehen." Sie möchten ja für die Menschen da sein. Doch wo sollen sie leben? Nirgendwo bleibt ein Unterschlupf.

"Nun ja", mischt sich der Turm ein. "Leicht habt ihr es nicht. Ich könnte euch zur Not mein altes Mauerwerk anbieten. Darin findet ihr gewiss ein Plätzchen." Das gibt ein eifriges Für und Wider. Dass ihre Zeit abgelaufen sei, möchten sie nicht auf sich sitzen lassen. Den Menschen gegenüber bleiben sie aber skeptisch. Es sind zu wenige, die mit der Natur schonend umgehen, auf die sie, die Bahngnome, angewiesen sind. Sie tun mir leid, die kleinen Männer. Ob sie nicht wenigstens versuchen wollen, den Turm als Obdach anzunehmen, frage ich sie. Wegziehen könnten sie immer noch. "Ich bräuchte jede Menge Helfer", meldet sich der Bahngeist, der sie alle gerufen hatte. Das Wirkungsfeld der Gnome ist aber die Technik. Sie sind nun einmal spezialisiert auf Gleise, Signalanlagen und Brücken. Menschen gefahrlos zu den Zügen zu geleiten, würden sie gern den Bahngeistern überlassen. "Aber die Technik bleibt euch doch", bemerkt einlenkend der Bahngeist. "Lernt, einen Computer zu bedienen und ihr seid gerettet. Habt keine Angst davor. Wenn ihr wollt, richte ich für euch einen Schnupperkurs ein. Danach fällt euch die Entscheidung leichter. Arbeit wird es für euch immer geben." Interessiert schauen die Männlein auf den Bahngeist. Erneut gibt es ein eifriges Für und Wider. Einig wird man sich heute nicht. "Lasst uns heimgehen zu unseren Familien und alles in Ruhe überdenken", bittet das Ostkreuzmännlein. "Heute habe ich in dem Gleismännlein einen Mitstreiter gefunden. Das stimmt mich zuversichtlich. Vielleicht fällt uns eine Lösung ein, die uns am Ostkreuz weiterleben lässt."

Fuchs und Hündchen wurden Freunde und wollen künftig gemeinsam Zeitung lesen. Der Wasserturm wiederholt sein Angebot, ihnen Unterschlupf zu gewähren. Dann lädt er alle Anwesenden zu einem erneuten Treffen ein, vielleicht im Frühjahr. Sie stimmen zu. In der Zwischenzeit will der Bahngeist Kontakt zu ihnen halten. Mich, die Großmutter, die zeit ihres Lebens am Ostkreuz wohnt, nehmen sie als Ehrengast in ihrer Mitte auf.

Langsamer spielen meine Gedanken, werden träge, fließen ineinander. Die wundersamen Gestalten verschwinden. Nur der Bahngeist begleitet mich nach Haus. Oder ist es der Fuchs? Der Fuchs … die Zeitung … Männlein huschen. Zufrieden brummt der Wasserturm.


 

Britta Koth
Metropoly

 

Steine, Steigen, Stufen, Schritte,
Tauben, Trassen, Treppen ,Tritte
eingestiegen, ausgestiegen
freu Dich an den schnellen Zügen
Ziehen, Zögern und Begehren
Greifen, Hoffen und Betören
TunnelTaumelTramStation
MassenMorgenMarathon
diese Straße da ist Dein
setze Deinen nächsten Stein
dieses hohe Häusermeer
zwischen Nah- und Fernverkehr
Dir gehört es – nimm Dein Glück
Zahlen, Zeichen, Zug, Geschick
Zufall führt Dich als Begleiter
neben Fatum fahrig weiter
rausche die Chausseen entlang
vorwärts, setze auf die Bank
breche in das Spielfeld ein
Stadtgeflüster, Pflasterstein
Gassen, Straßen und Alleen
zügig, Setzen, Aufstehn, Gehn
Alex, Ostkreuz, umgestiegen
windschief über Gleise fliegen
alles hier kann Deines sein
Abflussrohr und Lampenschein
Blumenbuden, blinde Fenster
Holz und MaschendrahtGespenster
Treptow, Ehre, Liebe, Spree
Hundescheiße, Badesee
Stadtluft kann Dein Atem werden
alles hier kann Dir gehören
lauf, besitz, besetze, spiele
wirf, entwerfe Deine Ziele
friss die Stadt, trink ihren Dunst
kau die Rohkost ihrer Kunst
verweil nicht, weil es Schönheit ist
die auf müden Treppen sitzt
überhol den Augenblick
oder geh auf Start zurück.


 

Britta Koth
Spielt keine Rolle

 

Montag früh – wir sehen uns
blass im hellen Ostkreuzdunst
heiße, nasse Atemwolken
werden ins Abteil gemolken
Taschentücher, blätterweise
fliegen schneeweiß über Gleise.
Du schüttelst dich, die Tropfen fliegen
und gähnst verträumt in vollen Zügen.
Dienstag wieder, es ist kalt
die Schienen hart, die Treppen alt
nur du bist blühend unbekannt
ein  Raureif-Prinz im Frostgewand
und atmest zwischen Massenluft
reinen, frischen Märchenduft.
Am Mittwoch sehe ich dich wieder
gleich am Bahnsteig gegenüber
Türenlippen schließen sich
schnappen und verschlucken dich
noch ein Blick, du schaust dich um
aus dem Bahn-Aquarium.
Donnerstag – ich suche dich
gleisauf-gleisab, und seh dich nicht
ich warte auf die stille Strenge
die dich abhebt vom Gedränge
der Tag, die Nacht noch in den Knochen
ist an- und auch schon abgebrochen
das Spielerische ist verschwunden
es braucht nur ein paar Sekunden
einmal kurz nicht hingesehn
lässt es mich im Nebel stehn
den man 'ErnstdesLebens' nennt
und als Spielverderber kennt.
Freitag früh – die Luft ist klar
das Spiel ist plötzlich wieder da
einfach so beim Brötchen Kaufen
kommt es rasch zurückgelaufen.
Du bist nicht hier? Mir ist es gleich
du residierst im Märchenreich
wir treffen uns auf Traumgelände –
jetzt ist erstmal Wochenende.


 

Peter Grünwald
Kalle und der Kabbalist

 

Manche meiner Tage beginnen noch im Schlaf, mit einem Traum, der, wenn er dramaturgisch gelungen ist, als eine Art Faustischer "Prolog im Himmel" — oder so wie heute "Prolog in der Unterwelt" — gelten könnte. Im Text des Tages ist er dann wie eine pompös ausgeschmückte Initiale, danach geht es nüchtern und prosaisch weiter.

Der Traum ging diesmal so: Ich befinde mich im obersten Stock eines monströsen düsteren Gebäudes mit einer völlig verrückten Geometrie, alles ist überdimensional und irgendwie nicht von dieser Welt. Schließlich treffe ich einen Mann, der wie ich durch die Hallen und Gänge irrt. Ich sage ihm, wir sollten uns jetzt wohl der Dame des Hauses vorstellen, das gehört sich so, sie wohnt im Stockwerk darunter. Um zu einer Art Treppenhaus zu gelangen, müsste man allerdings einen sehr breiten, im Boden klaffenden Spalt überwinden. Ich sehe, dass der Abgrund mit einem Sprung schwerlich zu überbrücken ist. Dennoch halte ich meinen Begleiter nicht zurück, der einen Anlauf nimmt, springt, sein Ziel verfehlt und in dem schwarzen Loch verschwindet. Alles völlig lautlos, ich bin entsetzt, zugleich wundere ich mich auch darüber, dass er sich anscheinend so gar keine Mühe gegeben hat. Ein müder Anlauf, ein lascher Sprung, weg war er. Ein bisschen froh bin ich auch, dass ich ihm den Vortritt gelassen habe, als Test. Denn ich habe nicht die Absicht, so einen Sprung zu wagen – es war ja auch nur so eine Idee…

Ich werde wach und es ist halb zehn. Immer noch meinen Traum im Kopf wird mir der krasse Gegensatz zwischen dem, woher ich gerade komme und dem, wo ich gerade bin, bewusst. Das war eine weite Reise. Zum Glück glaube ich nicht daran, dass Träume etwas bedeuten oder dass sie eine Art Botschaft an mich enthielten. Und was ein Freudianer — oder gar eine Freudianerin! — dazu sagen würden, möchte ich mir lieber nicht vorstellen.

Etwas an dem anderen Menschen, meinem Traumpartner, war seltsam. Er war irgendwie wie ich. Vielleicht war ich das sogar und das bedeutete dann, dass ich mir bei meiner eigenen Selbstmördertour zugesehen hätte. Genug davon!

Ich schlurfe ins Bad, schlurfe in die Küche. Der erste Schluck Kaffee und die Lektüre des Zettels, den meine Freundin mir auf den Küchentisch gelegt hat, bringen mich vollends in meine wirkliche Wirklichkeit zurück. Meine Freundin Inga, die wie stets schon weit vor mir den Tag begonnen hat, versäumt es niemals, mir eine Liebesbotschaft zu hinterlassen. Ich sammle all ihre Zettel in einer besonderen Schublade, es sind schon Hunderte, lauter kurze Sätze der Zuneigung, überschwängliche, besorgte, sogar frivole, immer sehr poesievolle. Ihr heutiger Satz zum Tage enthält noch ein Postskriptum: "Es ist gutes Wetter zum Zeichnen!" Ja, das ist richtig, nach sehr viel Grau hat dieser Mai sich endlich dazu bereit gefunden, so zu sein, wie die Poeten ihm seit Jahrhunderten andichten.

Meine Freundin Inga befürchtet ständig, ich käme nicht genug "unter die Leute". Weshalb ihr so viel daran liegt, kann sie nicht sagen; als wäre Unter-die-Leute-Kommen ein Wert an sich, eine Art Garantie für Seelenfrieden und Psychohygiene. Vielleicht hat sie Recht. Inga hat meistens Recht.

 

Gehen wir zeichnen! Vor ein paar Wochen habe ich eine Gewohnheit aus alten Tagen neu belebt: Ich gehe zum Ostkreuz, suche mir einen Platz, wo ich relativ ungestört bin, und zeichne. Eigentlich sind es eher Skizzen, Kritzeleien. Früher, als ich in Schöneweide meinen Arbeitsplatz hatte und auf dem Ostkreuz sehr viel Zeit mit dem Warten auf den nächsten Zug verbringen musste, hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, einen Stift und ein kleines Skizzenbuch aus der Tasche zu ziehen und S-Bahn-Szenen festzuhalten. So habe ich mir, wartend, das Ostkreuz erzeichnet. Ich kannte jeden rostigen Brückenpfeiler, jede geborstene Gehwegplatte, aus deren Fugen wildes Grün wucherte, alles. Das Zeichnen zwingt zu genauem, längerem Hinsehen, auf diese Weise ist mir sogar dieser nicht sehr ansehnliche Platz — an dem normalerweise alles sagt: Mach, dass du weg kommst! — vertraut und sogar lieb geworden, besonders im Sommer, wenn das üppige wilde Grün die Hässlichkeit dieses Ortes barmherzig milderte. Und wenn man lange genug zuhörte, gruppierten sich die Geräusche sogar zu einem Muster, einer Struktur, sie wurden Musik. Die Ostkreuzmelodie ging so: Räderrattern, Schuhe auf Asphalt, Vogelstimmen, Räderrattern, Schuhe, Vogelgezwitscher usw. Mit dem Vogelgezwitscher ist es lange vorbei. Laute, raumgreifende, sich wichtig machende Baumaschinen haben sie verjagt. Die Ostkreuz-Musik geht jetzt anders.

 

2

Am Ausgang Sonntagstraße, genau auf der Grenze zwischen dem öffentlichen Raum und dem Grundstück der Bahn, hat Kalle seinen Stammplatz. Kalle ist Straßenmusiker. Wenn er spielt, dann sind das alte Dylansongs, alte Bluesnummern oder er improvisiert spanisch Anmutendes auf der Gitarre. Heute spielt er nicht, heute liest er, Leser ist sein zweiter Beruf. Unsere erste Begegnung, das war vor ein paar Wochen, war etwas unglücklich verlaufen: Der Mensch, den ich später Kalle nennen sollte, stellt sich mir in den Weg und verlangt sechzig Cent, die, so fügt er erklärend hinzu, fehlten ihm noch zu einem Becher Kaffee. Er hat das in einem völlig sachlichen, überhaupt nicht heischenden, beinah hochfahrenden Ton gesagt, so als wären wir Geschäftspartner und er hart im Verhandeln. Ich bin darüber so verblüfft, dass ich ihm ohne Weiteres einen Euro in die Hand drücke. Und was macht dieser Mensch? Er wühlt doch tatsächlich in den Taschen, um mir mein "Wechselgeld" zurück zu geben! Abermals verblüfft, sage ich ihm er solle das lassen. "Stimmt so!" Ein kurzer missbilligender Blick von Kalle, dann zieht er gekränkt von dannen. Später habe ich es bereut. Kalle hatte Recht, gekränkt zu sein. Er hatte mich zu einem Spielchen eingeladen und ich habe nicht bis zu Ende mitgespielt. Ich war ein Spielverderber.

"Wenn du nicht spielst, verdienst du nichts", rufe ich ihm zu. Er lächelt und schaut wieder in sein Buch. Ich weiß, warum er lächelt. Jemand hat mir einmal verraten, dass Kalles Einnahmen erheblich größer sind, wenn er nicht spielt. Dabei spielt Kalle nicht schlechter als jeder andere Straßenmusikant auch. Aber der Anblick eines völlig in seine Lektüre versunkenen, stilvoll zerlumpten Eremiten auf dem Gehsteig scheint die Leute noch mehr zu rühren als sein Musizieren. Es ist die Diogenes-Nummer, und auf die ist sogar Alexander der Große hereingefallen.

Seit unserer ersten Begegnung grüßen wir einander. Und wir werden einander auf immer grüßen müssen, bis einer von uns für immer verschwindet.

 

3

Es ist gar nicht so leicht, am Ostkreuz einen ruhigen Platz zum Zeichnen zu finden. Ich habe herausgefunden, dass es letztlich die Plätze mit dem größten Gewimmel sind, an denen man am ungestörtesten ist. Im Auge des Hurrikans, sozusagen. So sitze ich meistens oben auf dem Ringbahnsteig. Zudem kann ich hier oben, je nachdem wie meine Zeichnerlaune ist, den Blick auf Naheliegendes oder sehr Entlegenes richten.

Und gerade heute trifft das ein, was ich immer gefürchtet habe und was früher oder später unvermeidlich ist: Da kommt er, in diesem Fall ist es ein älterer Mann, der zunächst um mich herum schleicht, dann immer engere Kreise zieht, mir schließlich mit schon nicht mehr verhohlener Neugier über die Schulter blickt, um sich dann von der Seite in meine Nähe zu schieben. Kurz: der Alptraum des Zeichners. Gleich wird er dich anquatschen, denke ich mir. Und da tut er es schon:

"Ein Glück, dass das Wetter jetzt einigermaßen ist. Das Wetter ist wichtig für mich, neuerdings. Ich bin nämlich gerade zu Hause rausgeflogen. Und zwar achtkantig!"

Achtkantig rausgeflogen also. Er betont das achtkantig so, als wäre das eine besondere, besonders grausame Form des Rausfliegens. Ich versuche unwillkürlich, mir einen achtkantigen geometrischen Körper vorzustellen. Was wäre das? Eine Pyramide? Eine Pyramide. Ja, das ist wirklich lustig, der Typ als fliegende Pyramide.

"Nun, das ist ja nicht schön." Ein blöder Satz. Aber seiner ist auch nicht viel besser: "Wem sagen Sie das?"

"Gleich wird er fragen, was ich da zeichne und wozu das gut sein soll", denke ich mir und mir wird dazu nichts Originelles einfallen, fürchte ich. Aber der alte Mann tut nichts dergleichen, sondern beginnt mit etwas ganz anderem:

"Sind sie schon mal mit der Ringbahn gefahren?"

"Wie bitte?"

"Ich meine die volle Runde, in beiden Richtungen."

"Nein, bin ich noch nicht. Ich wüsste auch nicht, wozu…"

"Nun sollte man annehmen, dass eine volle Ringbahnrunde in Uhrzeigerrichtung ebenso lang dauert wie eine Fahrt gegen die Uhrzeigerrichtung. Sollte man doch, oder?"

Ich merke, dass der Mensch auf eine Debatte aus ist. Ich tue ihm den Gefallen und sage: "Nicht unbedingt. Die Rechtsherumbahn ist im Vorteil, sie fährt quasi auf der Innenbahn. Sie kennen das aus einem Stadion. Man könnte also einräumen, dass die Rechtsherumbahn schneller eine Runde vollendet als die Linksherumbahn." Was, zum Geier, rede ich da! Und wie herablassend!

Aber der Mann ist überhaupt nicht beleidigt, lächelt verschmitzt vor sich hin und zappelt vor Aufregung. Offensichtlich hat er mich jetzt genau dort, wo er mich haben wollte:

"Nicht schlecht, so als These. Aber genau das Gegenteil ist der Fall!"

"Eine Abkürzung vielleicht? Irgendwo?"

Er sieht mich spöttisch an. Ich sehe schon, er ist nicht der Typ, dem an einfachen Erklärungen etwas liegt.

"Es gibt einen Weg, das heraus zu finden", sage ich, schon etwas ungeduldig, "eine Stoppuhr, ein Fahrplan oder noch einfacher: eine S-Bahn-Karte, Zettel und Stift, eine Liste der Bahnhöfe, die Zeiten dahinter notiert, fertig. Das müsste doch zu machen sein."

"Ich hab's ja versucht, habe mir die Nummern der ersten Waggons aufgeschrieben und gewartet, dass sie wieder auftauchen. Sie kamen immer dann zurück, wenn ich gar nicht mehr oder noch nicht mit ihnen rechnete. Oder gar nicht. Vielleicht war ich zwischendurch abgelenkt, weiß der Teufel. Jedenfalls habe ich keine brauchbaren Daten bekommen. Wäre das nicht etwas für Sie. Sie sind doch öfter hier, wie ich bemerkt habe. Zu zweit könnten wir es heraus bekommen. Wie wär's damit, so als Projekt? Interessiert?"

"Tut mir leid. Ich habe hier andere Projekte." Ich wedle mit dem Skizzenbuch.

Er nickt, als habe er es geahnt und als sei er es gewohnt, abgewiesen zu werden. Eine Weile sitzt er versunken da. Ich überlege, ob es höflich genug wäre, wenn ich jetzt mit dem Zeichnen weitermachte. Doch plötzlich kommt wieder Bewegung in meinen seltsamen Banknachbarn.

»Wissen Sie, was auch noch interessant ist? Dass eine Ringbahnrunde, jedenfalls laut Fahrplan, exakt so lange dauert wie die Dritte Sinfonie von Beethoven.«

Großer Gott, was hat er denn nun schon wieder! Allmählich reicht es mir. Ich wollte hier doch nur zeichnen! Aber damit wird wohl heute nichts mehr. Nur, um dem Alten auch die Laune zu verderben, wende ich ein: »Kommt aber sehr drauf an, wer am Pult steht«.

»Ich meine natürlich nicht irgendeine, sondern die Interpretation der Dritten: Konwitschny, Gewandhausorchester, 1963.«

»Klingt alt.«

»Ja, alt und unübertroffen, wie so manches Alte.«

Er erhebt sich, steht noch eine Weile blicklos da und sagt dann: »Machen Sie das mal. Sie werden es nicht bereuen.«

Wo habe ich erst kürzlich darüber gelesen, wie sehr — und mehr als wir ahnen! — die öffentliche Meinung von durchgeknallten Rentnern geprägt wird?

 

4

Inzwischen ist Sommer. Die Baumaschinen am Ostkreuz sind immer zudringlicher geworden, so richtig gemütlich ist es dort nicht mehr. Manchmal denke ich noch an den Alten, den Ringbahn-Exegetiker, den Fahrplan-Kabbalisten, den achtkantig Rausgeflogenen. Ich hoffe, es geht ihm gut. Zwei, drei weitere Skizzenbücher habe ich seitdem vollgekritzelt und Ingas Liebesbotschaftenkollektion ist in eine andere, größere Schublade verlegt worden. Ich stelle mir vor, wie die Leute, die dereinst in fernerer Zukunft meinen Nachlass ordnen, etwas verwirrt vor dem Schrank mit den Skizzenbüchern und der überquellenden Liebeszettel-Schublade stehen und mich, je nachdem welcher Zeitgeist dann gerade waltet, welche Denk- und Urteilsmoden gerade angesagt sind, entweder für einen armen Irren oder einen, der zu leben verstand, halten werden.

Aber die Eroica-Runde habe ich schon einmal gemacht. In beiden Richtungen. Die Rechtsherum-Ringbahn-Eroica gefällt mir mehr, die Gegend passt jeweils besser zur Musik. Am Ende des ersten Satzes ist man am Innsbrucker Platz, passend zum Marcia funèbre des zweiten Satzes die eher tristen Gegenden im Westen, am Westhafen setzt das Scherzo ein, Allegro molto geht es dann von der Prenzlauer Allee weiter und pünktlich zum Schlussakkord ist man wieder am Ostkreuz angekommen.


 

Inka Engmann
Fortsetzung folgt?

 

Manchmal ist es schon wie verhext. Da sitze ich sonntags am Ostkreuz, warte auf die S-Bahn, ahne nichts Böses — und plötzlich kommt dieser Mann angeschlendert und bleibt genau vor mir stehen. Er ist sehr groß und dünn und guckt mich an. Solche Augen habe ich noch nie gesehen! Sie schießen in meinen Kopf und rollen wie ein Kugelblitz durch mich hindurch. Ich senke meinen Blick. "Hau ab, geh weiter!", denke ich voller Zorn. Doch er bleibt stehen. "Aufgrund einer Weichenstörung verzögert sich der Zug nach Erkner um etwa zehn Minuten!", verkündet eine Lautsprecherstimme.

"Auch das noch!", platze ich heraus.

"Du wartest nicht gern", sagt der Mann.

"Genau, hab Besseres zu tun!" rotze ich ihn an. Er verzieht keine Miene, schießt mir nur wieder mit seinen Augen ins Gesicht. "Machen wir ein Spiel", sagt er und setzt sich neben mich. Rumpelnd kämpfen Neugier und Zorn in meinem Inneren. Klar, dass die Neugier siegt, auch wenn mich das gleich wieder zornig macht. "Was für’n Spiel, willste mir ’nen Zaubertrick vorführen?", sage ich höhnisch. Er starrt jetzt geradeaus. "Du wartest auf die S-Bahn", sagt er. Ich gucke ihn an. Was will der? Er starrt weiter geradeaus.

"Du hast es eilig", sagt er.

"Hm ja… nee, eigentlich nicht. Kann mir nur was Interessanteres vorstellen, als hier zu sitzen."

"Dir ist dieser Ort zuwider", sagt er.

"Naja…"

"Die S-Bahn fährt gleich ein", sagt er. "Du hast es nicht eilig, aber dieser Ort hier ist dir zuwider."

"Was soll…"

"Du willst einsteigen. Da tritt dir ein fremder Mensch entgegen und bittet dich darum, hier zu bleiben auf ein Spiel."

"Du hast ja ’ne Macke", sage ich und stehe auf. Zum Glück fährt die Bahn jetzt ein. Ich steige ein ohne mich umzusehen, lasse mich auf einen Sitz fallen, kann es aber dann doch nicht lassen, aus dem Fenster zu gucken. Er steht direkt vor mir, sein Blick ist traurig, er sticht mich. Dann fährt die S-Bahn los.

Ich atme auf. Ist schon echt manchmal wie verhext, was man so alles an Durchgeknallten trifft in Berlin! Na, nicht mehr dran denken. Bin ja gleich in der Wuhlheide und dann ab ins Schwimmbad — auf jeden Fall ein besseres Sonntagsvergnügen, als mit einem Verrückten am Ostkreuz zu sitzen.

Abends liege ich im Bett und versuche zu schlafen. Aber es geht nicht — kaum schließe ich die Augen, sehe ich den Mann vom Ostkreuz, seine Augen erschießen mich. Ich zwinge mich, an etwas anderes zu denken. Aber es geht nicht — sein Gesicht schiebt sich immer wieder davor. Ich wälze mich rhythmisch hin und her: Geh weg! Geh weg! Irgendwann muss ich dann doch erschöpft eingeschlafen sein.

 

So geht das nicht weiter, jetzt kann ich schon seit drei Tagen nicht mehr einschlafen, ohne dass sein Gesicht mich heimsucht und seine Augen auf mich schießen. Hat er in mein Herz geschossen in den wenigen Minuten?

Ich stehe auf und ziehe mich an. Ich schreibe etwas auf einen Zettel. Dann marschiere ich mitten in der Nacht zum Ostkreuz. Zum Glück sind um diese Zeit kaum Menschen auf dem Bahnsteig, keiner beobachtet mich, als ich den Zettel anklebe. Auf dem Heimweg kann ich schon gar nicht mehr glauben, was ich eben getan habe — so was machen doch nur Vierzehnjährige! Aber als ich wieder im Bett liege, überkommt mich so was wie Hoffnung. Und dann schlafe ich ein.

 

Es ist wieder Sonntag, und ich sitze wieder auf einer Bank am Ostkreuz. Aber ich warte nicht auf die S-Bahn. Ich habe nichts Besseres zu tun, als hier zu sitzen und zu warten.

Ich schiele auf den Zettel, der unweit von mir klebt. Den Text kann ich von hier aus nicht lesen, aber ich kenne ihn natürlich auswendig: "Würde das Spiel gern fortsetzen! Sonntag, 10 Uhr auf der Bank am Ostkreuz!"

Jetzt ist es 10 Uhr 15. Nichts passiert. Aber vielleicht passiert ja doch noch was. Mir bleibt jedenfalls nichts anderes übrig, als zu warten.


 

Annette Ludwig
Happy Hour

 

Wenn man durch die In-Clubs von Berlin zieht, möchte man eigentlich nur Spaß, ein bisschen tanzen und vor allem die Happy Hour genießen, bei der man zwei Drinks für einen Preis bekommt. Allein dafür lohnt sich schon das Kommen. Man erscheint gegen 20.30 Uhr, drängelt sich an die Bar, um bis 21 Uhr das Projekt erledigt zu haben, denn dann ist die Happy Hour vorbei und es gelten wieder die gängigen Preise. Dafür hat man sich mit den notwendigen Getränken eingedeckt, die normalerweise für den ganzen Abend reichen. Dieser ist ohnehin selten lang. Wie üblich bei den After-Work-Partys kommt man früh und geht rechtzeitig, denn am nächsten Tag muss wieder gearbeitet werden. Dennoch hat man das gute Gefühl, 'Aus' gewesen zu sein. Dann kann man, mit einer großen Tafel an Getränken vor sich, beginnen, die anwesende Menge zu betrachten, die man gewöhnlich relativ schnell als uninteressant abtut und nicht der Mühe wert, auch nur ein Gespräch zu investieren, wo man doch viel gemütlicher die Zeit schweigend mit seinem Glas verbringen könnte.

Es sei denn, es wird Englisch gesprochen. Wenn auch in erst ziemlich unverständlichem Dialekt, aber immerhin Englisch, was bedeutet, dass sich der Abend für ein gepflegtes Gespräch eignet und sich eventuell eine freundschaftliche Beziehung weiter entwickeln lässt, bei der man sogar die Fremdsprache aufpeppen kann.

 

Sie redet mit einem der Gruppe, die Verständigung gestaltet sich schwierig und wird langsam langweilig und sie beginnt die Konzentration zu verlieren und fahrig um sich zu blicken. Da bemerkt sie, dass der Freund ihres Gesprächspartners sie anstarrt. Sie spürt seinen Blick im Rücken und von der Seite. Groß, blond und blauäugig mit fast kahl rasiertem Kopf, als blonde Frau so gar nicht ihr Typ, aber der bohrende Blick ist faszinierend. An den wird sie sich später immer wieder erinnern. Sie macht einen Schritt auf ihn zu und spricht ihn selber an. Und will nicht mehr gehen. Und auch er nicht. Sie trennt sich nur kurz, um zur Toilette zu entschwinden und sagt zu ihm auf Englisch: "Betrüg mich nicht". Er sieht sie verwundert an, lacht dann über das ganze Gesicht und antwortet: "Das werd ich nicht."

 

Er schreibt ihr gleich am nächsten Tag aufs Handy, dann ruft er sie aus England an und hinterlässt eine Nachricht auf dem Antwortbeantworter. Sie ist beeindruckt von seiner männlichen Stimme und denkt an seinen faszinierten Blick. Sie treffen sich eine Woche später zum Essen, eines der Dates, bei dem man feuchte Hände bekommt, weil das letzte schon so lange her ist, weil etwas Spannendes in der Luft liegt, mit einem Briten bei einem übergroßen Salat in einer Bar in Mitte zu sitzen, beobachtet von einer riesigen griechischen Statue im Vordergrund.

 

Sie ziehen durch die Bars im Friedrichshain, trinken Wodka und die Nächte werden länger als die Tage. Sie bringt ihn zum Bahnhof Ostkreuz, um ihn am nächsten Tag dort wieder abzuholen. Sie reden über Gott und die Welt und die Gespräche werden immer länger und intensiver. Sie gestehen sich ihre Schwächen und Verletzlichkeiten, erkennen Übereinstimmungen und sie fängt an, ihn mit dem Blick eines Gleichgesinnten zu betrachten.

Er beginnt, bei ihr ein und aus zu gehen, sitzt auf ihrem Sofa immer auf dem gleichen Platz, wird zum Teil des Möbels.

Sie essen immer in denselben Restaurants, treffen sich in den gewohnten Bars und sitzen dort auf denselben Plätzen, so dass das Personal sie bereits wiedererkennt. Ganz Berlin wird zu einer Spielwiese, auf der sie ständig unterwegs sind.

 

Die Wochenenden gehören seinen Kindern zu Hause, aber auch dann bricht der Kontakt nicht ab. Sie respektiert seinen Familiensinn, nicht nur weil sie eigene Verpflichtungen hat, sondern weil sie es nicht ertragen könnte, wenn er versuchen würde, alles Sichere aufzugeben, um ein Risiko einzugehen, das einzugehen auch sie nicht bereit gewesen wäre.

 

Dann kommt der Tag, an dem er sagt, dass er zurück auf seine Insel geht, in sein altes Leben und zu seiner alten Arbeit. Sie sitzen beide stumm in der Bar und können sich kaum ansehen, um die Trauer zu verbergen. Zu lange haben sie das unbeschwerte Leben genossen, ohne wirklich einen Gedanken daran zu verschwenden, dass diese sorglose, gewohnte Selbstverständlichkeit irgendwann zu Ende sein könnte und es vorbei sei mit der Zeit, bei der ein kurzer Anruf genügt hätte, um sich schnell und unkompliziert zu verabreden, das der eine Teil des Sofas nun leer bleiben würde.

Sie beschließt, ihn bis zu seiner Abreise nicht mehr zu sehen, um es beiden leichter zu machen, auch wenn sie selbst nicht so richtig daran glaubt, dass dies so einfach funktionieren könnte.

 

An seinem letzten Arbeitstag geht sie in die Bibliothek. Sie gibt gelesene Bücher ab und stöbert durch die Regale um sich abzulenken, findet aber nichts. Sie kann sich sowieso nicht konzentrieren, also entschließt sie sich zu gehen. Am Ausgang findet sie einen Tisch mit aussortierten Büchern und Schallplatten, die man für eine Spende mitnehmen kann. Sie bleibt gedankenversunken stehen und sieht sich die Bücher an. Alle stehen in Reih und Glied, nur eins liegt wie zufällig daneben. Sie nimmt es in die Hand und kann kaum ihren Augen trauen. Sie hat das Gefühl, dass es nur für sie hier abgelegt wurde, so unverkennbar, dass es nicht übersehen werden konnte, als Zeichen und als Erinnerung. Verwirrt lässt sie es in die Tasche gleiten und läuft eilig hinaus. Im Auto beginnt sie zu blättern, kann aber vor Unruhe kaum lesen und fährt nach Hause. Sie parkt den Wagen in der kleinen Straße, in der sie wohnt und überlegt, ob sie das Buch mit nach oben nehmen sollte, doch dann beschließt sie, es lieber auf dem Beifahrersitz zu lassen, da sie es in der Wohnung nicht ertragen könnte. Sie schließt das Auto ab und geht zur Haustür und beginnt, aufwendig nach dem Schlüssel zu suchen. Da kommt ihr ein eigenartiger Gedanke. Sie kehrt noch einmal zum Wagen zurück, nimmt das Buch vom Beifahrersitz und legt es vor die Windschutzscheibe.

 

Am nächsten Morgen läuft sie unruhig zum Auto. Es ist sehr früh und noch nicht richtig hell. Eigentlich möchte sie nur schnell etwas zum Frühstück kaufen. Sie setzt sich in den Wagen und startet den Motor, als sie auf der linken Autoscheibe undeutlich, aber doch erkennbar, Buchstaben bemerkt. Sie öffnet noch einmal die Tür, um durch das Licht im Innenraum besser sehen zu können und sieht nun ganz klar einen Abschiedsgruß mit dem Finger in den Fensterstaub gemalt – mit ihrem Namen. Todtraurig und gleichzeitig erleichtert schließt sie die Tür, so dass es wieder dunkel wird in der Kabine und sieht nach vorn an die Windschutzscheibe zum einzig hellen Fleck, dem weißen Buchband von Mary Wesley mit dem Titel in englischer Sprache "Part of the furniture" — "Ein Teil des Möbels".


Rudolf Reinsch
Das Ost-Kreuzspiel

 

Das Ost-Kreuzspiel beruht auf der Legende
vom alten Ostkreuz als Paradestück,
dem irgendwann, zu irgendeiner Wende,
verloren ging sein statisch festes Glück.

Es ist das Kreuz ein Knotenpunkt im Osten.
Die Gleise schlängeln kreuzend sich im Bett.
Die Schienen glänzen matt, die Brücken rosten
und jeder Zug verkündet sein Sonett.

Und er fährt klagend polternd mit den Gästen
den Ring herum und durch die Citywelt,
damit er mit dem and'ren Kreuz im Westen
von Kreuz zu Kreuz die Stadt zusammenhält.

Und wenn ein Fahrgast mitten im Kutschieren
das alte Ostkreuz intensiv beäugt,
dann könnte er erkennen und auch spüren,
wie mühsam ihn der Knotenpunkt verzweigt.

Zum Beispiel, wenn die Treppen ihn verführen,
so dass er auf dem falschen Bahnsteig steht
und er dann merkt, dass stetes Galoppieren
rein orthopädisch übers Kreuz ihm geht.

Er keucht zurück mit äußerst derben Flüchen
und er entscheidet trotzdem voller Wut,
er wird dem Ostkreuz nicht zu Kreuze kriechen,
weil das der Sache keinen Abbruch tut.

Drum kreuz und quer die Treppen rauf und runter,
damit man ja nicht Zeit und Weg vergisst.
Den richt’gen Zug erwischen, das macht munter,
weil falscher Anschluss kreuzgefährlich ist.

Kreuzsapperlot, so kann das doch nicht laufen,
nur immer Karo Sieben, nie Kreuz As,
nie einen Trumpf, es ist zum Haare raufen.
Das Kreuzen auf dem Bahnhof ist kein Spaß.

Dem Ost–Kreuzbuben mit dem Mikrofone
sagt er, ich lass mich hier auf nichts mehr ein.
Ich schlag mich durch, mit S-Bahn oder ohne,
ihr könnt mir mal kreuzweise … dienlich sein.

Ich kreuz mit euch auch keinesfalls die Klingen:
wem soll es nützen, wenn ihr nicht mehr seid?
Dann kann ja nur noch weniger gelingen.
Nein, Klingen kreuzen wäre nicht gescheit.

Wenn schon im Stellwerk alle Hebel klemmen,
dann braucht es Leute, die ihr Werk verstehn,
die sich mit breitem Kreuz dagegenstemmen
und garantiern, dass sich die Räder drehn.

Die Zeit, da sich die Lobeshymnen stauten,
ist für den Bahnhof längst Vergangenheit
und mit dem Kreuzgang religiöser Bauten
gabs eine Konkurrenz zu keiner Zeit.

Ein Gläubiger könnte gedanklich wagen,
das ganze Ostkreuz als den ärgsten Feind
mit angestautem Frust ans Kreuz zu schlagen,
dann wäre es ihm Heiligtum und Freund.

Es ist ein Kreuz mit diesen alten Sachen,
wenn die Mission nicht mehr so recht gelingt.
Am liebsten würde man drei Kreuze machen,
doch besser ist es, alles wird verjüngt.

Wird erst gebaut, reibt jeder sich die Hände,
denn manchmal nimmt das zügig seinen Lauf
und baut man an der Knotenpunkt-Legende,
dann kreuzt wohl bald ein neues Ostkreuz auf.


Franziska Dreke
Mozart für Osterglocken

 

Liebe Lisa,

heute Mittag habe ich mich in den Finger geschnitten. Ich stand einfach nur da und beobachtete, wie das Blut aus dem Schnitt hervorquoll und langsam auf die grüne Tischplatte tropfte und dort einen tiefroten Fleck bildete.

Komplementärkontrast.

Es sah aus wie Kunst.

Miro vielleicht.

Kurz habe ich dann auch daran gedacht, wie der Blutfleck wohl aussehen mochte, wenn ich das Messer einfach über die Innenseite meiner Arme ziehen würde, aber dann habe ich den Lappen geholt und den Tisch abgewischt.

Noch drei Stunden, dann muss ich zur Arbeit. Die Zeit hinterlässt eine langsame Schneckenschleimspur. Draußen scheint die Sonne. Hier drinnen nicht. Ich gehe zwar nicht raus, aber ich habe die Fenster aufgemacht, damit auch die Bücher den Frühling riechen.

 

Liebe Lisa,

das ist die letzte Seite. Ich meine das natürlich nicht so, wie es klingt. Mein Briefpapier ist alle, also kann ich dir heute nur diese eine Seite schicken. Ich war heute morgen im Schreibwarenladen – gleich ganz früh, als noch nicht so viele Leute unterwegs waren – aber sie hatten das blaue Briefpapier nicht und ich wollte kein anderes kaufen, denn ich weiß doch, wie gern du dieses blaue hier magst.

Auf der Arbeit hat mich heute wieder dieser Alte angesprochen. Du weißt schon, der mit den Krähenklauenfingern. Ich weiß seinen Namen nicht, aber er ist meistens unten im Büro. Ich muss dort vorbei, wenn ich die Putzmittel hole. Er meinte, ich sähe blass aus, ob ich denn krank wäre. Ich habe ihm nicht geantwortet. Glücklicherweise redete danach niemand mehr mit mir. Diese Spätschichten haben eben auch ihre Vorteile, wenn alle nur nach Hause wollen zu ihren Familien, die schon am Tisch sitzen und mit dem Besteck klappern. Bei mir sitzt keiner und das Besteck verhält sich meistens ruhig.

 

Liebe Lisa,

ich habe darüber nachgedacht, warum ich Putzen so mag. Es ist sauberer danach, das ist wohl der Hauptgrund. Ich finde es nicht im Geringsten frustrierend, dass ich eine S-Bahn putze und sie am nächsten Abend wieder genauso schmutzig ist wie am Tag zuvor. Es ist jedes Mal eine kleine Befreiung, ein bisschen weniger Trübes auf dieser Welt. Es beruhigt, den ganzen Schmutz von Leuten zu beseitigen, wenn man dafür nicht mit ihnen reden muss. S-Bahnen reinigen muss ein grauenvoller Beruf sein, habe ich mal jemanden sagen hören. Ich finde, es ist einer der schönsten, die es gibt.

Da saß sie wieder.

Über dem Ostkreuz ging die Sonne unter und der rote Himmel spiegelte sich in den Scheiben der wegfahrenden S-Bahn. Er lehnte sich mit den Ellbogen auf die Brüstung seines Balkons und starrte angestrengt durch den Feldstecher. Das schwindende Tageslicht war nicht mehr stark genug und er konnte durch das Glas kaum noch etwas erkennen. Das Mädchen saß wieder auf derselben Bank ganz hinten auf dem Bahnsteig, dort, wo niemand anderes sich hinsetzte. Sie trug ihr halblanges Haar offen, soviel konnte er noch erkennen, und hatte die Arme um die Knie ihrer angewinkelten Beine geschlungen. Er hätte den Feldstecher nicht gebraucht, auch so konnte er sich das blasse Gesicht hinter dem Vorhang aus hellbraunem Haar vorstellen und ihre schwarzen Augen, deren ängstlicher Blick ihn oft gestreift hatte, wenn sie im Treppenhaus an ihm vorübergehuscht war – unscheinbar und fast lautlos wie ein kleiner Schatten, so dass man sie fast nicht bemerkte. Auffällig war sie wirklich nicht, eher von der Sorte Mensch, die man sah und wohl sofort wieder vergaß, ein schneller Gedanke, der in dem Moment, in dem er gedacht wurde, schon wieder Vergangenheit war.

Sie war nicht besonders hübsch, eher zu dünn, und ihre Blässe ließ sie fast ein wenig krank aussehen. Ihre schmale Gestalt war nun auch mit bloßem Auge nur noch als dunkler Schatten auszumachen und seufzend legte er den Feldstecher weg.

Wie lange ging das jetzt schon so? Sie hatte doch ihr eigenes Leben, wie er auch, sie ging zur Arbeit, offensichtlich, was war an ihr schon besonderes, außer, dass sie da jeden Abend auf dem Bahnsteig saß? Vielleicht war sie verrückt? Normal war das sicher nicht, es gab jedenfalls schönere Orte als der heruntergekommene Bahnsteig vom Ostkreuz.

"Was macht sie da nur jeden Abend, hmmh, warum sitzt sie da wohl?", fragte er die Osterglocken, deren kleine fransige Schattenrisse in ihrem Kübel am anderen Ende des Geländers gegen den dämmerroten Himmel abstachen.

"Seid ihr schon müde?" Gähnende Zustimmung.

"Ich weiß, nicht so viel reden, ich bringe euch noch ein wenig Mozart hinaus. Für die Nachtruhe." Er drehte den CD-Player auf die niedrigste Stufe, damit die Nachbarn sich nicht wieder beschwerten. Und während das letzte Rot hinter dem Wasserturm verblasste und sich die Frühlingsdunkelheit mit der aufsteigenden Musik vermischte, küsste Papageno leise lachend die Osterglocken, die schon lange vorher eingeschlafen waren.

 

Liebe Lisa,

ich habe mir wieder einmal geschworen, niemals Absatzschuhe zu tragen. Sie machen bösartige Geräusche. Sonntage sind die schönsten Tage. Da gibt es weniger Frauen in Kostümen auf dem Bahnhof und auch weniger Absatzschuhe, die mit ihrem Klacken die Klänge der Dämmerung in scharfzackige Streifen schneiden. Bahnen sind viel lauter, könnte man denken, aber die Bahnen gehören doch zum Bahnhof dazu. Die Dämmerung am Ostkreuz schmeckt nach Stille, trotz der Bahnen, man kann förmlich spüren, wie sie sich herabsenkt und flüsternd in die Köpfe der Leute eindringt um ihnen zu sagen, dass sie nach Hause gehen sollen, um die Nacht nicht zu stören. Dann wird es ruhig am Bahnhof und endlich sitze auf meiner Bank, nur noch ich und keine anderen Leute mehr, die mich dazu bringen, nach Hause zu fliehen. Das Ostkreuz im Dunkeln ist fast so schön wie meine Wohnung und fast so einsam.

Als ich heute nach Hause kam, habe ich wieder den seltsamen Typen von oben getroffen. Ich habe keine Ahnung, was er macht. Arbeitet er? Ist er Student? Ich weiß auch nicht, warum er immer barfuß läuft. Er hat so einen merkwürdigen Blick, als wollte er alles aus einem heraussaugen. Das sind die Schlimmsten! Ich bin schnell an ihm vorbei gerannt und habe die Tür von innen abgeschlossen und noch einen Stapel Bücher davor gestellt. Da sind seine Blicke dann außen an der Tür zerschellt. Er sollte aufpassen mit seinen Füßen – wegen der Scherben…

 

Liebe Lisa,

heute hatte ich frei. Der Baum vor dem Fenster hat schon kleine Knospen, bald wird er ganz von weißen Blüten bedeckt sein. Wenn sie fallen, sieht es aus, als würde es schneien. Es tut fast weh, weil es so schön ist, da würdest du mir Recht geben.

Wenn der Baum dann Blätter hat, kann man den Bahnhof nicht mehr sehen. Vielleicht sollte ich mich besser daran gewöhnen, jetzt wo bald die Kräne kommen. Ob Kräne schlimmer sind als Absatzschuhe? Ich werde es herausfinden müssen. Aber wenigstens reden sie nicht. Der Typ von oben dafür um so mehr. Ich glaube, der spinnt. Er wohnt allein, aber als ich heute am offenen Fenster stand, konnte ich ihn deutlich auf dem Balkon reden hören und er war nicht am Telefon. Ich glaube, der redet mit seinen Pflanzen. Das ist doch verrückt, oder? Er hat mich dann gesehen und so komisch zu mir herübergestarrt. Ich habe einfach die Vorhänge zugezogen.

 

Als er den Topf los ließ, schaute er mit schmerzverzerrtem Gesicht auf seine Handflächen hinunter, auf denen tiefe rote Rillen zu sehen waren. Vorwurfsvoll blickte er die riesige Yucca an, die die Blätter gierig der neu gewonnenen Balkonfreiheit entgegenstreckte. "Du wirst immer größer. Nächstes Jahr schaffe ich es nicht mehr, dich hier rauszuschleppen. Ich müsste dich eigentlich absägen, das weißt du, oder?" Die Blätter erschlafften ganz plötzlich. Die Agave, die nahe am Balkongeländer stand, richtete feindselig ihre Stachelarme auf.

"Ich habe gesagt eigentlich - nun mal keine Panik hier!"

Seufzend schaute er an sich hinunter. Seine nackten Füße und der Balkon waren voller Blumenerde und er drehte sich um, um hineinzugehen und einen Besen zu holen. Im selben Moment sah er das Mädchen. Es stand am Fenster im nächst tieferen Stockwerk im angrenzenden Häusergiebel und blickte schräg zu ihm hinauf. Für einen Moment begegneten sich ihre Blicke. Dann war sie weg und hatte die Vorhänge zugezogen.

 

Lisa,

draußen regnet es. Ich hatte heute die Morgenschicht und es gab nicht so viel zu tun. Die Bahnen waren erstaunlich sauber - aber schließlich ist Mittwoch und nicht Samstag!

Es ist so dunkel hier drinnen. Ich kann nicht zu meiner Bank bei dem Wetter, aber ich habe den Tisch ganz nah ans Fenster geschoben, um den Bahnhof zu sehen. Noch ist der Baum nicht aufgeblüht, aber heute sieht er auch ganz anders aus, wie hinter einem Vorhang aus Wasser – so weit weg. Ich müsste etwas essen, aber im Kühlschrank ist nichts mehr. Der Gedanke, jetzt einkaufen zu gehen, hat etwas Bedrohliches. Ich stelle mir die vielen Leute in nasser Kleidung vor – Leute in nasser Kleidung sind noch schlimmer als andere. Wenn es überhaupt Leute sein müssen, wären mir Leute ohne Kleidung am liebsten, die wirken weniger Angst einflößend. Allerdings gibt es davon nicht so viele.

Durch den Fußboden hindurch kann ich den Fernseher von Frau Matuschke von unten hören. Selbst so gedämpft und aus einem Gerät machen mir die Stimmen der Leute Angst. Sie klingen hoch und schrill und sofort habe ich das Gefühl, meine Tür abschließen zu müssen, obwohl ich doch weiß, dass niemand herein kann. Hier drinnen bin ich doch sicher, hier gibt es nur mich… und die Bücher und die sind nicht gefährlich, denn sie lassen die Leute, die in ihnen sind, nicht zu mir hinaus.

Nein, ich weine nicht, was denkst du denn? Die Regentropfen sind durch das offene Fenster hineingekommen und auf das Papier gefallen. Dunkelblau auf hellem Blau. - Chagall?

Ich suche mir einen Tropfen aus, einen von den vielen, die an der Scheibe hinunter rinnen, und beobachte, wie er immer schneller fließt und an Größe zunimmt, bis er, endlich am Rahmen angekommen, zerplatzt.

Aus den Augenwinkeln sehe ich eine Bewegung. Es ist der Typ von oben. Stell dir vor, er steht auf seinem Balkon und schaut durch ein Fernglas zu mir herüber. Ist das zu glauben! Er beobachtet mich! Ich will aufspringen und die Vorhänge schließen , doch ich kann mich nicht bewegen, ich bin wie gelähmt, wie am Stuhl festgebunden durch die runden Gläser, die auf mich hinabstarren.

Ich starre zurück. Ich kann gar nicht anders. Da dreht er sich um und ist verschwunden. Kurz darauf kommt er zurück – diesmal mit einer grünen Gießkanne und beginnt damit, langsam und systematisch seine Pflanzen zu gießen, während der Regen ihm an Gesicht und Armen hinunterläuft.

 

Im Bad zog er sich das nasse T-Shirt über den Kopf. Seine nackten Füße hatten hinter ihm feuchte, sandige Spuren auf den Dielen hinterlassen. Der Regen machte ihm eigentlich nichts aus. Die anderen Pflanzen starrten sehnsüchtig hinaus. Die Yucca auf dem Balkon streckte gierig ihre Blätter aus und sog die triefende Luft ein. Sie konnte nie genug bekommen. Aber er goss sie gerne, auch bei Regen. Die anderen waren alle genügsamer, trotz trockener Heizungsluft. Vorsichtig pflückte er ein gelbes Blatt von der Kannenpflanze über dem Spiegel. Sie schwang behutsam hin und her. "Du siehst einsam aus", sagte er zu ihr, "ich sollte dich zu den anderen hängen".

Das Mädchen hatte auch einsam ausgesehen da an ihrem Schreibtisch. Was sie wohl schrieb? Ein Buch? Einen Brief? Schon oft hatte er sie so schreiben sehen. Sie sah nicht aus, als hätte sie viele Freunde, an die sie schreiben könnte. Sie sah eigentlich nicht aus, als hätte sie überhaupt welche. Aber vielleicht wohnten die alle weit weg.

 

Liebe Lisa,

ich muss mich beeilen, wenn ich den Brief heute noch aufgeben will. Bald kommt der Briefträger und wenn ich nicht schneller schreibe, werde ich den Brief heute nicht mehr an dich schicken können. Gestern Abend habe ich aus dem Fenster geschaut. Irgendjemand hat Musik gespielt, aber nicht so eine schrille, sondern eine schöne, ganz weiche. Sie hat mich an die Baumblüten erinnert und ihre Zartheit, wenn man sie sich auf den Finger legt. Wie ein Hauch sind sie, ganz leicht, genau wie die Töne dieser Musik.

Das Schreiben tut mir gut. Mein Körper fließt. Beim Lesen fließt es auch, aber mehr in mir herum, aber beim Schreiben fließt es aus mir heraus, so wie etwas, das herausgewaschen wird, herausgespült, gereinigt…. Es ist wie ein Spiel, dieses Schreiben. Ja, manchmal denke ich, es ist nur ein wirres Spiel, aber du bist dann da und das tröstet, und wenn ich mich daran erinnere, dann ist dieser komische Gedanke an das Spiel auch schon wieder fort.

 

Als er das Mädchen wieder sah, kam er gerade die Treppe hinunter. Das Linoleum der Treppenstufen fühlte sich immer noch kühl an hier im Hausflur, aber bald würde die Sonne kräftig genug sein, um auch das Treppenhaus zu wärmen. Sie kam aus ihrer Wohnungstür und ihre Haare verdeckten wie immer ihr Gesicht. Sie trug eine weite Strandhose und ein abgewetztes Shirt und dicke Wollsocken an den Füßen. In der Hand hielt sie einen blauen Briefumschlag. Als sie ihn sah, machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand hinter ihrer Wohnungstür, die mit einem leisen Klacken ins Schloss fiel. Er dachte an ihre Wollsocken, weil seine nackten Füße plötzlich froren.

 

Liebe Lisa,

der Typ von oben, der mit den Blumen, ist zu nah herangekommen. Ich muss den Brief von gestern heute mitschicken, weil ich ihn gestern auf der Treppe getroffen habe, als ich den fertigen Umschlag einwerfen wollte. Ich bin sofort zurück in die Wohnung gerannt und habe mich bis heute eingeschlossen.

Sein Blick hat mich erschreckt und ganz nackt gemacht und seitdem fühle ich mich plötzlich gefangen. Nicht nur in meiner Wohnung, auch in mir. Die anderen um mich herum sind so weit weg, das ist beängstigend, aber wenn sie näher kommen, ist es noch beängstigender. Verstehst du, was ich meine, oder denkst du, ich bin verrückt? Als ich mich heute auf der Arbeit in der S-Bahn-Scheibe gesehen habe, kam ich mir selbst fremd vor. Ich wollte laut schreien, aber es kam kein Ton heraus.

Ich muss etwas tun, was glaubst du? So kann es nicht weitergehen!!!

Sogar die Frau, die die Putzlappen ausgibt, kommt mir jetzt bedrohlich vor. Sie hat aus Versehen meine Hand berührt, als sie meinen Eimer genommen hat und hat es gar nicht bemerkt, aber ich habe es gespürt und an einen großem Schwamm denken müssen, der sich mit Wasser voll saugt und dabei dick und unförmig wird bis er keine Nässe mehr aufnehmen kann und das Wasser wieder beginnt, aus ihm herauszulaufen. Ich habe mich hinter meine Wohnungstür gewünscht und in Gedanken viele Bücherstapel dahinter aufgetürmt.

Ich konnte nicht einmal zum Ostkreuz hinübergehen und dort sitzen. Die Stille dort ist jetzt ohrenbetäubend.

 

Als sie an diesem Tag hinunter zum Briefkasten ging, fand sie darin wie immer einen Brief. Ihre schwarzen Augen schauten durch den Vorhang ihrer Haare auf dem Umschlag, der dort in der Ecke ihres Briefkastens lehnte.

Alles um sie herum schien zu einem dicken Nebel zu erstarren. Die Geräusche traten überdeutlich hervor, das Kreischen der alten Briefkastentür, das ihr noch in den Ohren widerhallte, ihr zäher Atem und das Blut, das laut in ihr rauschte.

Eine Fliege kroch langsam an der Wand über den Briefkästen entlang, die in einer Reihe hingen und deren alte grüne Farbe langsam abblätterte. Ihr Briefkastenschlüssel steckte ein wenig schief in seinem Schloss und das Namensschild war schon ziemlich verblasst. Es schien ihr eine Ewigkeit her zu sein, dass sie ihren Namen darauf geschrieben hatte:

LISA GROSSE.

Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen.

Nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, nahm sie den Briefumschlag mit zitternden Fingern aus dem Kasten. Sie schloss die Briefkastentür und zog den Schlüssel ab. Behutsam, als wäre er etwas sehr Zerbrechliches, trug sie den Brief vor sich her in ihre Wohnung. Der Nebel wurde langsam lichter und sie konnte die Kühle der Linoleumstufen durch ihre Wollsocken spüren.

Briefe waren nicht gefährlich.

Sie atmete tief durch.

Und dieser hier war gelb und roch nach Osterglocken.


Guido Woller
Spiel der Veränderung

 

Männer mit Helmen und leuchtenden Westen
werkeln stets träge, dennoch mit bestem
Gewissen an des Bahnhofs neuem Gesicht,
welches dem Alten, gezeichnet von Zeit,
in jeglicher Weise nur wenig entspricht.

Kräftige Bagger stemmen Steine und Sand,
glühende Funken tanzen heiß und galant
durch die tönende, rauchende, nasskalte Luft
und fügen zusammen die stählerne Kluft.

Seit achtzehn-zweiundachtzig verkörpert dieser weise Ort
das wechselhafte Großstadtleben
und atmet weiter fort.

Obwohl man über hundert Jahre
einen Umbau schon begehrte,
sich dieser resistente Platz
mit rost’gen Muskeln wehrte.

Wo gestern noch Passanten liefen
in größter Eile auf und ab,
da wähnt man heut’ Gerüste sprießen,
wie Unkraut auf dem frischen Grab.

Das Gewicht unzähl’ger Füße
Milliarden mögen's sein,
trug dieses alte Bauwerk
aus Stahl und Holz und Stein.

Tag für Tag und Stund’ um Stund’
stirbt ein Stückchen alter Zeit.
Die neue aber geboren wird
und erinnerungsleer gen Himmel steigt.

Wie schnell man sich gewöhnt
an den Anblick einer neuen Haut,
der Kern jedoch bleibt durch Erinnerung
einem Jeden stets vertraut.

Das Spiel des Umbaus dieser Zeit
ist unaufhaltsam, aber bleibt
Bestandteil einer großen Stadt,
die sich immer wieder neu erschafft.


Carsten Schulze
X-Spiel

 

Sommer

Silvio war noch mal weg gewesen. Am Meer, in den Bergen, im Wind. Juni, Juli, die Monate waren lang und intensiv, irgendwann war sein Geld aufgebraucht. Einmal noch reisen, dann war sowieso Schluss mit lustig. Während des Frühstücks ließ er seine Gedanken treiben.

Im Radio hatten sie die neuesten Nachrichten über den Handelskonflikt mit Russland gebracht. Der anschließende Kommentar beschrieb ein Horrorszenario, das mit dreimonatiger Karenzzeit zum Ausbruch kommen würde. Pünktlich zur Heizperiode würden die letzten Reserven verbraucht sein. China und Russland hatten sich mit dem arabischen Kalifat verbündet, Afrika versank in Anarchie. Amerika betete kollektiv, waffenstarrend.

Die sozialistischen Staaten im Süden nahmen keine Flüchtlinge auf. Der Rest, emsige findige Selbstversorger im subtropischen Klima.

Ach, der Golfstrom. Wie erklärte man das seinen Kindern?

 

Winter

Das Leben ist ein Spiel. Jetzt ein Alptraum, Spiel auf Leben und Tod, unvorstellbar neu.

Silvio lugt durch den Spalt im Vorhang. Die Straße ist voller Menschen, die sich eindecken für den Winter, Schnäppchen und Gelegenheiten in den Ekauf-Rollis der jetzt geschlossenen Einkaufsparadiese. Der Verkehr fließt gemächlich, Schritttempo. Er sieht Kevin im Hauseingang gegenüber, quatscht mit einer Gruppe Araber. Die kommen aus Neukölln ans Ostkreuz, 'wegen die Spiel', verstehst du? Es ist lauter Zeug in der Stadt, Brennholz, Werkzeug, notwendige Dinge des täglichen Bedarfs, Klopapier, warme Klamotten sind der Renner gerade, Waffen, auch Drogen und Alkohol. Den Rest gibt’s in den Servicepoints der Bezirksverwaltungen, mal mehr, mal weniger. Es reicht, um den Kessel nicht überkochen zu lassen. Man gewöhnt sich. Die Straße gehört den Radfahrern und fahrenden Händlern. Silvio schnappt seine Jacke, schultert das Bike, hastet die zwei Treppen raus auf die Straße. Im Slalom kurvt er Markgrafendamm runter Richtung Ostkreuz, mitten durch die Handelnden und Harrenden auf dem Schwarzmarkt, der sich weiträumig um den Bahnhof etabliert hat. Dann ist freie Bahn auf der leergefegten Straße Richtung Osten. Malik wartet am Treff, eine alte Lagerhalle am Spreeufer, die vom letzten Bauboom verschont geblieben ist. Alte und zukünftige Ruinen, das liegt jetzt nah beisammen, die neuen Claims sind noch nicht abgesteckt. Es herrscht große Unordnung an der Peripherie. Pa hatte erzählt, wie sie 1990 die Fabriken verlassen hatten. Kurz darauf war vieles verschleudert, geplündert und zerstört worden. Ganze Fabriken wurden abgeräumt, Maschinen, Werkzeug, Lagerbestände landeten auf den Schwarzmärkten der Republik. Made in GDR, ein Eldorado für Bastler und Checker. Pa hatte das nicht ganz verkraftet. Irgendwie war ihm die Arbeit abhanden gekommen. Pünktlich zur Rente hatte er sich tot gesoffen, sein Beitrag zum Aufschwung. Zum Glück war er nicht zu Hause gestorben.

Jetzt ist es ein Katz-und-Maus-Spiel. Cat & Mouse Jam. Man verbarrikadiert sich in den Wohnungen, auf der Straße herrscht Unsicherheit. Das geht von kontrollierten Märkten bis No-go-Areas. Soldaten kommen hier nicht raus, die sind in Mitte und im Westen konzentriert. Polizei, das ist eben das Spiel. Die wissen gar nicht, wo sie zuerst hinfahren sollen. Wenn man Krawall macht, haben andere freie Bahn, das wird abgesprochen. Intelligent Clash Crowd ICC, Arabs for Underground AfU oder CRIME WAVE BERLIN , Mot 'W' Message on the Wall mit ihren O² bots und Brushkits. Checks aus herumliegenden Zweigen, Boots in den Bäumen, um Grenzen zu markieren, manuelles Internet der Straße.

Malik lungert mit einem Joint im Liegestuhl, Decke bis zum Kinn, Blick aufs Wasser.

Die Wand haben sie rausgehauen, freier Blick aufs Elend. Ist geil, der Raum locker 40 mal 15 Meter, 7 Meter hoch im First und die Wand haben sie rausgehauen in die Spree, bis auf die Pfeiler. Am Rand steht rauchend eine Feuertonne. Das Weed ist vom Ufer, eine alte Kolonie am ehemaligen Fähranlieger, wo sie das Zeug kiloweise geerntet haben. Es wird immer noch ganz gut dafür geleistet, klar den Umständen entsprechend, aber es ist krass, was feines Gras den Leuten wert ist. Malik grinst breit und Silvio weiß gleich, dass es nicht am Kiff liegt.

"Charlie starts at Midnight in Nachtgarderobe." Silvio klatscht ab. Charlie hat die Arabs im Boot und alles ist gut. Haluks Gang ist tough. Die klatschen auch die Cops, wenn’s aufs Messer geht.

"Ey Steve, wo liegt der Schampus von der REAL-Session?" Silvio kramt in der Kammer, wo das Zeug lagert. "Kalt gestellt, Alter, auf’m Dach!" Steves Kopf grinst in der Dachluke über der Leiter, einen fetten Joint in der Schnauze. Alle grinsen, als sie im kalten Wind auf dem First stehen. Es schneit leicht. Die Spree kriecht stockfinster in ihrem Bett gen Mitte.

Die Stadt liegt in nahender Dunkelheit. Sie stehen Arm in Arm. Brothers in arms, in beiderlei Hinsicht. Silvio fühlt sich geborgen, glücklich einen winzigen Moment lang, gemeinsam hier über der Stadt, enthoben aller Ängste. Als Räuber leben und fair dabei bleiben, menschlich. Elend ist elend genug, ein Tabu. Wer Arme ausraubt, hat keine Ehre. Das ist seine feste Überzeugung. Sie ficken die Schweine, reiche Bonzen, skrupellose Geschäftemacher, Abzockertypen. Silvio grinst. Das ist in der Gruppe Konsens. Sie hatten viel über Ehre diskutiert, auch mit Haluks Leuten bei den Treffs.

Es gibt einen Kodex, archaisch anmutend vielleicht, aber wirksam. Es wird eh archaisch gerade da draußen. Sie spielen das Ostkreuzspiel heut' Nacht. Intelligent Clash Crowd meets Arabs for Underground.

 

Silvio prescht den Spreeweg lang, Plänterwald. Der Wind verfängt sich eisig in seinen Augen, die unter der Thermomaske frei liegen. Adlergestell ist menschenleer. Höhe Ex-Maxe-Bahr biegt er links ab die Wilhelminenhof hoch. Am Ende liegt ein Kajak am Ufer. Eine Stunde paddeln in ein gänzliches Schwarz, nur der Himmel hebt sich ab gegen schwarze Blöcke und Wälder am Ufer. Silvio legt an. Der E-Zaun ist zwei Meter hoch, oben Stacheldraht. Placeboeffekt, ein Instrument ohne Wirkung, wenn der Strom ausfällt. Silvio spürt den Bolzenschneider in der rechten Seitentasche seiner Hose, kleines Modell und effizient. Zwölf Schnitte und er ist drin. Für die Wache ein kurzer Griff, wie er ihn auf dem Schulhof gelernt hat. Das ist eine Weile her, aber oft geübt. Silvios Krähenruf hallt durch die Nacht. Er hört Steves Antwort. Sie hatten so gelacht, als Steve anfing, völlig breit eine Elster zu imitieren. Bestimmt 'ne Stunde warfen sie sich in der großen Halle Tierlaute um die Ohren. Es klang wie Urwald und Zoo zusammen. Jeder ist ein Tierstimmchen in der Nacht, wenn sie auf Schicht sind. Sie haben Zeit, den Laden abzuräumen, Charlie hat alles ausgecheckt. Der Typ, den sie ausknipsen, ist kein kleines Licht, es gibt fette Ladung. Feines Zeug für den Markt, Koks, Gras, Waffen und Munition. Waffen sind der Renner in der neuen Zeit. Gewalt hat Konjunktur, Intelligenz der Skrupellosigkeit. Das Boot liegt schon längsseits, die Pumpe schnurrt, Treibstoff ist flüssiges Gold, man zahlt Höchstpreise. 5 Tonnen bunkern im Keller. Einen Kilometer weiter ist die Hölle los. Silvio kann die Salven hören, die der Ostwind herüber trägt. Haluk räumt auf. Um die Villa herrscht Grabesstille. Im Salon wird die Bar abgeräumt, der Typ liegt ausgeblutet im Sessel, sein verblüffter Blick starr. Nach einer Stunde ist alles gelaufen. Silvio paddelt zum Versteck, Hamad und Omar warten am Ufer. Schweigend laden sie aus, bringen das Zeug ins Versteck. Dann geht's zurück zum Treff. Ein paar Tage wird nichts passieren. Bis sich alles beruhigt hat.

Andere werden das Spiel fortsetzen. Die Chronik wird nicht mehr fortgeschrieben. Geschichte steht still. Es gibt keine Medien, keine Meldungen mehr, keine Analysen, keine Untersuchungen, keine Strukturen. Anarchie bedeutet auch das Verschwinden von Strukturen. Es gibt Gerüchte, verselbständigte Geschichten, die von Mund zu Mund sich fort entwickeln, Stille Post. Die früheren Wahrheiten waren Wahrheiten von Institutionen und viele glaubten daran. Was hatte man auch für eine Wahl?

Das Gerücht ist das Medium der neuen Zeit. Legenden überformen Geschehenes und schaffen eigene Realitäten. Ängste werden echt, die Angst vor Gehörtem, das nicht verifizierbar ist, weil jeder eine andere Geschichte erzählt und Erfahrungen nicht teilbar, nicht mitteilbar sind.

Silvio fährt zu Hannah. Es dämmert auf dem Weg überm Ostkreuz. Hannah wohnt schon allein. Sie ist raus bei der Mutter und bewohnt ein Zimmer am Bahnhof in Lichtenberg, ein Krähennest im letzten Seitenflügel der Straße. Hannah ist schwarzhaarig und tough, ein wildes Wesen mit ausgeprägtem Sinn für verrückte Sachen seit 17 Jahren.

Die Zeit ist reif für Verrücktheiten, die geraden Wege sind verloren gegangen im Chaos der Krise. Auch für die Mainstreamer, die starr sind vor Angst, in der Schule hocken mit den anderen Flaschen und der Lehrerin. Kein Job in Aussicht, weil es keine Berufe mehr gibt in einer zerbrochenen Wirtschaft. Ein filigranes Gefüge aus tausenden Ausübungen für Mindestlöhne und Leistungsentgelt hat sich in einem Strudel stürzender Aktienkurse aufgelöst. Ein paar haben es schon lange prophezeit, der Rest hält die Fresse, weil Fernsehen nicht mehr geht ohne Satelliten-Empfang. Und welcher Quotenheini reißt schon das Maul auf ohne Publikum? Wer kann, sucht das Weite, verschanzt sich mit seinem Auf-Seite-Gebrachten hinter hohen Zäunen und Wachschutz. Es gibt noch nette Ecken, Protected Areas mit Badesteg und Yachthaus.

Silvio poltert die Treppe hoch. Hannah ist nackt unter der Decke. Silvio riecht nach Frost und Gewalt. Er hat Wodka dabei. Sie fallen übereinander her wie Raubtiere.

Den Morgen verschlafen sie, Zeit ist irrelevant. Sie liegen unter der Decke, reiben ihre Körper aneinander, gierig. Der Himmel ist frostblau im Schimmer der Eisblumen am Fenster, kleine Kosmen, die sich auflösen in Rinnsale. Alles ist vergänglich jetzt, sie leben von einem Tag zum nächsten. Silvio fährt nach Hause, die Mutter ist krank, schleppt sich durch die Wohnung, kämpft gegen die Lethargie. Sie weiß, dass sie stirbt, wenn sie aufgibt, aber sie hat kein Ziel mehr. Der Sohn wird leben, er ist stark. Sie will kein Ballast mehr sein. Silvio kocht Tee, wickelt seine Mutter in Decken. Er sitzt bei ihr, hält ihre Hand, stundenlang, schweigend.

Sie schläft die meiste Zeit, glücklich, ihn zu spüren, wenn sie aufwacht, glücklich, wieder einzuschlafen ohne allein zu sein. Hannah bringt Brot und Käse, ein paar Äpfel. Eine Familie, das Letzte, was Bedeutung hat. Geborgenheit spüren bei dem, der so lange Geborgenheit fand bei ihr. Sie spürt keine Trauer, keine Verzweiflung. Ihr Kampf geht dem Ende zu.

Ein paar Tage noch, ein paar Wochen. Keine Worte. Es gibt nichts zu reden.

Silvio und Hannah fahren rüber nach Neukölln. Treffpunkt ist eine Brache am Ende des Kiehlufers, verlorener Ort zwischen den Ghettos der Asozialen. Verwahrloste Lauben einer verwilderten Gartenkolonie. Schornsteine rauchen. Malik, Kevin, Charlie, Lennox, Haluk und ein paar aus seiner Gang reiben sich die Hände am Feuer, Pupillen wie Nadelspitzen, Gejohle, Geprahle, Wodka. Die beiden stehen schweigend dabei, rauchen, keine Fragen.

Später ziehen sie Bilanz. Silvio ist teilnahmslos, fühlt sich leer, ausgelaugt, wünscht sich fort in ein sprachloses Nichts. Hannah hält seine Hand. Ohne Hannah wird er untergehen, sich fortsprengen in ein anderes Universum.

 

Silvio wird die Stadt verlassen. Er wird mit Hannah gehen. Anne und Olli haben ein paar Zimmer in ihrer Scheune eingerichtet, ein verstecktes Fleckchen zwischen verstreuten Hügeln, ein Garten, Hühner und Ziegen, der Hund Knuff, Ken und Barbie, die unzertrennlichen Schweine, ein völlig verrückter Ofen in einer noch verrückteren Küche, überall riecht es nach Überraschung. Zwei Verrückte der vorletzten Generation, Bastler und Improvisateure. Anne war seine Betreuerin im Jugendcamp, als sie ihn wegen Raub und schwerer Körperverletzung zu zwei Jahren verdonnert hatten. Nach und nach hatte er Zutrauen gefasst zu dieser resoluten Frau, die auch mal hinlangte, wenn gar nichts mehr ging. Sie hatte ihn gedemütigt und wieder aufgerichtet, so viele Male. Am Ende war er Wachs unter ihren Händen, eine Aura von Kraft und Willensstärke umgab sie. Jeder Widerstand, den er ihr entgegen gesetzt hatte, prallte ab in seine Richtung. Heftig!

Und trotzdem brachte sie ihm Respekt entgegen. Glaube und Zweifel, Wut und Scham, Widerstand und Demut. Es ist ein Spiel, sagt sie. Ein großes, ernstes, unverständliches Spiel, dessen Regeln man ergründen muss. Du stehst einfach zwischen zwei Polen, um dich ist alles voller Energie, die deinen Willen entfacht. Aber was tust du, was leitet dich? Benenne es!

Leg dich hin, leg dich schon hin! Schließ die Augen, stell dir was Schönes vor, ein Mädchen! So mit langen Haaren, du weißt schon, dann lacht sie ihn an, vielleicht spöttisch, vielleicht im Scherz, er weiß es nicht, weiß nie, ob sie seine Gedanken liest. Und du gefällst ihr! Vielleicht willst du ihr eine Freude bereiten. Ihr zeigen, was für ein toller Kerl du bist. Bleib einfach liegen und stell dir was Schönes vor! Dann zeigst du es mir.

Silvio hatte den halben Tag auf der Wiese im Garten gelegen, unter seinem Lieblingsbaum. Den anderen halben lief er rauchend übers Gelände und wich ihrem Lächeln aus.

 

Er kann nicht in der Stadt bleiben. Es ist wegen Ma. Das alte Spiel ist in vollem Gang, aber die Allianzen sind brüchig, das spürt er. Es gibt keine festen Regeln. Liebe ist das Höchste, das du gewinnen kannst, aber es macht dich verwundbar. Charlie ist lapidar in solchen Dingen. Vertrauen gegen Verletzbarkeit. Anne schaut zu. Sie lächelt nur selten. Sie wird die Beute akzeptieren, die er mitbringt. Sein Anteil, den er in Nützliches umsetzen wird. Alles, was dem Leben dient, sagt sie, ist nützlich. Es ist mir egal, wie viel es in deiner Währung kostet, in Blut, Verblödung oder Ausflucht. Du kennst die Bedingungen für Liebe und Respekt.

Hamad zum Beispiel muss man nicht lieben. Aber Respekt haben muss man, weil Hamad alles besorgt, was man mit Waffen, Drogen und Heizöl bezahlen kann. Er arbeitet die Liste ab, die Silvio von Olli hat, frei Haus für schlappe zehn Prozent. So sind die Spielregeln.

Ma wird gesund werden unter Annes Händen. Er hofft es.

Aber die Jungs..., er wird die Gruppe spalten. Kevin wird mitziehen, wegen Olli, Malik auch. Charlie wird lächeln. Wie Anne, leicht spöttisch. Aber er kennt Charlie. Wer Charlie kämpfen sieht, kennt ihn. Auch vor ihm haben sie Respekt, aber junge Hunde folgen ihrem Instinkt. Kampf ist permanenter Untergang. Charlie wird lächelnd untergehen. Die Chancen stehen gut, dass sein Wunsch sich erfüllt.

 

Frühling

Wochen später, an einem sonnigen Tag im Spätmärz treffen sie Charlie am Russischen Ehrenmal. Die beiden Männer wirken verloren zwischen den roten Granitrampen, unter den knienden Rotarmisten. Lange stehen sie nebeneinander. Silvio erzählt von Ma. Wie sie im Garten sitzt unterm Nussbaum, mit geschlossenen Augen, aber hellwach lauschend, horchend, den noch kalten Wind in den Haaren. Die vielen Düfte, Schweinegrunzen, Gebell, Annes Stimme aus der Werkstatt, Formationen von Zugvögeln in ihren Gedanken. Es gibt viel zu tun auf dem Hof. Ein Weilchen wird sie noch bleiben.

Charlie nickt. Beharren und Sehnsucht, Stolz und heimlicher Traum. Sie umarmen sich. Dann geht Charlie. Wie John Wayne, mit klirrendem Gürtel, cool wie immer.

Das Paar bleibt zurück, steht vorm Gräberfeld, Hand in Hand.

Hannah: "Ein perfekter Landeplatz für Aliens. Sagen wir mal in 50 Jahren. Dann bist du 75."

"Sie werden uns mitnehmen und wir werden unsterblich. Und bis dahin? Niemand wird hier mehr den Rasen mähen, die Hecken schneiden, die Steine richten. Was sich durchsetzt, wird wachsen. Pioniere der Fortentwicklung, Flechten, Moose, Gräser, Kräuter, Sträucher…, Birken. Die beiden Pappelreihen vor der knienden russischen Mutter werden in wildem Durcheinander, von Stürmen gebrochen, den Weg versperren, den sie einst säumten. Und überschattet wird alles von mächtigen Platanen, deren weit ausladende Äste von oben aussehen wie Nester. Aber über alldem wird der Sieger, ihr Sohn, erhobenen Hauptes sein eigenes Kind tragend, die Stadt überschauen."


 

Holger Hermann
Der Klassenbeste

 

Herbst, ein ruhiger Sonntagmorgen, die Luft kühl und voll mit dem würzigen Geruch nach Vergänglichkeit, nach modernden Blättern und nassen Straßen.

Aus einer Wohnung kurz vor dem Bahnhof Ostkreuz erklingt: "Als ich fort ging" von der Gruppe Karussell. Da ich es nicht eilig habe, bleibe ich stehen und höre zu. Regentropfen fallen sanft auf mein Gesicht und kriechen durch die Kleidung auf meine Haut. Bei Regen sind weniger Menschen auf den Straßen unterwegs, was für mich das Gehen einfacher macht.

Ich bin fast blind. Amtlich sehbehindert, wie 1,25 Millionen Menschen in Deutschland. Die Tage bleiben für mich dunkel, höchstens Umrisse kann ich erahnen. Um nicht unnötig aufzufallen, benutzte ich keinen Blindenstock.

Mühsam bewege ich mich im Strom der Fußgänger als ein unliebsames Hindernis mit. Autofahrer hupen oft, weil ich nicht schnell genug die Fahrbahn überquere. Gehwegpollern, Bordsteinkanten oder den in meinen Erinnerungen ewig grauen Pfützen versuche ich meist vergebens auszuweichen. Auf dem Bahnhof warte ich dann unschlüssig, ob ich mich nicht verhört habe und wirklich in den richtigen Zug einsteige. Vor allem versuche ich aber, die Stimmung auf dem Bahnsteig und im Zug einzufangen. Denn nicht selten ist solch eine Reise mit Gefahren und Demütigungen verbunden. Habe ich den Tag überstanden, bin ich glücklich, auch ohne fremde Hilfe einmal aus meiner Wohnung raus gekommen zu sein.

Blind sein in einer Stadt wie Berlin ist ein einziger Kampf. Immer mehr Jugendliche und Erwachsene machen sich einen Spaß daraus Blinde zu betrügen, grundlos zu beleidigen oder Schlimmeres, sobald sie uns erkennen. Ist Ihnen schon mal als Nochsehender aufgefallen, dass in Berlin kaum noch Blinde unterwegs sind?

Obgleich dieser Ängste, reise ich Jahr für Jahr, trotzig zu Torstens Grab. Denn aus Verzweiflung wächst das Hoffen.

Ich weiß, meine Bewegungen beim Laufen sind abgehackt und unschön anzusehen. Mein Aussehen ist wenig gepflegt und die Zusammenstellung meiner Kleidung ist wohl ziemlich grell. In den Geschäften dreht mir das Verkaufspersonal, trotz meiner Nachfragen, häufig mit größter Liebenswürdigkeit die buntesten Sachen an.

Dabei kann jeder blind werden. Bei mir war es kein spektakulärer Unfall, sondern Venenthrombose im linken Auge. Dabei kommt es zu einem Schlaganfall im Auge und Blut sickert in das Auge ein. Trotz mehrer Operationen griff sie schnell auch auf das rechte Auge über und nun muss ich mit dem Verlust lernen zu leben.

Ich habe Berlin langsam mehr und mehr in kakaofarbenen Licht, durchzogen mit Milchschaum, verschwinden sehen. Das lag nicht etwa daran, dass alles so angemalt wurde, sondern weil mein Augenlicht einfach im Blut ertrank. Am schlimmsten ist die ständige Angst davor, dass auch der kümmerliche Rest meiner Sehkraft eines Morgens verschwunden ist.

Ab meiner Wohnungstür bis zum Grab habe ich den Weg auswendig gelernt. Es ist jedes Mal ein befriedigendes Glücksgefühl für mich, die Buchstaben auf dem kalten Stein mit den Fingern zu erfühlen und nach einem Jahr wieder zu erkennen. Seit meiner Erblindung weiß ich, Trost ist so vergänglich wie Glück.

Torstens Grab befindet sich auf dem Friedhof in der Germanenstraße in Pankow. Es ist mit neuen Blumen bepflanzt, wie ich erst roch und dann befühlte. Das Grab ist seit Jahren gut gepflegt. Der Friedhof war kürzlich geschlossen worden, wir mir eine alte Frau später von der großen Infotafel vorlas. Alte Gräber hätten aber noch 30 Jahre Bestandsschutz. Die kleine Holzbank, auf der ich zum Abschluss meines Besuchs immer gesessen hatte, war schon verschwunden. Dort hatte ich immer dem Wind und den Erinnerungen der alten Frauen gelauscht und Kraft für die Heimfahrt gesammelt.

War ich alleine, so kehrten die gleichen unbeantworteten Fragen zurück: War Torsten wirklich so gestorben, wie sie es uns damals erzählten? Dachte der Todesschütze noch an Torstens Tod? Hat er nach der Wende die Welt gesehen? Sich verliebt, Kinder gezeugt, Karriere gemacht? Führt er heute ein glückliches Leben?

Es war Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die letzten Jahre der DDR, da saß ich während meiner Berufsausbildung neben Torsten. Jeden Morgen trafen wir uns auf der gleichen Bank am oberen Bahnsteig des Bahnhofs Ostkreuz und fuhren nach Pankow. Die Klasse hatte eine heute wohl nicht mehr mögliche soziale Mischung. Neben Arbeiterkindern gab es auch Kinder von Diplomaten oder Betriebsdirektoren, die schon alle charakterlichen und familiären Voraussetzungen für eine spätere Karriere hatten. Leonard war so einer. In der Klasse gab er den rotzigen Punker im Tote-Hosen-Outfit. Gegenüber Lehrern war er nicht Rebell, sondern zuckersüßes Diplomatenkind. Zu Hause bei sich mutierte er zum Spießer, der Häkeldeckchen unters Trinkglas schob. Bei Besuch sperrte er hektisch das mit Westsachen vollgestopfte Wohnzimmer ab. Nachmittags verwandelte er sich dann zu einer Kopie des Popstars George Michael und stolzierte stundenlang in strahlend weißen Sachen, als leicht exotischer Anblick, zum Tennisplatz.

Torsten dagegen war unser unangefochtener Klassenbester. Er lernte ein halbes Jahr früher als wir anderen aus und ging sofort freiwillig zum Wehrdienst. Im Sommer kam er sichtbar stolz in Ausgehuniform zur feierlichen Verabschiedung der Klasse. Na ja, es gab wohl auch von der Armee Geld, wenn man zu Hochzeiten oder anderen festlichen Veranstaltungen in Uniform ging. Im Herbst stand die Klasse dann sichtlich unbeholfen vor seinem Grab. Torsten soll bei einer Wachdienstübernahme in einer Kaserne in Sachsen erschossen worden sein. Geschah es durch Unachtsamkeit oder sinnloser Spielerei in einer tödlich langweiligen Nacht? Was man bei dem hundertmal eingeübten Ablauf eines Wachwechsels von Waffe entladen, sichern und dann die Waffe vorzeigen falsch machen kann, ist mir bis heute ein Rätsel!

Denke ich an Torsten, höre ich zuerst sein ansteckendes Lachen. Dann sehe ich einen fröhlichen, schlanken Achtzehnjährigen mit lockigen Haaren und stets aufmerksamen Augen. Diese sahen vorsichtig hinter einer Brille die Welt an. Seine Bewegungen waren, nicht nur wenn er seine Brille putzte, von chirurgischer Präzision. Er war der einzige, bei dem ich ins Grübeln kam, ob sein offen geäußerter politischer Idealismus aufgesetzt war, um Karriere zu machen, oder wirklich innerer Überzeugung entsprach. Zur jährlichen Erster-Mai-Demonstration war Torsten derjenige aus der Klasse, der die Fahne selig bis zur Erschöpfung trug.

Mit unglaublicher Leichtigkeit erzielte er durch seine blitzschnelle Intelligenz sowohl im sprachlichen wie im mathematischen Bereich außergewöhnliche Leistungen. Dazu konnte er gut reden, aber was dann selten ist, auch gut zuhören. Er war hilfsbereit, unterstützte andere nicht nur durch schulische Hilfestellung, sondern baute sie auch nach Rückschlägen auf. Wegen dieser positiven Ausstrahlung war er in der Klasse beliebt und viele suchten eine Freundschaft zu ihm aufzubauen.

Und er war Teil eines uralten Spiels, welches so in jeder Schulklasse zu jeder Zeit abläuft. Leonard, der sich gerne aufspielte, sah in Torsten vor allem den intellektuellen Aushang für seine Clique. Torsten lächelte meist spöttisch mit einem Schuss Schüchternheit zu Leonards Prahlereien über angebliche Schlägereien oder dass dieser nach dem Unterricht schon wieder auf seine Freundin rauf wollte. Darauf angesprochen, meinte Torsten, man müsse ihn nur in die richtigen Bahnen lenken, und erlag trotz all seiner Klugheit der Faszination des Chamäleons Leonard.

Damals belustigte mich das alles mehr, als das es mich wirklich beschäftigte.  

 

Die Sonne war während der Rückfahrt hervorgekommen, wie ich auf meinem Gesicht spürte, als ich nin Erinnerungen versunken, mich kurz auf dem Nachfolger unserer alten Bank auf dem Bahnhof Ostkreuz niederließ. Während ich mein Gesicht den Sonnenstrahlen entgegenhielt, wehte wie immer ein kühler Wind mit diesem typischen kohlehaltigen rußigen Geruch, vermischt mit dem Lärm und den Abgasen der Kynaststraße. Etwas störte mich. Wahrscheinlich wurde ich nur wie so oft angestarrt. Als ich dann Schritte näher kommen hörte, richtete ich mich ein wenig auf, sah aber erstmal nicht mal die üblichen kümmerlichen Umrisse, weil ich direkt in die Sonne sehen musste. Es war die Stimme eines Mannes, die mich fragte, ob er sich zu mir setzen könne, was ich auf einen S-Bahnhof als leicht komisch empfand. Der Fremde suchte das Gespräch und fragte: "War es nicht ein schöner Tag zum Besuch eines Friedhofes?" Überrascht bejate ich. Fieberhaft analysierte ich dabei die Stimme des anderen. Sentimental gestimmt dachte ich, dass könnte die Stimme von Torsten sein. War ich schon so verwirrt? Vor einer Stunde hatte ich doch noch vor seinem Grab gestanden. Der Fremde sagte freundlich: "Ich habe Sie vorhin auf dem Friedhof in Pankow gesehen. Sie sehen wohl nicht mehr so gut", sagte er mitfühlend und doch gleichzeitig kühl, beinahe lauernd. Für einen Moment dachte ich ängstlich, dies ist die Stimme eines Typs, der mich bis hierher verfolgt hat, überfallen will und zuvor ganz sicher gehen will, dass ich ihn später nicht identifizieren kann. Wegen des frühen Sonntagvormittags waren auf dem Bahnhof kaum andere Reisende zu hören, was mich noch unsicherer machte. Deshalb erwiderte ich: "Ich kann schlecht sehen, aber das Wesentliche erkenne ich." Das Lächeln in seiner Stimme darauf konnte ich förmlich hören, als er meinte: "Das ist ja das Wichtigste im Leben."

"Das Grab, das Sie besucht haben, kenne ich auch", waren seine nächsten Worte, die sich mir für immer einbrennen sollten.

"Eine zugegeben sonderbare Frage. Würden Sie es glauben, dass Torsten noch lebt?"

"Was?", sagte ich empört, "er liegt in Pankow begraben!"

"Ja, dort ist ein Grab", sagte er bestimmt, "aber angenommen, sein Tod beim Wachwechsel war nur eine Erfindung. Wieso fehlt sein Name auf der Ehrentafel der Kaserne, der im Dienst verstorbenen Soldaten? In Wirklichkeit wurde Torsten so etwas wie ein Spion, ging in den damaligen Westen und lebt, unter neuer Identität, bis heute".

Der Fremde wusste also von dem Unfall beim Wachwechsel? Meine Erinnerungen an die Beerdigung waren doch eindeutig. Torstens weinende Schwester am Grab, daneben vier bleiche kindliche Soldaten, der schmerzerfüllte Blick seiner Mutter, der letztendlich doch nur fragte: "Warum mein Kind?"

Für mich war das alles unglaubhaft. "Wer sind Sie?", waren meine Worte, als ich ihm, einer fixen Idee folgend, unbeholfen ins Gesicht griff, um seine Konturen zu ertasten. Ohne Erfolg. Wenn ich gehofft hatte, Torstens Gesicht zu erfühlen, so gelang mir das nicht. Das einzige, was ich an dem Gesicht des Unbekannten fühlte, es befand sich kein Gramm überflüssiges Fett zuviel darauf und war doch jugendlich glatt und wie geschminkt. Könnte es jemand anderes aus der früheren Klasse sein? Leonard hätte sicher seinen diabolischen Spaß an dieser Szene, aber die Stimme und die Gesichtskonturen passten nicht zu ihm.

Diese Stimme hier war reine selbstbewusste Oberfläche. Sie modellierte ihre Wörter freundlich und ruhig, fast elegant, ohne jede Betroffenheit, vielleicht mit einem Hauch von abtrainiertem sächsischen Dialekt.

Der Fremde ließ die Prozedur, nach einem kurzen Zeitraum der Unsicherheit vor der körperlichen Berührung, still über sich ergehen. "Was wollen Sie?", fragte ich ratlos und senkte meine Hände wieder. In meiner aufkommenden Verzweiflung passierte es, erregt sagte ich: "Sie sind der Todesschütze!" Unendliche Stille, eine Hand drückte leicht meinen Arm.

"Ich war ein Freund von Torsten, wie Sie", war sein kurzer Kommentar. "Menschen existieren so lange wie sich jemand an sie erinnert".

"Es ist schön, dass Sie Torsten nicht vergessen haben", waren seine Worte, als er aufstand und sich schnell entfernte.

"Wieso erzählen Sie so etwas?", rief ich ihm hinterher. Mein Körper wollte aufspringen, rutschte aber nur von der Bank. Mein Verstand wusste, es ist zwecklos für mich ihm zu folgen. Er ließ mich zurück mit all meinen Fragen nach dem Warum und Wieso. Hatte ich etwa mein halbes Leben mit einer Legende verbracht?

Wahrscheinlich wollte sich doch nur irgendjemand einen makaberen Scherz mit mir machen. Tödliche Unfälle bei der Armee blieben zu allen Zeiten meist ungeklärte Vorkommnisse und sind doch häufig erklärbar.

 

Ein paar Wochen später hörte ich, am geöffneten Fenster stehend, gespannt einer TV-Show zu, bei der sich Leute tränenreich wieder miteinander versöhnten. Dabei erkannte ich plötzlich die Stimme vom Ostkreuz wieder. Sie war nur ein Tick emotionaler. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie diesen kleinen sächsischen Einschlag, der mich dann ganz sicher werden ließ.

Es war die Stimme des Moderators der Show.

Ein leichter Regen wischte mir meine Tränen vom Gesicht. Im gleichen Augenblick konnte ich wieder etwas besser sehen.

Als nächstes werde ich mich mit der Geschichte als Kandidat für die Show bewerben. Wie wird der Moderator reagieren?


Hans Joachim Kleinschmidt
Die Liebe ist ein seltsames Spiel!

 

Das Glück und auch der Zufall diktieren den Verlauf des Spiels.
In den Spielcasinos tummeln sich die Menschen
in der Hoffnung, den großen Coup zu landen!
Die Croupiers näseln emotionslos die sich wiederholenden Worte:
Mesdames et Messieurs — faites vos Jeux — machen Sie Ihr Spiel!

 

Heute, vor fünfzig Jahren, Bahnhof Biesdorf, der S-Bahnzug Richtung Friedrichstraße hält. Ich steige in das Abteil des letzten Wagens ein und bekomme einen Sitzplatz auf der Bank im Türbereich. Sofort krame ich aus meiner Aktentasche den "Schwejk" hervor, um mich von den kuriosen Abenteuern des braven Soldaten erheitern zu lassen. Etwas später reiße ich mich von der Lektüre los, schaue zum Fenster hinaus, oh, wir fahren schon in den Bahnhof Ostkreuz ein. Die Tür wird von außen geöffnet, es steigt eine Gruppe von drei Fahrgästen ein. Bei der dritten als letzte einsteigenden Person handelt es sich um ein junges Mädchen. Ich habe das Empfinden, als wäre sie von hellem Licht umflutet. Eine natürliche, ungeschminkte Schönheit. Sie befindet sich zweifellos in einem Gespräch mit den sie begleitenden Personen, welches sie nun mit einem fröhlichen Lachen fortführt.

Ich starre sie, ihren Liebreiz bewundernd, noch immer an. Als würde sie meine auf sie gerichteten Augen spüren, lässt sie ihrerseits den Blick in die Runde gehen und schaut dabei auch in meine Augen. Ohne zu blinzeln sieht sie mich an.

Der Zug ruckt an und ich senke meine Augen um die Lektüre fortzusetzen. Ich lese zwar die Zeilen, denke aber unentwegt nur an das Mädchen. Wie mag sie heißen, wohin fährt sie und wo wohnt sie? Vor allem was ermöglicht mir, ihre persönliche Bekanntschaft zu machen. Sofort fallen die mir anhaftenden Komplexe über mich her. Ich bin bereits zweiundzwanzig Jahre alt, sie erst siebzehn oder achtzehn Jahre alt. Ich befinde mich nach einer sechsjährigen schweren Erkrankung mit einer Querschnittslähmung in der Rekonvaleszenzphase. Zurzeit bin ich gerade dabei, als Schreibkraft beruflich wieder Fuß zu fassen. Mein Körper ist mit diversen Operationsnarben gezeichnet, die allerdings im bekleideten Zustand unsichtbar bleiben. Sie dagegen jung, schön und gesund, jedenfalls äußerlich betrachtet. Habe ich eine Chance, das Recht mich ihr zu nähern? Während des Jonglierens dieser Gedanken muss ich, wenn ich mich unbeobachtet fühle, zwangsweise zu ihr hinschauen.

Bahnhof Friedrichstraße, sie und ihre Bekannten steigen aus. Ich muss ebenfalls aussteigen, verliere sie aber in dem Gedränge aus den Augen.

Ihr Blick in meine Augen und ihr liebes Gesicht begleiten mich in der Erinnerung den ganzen Tag. Die folgende Nacht vergeht zum Glück traumlos. Deshalb glaube ich am nächsten Morgen dank meiner Komplexe schon etwas Abstand gewonnen zu haben.

Der Spieler in mir lässt mich trotzdem das gleiche Abteil benutzen. Dann Bahnhof Ostkreuz, die Tür öffnet sich und das Prozedere vom Tag zuvor wiederholt sich. Ich bin wie von grellem Sonnenlicht geblendet. Die Augen des fröhlichen Mädchens wandern zunächst über die Gesichter der sitzenden Fahrgäste und schauen dann wieder in meine Augen. Wie gestern hält sie meinem Blick stand. Meine Gedanken beginnen sofort mit dem Spiel des Für und Wider.

So vergingen die nächsten Tage und Wochen: Himmelhoch jauchzend, wenn ich sie sehe. Zu Tode betrübt, wenn ich mit meinen Gedanken allein bin.

Heute ist Freitag, der letzte Tag des Zeitarbeitsvertrages. Ich hatte während der gesamten Zeit keine Gelegenheit mich ihr zu nähern, sie anzusprechen ohne sie zu kompromittieren. Allerdings auch noch keine gute Idee dazu. Ein trauriges Wochenende steht mir bevor, denn ich werde ja am Montag nicht mit der S-Bahn über Ostkreuz nach Friedrichstraße fahren!

 

Die Spieler und Glücksritter leben nach dem Motto: Corriger la fortune – Korrigiere das Glück!

Nun wurde ich in dieser, meiner Herzensangelegenheit auch ein wenig zum Spieler. Ich benutze am Montagmorgen bereits zehn Minuten früher die S-Bahn bis Ostkreuz. Dort postiere ich mich in der Nähe der Treppe zur Ringbahn. Jetzt hoffe ich, sie wird ohne Begleitung erscheinen. Tatsächlich, für mich schwebt sie regelrecht die Treppe hinunter. Mein Herz klopft zum Zerspringen. Ich gehe auf sie zu und wünsche ihr einen guten Morgen. Außerdem entschuldige ich mich sofort für meine überfallartige Ansprache auf dem Bahnhof. Dann frage ich sie, ob ich heute ihr Begleiter sein darf, aber zu diesem Zweck gern einen anderen S-Bahnwagen benutzen würde. Ohne ihre Antwort abzuwarten setze ich mich in Bewegung. Sie läuft neben mir her und mir fällt auf, dass sie noch kein einziges Wort gesprochen hat. Ich frage sie, ob sie über meinen plötzlichen Annäherungsversuch böse ist? Nun ließ sie ihr fröhliches Lachen erklingen und konterte: »Sie haben mich ja bis jetzt noch nicht zu Wort kommen lassen. Aber meine Antwort ist nein«, ich bin erschrocken, sie beendet den Satz dann aber so: »nein ich bin nicht böse und Sie dürfen mich begleiten«. Jetzt konnten wir die Fahrt und den Weg zu ihrer Arbeitsstelle ungestört zum Plaudern nutzen. Als sie erfährt, dass ich nicht zum Dienst muss, sondern nur ihretwegen aufgestanden und noch eine S-Bahn früher gefahren bin, höre ich wieder ihr Lachen. Aber sie scheint doch ein wenig beeindruckt ob der Ernsthaftigkeit meiner Absicht. Ich habe ihr Alter richtig eingeschätzt, sie ist siebzehn Jahre alt und befindet sich in der Ausbildung. Sie gehört einem Schwimmverein an und geht wöchentlich zweimal zum Training. Ihr Heim ist die elterliche Wohnung in Ostkreuz. Die Eltern besitzen außerdem ein Wochenendgrundstück. Oh weh, Ausbildung, Schwimmtraining und Garten, das sieht nach stark eingeschränkter Freizeit aus. Denn ich gehe trotz meines "hohen Alters" zur Volkshochschule. Montags zur Musiklehre und am Mittwoch zum Klarinettenunterricht. Ich werde darauf getrimmt, im Laiensinfonieorchester Pankow mitzuwirken. Dann würde der Freitag für Orchesterproben gebucht sein. Ihre Trainingstage sind Dienstag und Freitag. Da bleibt nur der Donnerstag als einziger unbesetzter Wochentag. An den Wochenendtagen muss sie die Einsätze zu Schwimmwettkämpfen oder zur Gartenarbeit, ich dagegen zu Konzerten einplanen. Das sind leider keine rosigen Zukunftsaussichten!

Nein, ich bin kein notorischer Pessimist. Ich habe in den zurückliegenden Jahren meinen Optimismus wie einen Schatz gehütet. Das war die größte Hilfe aus meiner gesundheitlichen Misere herauszukommen.

An den folgenden Tagen erwarte ich sie vor ihrer Arbeitsstelle, um die für den Heimweg benötigte knappe Stunde zum Schwätzchen zu nutzen.

Wir sprechen über Gott und die Welt. Die weltlichen Themen lassen eine Vielzahl von Übereinstimmungen zwischen uns erkennen. Zum Beispiel klassische Musik, gute Literatur und Interesse für Sport und Reisen. Zum Thema Gott und die Kirche driften unsere Ansichten doch auseinander. Sie ist streng katholisch erzogen und aufgewachsen. Ich dagegen evangelisch und mit meinen kirchlichen Seelsorgern auf dem Kriegsfuß, hatten sie mich doch während meiner langjährigen Krankheit im Stich gelassen. Aber auch ohne kirchlichen Beistand erlangte ich nach einer bereits siebzehn Monate andauernden Querschnittslähmung die Gebrauchsfähigkeit meiner Füße und Beine zurück. Über das Kapitel "Beichte" ihres Glaubens, haben wir erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Sie ist darüber etwas traurig, ich sage ihr deshalb, dass ich einem Menschen zuliebe sogar die Konfession wechseln würde.

Sie erzählt mir nun, dass ihre Eltern und sie am folgenden Sonnabend zum Herbstfest des Siedlerverbandes in die Dynamosporthalle Weißensee gehen werden.

Dann reicht sie mir zum Abschied die Hand. Ich greife ihre Hand, ziehe sie daran etwas näher zu mir heran und küsse sie auf den Mund. Es ist ein kurzer Kuss, mit geschlossenen Lippen. Dennoch steht sie stocksteif, verwirrt und erschrocken da, nach Worten suchend. Dann spricht sie, aber es klingt eher traurig als zornig: "Ich kann und will mir solche Zärtlichkeiten gegen meine Keuschheit nicht leisten! Ich bin noch nicht bereit und außerdem zu jung dazu!" Die Alternative ist, unsere noch so frische Freundschaft aufzuheben oder bis zu einem späteren Zeitpunkt zu unterbrechen! Ich bin über ihre Reaktion schockiert und hoffe, sie überdenkt alles noch einmal.

Am Sonnabend werfe ich mich in meinen "besten Zwirn" und fahre etwas später als zum offiziellen Einlass zur Sporthalle. Ich spekuliere darauf, dass einige der Gäste der Einladung nicht Folge leisten werden. Dann stehen für mich die Chancen bestens, hineingelassen zu werden. Gut gepokert, ich bekomme noch eine Eintrittskarte.

Nun schlendere ich durch den Saal und entdecke eine einsame, an einem Tisch sitzende Dame. Auf dem Parkett bewegt sich meine "Angebetete" mit einem Herrn, der ihr Vater sein kann. Nun leiste ich mir noch einen Rundgang durch den Saal, um mich dann in der Nähe ihres Tisches aufzuhalten. Wie auf Kommando ertönt die Stimme des Kapellmeisters, um eine Walzerserie anzukündigen. Ich begebe mich sofort zu dem Tisch, frage die Eltern höflich um Erlaubnis mit ihrer Tochter tanzen zu dürfen und fordere sie auf. Sie steht schon auf, bevor ihre Eltern ihre Zustimmung geben. Der erste Tanz ist ein Englishwaltz. Ich bin Walzerspezialist und es bedarf nur weniger Schritte, dann tanzen wir als haben wir nie etwas anderes getan. Es folgen zwei Wiener Walzer. Sie tanzt sportlich, leicht wie eine Feder.

"Frollein, könn' Se linksrum tanzen?" Jawohl auch das kann sie perfekt. Wir ernten am Tisch vorbeitanzend, ein wohlwollendes Lächeln ihre Mutter.

Als ich sie dann zum Tisch geleite, frage ich sie zaghaft, ob unsere Trennung tatsächlich beschlossen ist? Sie nickt und sagt: "Obwohl es mir jetzt noch schwerer fällt, ist es wohl das Beste so!" Ich schlucke mühsam, bedanke mich bei ihr und ihren Eltern für den Tanz und gehe an die Bar, um den bitteren Geschmack herunter zu spülen. Fünfzehn Minuten später haben sie und ihre Eltern die Halle schon verlassen.

Ich stehe mit meinen traurigen Gedanken allein auf weiter Flur !

 

Rien ne vas plus — Nichts geht mehr.

Die Würfel sind gefallen, die Karten sind verteilt, die Kugel senkt sich ins Noir – Zero

Gewinn — oder Verlust?!

Ich habe mein Spiel leider verloren!


 

Christa Block
Frühstück allein

 

Wie immer saßen die beiden in ihrer Fensterecke beim Frühstück. So lange sie zurückdenken konnte, war ein gemeinsames Frühstück für sie wichtig gewesen. Schon ihre Mutter sagte immer, ohne etwas zu Essen am Morgen geht mir niemand aus dem Haus. Und so hatte sie es auch in ihrer Ehe gehalten. Besonders freute sie sich, wenn ihr Mann, der immer etwas früher als sie aufstand, sie mit frischen Brötchen vom Bäcker überraschte und der Kaffeeduft schon durch die Wohnung zog, wenn sie aus dem Bad kam.

Zum morgendlichen Beisammensein gehörte auch das Lesen der Zeitung und oft genug las der eine dem anderen etwas vor. Gemeinsam ärgerten sie sich über die Politik und amüsierten sich über Klatsch und Tratsch.

Heute früh schien etwas anders zu sein. Die Zeitung lag noch ungelesen neben seinem Gedeck und sein Appetit schien ihn auch verlassen zu haben. Er knabberte noch immer an der ersten Brötchenhälfte herum.

"Was hast du, bist du krank?", fragte sie besorgt. Er schüttelte den Kopf, wurde aber auch nicht gesprächiger. "Du hast doch was, ich merke das", bohrte sie noch einmal und das half. "Ja, ich muss dir was erzählen."

Und so erfuhr sie, dass er vor ein paar Tagen einen ehemaligen Kollegen getroffen hatte, dem es nach einem Unfall nicht sehr gut ging. Darum hatte er versprochen, jeden Morgen zu ihm zu fahren und ihm beim Aufstehen und seinen Reha-Übungen zu helfen. Er wollte auch einkaufen gehen und etwas zum Mittag bereiten. "Ich will schon morgen da hin und du musst dann eben allein frühstücken, tut mir ja leid, aber ich habe es versprochen."

Sie wusste, dass ihr Mann hilfsbereit war, aber von diesem ehemaligen Kollegen hatte sie noch nie gehört. Frühstück ohne ihren Mann, wie sollte das denn funktionieren. Nicht, dass sie auf frische Brötchen wartete, aber so allein hier am Fenster zu sitzen, konnte sie sich nicht vorstellen. Ihr ging so einiges durch den Kopf, doch ändern konnte sie ja nichts mehr; er hatte es versprochen. Aber sie fragte wenigstens noch, ob er nicht erst nach dem Frühstück gehen könnte. Nein, das wäre zu spät, meinte er kurz und bündig.

 

Und so saß sie dann am nächsten Morgen und an weiteren Tagen allein beim Frühstück und hörte sich am Mittagstisch die Erlebnisse ihres Mannes an. Mehrmals hatte sie nach der Straße gefragt, in der der Mann wohnte, hatte sich auch als weitere Hilfe angeboten, doch ausgerechnet da bekam sie von ihrem Mann ausweichende Antworten oder er lenkte sofort ab. Das machte sie stutzig.

Sie waren über vierzig Jahre verheiratet und nie hatte jemand ein Geheimnis vor dem anderen gehabt, aber jetzt war sie misstrauisch geworden. Irgendetwas stimmte da nicht.

 

Eines Morgens, sie war ebenfalls früh wach geworden und schon fertig angezogen, als ihr Mann losging, kam sie auf die Idee, ihm nachzugehen. Auf der Treppe kicherte sie ein wenig bei dem Gedanken, ihn zu verfolgen. Als sie aus der Haustür kam, sah sie ihn schon an der nächsten Ecke in Richtung S-Bahn laufen. Nun aber schnell hinterher und nach einem schnellen Treppauf, sie war so richtig außer Atem gekommen, schaffte sie gerade noch die S-Bahn, in die ihr Mann eingestiegen war.

Er stand an der Tür und sie hatte ihn gut im Blick. Nach drei Stationen stieg er am Bahnhof Ostkreuz aus und sie war froh, dass es auf diesen alten Bahnsteigen mit den vielen Treppen Möglichkeiten gab, ungesehen hinter ihm herzulaufen.

Doch dann war er nur noch allein vor ihr und plötzlich drehte er sich um und sie konnte gerade noch in einen Hauseingang huschen. Als sie vorsichtig um die Ecke schaute, war von ihrem Mann keine Spur mehr. Sie blickte den Markgrafendamm entlang, nichts, keine Menschenseele und auch in der Persiusstraße entdeckte sie ihn nicht. Also war er wohl in einem der Häuser verschwunden, bevor sie aus dem Hauseingang wieder herauskam.

Sie kam sich plötzlich verlassen und verloren vor. Da lief sie, neugierig oder misstrauisch geworden, heimlich ihrem Mann hinterher. Was hatte sie denn zu entdecken gehofft? Dass er gar nicht zu seinem Kollegen ging, sondern zu einer Frau? Nein, an so etwas hatte sie nie gedacht. Da war sie sich ganz sicher! Aber was für ein Spiel trieb er? Warum wollte er ihr nicht klipp und klar sagen, wo er sich in den Vormittagsstunden aufhielt? Langsam machte sie sich auf den Heimweg. Nein, sie würde ihm nichts von ihrer sinnlosen Verfolgung erzählen, auch nichts mehr fragen, was seinen täglichen Hilfseinsatz betraf.

 

Inzwischen waren zwei Wochen vergangen und so wie er gestern sagte, müsse er noch ein paar Tage dranhängen. "Du siehst aber ziemlich kaputt aus, dir tut auch dein Rücken wieder mehr weh als sonst. Vielleicht brauchst du hinterher auch eine Reha-Kur, um dich wieder zu erholen." Er beruhigte sie und meinte, dass es eben etwas anderes sei, als jeden Tag zu Hause zu sitzen und nur ab und zu mal einen kleinen Bummel zu machen. Aber nun dauere es ja nicht mehr so lange, war seine abschließende Bemerkung.

Erneut war ihr Misstrauen geweckt worden und sie lief ihm wieder hinterher. Treppauf, rein in die S-Bahn, Treppen am Bahnhof Ostkreuz hinauf und hinunter und immer ihren Mann im Blick.

Und da sah sie auch, wie er am Markgrafendamm in einem Haus verschwand und noch bevor sie dicht davor war, kam er wieder heraus. Nicht allein, sondern in Begleitung einer Frau und beide stiegen in ein Auto, das vor dem Haus parkte. Wie vom Donner gerührt stand sie da. Also doch eine Frau! Und wie jung die war! Als sie direkt an dem Haus war, musste sie sich vor Schwäche anlehnen. Sie stützte sich auf den Tisch, der vor dem Schaufenster eines Lebensmittel- und Gemüseladens stand und konnte ihre Gedanken kaum ordnen. Neben ihr ging die Jalousie hoch und ein älterer Mann trat durch die Ladentür. "Brauchen Sie Hilfe? Sie sehen nicht gut aus; kommen Sie herein und setzen Sie sich einen Moment." Obwohl auch er scheinbar Probleme mit dem Laufen hatte, wollte er sie stützen und zur Tür führen.

Doch das wollte sie nicht. Er konnte ihr nicht helfen. Ihr Körper war in Ordnung, nur ihre Seele war kaputt. Sie bedankte sich kurz und ging mit schleppenden Schritten Richtung S-Bahn.

 

Warum spielte er mit ihr? Was heißt spielen, er betrog sie! Sie ließ ihre vierzig Ehejahre an sich vorüberziehen; was war falsch an ihrem Zusammenleben? Was hatte dazu geführt, dass sich ihr Mann eine andere Frau suchte und warum war er nicht so ehrlich, mit ihr darüber zu sprechen! Nein, dieses Spiel war vorbei. Mit mir nicht, sagte sie sich. Heute Mittag wird reiner Tisch gemacht.

Tief atmete sie durch, als sie hörte, wie er die Wohnungstür aufschloss. Kerzengrade stand sie in der Stubentür, um ihn gebührend zu empfangen. Sie hatte sich vorgenommen, gleich mit ihrer Anklage loszulegen, bevor er auch nur ein Wort sagen konnte. Doch dann war sie erst einmal sprachlos. Er hatte einen riesigen Strauß roter Rosen in der Hand. Ja, sprachlos war sie, aber in ihrem Kopf sprudelten die Gedanken nur so durcheinander. Er hatte also mitbekommen, dass sie sein Spiel aufdecken wollte, und nun kam er mit Rosen!

Ehe sie sich besonnen hatte, drückte er ihr die Blumen in die Hand und dazu einen großen Umschlag. "Du hast doch bald Deinen Siebzigsten. Und ich wollte dir etwas ganz Besonderes schenken, etwas, was du dir schon lange wünschst. Eine Kreuzschifffahrt. Und weil ja mein Taschengeld dafür nicht ausreicht, bin ich drei Wochen arbeiten gegangen und nun können wir eine schöne Reise machen. Was sagst du dazu?"

Sie sagte nichts, sie schämte sich. Wie konnte sie nach so vielen Jahren glücklicher Ehe nur plötzlich auf den Gedanken kommen, er hätte sich von ihr abgewandt. Und dann saßen sie beim Mittagessen und er erzählte, dass er in dem Gemüseladen, in dem sie sich beinahe zur Erholung hingesetzt hätte, ausgeholfen hatte, mit der Tochter Gemüse vom Großmarkt geholt und den alten Kollegen unterstützt hatte.

 

Zwei Monate später saßen die beiden bei einem Glas Sekt in der Bar auf dem Kreuzfahrtschiff und feierten den siebzigsten Geburtstag der Frau. Nun konnte sie doch nicht anders und erzählte ihrem Mann, dass sie sein Spiel, das er am Bahnhof Ostkreuz trieb, unbedingt durchschauen wollte und dass ihr das völlig missglückt war.


Roman Kieß
Spiel’s noch mal

 

"Hey Kieß, du alte Rübennase." Erschrocken schaute ich hoch. Meine Verblüffung wich aber schnell der Freude. "Mensch, Schneider altes Haus. Du hier? In Berlin?"

Welch ein Zufall. Er legte mir seine große Pranke auf die Schulter.

"Du hast dich überhaupt nicht verändert seit damals", staunte ich.

 

Martin ist mein bester Freund. Wir kennen uns, seit ich denken kann. Schon als Dreikäsehochs, als wir noch laufen lernten. Aber wie kam er ausgerechnet hierher, nach Berlin, ans Ostkreuz? Mitten auf den Bahnsteig?

Martin ist alles andere als ein Anhänger des öffentlichen Nahverkehrs und wird es nie werden. Er hat von Haus aus eine Abneigung gegen alle Fahrzeuge, die er nicht selbst steuern darf. Wenn man wie wir auf dem Dorf aufgewachsen ist, gewöhnt man sich schnell daran, sich selbst um seine Fortbewegung zu kümmern. Tretauto, Tretroller, Fahrrad, Mofa, Moped, Motorrad, Auto und Traktor gehörten alle in unser Fahrzeugrepertoire. Da wollte man nicht auf das einzige öffentliche Verkehrsmittel zurückgreifen, den spärlich verkehrenden Postbus. Zudem hatte Martin seinen Traumberuf ergriffen: Er war Trucker geworden, Fernfahrer.

Aber das Wort Trucker verband für ihn das eher nüchterne LKW-Fahren mit dieser amerikanischen Mischung aus Countrymusik, Fernweh und Landstraßenromantik.

 

"Also wirklich Schneider, wir haben uns ja Ewigkeiten nicht mehr gesehen."

"Stimmt", meinte Schneider in seiner gewohnt lakonischen Art. Ich setzte an, noch etwas zu sagen, doch unvermittelt vermochte ich mich nicht mehr daran zu erinnern. Da war doch noch etwas. Obwohl es mir auf der Zunge lag, entzog sich mir der Gedanke als ich ihn aussprechen wollte.

 

"Komm, setz dich zu mir", forderte ich ihn auf. Eine S-Bahn ratterte rein, die Türen öffneten sich und spien eine eilende, drängende Menschenmasse aus, die sich aber innerhalb weniger Minuten zerstreute.

Seine ruhige, gelassene Art bildete einen starken Kontrast zu dieser Hetze.

Martin setzte sich.

"Was machst du hier?", fragte ich noch mal. "Ach, ich hatte eine Ladung für Berlin", brummelte er. "Ja und mit dem dicken Brummi kannst du abends nicht mal eben einen Stadtbummel einlegen", stellte ich fest. Dabei hätte ich es Martin zugetraut, einen solchen Stunt zu bringen, denn er war ein begnadeter Fahrer.

"Mensch Alter, mir fiel vorhin etwas ein, was ich dich unbedingt fragen wollte, doch ich komm ums Verrecken nicht drauf." "Keine Sorge", meinte er, "wenn es wichtig ist, kommt es wieder". Dieser Spruch hätte auch von meiner Mutter kommen können. Auf dem Dorf, dachte ich so bei mir, nähern sich die Generationen wohl schneller aneinander an als hier in der Großstadt.

"Du musst unbedingt Michaela kennen lernen", ich zückte mein Portemonnaie und war froh, dass ich letzte Woche ein Foto meiner Frau eingesteckt hatte. Ich zog das Bildchen heraus und zeigte es ihm. Martin hielt das Passfoto ins Licht und mit einem lang gezogenen "Hmmmmh" und dem Hochziehen seiner linken Augenbraue drückte er wohlwollenden Beifall zu meiner Wahl aus.

"Hast du Zeit?", bohrte ich nach. Schnell verwarf ich meine Pläne. Für Martin ließ ich gern alles stehen und liegen. Nach einem Jahr in Berlin hatte ich noch keinen wirklichen Freund gefunden. Einige Bekanntschaften, aber das würde noch Jahre dauern, wieder eine solche Freundschaft aufzubauen. Erst recht in unserem Alter, ich bin letztes Jahr 40 geworden.

Schneider nickte nur. Er nahm seinen Zigarettenstummel aus dem Mundwinkel, ließ einen letzten, prüfenden Blick darüber gleiten und schnippte ihn dann lässig Richtung Gleisbett.

 

"Weißt du noch? Damals in deinem Partykeller. Der Abend, an dem Angie so breit war?" Er musste grinsen und meinte: "Nicht nur Angie…" Ich fand Angela damals toll. Die kleine Italienerin war ein Temperamentsbolzen, wild, rotzfrech und bildhübsch. Martin stand über solch "kleinen Mädchen". Sie war zwei Jahre jünger als wir, deshalb belächelte er mich. An jenem Abend hatte ich ihr sogar einen Kuss abgerungen. Aber im wahrsten Sinne des Wortes. In dieser Nacht pennte ich ausnahmsweise bei ihm. Dabei hätte ich die vierhundert Meter locker nach Hause wanken können. Nussbaum, unser Dorf, ist nicht sonderlich groß.

 

Martins Schlafzimmer lag im Souterrain des elterlichen Hauses, neben unserem Partykeller. Er schlief grundsätzlich bei völlig geschlossenen Rollläden. Die einzige Lichtquelle waren die leuchtend roten, eckigen Ziffern seines Radioweckers und dessen pulsierender, klötzchenförmiger Doppelpunkt. Es war dermaßen Nacht in dem Zimmer, dass ich den Spruch "Es ist so dunkel, dass man die Hand vor Augen nicht sehen kann." erstmals verstand. Ich habe es ausprobiert. Meine Hand war nur wenige Millimeter vor meiner Nasenspitze. Sogar ihre Wärme war im Gesicht zu spüren, doch es gelang mir selbst nach mehreren Minuten nicht, sie zu sehen. Nicht einmal Umrisse. Einfach zappenduster.

 

In Erinnerungen versunken saß ich neben ihm und starrte in die Ferne. Langsam fokussierte sich mein Blick und ich sah den Fernsehturm im roten Abendlicht glühen. Doch Martin würdigte dieses Schauspiel mit keinem Blick. Sein Gesicht drückte Gleichmut aus. In der ihm ungewohnten Großstadt ist er trotz allem ganz er selbst. Mutig und furchtlos. Nie hatte ich ihn ängstlich erlebt. Mit seinen 1,90 Meter und seinem Tartarenbart wirkt er aber auch ziemlich martialisch. Hinter dieser eindrucksvollen Fassade lässt sich ein gutes Herz unschwer verbergen.

 

Schneider war mit Leib und Seele Heavy-Metal-Fan. Ein Rocker wie er im Buche steht. Unzählige Stunden unseres Lebens haben wir in seinem Zimmer zugebracht und irgendeiner der zahllosen Hardrock-Bands gelauscht. Er hatte sie unermüdlich auf seiner Stereoanlage rauf und runter gespielt. Langspielplatten von AC/DC, Motörhead, Molly Hatchet und wie sie alle hießen. Oft spielte er Luftgitarre dazu und vermochte sich so richtig reinzusteigern. Dann forderte er mich auf, mit einzusteigen. Ab und an, nach langer Gestikuliererei, ließ ich mich dann doch herab, meine Luftgitarre mit ihm anzustimmen.

Nie habe ich verstanden, wie er daneben diesen Trucker-Country-und-Western-Schmus hören konnte. Absolut krasse Gegensätze. Mir gefiel beides nicht besonders. Aber wenn man es lange genug hörte, fand man doch an dem einen oder anderen Hardrock-Stück Gefallen. Wir spielten Luftgitarre zu "Hells Bells" von AC/DC oder "Smoke on the water" von Deep Purple. Und Martin hielt den Takt, indem er während des imitierten Gitarrenspiels ein charakteristisch gezischtes "Tschuff, Tschuff" intonierte und dabei mit jedem "Tschuff" den Kopf nach vorne stieß.

 

"Weißt du, woran ich gerade denke?", fragte ich ihn. "Klaro", seine Augen leuchteten. Wie konnte er das wissen?

Und wieder grübelte ich nach, da war etwas nicht zu Greifendes, das ich ihm aber unbedingt mitteilen musste. Was war es nur?

Mit einer lässigen Bewegung seines Unterarms stieß er mich an die Schulter. "Auf geht’s, Kieß, los komm, 'Hells Bells'…" Martin forderte mich mit einer Kopfbewegung auf. Plötzlich war er auf die Bank gesprungen, kniff sein Gesicht vor Konzentration zusammen und hielt eine imaginäre Gitarre in seinen Händen.

Peinlich berührt schaute ich mich um, ob die Leute auf dem Bahnsteig uns beobachteten.

"Auf, Kieß, sei kein Angsthase", feuerte er mich an.

 

Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass ich Martin ein einziges Mal in seinem Leben ängstlich gesehen hatte. Es war eine Woche vor seinem 21. Geburtstag. Ich war nicht wenig verwundert, als er mich bei meinen Eltern aufsuchte. Denn sonst hatten wir uns immer auf dem Kirchplatz oder bei ihm getroffen. Er wirkte verunsichert und erzählte mir, dass er einen Unfall hatte. Er war nachts auf der Autobahn mit seinem LKW auf einen langsam fahrenden polnischen Kleinwagen aufgefahren. Die Leute waren mit leichten Verletzungen davongekommen, doch es hätte schlimm ausgehen können. Martin berichtete von wiederholten Schwierigkeiten, die er in der Nacht hatte. War es der Sekundenschlaf oder etwa Nachtblindheit? Erst vor wenigen Wochen hatte er zu einer Spedition mit Nachtfahrten gewechselt.

Mir war damals nicht klar geworden, wie verstört er war und ich versuchte ihn zu beruhigen, ging aber nicht wirklich auf sein Problem ein. Meine Gedanken waren ganz woanders, hatte ich doch erst seit wenigen Tagen meine erste feste Freundin. Scheinbar beruhigt zog er wieder ab.

 

Seinem Beispiel folgend, hüpfte ich auf die Bank, stimmte prüfend die Luftgitarre und fing an, heftig in die nicht vorhandenen Saiten zu greifen.

"Seht euch den Spinner an", rief eine ältere Frau. "Unmöglich diese jungen Leute", keifte die Alte, "stellt sich mit seinen schmutzigen Schuhen auf die Bank, wo andere Leute sitzen wollen". Typisch. An Martin traut sich keiner ran, aber ich geriet immer schnell ins Fadenkreuz.

Keines Blickes würdigte ich sie, als Schneider und ich in tiefster Inbrunst noch mal "Hells Bells" gemeinsam zum Besten gaben.

Mit großartigem Armschwung ließ ich den letzten Akkord verklingen, während Schneider mit geschlossenen Augen noch ein kleines Solo zum guten Schluss einflocht. Dann war es geschafft. Von der Bank hüpfend, setzte ich mich erschöpft nieder. "Komm, Alter, pflanz dich wieder hin." Grinsend schaute ich zu ihm auf.

"Ich muss jetzt gehen", sagte er ohne Vorankündigung und verschwand. Verdutzt schaute ich ihm nach und versuchte noch, ihn am Ärmel zu erwischen, doch urplötzlich war er weg, meinem Gesichtsfeld entschwunden. Verwirrt sank ich zurück.

Da fiel mir ein, was ich ihn die ganze Zeit fragen wollte. Ich wurde unruhig, musste unbedingt Gewissheit haben. Schnell kramte ich mein Handy aus der Tasche und schaute auf das Datum. Es war der 9. Oktober. Drei Tage nach Schneiders Geburtstag. Und die Jahreszahl, ich rechnete kurz zurück. Da wurde mir mit einem Mal klar, was mich die ganze Zeit beschäftigt hatte.

Genau heute vor 20 Jahren war Martin gestorben, drei Tage nach seinem 21. Geburtstag. Er hatte nachts auf der Autobahn erneut einen Unfall, eine Kollision mit einem anderen LKW. Sein Beifahrer, der im Führerhaus in der Koje schlief, blieb wie durch ein Wunder unverletzt. Martin erlag am nächsten Tag seinen schweren Verwundungen.

 

Mein einziger Trost: Er war sozusagen in den Stiefeln gestorben, wie er es sich als echter Trucker immer gewünscht hatte.

Am liebsten wäre ich noch mal auf die Bank gesprungen und hätte die Luftgitarre mit aller Macht in kleinste Stücke gehauen vor Wut. Doch ohne ihn hat das Spiel seinen Reiz verloren, würde ich mich einfach nur lächerlich fühlen…


 

Barbara Skop
Das klügste weibliche Wesen

 

Ich bin reich.
Ich habe sie gehört.
Ich habe sie gespürt.
Ich habe sie gelebt.

Ich habe sie getroffen,
die uns unser ganzes Leben lang
glauben macht,
dass es
die unbegreifliche Liebe
gibt-
dass es das Größte ist.

Ich habe sie gehört,
wie sie sich ins Fäustchen lacht.
Die Liebe-
Ein schöner Trick.

Ich bin reich.
Ich habe sie getroffen.
Ich habe sie gespürt.
Ich habe mit ihr gelebt.

Sie macht mich heiter.
Sie spielt mit uns.

Es geht ums Überleben!

 

Mit freundlichen Grüßen
Die Natur


Nancy Schumann
Sprachlos

 

Es ist jeden Morgen das gleiche Spiel… Ich habe Zeit bis zum Ostkreuz - zehn Stationen, dann ist die Chance vertan.

Ich darf die Bahn nicht verpassen. Früher war mir jede Minute heilig, die ich länger im Bett liegen konnte. Doch seit drei Monaten, genau genommen, seit dem 7. Januar 2008, stehe ich beim ersten Weckerklingeln auf. Manchmal bin ich nun sogar kurz vom dem schrillen Läuten wach. Unglaublich, wie das eigene Unterbewusstsein, selbst einen 36jährigen Mann wie mich noch überraschen kann! Meine Mutter würde es nicht glauben, würde ich es ihr erzählen. Hatte sie doch meine gesamte Schulzeit damit gekämpft, mich rechtzeitig aus dem Bett gescheucht zu bekommen, damit ich den Schulbus erwische. Erst hatte sie mich sanft gebeten, dann fordernd und zum Schluss lauthals aus der Küche gerufen, wenn sie bemerkte, dass ich ,nachdem ich nach mehrmaligen Aufforderungen nur im Bad gewesen war statt mich anzuziehen, doch noch mal zwischen den wohligen Kissen verschwunden war. Ihr gellendes "Siiiimooooon!" klingt mir noch heute in den Ohren und bringt mich zum Schmunzeln. Und nun …, beim ersten Hauch, dass der Wecker seinen Dienst starten will, schalte ich ihn ab, schwinge mich aus dem Bett, lege meine Armbanduhr um, laufe ins Bad, schaue auf die Uhr, beeile mich, streife mir das am Vorabend bereitgelegte und bereits gebügelte Hemd über, schaue auf die Uhr, stelle die Kaffeemaschine an …Tatsächlich habe ich, ich der Kaffeeliebhaber, sogar schon mit dem Gedanken gespielt, den Kaffee bereits am Vorabend zu mahlen und die Maschine quasi startklar zu machen, so dass ich morgens nur noch den Knopf drücken müsste. Aber es ist nicht das gleiche. Neben dem "Simon"-Ruf meiner Mutter und dem Trubel meiner Geschwister würde mir in der stummen Wohnung auch noch der morgendliche, köstliche Kaffeeduft fehlen. Dieser sanfte Geruch, der sich bereits ankündigt, wenn man das Cellophan der Tüte öffnet und der sich verbreitet, während das kleine Mahlwerk die Kaffeebohnen zerreibt. Ich ziehe den Duft tief ein, stelle die Maschine an, schaue auf die Uhr, laufe ins Schlafzimmer zurück, schlüpfe in meinen Anzug. Jetzt vergewissere ich mich noch einmal wie spät es ist, springe die Treppen im Hausflur herab und ziehe die Zeitung aus dem Briefkasten. Exakt zwanzig Minuten habe ich nun, um den herrlich heißen Kaffee zu schlürfen, ein Toast mit Marmelade zu verspeisen und die Neuigkeiten des Tages aufzusaugen. Früher habe ich die Zeitung in der S-Bahn gelesen. Seit drei Monaten ist dies undenkbar geworden. Genau genommen seit sechzig Fahrten, seit sechzig Arbeitstagen. Keiner der Artikel kann mich so fesseln, dass ich die Zeit am Frühstückstisch vergesse, die Küchenuhr behalte ich jederzeit im Auge. Um 6 Uhr 50 schnappe ich mir meine schwarze Ledertasche und marschiere aus dem Haus. Zehn Minuten später bin ich am Westkreuz. Meist so früh, dass ich die Sieben-Uhr-Bahn noch erreiche. Ich lasse sie passieren.

Ich muss die Bahn um 7 Uhr 5 nehmen. In den zweiten Wagen steige ich ein. Immer. Immer, seit dem 7. Januar 2008. Zwei Minuten sind es nun noch und jetzt weicht die Vorfreude, die mich jeden Morgen übermannt, ein wenig der Furcht. Die Bahn hält, "Charlottenburg". Ich spähe hinaus von meinem Stehplatz am Fenster. Wird sie da sein? Bisher war sie es immer. Jeden Morgen, seit sechzig Arbeitstagen. Hilflos schaue ich mich um. Zwischen den Menschen an der Haltestelle kann ich sie nicht entdecken. Vielleicht ist sie krank? Oder sie hat Urlaub? Meine Augen irren über die Wartenden. Ich fühle, dass der Haltegriff sich schon etwas feucht in meiner Hand anfühlt. Die Tür öffnet sich. Doch, da ist sie. Der große Mann dort in dem braunen Mantel muss sie wohl verdeckt haben. Ich atme auf. Ihre dunkelblaue Lodenjacke, ihr brauner, karierter Schal, die dunkelblonden Locken … Wie vertraut ist mir der Anblick. Die Hände hat sie tief in den Taschen vergraben. Ob sie fröstelt? Nun kommt sie herein. Ihr Blick schweift mich. Zufällig? Dann setzt sie sich auf den freien Platz schräg gegenüber von meinem Stehplatz. Ich höre mein Herz pochen. "Guten Morgen!", möchte ich sagen, doch ich bleibe stumm. Meine Kehle ist ganz trocken. Längst ist die Bahn wieder angefahren. Nun sind es nur noch sieben Stationen, stelle ich fest, wir sind bereits am Hauptbahnhof. Was für schöne geschwungene Lippen. Heimlich beobachte ich sie. Ein Buch liegt auf ihrem Schoß. Was liest sie wohl? Einen Krimi, eine Liebesgeschichte, ein Fachbuch? Nein, sie blättert die Seiten nicht um. Träumt sie? Wovon träumst du? Ein Seufzer entweicht meinen Lippen. Mein Blick schweift aus dem Fenster. Hackescher Markt - nur noch drei Stationen. Hat sie mich gerade angeschaut? Wie ein Blitz durchzuckt es mich, als sich unsere Blicke queren. Sie schaut weg. Schaut sie schnell weg, wie jemand der sich vom Beobachtungsobjekt ertappt fühlt? Einbildung, Einbildung, Simon, fange ich meine Gedanken wieder ein. Sprich sie an, frag sie was! Es stehen so viele Menschen um uns herum. Was soll ich sie fragen, die vertraute Fremde?

Viel zu schnell ist der Moment da. Rasend schnell, wie jeden Morgen. Sie steckt ihr Buch in den kleinen hellbraunen Rucksack und erhebt sich. Nun kommt sie auf die Tür zu. Ostkreuz, ganz nah ist es nun schon. Hier wird sie aussteigen, wie jeden Tag. Ob sie hier irgendwo arbeitet? Oder steigt sie um? Ich könnte ihr nachgehen. Aber dann? Was soll sie denken? Vielleicht würde sie mit mir einen Kaffee in der Sonntagstraße trinken gehen. Einfach so.

Die Tür öffnet sich. Ein letzter Blick auf ihre dunkelblonden Locken, bevor sie zwischen den Menschen auf Gleis 5 verschwindet. Bald bin ich nun auch in Friedrichsfelde und werde wie jeden Morgen in den Bus umsteigen und anschließend die letzten Schritte zum Amt für Statistik zu Fuß machen. Vielleicht frag ich sie morgen, vielleicht morgen…

Mirka schaute sich auf dem Gleis 5 noch einmal um, als sich die Tür der S7 hinter ihr schloss. "Auf Wiedersehen", murmelte sie leise, mehr in Gedanken. Hatte er ihr nachgeschaut? Chance vertan. Jeden Morgen hier am Ostkreuz war es vorbei. Vor drei Monaten war er ihr das erste Mal aufgefallen. Manchmal glaubte sie, er schaue sie an. Sie seufzte. Vielleicht morgen, dachte sie und zog ihre blaue Lodenjacke fester um sich, vielleicht spreche ich ihn morgen an.


Thomas Rehaag
Mama Christine

 

"Was ziehst'n schon wieder für 'ne Flappe?" Christine hangelte die Beine übereinander und zog hektisch an der Zigarette.

"Mensch, du weißt ja, dass, wenn ich mit jemanden über zwei Wochen die Pritsche teile…" Warter schüttelte verunsichert den Kopf.

"Wasserbett!", fiel sie ihm ins Wort.

"Na, dann eben Wasserbett… Jedenfalls komm ich mir da immer vor, als ob ich solchen Glückstreffer nicht verdient hätte."

"Aha", raunte sie ihm grimassierend zu und ließ ihren rechten Highheel einige Male sacht auf die Bastmatte schlappen.

Sie hockten auf ihrem Balkon in der 14. Etage beim Kaffee und die Sonne ging langsam hinter der rechten Kante des Hochhauses in Deckung und das Heizkraftwerk gegenüber schälte sich schwarz grau konturiert in den Himmel und hier oben waren es noch immer an die dreißig Grad im Schatten und sie trug wieder ihre akkurat sitzenden Nylons, ihr hoch gerutschtes weißes Röckchen sowie eines ihrer russischen Marken-T-Shirts.

"Aha", äffte er sie spaßig grinsend nach, schob sich einen Happen ihres selbst gebackenen Käsekuchens in den Mund und warf einen Blick auf ihr ungeschminktes sommersprossiges Gesicht mit der süßen Stupsnase, den meergrünen Katzenaugen, den aufgeworfenen rosaroten Lippen und der herzförmigen Wangenpartie.

"Und wie kann ich dir helfen?", fragte sie munter zu ihm rüber funkelnd.

"Schau dir diese Ostkreuz-Anthologien mit meinen Geschichten an. 'ne Art eigener Selbsthilfegruppe", antwortete er schulterzuckend, half sich den restlichen Kuchenstreifen ein, langte nach ihren Zigaretten und steckte sich eine an.

"Mensch, kapier mal, du Hirni, sonst lese ich nichts weiter als Kreuzworträtsel und Comics", echauffierte sie sich rauhalsig, "und deine Geschichten waren das erste Ernsthafte, das ich mir seit 'ner Ewigkeit zu Gemüte geführt habe. Kannste dich doch wohl noch dran erinnern, oder!?" Rasch schob sie ihr leeres Geschirr beiseite.

"Hm." Ab und zu kreuzte den Block ein Düsenjet im Landeanflug. Jetzt wieder.  

"Vor dir kannte ich dieses Ostkreuz nur vom Hörensagen." Ihn im Auge behaltend schnipste sie die Kippe über die Balkonmauer und fuhr sich einige Male, das Haupt nach hinten schaukelnd, durch den rothaarigen Struppi. "'tschuldige. Die erste und die dritte fand ich ziemlich abgehoben, die zweite gefiel einigermaßen und die vierte war krass pervers. Aber dich liebe ich. Obwohl mir noch immer mein impertinent destruktiver Ex aufstößt. Anarchobruder und so. Jetzt hat sich der Drohn 'ne schmucke Jurastudentin an Land gezogen, die als Putze die Knete ranschafft. Na ja, Schwamm drüber."

"Ich hab nicht vor, dir jemals weh zu tun…" Betroffen den Blick senkend griff er seine Tasse und schlürfte den Kaffee aus.

"Aber wenn sich das noch steigert, dein 'Nicht mit dir im Reinen sein', wird auch dir mal die Hand ausrutschen."

"Dann zieh mir eine rein so doll du kannst." Er stellte die Tasse ab, ließ sich in den polnischen Korbsessel sinken, schlug die Beine übereinander, nickte ihr bedächtig zu und zog gedankenverloren an der Zigarette.

"Werde drauf zurückkommen…"

"Ich bitte drum… Wahrscheinlich hab ich die Dinger geschrieben, weil ich dich noch nicht hatte."

"Und jemand anderen!?", erkundigte sie sich, ruckartig die Beine ineinander verfädelnd.

"Auch nicht. Weil ich dich noch nicht hatte, habe ich mir die Geschichten aus dem Hirn geleiert. Und jetzt, wo ich dich habe, fehlt mir der Stoff für so'n neuen Erguss. Im Grunde genommen ist die Schreiberei auch nur so'n privates Spielchen, um die Leutchen einzuseifen. Ist überhaupt alles 'n Riesenspektakel. So was wie 'Der Leser' ist mir einfach zu blutleer: Entweder findet so 'ne Schreibe ihre Fanökumene oder sie ist für die Katz."

"Noch 'n Tässchen Kaffee?" Sie langte nach der Kanne und zeigte sie ihm vor.

"Ja, gerne."

Als gestandener Zeitarbeiter jobbte er gerade in einer Stuttgarter Bioklitsche. Im Tiefkühllager. Nachts. Eigentlich wohnte er in Prenzlauer Berg, östlich der Danziger.

Auf seiner Festplatte befanden sich bis jetzt zwei seiner Romane und an dem dritten und umfangreichsten klickerte er seit Mai vorigen Jahres.

Zusammengerasselt waren sie an seinem zweiten Urlaubstag vor knapp zweieinhalb Wochen auf einem der oberen Ostkreuzer Bahnsteige: Sie hatte ihren BMW XS gerade in der Werkstatt stehen und wollte zum Zug Richtung Spandau und er zum Zug Richtung Greifswalder Straße.

Schwups hatte er ihren "Kaffee to go" über seinem nagelneuen grünschwarzen Polyesterjackett. Sie lässig musternd schoss ihm all seine Wut ins Gesicht: Mies gespielt.

"Komm schon, ich spendier dir 'ne Reinigung", krächzte sie schnöde, trat auf Tuchfühlung an ihn heran und ihre herbe Mimik blühte etwas auf unter seinem wie abgeschlagen starrenden Blick. Er schätzte sie auf Anfang dreißig und im Gegensatz zu ihren trivialen Geschlechtsgenossinnen schien sie Courage und Charme zu besitzen. Sich souverän in den Hüften wiegend strich sie ihm mit der linken Hand über den Fleck. Und er spürte sofort, dass sie ihren Part bedeutend besser beherrschte als seine Wenigkeit mit all ihren labil neurasthenischen Möchtegernidentitäten. Ihre Züge fuhren ein. Sehr gedämpft und entfernt und unreal. "Soll wohl 'n gespielter Witz werden", meinte er trocken. Zu spät für den Betrieb ringsum. Magie und Intimität wickelten sie in ihren Bann wie zwei Einsamkeiten unter Zellophan. "Der Schwapp schaut sowieso schon peinlich genug aus und ehe wir 'ne chemische Reinigung gefunden haben, ist er eh eingetrocknet." "Mensch, Junge, unser bedeppertes Rumgestehe hier ist selbst so 'n Witz. Bei dir hat 's doch gefunkt bis über beide Ohren. Da kenne ich mich aus." Sie nuckelte ihre Kaffeelache aus und zupfte sich ihre Klamotten zurecht: lila Latexjäckchen, gelbes T-Shirt, weißer Minirock, Nylons sowie knallrote Stöckelschuhe. Nichts als Details. Darin verpackt ihre gedrungene Figur, bestehend aus den noch zu lüftendem Details. "Musste 'unbedingt' noch 'irgendwo hin' oder darf ich dich einladen zu mir auf 'n Kaffee?" Sie sah ihm groß in die Augen und drückte aufs "Knöpfele". "Und wo?" "Draußen in Spandau, Nähe Paulsternstraße". Verschmitzt lächelnd federte sie zur Seite und stopfte den Becher in den Müllbehälter. "Soll auch nicht so 'ne Verarsche werden, versprech ich dir." "Geht in Ordnung…" Er sah ihr in die Augen und schnipste mit den Fingern. "Christine." Sie hakte sich bei ihm unter und sie zuckelten die Treppe zum Bahnsteig runter. "Warter."

"Was überlegst'n?" Sie gab einen Schuss Milch und ein Stück Zucker in seinen Kaffee.

"Ach, wie wir uns kennen gelernt haben. Sehr mutig von dir, dass du mir, als wir aus deiner Koje geschwabbelt sind, sofort klargemacht hast, was Phase ist."

"Oha", raunte sie sonor, streifte sich die Highheels ab, hievte ihre Beine über die Tischecke und kreuzte sie übereinander.

"Denn Vorstellungen mache ich mir immer nur über mich selbst und über die Stimmen im Radio. Zu jeder Stimme rätsele ich mir das passende Gesicht zurecht."

"Damit du ja keine Enttäuschungen erlebst, hm?" Sich leicht zur Seite neigend, angelte sie sich eine Zigarette und steckte sie an.

"Ach, davon hatte ich nun wirklich schon mehr als genug. Bei Kerlen versuche ich drauf zu kommen, was sie arbeiten, aber Frauen nehme ich so wie sie sind."

"Aber als ich dir gebeichtet hab, dass ich auf eigene Rechnung anschaffen fahr, warste doch 'n bisschen baff, oder?" Tief inhalierend räkelte sie die Zehen gegeneinander und blinzelte ihm abgefahren zu.

"Ja, schon…" Er zwinkerte freundlich zu ihr rüber, rührte durch, fädelte den Zeigefinger durch den Griff und trank.

"In so einem schicken Geländewagen fährt sich’s eben bequemer als in so 'nem miefigen Proletenschieber. Sorry…"

"Immer feste. Bin ich gewohnt. Außerdem haste dir da an der Avusraststätte 'n mächtigen Standortvorteil gesichert. Aber jetzt mal im Ernst: Ist absolut keine Witznummer, dein Leben, oder?" Rasch schlürfte er den Kaffee hinter und schob die Tasse neben die Kanne.

"Jedenfalls flutscht 's besser als in irgend 'nem Büro oder an irgend 'nem Fließband zu vermodern", meinte sie harsch.

"Eben alles gleich beschissen. Sorry."

"Eben…"

"Um noch mal auf meine Geschichten zurückzukommen… Also ich hätte auch nichts dagegen, wenn du mir 'n bisschen was vorspieltest in puncto Verschrobenheit und lockeres Mundwerk… Oh, Mist…" Er langte nach der Zigarettenschachtel, angelte sich eine raus und haute sie an.

"Nach tausenden von Schwänzen hab ich’s mir redlich verdient, he!?", feixte sie, die Kippe in den Ascher schnipsend.

"Nee, gebe ich dir alles gratis. Dagegen sind meine 'literarischen' Ergüsse die reinste Luxusnummer."

"Oh, danke. Trotzdem…" Ihm offenherzig zulächelnd, schwang sie die Beine hoch und stemmte die Füße gegen die Tischkante. "Na ja, nun mime mir mal nicht den harten aber herzlichen Softi…" Sie warf das Haupt zurück und schüttelte ihr Haar durch. "Wer so 'ne Storys schreibt, muss 'ne Menge weggesteckt haben. Ohne Quatsch." Mitleidig lächelnd flunkerte sie zu ihm rüber.

"Ja, sicher…" Er riskierte einen Blick unter ihr Röckchen. Den Slip hatte sie weggelassen. Extra für ihn. "Denn wer glücklich ist, hat nichts zu erzählen, wie es so schön heißt…" Sich losreißend dachte er an Aktentaschen, Bagger, Panzer… Kurz die Schlote ins Visier nehmend, quälte er den Kippen heiß und klinkte ihn in den Ascher. "Und ferner bringt ihm sein Spielchen noch einiges an Zinsen ein: Illusionen." Agil zwischen ihren Schenkeln durchlangend angelte sie sich die Zigarettenschachtel, klopfte sie gegen ihr Knie und fischte sich eine raus. Und ehe sie sich’s versah, gab er ihr Feuer.

"Hmmm danke… Versuche zu kapieren… Aber dich liebe ich wirklich, und du?" Sich mit den Ellenbogen auf die Knie stützend, blickte sie ihn lauernd an.

"Na, ich auch, man. Wie oft willst'n das noch hören? Und seit wir zusammen sind, hab ich meine erste Schreibblockade…"

"Na, is' doch schon 'n Fortschritt", krächzte sie müde und ludelte ihm versonnen studierend an der Kippe. "Hhmm, was war noch mal mit deinem Geschichten?", fragte sie ihn nach einem Weilchen.

"Die erste mit diesem hundertzwanzig Kilo Trauerkloß zum Beispiel…"

"Moment mal." Er nickte ihr kurz zu. "'n Gläschen Sekt?"

"Okay."

Die Beine beiseite schwenkend, stand sie auf und ging den Sekt holen. "Bin gleich wieder da." Derweilen räumte er das Geschirr zusammen.

Flugs stellte sie eine Schale voll Salzmandeln auf den Tisch, das Fässchen mit den gezuckerten Ananaswürfeln sowie die Kelche und schwirrte wieder von dannen, eine Schleppe Mandelduft hinterlassend.

"Bin ganz Ohr." Sich vor ihn hin positionierend, dröselte sie das Korkendrähtchen auf.

"Immer mit der Ruhe… Also, auf diesen Fettkloß bin ich nur gekommen, weil ich so 'ne spindeldürre 'Motz'-Verkäuferin so interessant fand. Und an ihren langen hübschen schwarzen Haaren konnte ich mich einfach nicht satt sehen. Der Fettkloß bin ich, 'n Ende älter und Maria natürlich auch. Haben ja nicht viel geredet, die beiden, einfach göttlich. Das ewige Rumgelabere raubt mir allmählich die Substanz." Der Korken schoss aus der Flasche, prallte vom darüber liegenden Balkon ab und landete zwischen seinen Schenkeln. Sie wieherte los und schleckte fix den heraus quellenden Schaum ab.

"Na warte", rief er lachend, schnappte sich den Korken und zielte zwischen ihre Brüste: Volltreffer. Mit hochrotem Gesicht kickte sie den Korken weg und gab, durchzuckt von unterdrückten Lachkrämpfen, ein wenig Ananas in die Kelche. Er fand’s toll, dass sie es so einfach wegsteckte. Sie ackerte eben als Nutte und stellte nichts vor. Sie fing an einzuschenken. Danach hockte sie sich mit hintergeschlagenen Grätschen in ihren Sessel und naschte von den Mandeln.

"Ab morgen lasse ich jeden Tag zwei Kilo Erdnüsse springen", meinte sie kichernd. Schmunzelnd stießen sie an und pichelten sich zu. "Spaß beiseite. Komm, erzähl weiter…" Sie stellten die Kelche ab.

"Die zweite Geschichte…", hob er an.

"Die von den beiden Losern mit ihren Pizzas und ihrem Pfeffi", fiel sie ihm hicksend ins Wort, "Balder und Schulzi". Er ballerte mit seinem linken Zeigefinger auf sie.

"Bingo! Also…"

"Dauernd dieser Mistzeigefinger! Ich hasse das! Zieh dir lieber mal die Hose hoch!", zischte sie aufgebracht. Er brachte seinen Pyjamagummi ins Lot. "Na also!"

"Und nun rate mal, wer mir von beiden am meisten ähnelte?"

"Nehme an Balder. War ja selbst so 'n verkrachter Schreiberling. Aber diesen Schulzi haste noch etwas besser getroffen, finde ich", meinte sie schnöde.

"Bin eben erst kurz vor dem Abstieg… Und Kai, dieser desertierende Engel, hat 'ne verblüffende Ähnlichkeit mit der Tochter meiner ehemaligen Vermieterin. Aus Mainz, glaub ich. War 'ne Senkrechtstarterlesbe, die mir dauernd schöne Augen gemacht hat. — Also, beim Schreiben schlüpfe ich in die Figuren und stelle mir vor, was in ihren Schädeln so vorgeht, wenn und wie sie in diesem Falle reagieren würden, und denk mir die passenden Dialoge aus. Aber im Grunde genommen bin ich’s selbst und auch wieder nicht." Er griff den Kelch, schluckte den Sekt hinter, trippelte sich die Ananas in den Schlund und ließ den Kelch über den Tisch schlittern. Sie knabberten von den Salzmandeln.

"Und Englein schweben nun mal in den Wolken, stimmt’s?", schnurrte sie lasziv, schlängelte ein Bein nach dem anderen um seine Schenkel und musterte ihn keck.

"Na, vor allem, sie haben kein Geschlecht, diese Glückspilze. – Und alles, was ich sonst noch so in mir finde ist 'n Sack voll Unfiguren, die mir durch den Schädelkasten spuken, und ständig glaube ich, eines Tages drehe ich durch und gehe das Papier von den Straßen sammeln." Er stand auf und beugte sich zu ihr rüber. Langsam legte sie den Kopf zurück und er gab ihr einen Kuss auf den Mund. Ihre Lippen weit öffnend, sog sie seine Zunge ein, schlappte sie einige Momentchen lang ab und drängelte sie wieder raus.

"Genug jetzt." Sie leckte sich die Lippen, als ob sie frisch geschminkt wären. "Und pass auf, dass du die Gläser nicht runter reißt."

"Schon gut." Die Schöße seiner Pyjamajacke festhaltend, setzte er sich wieder hin.

"Und weil de keine Traute hattest sie zu vernaschen, haste diese Geschichte geschrieben, stimmt’s?", meinte sie, langte nach dem Kelch und pichelte schlückchenweise ihren Sekt aus.

"Weiß ich was…? Wer kennt sich schon…? Aber ich schätze nicht. Is' ja verboten…"

"Na, Gott sei Dank aber auch, dass wir zusammengerasselt sind." Sie hangelte die Grätschen übereinander und schleckte die Ananas aus ihrem Kelch. "Reich mir mal bitte dein Glas rüber, damit ich uns nachschenken kann."

"Bitte schön."

"Und der Kauderwelsch mit der Warterei, da bleibt ja nur noch der Typ auf der Brücke übrig, oder?" Welk lächelnd zwinkerte sie ihm zu, gab die Ananas in die Kelche und schenkte behutsam nach.

"Hmmm…" Sie im Profil begutachtend grabschte er sich die Zigarettenpackung, zottelte sich eine raus und zündete sie an. "Die beiden waren aber eher 'n Produkt meiner geheimsten Wünsche."

"Da." Sie schob ihm den Kelch rüber. "Das einzige, was ich davon halbwegs kapiert habe, ist diese Sado-Maso-Masche. – Sag mal, ich hab dich doch nicht etwa entjungfert?!", prustete sie, sich die Hand vor den Mund haltend, los.

"In einem gewissen Sinne ja", antwortete er naseweis, griff zum Glas und kippte einen großen Schluck hinter. Sie griff sich ihres ebenfalls und sah ihn aufmerksam an. "Die anderen paar Dämchen, die bis jetzt den Mut aufbrachten sich mit mir einzulassen, waren mir schlichtweg zu unkultiviert."

"Oh, man, bei diesem Bullshit ist’s ja kein Wunder, dass de so ’n gequirlten Wichs produzierst. Eigentlich ist’s ja kein Spiel, sondern 'ne Qual, hmmm?" Mehrere Schlückchen pichelnd, zwinkerte sie ihm kokett zu.

"Hast Recht. Wahrscheinlich hab ich da in puncto Vorstellung 'n bisschen hochgestapelt. – Wer die Schreibe mag, muss sie ja nicht unbedingt verstehen, und die Spielregeln betreffs der Bedingungen, unter denen sie sich’s reinziehen, werde ich, Gottlob, nie mitkriegen." Er zwinkerte ihr abgekartet zu, pichelte den Rest hinter und schüttelte sich die Ananas hinter die Kiemen.

"Na, Gott sei Dank, geht das in der Koje mit uns in Echtzeit über die Bühne. An so 'ner 'Ejakulation' ist nun mal nicht zu rütteln. Ich hingegen kann dir da 'ne Menge goldiger Arien vorjaulen."

"Ist eben nicht dein einziger Standortvorteil, da neben der Avus. Auf alle Fälle kommt mit dir 'ne Freude auf wie schon lange nicht mehr…" Gedankenverloren stellte er das Glas beiseite. "Ach so?", schnurrte sie, sich, den Kelch in der Hand, gegen die Lehne rekelnd, wobei sie breit gähnend ein Bein nach dem anderen herumschwenkte und sie vorsichtig unter dem Tisch ausfahrend übereinander geschlagen auf dem Korb zwischen seinen Schenkeln parkte. Die Sonne hatte jetzt vollends die Kurve gekriegt, an den Schloten des Heizkraftwerks würden bald die Warnleuchten angehen und in den Werkhallen links daneben die Neonlichter. "Wieso klingt dir wohl zu geschwollen?", fragte er, das Heizkraftwerk straight im Auge behaltend. Ihre sich aalenden Zehen streiften ihm nämlich gerade zart über den Schritt. "Für jemanden, der 'ne Puppe pimpert, schon", meinte sie langgezogen. "Das perfekte Spielzeug. Endlich bestimmte ich mal die Spielregeln", rutschte es ihm raus. Die sektgetränkte Ananas stieg ihm allmählich in den Kopf und ihre Zehen da unten waren auch nicht ganz ohne. Weil sie sich abwartend verhielt, versuchte er sich aus dem Affekt zu reden. "Menschenskinders! Christine, diese Horrorstory schrieb ich kurz vor Weihnachten. Wie immer hockte ich alleine in der Bude und hatte 'n mächtigen Frust auf alles. Obwohl mir diese Festivität, seit meine Mutter mit 43 'n Herzschlag gekriegt hat, gelinde gesprochen am Arsch vorbei geht." Stattdessen schaukelte er sich immer weiter hoch. "Kannst mich ruhig angucken, wenn du mit mir redest", meinte sie pikiert, ihre Zehen fuhren fort, seinen Penis zu piesacken und er hörte wie sie ihren Kelch auf den Tisch haute.   Zwischen den Schloten erschien eine Rotte Militärhubschrauber und schepperte in Formation auf den Block zu. Sinnlos sich in die Köpfe der Piloten hinein zu versetzen. Ihre Zehen brachten es besser. Erst als die Maschinen in die Landeschneise einschwenkten, wandte er ihr langsam den Kopf zu und fuhr fort zu reden. Die Arme vor den Brüsten verschränkt lächelte sie ihn spitzbübisch zu. "Das ganze verlogene Gehabe, dazu dieses penetrante Harmoniegedusel…" Tief einatmend langte er nach der Flasche und schwappte geräuschvoll ausatmend den restlichen Sekt in die Kelche. "Und schon seit ’ner Ewigkeit nichts mehr im Bett, wie?", stichelte sie Brauen runzelnd. "Genau – so", antwortete er brüsk, stellte die Flasche beiseite und reichte ihr den Kelch rüber. "Prost." "Prost." Sie schlürften ein Schlückchen ab und sahen sich ein Weilchen in die Augen und knabberten von den Mandeln. "Das ist ja nicht nur die Pointe mit dem Coloradoklon, übrigens 'ne tolle Spitze, diese Bärchen find ich grusliger als die Puppe, sondern auch so was von misogyn… Also da wurdest du mir so richtig unheimlich", meinte sie ruhig und sah ihm, ein mäkliges Gesicht ziehend, ein Weilchen groß an. "Na, Gott sei Dank aber auch, dass wir zusammengerasselt sind", meinte er schließlich, mehr verlegen als amüsiert und ließ ein ausgebüchstes Grinsen stehen. Nebenbei beugte er sich halb über den Tisch, hob seinen Kelch und rieb ihn sacht an ihrem. "Und meinst du im Ernst, so lange wir zusammen bleiben, gehen dir diese 'Unfiguren' etwas weniger auf den Sender und vor allem du leierst dir nicht noch ’n grässlicheren Apparat aus dem Hirn als diese Monsterbarbie?", erkundigte sie sich skeptisch, ließ die Gläser klingen, nahm die Beine runter, beugte sich zu ihm rüber und zwinkerte ihm drollig dreinblickend zu. Ihre Pfützen ausschlürfend musterten sie sich mit schäkerndem Blicken und zuckelten ab und zu ihre Knie gegeneinander. "Na, ich bin nicht Doktor Allwissend", erwiderte er schließlich. "Wir müssten die Geschichten einfach mal auf die Bühne bringen."  "Und ich übernehme den Engel, den Lederknaben, diese Maria sowie die Puppe, oder?", hauchte sie, den leeren Kelch zwischen den Fingern kippelnd und eins ihrer Knie zwischen seine Schenkel drängelnd. "Na, nun setz dich nicht gleich in die Nesseln. Ist irgendwie nicht korrekt. Am besten wir würfeln drum", betete er rasch herunter. "Menschenskinder, du bist fertiger mit dem Globus als ich dachte. Wegen meiner. Vielleicht wird’s ja 'ne ziemlich drollige Angelegenheit", raunte sie aufgeplustert. "Donner Schock aber auch. Wer sich mit dir langweilt, hat kein Fünkchen Humor", rang er sich erstaunt ab. Stirn runzelnd linste sie auf die Uhr und meinte: "Also knapp über 'ne Stunde haben wir noch. Dann muss ich aber los." Zugleich schwangen sie ihre Kelche neben das Geschirr. Schelmisch grinsend knuffte sie ihn in die Backe und erhob sich. "Lust, noch 'n bisschen mit nach hinten zu kommen?" fragte sie so lala. "Blöde Frage. Die ganze Zeit schon", erwiderte er forsch, stand auf und trat vor sie hin. "Und vergiss mir, während ich auf Strecke bin, ja nicht die Bude auf tipptopp zu bringen." "Mach ich."

Ihn kurz am Hosengummi zupfend drehte sie sich um und hintereinander hertrabend schlappten sie Richtung Schlafzimmer. Fortwährend auf ihre Beine sowie ihren niedlichen Hintern starrend, versuchte er sich einigermaßen ihrer Schrittfolge anzupassen. Über ihrem rechten Hacken kroch eine kleine Laufmasche und als sie über die Schlafzimmerschwelle traten, marschierten sie im Gleichschritt.


Josef Ludwig
Erinnerung

 

Von selbst stehe aufrecht -
Nicht aufrecht gehalten
Marc Aurel, Selbstbetrachtungen

 

Wenige Jahre nach dem Krieg kam ich aufs Neue nach Berlin. Ein unbekanntes Sehnen hatte mich erfasst — ich musste die Heimat Ostkreuz wieder sehen.

Mit erwartungsvollem Bangen suchte ich nach jenem Haus, das mir einst Hort der Kindheit war. Ich wollte seine Reste sehen und nochmals nah der Stelle sein, an dem ich von der Mutter kam. Doch Heiligkeit und Liebreiz waren ihr verloren und keine Ehrfurcht hielt mich länger fest. Allein die Trümmer ließen mich erschauern und machten mir die Augen feucht.

Als Kind war ich einst leichthin weggegangen, vom Schicksal nur leicht angerührt, wie einem Abenteuer zu. Nun aber fielen auf den eignen Schmerz noch Gram und Leid der toten Eltern nieder. Ich konnte die Last nicht mehr ertragen und musste seinen Anblick fliehen. Einen stummen Gruß nur schickte ich ihm zu, wie man das alten Freunden tut, die der Worte länger nicht bedürfen.

Durch mein "Zuhause" lief ich wie im Schlaf, die Gedanken fern der Wirklichkeit. Die Spree lag noch immer träge in ihrem Bett und Bahnhof Ostkreuz lärmte wie einst in alten Tagen. Der Kiez mit seinen Wunden zog mich an und beschwerte doch stark die Seele.

Die meisten meiner Freunde fand ich nicht mehr. Sie waren verzogen, gestorben, verschollen, vom Kriege verschlungen.

Ich versuchte auch wieder zur Schule zu gehen, immer entlang der alten Allee. Damals waren die Bäume noch klein, mit einem Pfahl an der Seite. Jetzt aber waren sie groß und kräftig ein jeder für sich, ich aber brauchte nun schon eine Stütze. Wieder begann ich zu trödeln, wie ich das einmal mit Freunden getan. Es gab doch auch wieder so vieles zu sehen, rechts und links meiner Straße.

Auch das Haus der Freundin bestand nicht mehr, es war zu einer Ruine geworden, trostlos gespenstisch anzusehen. Wo wir einst saßen, lag geborstener Stein, bemoost und mit Strauchwerk bestanden. Doch zwischen den Stümpfen blühten, traurig zu sehen, zwei rote glühende Rosen.

Ich war nicht allein. Ein Mädchen saß unter wildem Bewuchs, schön, so ganz meine Liebe. Ich meinte, Irina wäre nun wieder bei mir, wie einmal in glücklicher Jugend. Ein altes Lied klang nah meinem Ohr, lange hatte ich's nicht vernommen: "Oh Maienzeit, oh Liebestraum…" — Ich war verwirrt. Es drängte mich, das Trugbild anzusprechen, doch tat ich’s nicht, um meinen Wahn, den Zauber zu bewahren.

Spätabends suchte ich den Friedhof auf, meiner Verwandten in Stille zu gedenken. Mich traf eine wunderbar klare, sternfunkelnde Nacht. Helligkeit lag über den Hügeln und das Mondlicht glänzte vielfach in den Steinen. Die Luft war samten, lauschig gar, getränkt von berauschendem Frühlingsduft und geheiligt durch nächtlichen Frieden. Langsam ging ich durch die Reihen und fand doch nichts vom Grabe mehr, nur noch erahnen ließ sich seine Stelle.

Eine tiefe Stimme tönte dumpf zu mir, fröstelnd lauschte ich nach ihr: "Endlich kommst du mich besuchen, gar lange warst du nicht bei mir." Es war Großvater, ich erkannte den vertrauten Ton.

Ich wollte antworten, doch stotternd nur gelang mein Gruß.

"Warum", kam es recht herb zurück, "hast du dein Heim verlassen, das deine Eltern mühevoll erschufen. Weshalb nur blieben einzig Scherben?"

"Verzeiht", so ich, erschrocken durch die Strenge, "ich musste fort, ganz gegen meinen Willen".

"Gott sei dir gnädig, was hast du Böses nur getan. Hat es dir hier an Brot gefehlt, hast du gespielt, dem Trunk dich hingegeben, mit leichtem Volk dein Gut vertan…?"

Mit verzweifelt-sorgenvollem Drängen stürmten die Fragen auf mich ein. "Ach", suchte Antwort ich zu geben, "wie soll ich's Euch nur sagen…" — und schwieg, wie auch Unglaubliches erklären.

Großvaters Stimme bebte voll Besorgnis, sie mischte sich in den Glockenschlag, der just die Mittemacht verhieß: "Nichts reimt sich mir zusammen; so ist wohl Schreckliches geschehen!"

Fiebergeschüttelt durchwachte ich die Nacht: Vater und Mutter hatten sich mir abgewendet, gemeinsam riefen sie mir zu:" Du hast dein Heimatrecht verloren, nie wieder wollen wir dich sehen!" Ich hoffte auf Irina. Doch ihre Augen blickten kalt an mir vorbei, sie schien mich nicht zu kennen. Eisig durchzog es mir Seele und Herz: Sie ist dir verloren — in Ewigkeit. Wie willst du leben, wie ohne sie sterben? Schon sah ich mich vor dem Jüngsten Gericht und hörte das Urteil des Herrn: "Du hast die Seligkeit vertan, fort, ins Nichts!"

Des Morgens suchte ich die Kirche auf, für meine Ohnmacht Trost zu finden: Der Organist probte. Er hatte wohl einen glücklichen Tag, denn seine Musik klang fern aller Schwere und leicht und spielend umschlang sie mich — ein Memento mori war es, doch ganz ohne Drohung und Strenge. Wie die Töne heiter und freundlich drang es zu mir, dem Lichte gleich, das die hohen bunten Fenster leuchten ließ und warm in das Gotteshaus fiel. Es war schön hier — ich war eben zu Hause. Und eigentlich wollte ich bleiben - auf dem Acker hinter der Kirche.

Während des Krieges war das auch der Ort, wo sich die Mutter im Gebete niederwarf, um meine Wiederkehr zu erflehen. Jeder Abschied erdrückte sie mit neuem Leid und stets suchte sie mich festzuhalten, trotz meines Widerstandes.

Bald war sie nicht mehr und schrecklich schmerzte mich mein Verhalten. Keinen Brief konnte ich ihr länger schreiben, selbst den flüchtigen Gruß nicht übersenden. Bedrückt verließ ich den traurigen Platz, den Kopf gesenkt und das Herz verwundet: Mutter und Heimstatt verflossen in eins - kaum konnte ich all das erfassen.

***

Zutiefst erschüttert war ich zurückgekehrt, die nur schlecht vernarbten Wunden waren wieder aufgebrochen und hatten alte Schmerzen neu entfacht. Das Heute schien mir völlig nichtig und an ein Morgen mochte ich nicht denken. Des Nachts hörte ich überlaute Stimmen, ganz so, als stammten sie von mir: "Begrabt ihn, rasch, wozu auch soll er sonst wohl taugen!"

Sommer und Herbst gingen freudlos an mir vorüber und ähnlich ließ sich der Winter an: Es schneite, reine zartweiße Flocken, groß wie Wattebäusche. Ganz sachte fielen sie hernieder, immer langsamer. Fürchteten auch sie diese Erde, wollten sie gar zum Himmel zurück?

Der Ruf der Wildgänse riss mich aus Gleichmut und Kälte. Im letzten Schein des Abendrots zogen die großen Vögel kraftvoll ihre Bahn, ein Keil nach dem anderen. Einig in sich, strebten sie ihrem Ziele entgegen, mutig und diszipliniert, wachsam dabei, für den Feind unerreichbar. Lange blickte ich staunend empor, durch Schönheit gebrannt und wiedererweckt für das Dasein.

Mehr und mehr nahm ich meine Umwelt wieder wahr. Etwa die verwilderte Katzenmutti, die mit Stolz ihren Nachwuchs ausführte. Sieben wollige Tierchen folgten ihr im Gänsemarsch, alle mit verwegen erhobenem Schwänzchen.

Ich fasste wieder festen Tritt. Als wäre neues Leben über mich gekommen, straffte ich Körper und Geist, ich machte den Rücken gerade und hob die Augen vom Boden, den Blick auf nahe Ziele zu richten - und in Gedanken ein Stückchen darüber hinaus.


Katharina Triebe
Die Chance

 

Trübsinnig starrte Hüffner in sein leeres Bierglas. Der Auftrag vom Chef lag ihm schwer im Magen. Gleich früh hatte der ihn zu sich ins Büro gebeten. "Manfred", hatte er gesagt, "wir als Werbeagentur sollten alles tun, um diesen Auftrag zu bekommen, von ihm wird abhängen, ob unsere Werbeagentur eine Zukunft hat." Bei dem 'Auftrag' handelte es sich darum, den Umbau des Bahnhofs Ostkreuz zu promoten. Eine riesige Werbekampagne sollte bei den Bewohnern des Kietzes rund um das Ostkreuz für Verständnis sorgen, wenn die Bauarbeiten zu Lärm, Schmutz, Zugverspätungen und Umwegen führen würden. Ausgerechnet Hüffner sollte umgehend Vorschläge ausarbeiten, wie die Werbekampagne aussehen könnte. Den ganzen Tag lang hatte er überlegt, leider war ihm nicht viel eingefallen. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen und landete nach Feierabend schließlich in seiner Stammkneipe, der Sportlerklause am Rudolfplatz. Klaus-Dieter, sein Kumpel, gesellte sich zu ihm. "Ober, noch zwei Kurze!", rief er und wandte sich an Hüffner: "Alles in Ordnung bei dir, Manfred?" Hüffner erzählte ihm sein Leid. Klaus-Dieter war ein guter Zuhörer. "Mensch, Manfred, komm, das ist deine große Chance. Wenn ich nicht das Problem mit meiner Arthritis hätte, ich würde mitmachen." Das wäre doch eine große Herausforderung, den Bau des Ostkreuzes durch gezielte Werbung vorzubereiten, zu begleiten und gleichzeitig bei den Leuten damit um Verständnis zu werben. Sie steckten die Köpfe zusammen, bekritzelten Bierdeckel mit Skizzen und Notizen. Todmüde verließ Hüffner gegen Mitternacht schließlich die Sportlerklause und ging heim. Als er am Bahnhof Ostkreuz den Eingang Markgrafendamm durchquerte, sah er links plötzlich eine Ratte sitzen, die vergnügt an einem Wurstzipfel knabberte. Bestens gelaunt nickte er ihr zu: "Wohl bekomm’s!" Sie blinzelte verschwörerisch. Wenige Minuten später schloss er seine Wohnungstür auf und ging ins Bett. Punkt sechs Uhr morgens sprang er wieder auf, duschte kalt und setzte sich an den Computer. Um neun Uhr eilte er ins Büro, in der Hand sein fertiges Konzept und steuerte damit sofort auf den Chef zu. Tolle Ideen hatte er zu Papier gebracht. Eine Wochenzeitung sollte den Umbau mit topaktuellen Informationen für Bahnreisende, Umsteiger und S-Bahnliebhaber begleiten, Leser sollten Fotos einschicken können, wie sie den Umbau miterlebten, Bilder aus Archiven sollten veröffentlicht werden, sogar ein Ostkreuzworträtsel würde es geben und rasende Reporter, die Bauarbeiter und Passanten auf dem Bahnhof nach ihrer Meinung fragten. Eine Tafel der besten Arbeiter wollte er aufstellen lassen, mehrsprachige Infostände für interessierte Fahrgäste, ja, sogar Briefmarkeneditionen vom Ostkreuz hatte er als Vorschlag in sein Konzept aufgenommen. Mit wachsender Begeisterung las der Chef das Papier, schlug dabei immer wieder enthusiastisch mit der Faust auf den Schreibtisch. "Grandios, Hüffner, einfach grandios. In Ihnen schlummert ja ein Vulkan. Das ist der Wahnsinn, damit schaffen wir es, damit kommen wir ganz groß raus. Sie sind Spitze!" Hüffner lachte geschmeichelt und nahm eine von den Zigarren, die der Chef ihm reichte. Echte Havanna, das kam nicht alle Tage vor. "Und jetzt ran an die Arbeit, Sie haben meine volle Unterstützung!" Mit diesen Worten und einem kräftigen Schulterklopfen wurde er wenig später hinausgeschickt.

Von nun an ging es mit Hüffners Karriere steil nach oben. Neben seiner Arbeit als rechte Hand des Chefs wurde er auch als ständiges Mitglied in die Baukommission aufgenommen, ehrenamtlich natürlich. In der Berliner Woche erschienen regelmäßig Interviews mit ihm, auf dem Bahnhof wurde er häufig von unbekannten Leuten gegrüßt, in der nächsten Talkshow mit Anne Will war er fest eingeplant, ja, es ging sogar das Gerücht um, das Ostkreuz solle nach der Fertigstellung womöglich in 'Hüffnerkreuz' umbenannt werden. O Mann, als Hüffner davon hörte, schwindelte ihn. Überhaupt war ihm in letzter Zeit öfter mal schwindlig, neulich musste er sich ganz plötzlich sogar an einem Schuttcontainer auf dem Bahnhof festhalten und mühsam nach Luft schnappen. Es war aber auch ein hektisches Leben. Da konnte selbst einem stabilen Mittfünfziger mal der Atem stocken. Von früh bis abends Besprechungen, Vor-Ort-Begehungen, Termine in Architekturbüros, das wöchentliche Jour fixe, die Management-Meetings, Workshops und Postdurchsicht mit der Sekretärin (ja, Hüffner besaß jetzt eine eigene Sekretärin). Und ständig klingelte das Handy. Sein Privatleben hatte er fast auf Null heruntergefahren. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal etwas mit der Familie unternommen hatte. Neulich traf er seinen Sohn morgens in der Küche und bekam einen ordentlichen Schrecken — Gott, was war der Bengel groß geworden!

Beim letzten Round-Table-Meeting hatte Hüffner seinen Clou präsentiert – das Ostkreuzspiel. Dabei sollte jeder, der sich an einer Umfrage rund um den Bahnhof Ostkreuz beteiligte, automatisch an einer Tombola teilnehmen. Als Hauptpreis winkte eine Jahresumweltkarte der BVG. Die Aktion forderte von der Werbeagentur Höchstleistungen. Plakate wurden entworfen und aufwändig gedruckt, überall in Friedrichshain angebracht, Autos mit Lautsprechern riefen die Bewohner zur Teilnahme auf. "Eure Meinung für Euren Bahnhof." Tatsächlich hatte sich das Organisationsteam in Absprache mit der Baukommission verpflichtet, die Bürgermeinung beim Bahnhofsbau zu berücksichtigen. Endlich kam der Tag heran. 30. November 2010. Viele, viele kamen, um ihre Meinung auf einem Stimmzettel zu notieren und in die Tombola zu werfen – und womöglich den Hauptpreis zu gewinnen. Hüffner fühlte sich wie im siebenten Himmel. Heute war sein Tag. Er schüttelte Hände, stand Rede und Antwort, begrüßte leutselig Freunde und Bekannte und schaute frohlockend zu, wie sich die Urne mit den Stimmzetteln füllte. Längst vergessene Kumpel aus der Sportlerklause schoben sich grüßend an ihm vorbei. Spätabends endete die Veranstaltung. Die Auswertung der Tombola sollte am nächsten Tag erfolgen. Nun doch etwas müde machte sich Hüffner auf den Heimweg. Just, als er den Durchgang am Markgrafendamm durchquerte, sah er wieder die Ratte. Sie hatte die linke Hinterpfote in Gips, ein Stück Bauschutt hatte ihr den Knochen gebrochen. Mühsam humpelte sie umher. Als sie Hüffner erblickte, blieb sie kurz stehen, stutzte, warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, drehte sich weg.

Am nächsten Morgen stand Hüffner lange vor dem Spiegel, begutachtete mit Kennerblick den Knoten an seinem Schlips und strich stolz über den neuen Anzug. Man trug jetzt Armani. Immerhin sollte er heute anlässlich der Auswertung der Tombola eine kleine Rede halten. Der Oberbürgermeister würde anwesend sein und ebenfalls mit einer feierlichen Ansprache aufwarten. Hüffners Herz klopfte aufgeregt. Anerkennend nickte er seinem Spiegelbild noch einmal zu und verließ die Wohnung. In der Agentur angekommen, winkte ihn die Sekretärin gleich zum Chef ins Büro. Doch der bot diesmal keine Zigarre an, im Gegenteil, wütend blickte er ihm entgegen und Hüffner bekam einen gehörigen Schreck. Was war passiert? Hatte der Oberbürgermeister etwa abgesagt? "Hüffner, Sie haben uns was Schönes eingebrockt mit Ihrem Ostkreuzspiel, die Umfrage wird unser Ruin!" "Was, wieso?" "Wissen Sie, was Ihre blöde Tombola ergeben hat? Die Bürger haben sich mehrheitlich für die Erhaltung der Rauch-Erlaubnis auf dem Bahnhof ausgesprochen. Damit wird das Ostkreuz in Zukunft der einzige Raucherbahnhof in Berlin, ja womöglich im ganzen Land sein! Das haben wir Ihrer großmäuligen Versprechung zu verdanken, unbedingt Bürgernähe und Mitbestimmungsrecht beweisen zu wollen!" Hüffner schnappte nach Luft. Das war ja unglaublich. Da hatte er sich nun so angestrengt, den Bahnhof Ostkreuz bürgernah zu promoten, bei den Einwohnern um Verständnis für die Bauarbeiten zu appellieren – und nun das – das Ostkreuz als Raucherbahnhof. Doch zurück konnte man jetzt nicht mehr.

Das Tombolaergebnis rief leidenschaftliche Diskussionen hervor, einige reagierten empört, andere lachten schadenfroh oder jubelten zustimmend. Der Oberbürgermeister sagte kurzfristig seine Teilnahme bei der Festveranstaltung ab. Doch auch ohne ihn wurde der Bahnhof Ostkreuz als 'Raucherbahnhof' eingeweiht.

Für Hüffner war der große Traum vom Werbekönig ausgeträumt, er wurde auf unbefristete Zeit beurlaubt. Plötzlich hatte er wieder viel Zeit für seine Familie und - was das Gute war - er bekam neuerdings wieder viel besser Luft beim Laufen. Das konnte natürlich auch daran liegen, dass er mit dem Rauchen aufgehört hatte.

Buch 2007
 

Zu diesem Buch

Vorwort von Anneliese Löffler

Eines Tages im vergangenen Herbst erging die Bitte, über den Nebel am Ostkreuz zu schreiben. Die Einlader dachten an Geschichten zum Träumen und zum Fürchten, an Wunderbares und an Magisches, und mancher mag auch noch die Schwaden in Erinnerung haben, die uns in alten Kriminalfilmen entgegen wabern.

Die Phantasie der Schreiber bekannte sich zu diesen Erwartungen, weitete sie aus und das leichtfüßige Spiel mit dem neblig umhüllten Ereignis schob sich in den Vordergrund. "Ich stelle mir bei Nebel immer vor", so heißt es in einer Arbeit, "ich wäre in einem fremden Land und müsste die Umgebung um mich herum erstmal erkunden". Das Geheimnisvolle reizte, der Ort selbst trat recht oft zurück, erschien vorwiegend in Zeichen wie Gleisen, Zügen, Bänken und Turm, erzählt wurde der aus der Erinnerung geholte Vorgang, durchsetzt und verfremdet mit dem nebulösen Gewebe.

Die Texte gleichen sich kaum, und diese Eigenart ist als Vorzug der Sammlung hervorzuheben. In einer der Geschichten wird gleich massenhaft künstlicher Nebel erzeugt, weil es wünschenswert ist, einem Bau-Betrüger die Hände zu binden. Anderswo legt sich der Nebel nahezu schmeichelnd über das Gelände, weil zwei sich finden sollen, die — vielleicht — zueinander gehören. Eine andere Geschichte lebt von der Idee, dass es oft doch einer dank des Nebels geheimnisvoll auftretenden Kraft bedarf, um endlich wieder der eigenen Identität zu trauen. Recht oft, so ist zu spüren, will ein Erzählender von ein, zwei, also von nur wenigen Vorgängen erzählen, die sich jedoch, so ist zu spüren, tief in sein Gedächtnis eingegraben haben. Meist ist die Begebenheit nur karg, hat aber tiefe Spuren hinterlassen. Einer Frau will die weiße Hand nicht aus dem Sinn, die zu einem Motorradfahrer gehörte, dessen Leib nach einem tödlichen Unfall verdeckt wurde.

Erstaunlich ist die Vielzahl der literarischen Möglichkeiten, die in den Einsendungen erprobt wurde. Wir lesen von den Tagen und Jahren einer glücklichen Gemeinsamkeit, die der Schreiber seinen Enkeln überantworten will. Ganz anders begegnet uns der Bericht einer jungen Frau, die vor Jahr und Tag in die Welt zog und — zurückgekehrt — ganz neu den ihr gemäßen Ort suchen muss. Dieser mehr von Reflexionen geprägten Schreibart tritt die Story zur Seite, die eher den Fakten der Ereignisse folgt, einen Kriminalfall erhellt oder den Alltag eines eher im Verborgenen lebenden Menschen zu ergründen sucht. Schwerer zu folgen ist einer Darstellung, die darauf baut, das Menschliche durch eine Mensch-Maschine zu ersetzen.

Der Aufforderung, erneut am Schreibwettbewerb rund um das Ostkreuz teilzunehmen, sind so viele Menschen gefolgt wie nie zuvor. Dieser Vorzug verbindet sich mit der Lust und dem Spaß der Schreibenden, sehr vielfältig all jene Mittel zu nutzen, die in der Literatur unserer Tage herausgebildet worden sind. Wir finden die gut durchdachte und komponierte Geschichte ebenso wie die grüblerisch und phantasievoll gepflegte Nacherzählung des eigenen Erlebnisses. Essayistische Streifzüge durch die eigene Welt der Empfindungen und Gefühle sind ebenso vorhanden wie die einfachen Nachrichten über einst oder heute Erlebtes.

Ein besonderer Vorzug der vorgelegten Arbeiten ist der erfreulich oft gehandhabte Umgang mit den Chancen der phantastischen Figuren-, Bild- oder Kompositionswelt der Literatur. Das Märchen scheint die besondere Vorliebe der Autoren zu genießen, märchenhafte Details finden sich in fast jedem Werk der Anthologie. Zwerge, Gnome und andere Fabelwesen tummeln sich zuhauf, und manche Handlung oder Erörterung wird durch einen Ausflug ins Phantastische bereichert.

Ostkreuz, der Bahnhof, wird natürlich auch in dieser Anthologie zum Tummelplatz vielzähliger Ideen und Gedanken. Er zeigt sich als Ort, den Menschen als Kreuzpunkt ihrer Lebensvielfalt erkennen und erfahren. Manchmal ist ein nostalgischer Hauch zu spüren, was kommt, wenn sich der Ort großflächig durch den Umbau verändert, das wird wohl der literarischen Erkundung noch harren, aber zweifelsfrei eine Herausforderung sein.

Literatur zu schreiben, sich also des eigenen Lebens und der eigenen Erfahrungs- und Gefühlswelt zu vergewissern, ist eine der wohl besten Formen, sich selbst zu finden und zu erkennen, wie auch sich dem Menschen neben sich mitzuteilen. Der jetzt vorliegenden Anthologie mögen noch viele folgen.

Berlin, im April 2007


Sandra Hübner
Einsteigen bitte

 

Es ist Morgen, Sonntagmorgen am Ostkreuz. Frühe Reisende lassen die Räder ihrer Koffer klappernde Stepptänze auf den Pflastersteinen aufführen. Das Grau des Himmels spiegelt sich in den Pfützen. Ringsherum hat der November die Knochen der Bäume freigelegt. Fein säuberlich abgenagt starren sie wie die Tentakel einer an Magersucht verendeten Krake aus den Morgennebeln.

Mich hat eine der alten braunen Bänke auf ihren harten Rücken genommen. Sie steht inmitten des stählernen Säulenwaldes des Ostkreuz. Wie Astlöcher prägen all die Nieten das Metall der Säulenstämme. Zwischen den Pflastersteinen wachsen kleine schwarze Pilze, die einmal Kaugummis waren. Und es ist gut, dass es Graffitis gibt. Neben den grünen Notausgangschildern, die direkt zur Stadt hinaus zeigen, sind sie das einzig Farbliche ringsherum.

Ich streite schon eine Zeit lang mit der Bahnhofsuhr, die ganz wenig warmes, mildes Licht über den Bahnhof sprüht. Wenn sie stehen bliebe, könnte ich einfach hier sitzen bleiben, immer und ewig, die Augen geschlossen halten, denn was gibt es zu sehen? Über mich hinweg streicht das sanfte Rauschen der Flügel einer Taube. So ein Hauch von Geräusch nur.

"Eingefahrener Zug nach Ahrensfelde", weht die laszive Stimme der Ansagerin über den Bahnhof. Sie baut überall Hs ein, eigentlich stöhnt sie eher in einem letzten Aufseufzen: "Heingefahrenher Zuhg nach Harensfehlde". Ich weiß nicht, wie sie das macht, so eine herrliche Stimme, ausgerechnet hier, ich höre ihr schon seit längerer Zeit fasziniert zu. Es freut mich, dass sie heute Dienst hat. Sie hat etwas Mütterliches bei all ihrer Stimmenlust. Ich stelle sie mir gern vor, gesehen habe ich sie noch nie. Sie muss rund sein, überall, auch ihre Augen, vor allem ihre Augen, mit schönen, dicken Haaren und weichen Händen und Waden. Immer sehe ich sie liegend vor mir und "Harensfehlde" oder "Whartenbergh" hauchen. Es müsste das elfte Gebot werden: Du sollst auf dem Ostkreuz den MP3-Player ausschalten.

"Harensfehlde", sie macht eine bedeutungsschwangere Pause. Dann fällt das harte Urteil: "Zurückbleiben bitte." Traurig und gesenkten Kopfes stelle ich mir die Leute in den Türen vor, die eben einsteigen mussten, weg von der verheißungsvollen Stimme dieser Frau.

Meine Bank erzittert, jemand hat sich neben mich geworfen, irgendwo an das andere Ende der langen Holzdielen. Eine Bierdose zischt, eine vorübergehende Frau ruft froh "Prost!". Die Bank vibriert ein wenig, offenbar hat man neben mir gnädig zurückgenickt.

Ich genieße all diese normalen Geräusche ringsherum. Stundenlang hat Richard geredet und geschrien, bis unsere letzte Nacht beendet war, weil ich ging. Sie tat mir in den Ohren weh, all diese traurige Wut. Dazwischen war immer wieder der Boden einer neuen Bierflasche herb auf der Glasplatte seines Tisches aufgeschlagen. Im Lauf der Nacht wurde der Aufschlag auf das Glas immer heftiger, so dass ich mit Interesse die Vibrationen des zarten Materials zu beobachten begann. Wäre es zersprungen, nun ja, kitschige Metapher. Aber mit geschlossenen Augen auf einem Bahnhof zu sitzen, nachdem man eben seine tröstliche Winterbekanntschaft verloren hat, ist auch nichts anderes. Der Bahnhof als Ort des Abschieds und des Ankommens, in welcher Reihenfolge auch immer. Ich kann nicht genau sagen, welche Rolle ich im Moment spiele. Ich wollte mich nur kurz ausruhen, erst bei Richard, jetzt auf der Bank. Und da sitze ich nun.

Richard war in gewisser Weise hyperaktiv, alles musste sofort und am liebsten schon gestern sein. Du liebst mich nicht, schrie er. Du hörst mir nicht zu. Du interessierst dich gar nicht für das, was ich tue. Ich hatte ratlos die Schultern hochgezogen. Der Winter kam, das war alles. Es war ständig kalt und neblig, und die Bäume krakelten mit ihren nackten Zweigen hilflose SOS-Morsezeichen in den grauen Himmel, und da war dann Richard mit seinem großen Bett und seinen sechstausend hyperaktiven Küssen pro Minute.

Die Ansagerin haucht hungrig "Whartenbergh". Ich liebe sie. Ich warte ab, bis sie noch einmal "Harensfehlde" stöhnt, und dann gehe ich nach Hause.

Ich öffne die Augen, um meinen Tabak zu suchen und mir eine Zigarette zu drehen. Eine schwarze Taube mit einem weißen Fleck auf dem Kopf sucht tapfer zwischen den Pflastersteinen. Findet nichts. Ein graublauer, liebeskranker Täuberich bedrängt sie mit seinem Gestelze, er plustert sich auf, gurrt, tippelt wie ein gefederter Flamencotänzer um sie herum. Die Taube fliegt weg. Der Täuberich schüttelt sein Gefieder zurecht und sieht nun selbst zwischen den Steinen nach, ob da nicht noch etwas wäre, das den Morgen wärmt.

Der Blumenladen hat schon geöffnet. Licht dringt aus dem Laden, die bunten Blumen wirken künstlich in all dem Grau des Ostkreuz. Ich weiß, es müsste umgekehrt sein. Ist es aber nicht. Richard hatte einen Strauß Tulpen gebracht, mitten im November. Gelbe Tulpen. Sie taten nichts weiter, als stramm in der Vase zu stehen. Und dann einzugehen, ohne aufgegangen zu sein.

Eine Bahn fährt ein, fast leer. Ein paar Gesichter drücken sich schlafend gegen die Scheiben, hier und da gibt man sich einen hastigen Kuss, dann steigt man aus. Eine kleine Gruppe Jugendlicher stolpert quietschend und kreischend aus einer S-Bahntür, die Jungs schwenken Bierflaschen, die Mädchen ihre winzigen Hintern in niedlichen weißen Hosen. Puppenhaft kleine Handtaschen schleudern an zierlichen, solariumgebräunten Handgelenken. Ihre Stimmen sind in der Nacht in Frequenzen gestiegen, die das Einfahren der nächsten Bahn zu einem Mäusepieps werden lässt. Es hat etwas Schönes, dass eines der Mädchen eine Brötchentüte in der Hand hält.

Hinter mir gleitet ein ICE vorüber. Sich in diese glatte Raupe setzen und mitnehmen lassen.

"Spandau, einsteigen bitte." Wie ist es eigentlich in Spandau? Und in Spanien?

Ich atme den Rauch meiner Zigarette ein und schließe die Augen wieder. Die Lunge streikt ein wenig. Die Nacht war wirklich lang. Der Gedanke an all die kommenden langen Nächte hockt sich böse kichernd in meinen Schoß.

Richard und seine Nervosität in allem. Drei Monate dauert der Winter, erst dann kommt der Frühling. Aber Richard brachte Tulpen im November.

Die hektischen Absätze einer Frau tackern vorüber. Ein Geräusch, als würde man im Innern einer durchgedrehten Uhr sitzen.

"Heingefahrener Zuhg nach Harensfehlde." Da ist sie wieder. Und das Stichwort. Ich öffne die Augen, trete die Zigarette aus und stehe auf. Gehe zu dem roten Backsteinhäuschen. Sehe kurz durch die offene Tür. "Harensfehlde", Pause. "Zurückbleiben bitte", spricht sie eben in das altertümliche Mikrofon. Sie ist vielleicht erst vierzig, aber jemand Uncharmantes würde sie für fünfzig halten. Ihre Züge sind hager und eingefallen. Sie hatte lange keine Zeit mehr für einen Friseur. Ihr Körper wird von den Nähten des Arbeitskostüms kaum noch zusammengehalten. Ihre Augen sind nichts als Müdigkeit.

Langsam lichten sich die Nebel. Ein zerfetzter "Frisch gestrichen"-Zettel hängt am Geländer der Treppe. Ein Maler steht mit seiner Staffelei auf der Stahlbrücke, den konzentrierten Blick gen Morgenstadt, die Schienen entlang, Richtung ewig blinkendem Fernsehturm. Ich schaue zurück auf den Bahnsteig unter mir. Die Leute warten und warten. Stehen und warten. Nach und nach gehen die Lichter auf den Bahnsteigen aus, die graue Helligkeit ist da, die Uhren verlieren mit einem Knips ihr warmes Licht und ticken kaltblütig weiter.

Ein kleiner roter Bagger gräbt sich entschlossen in einen Erd- und Schutthaufen neben dem Ostkreuz. Hinter ihm stehen stumm lauernd viel größere Bagger und schauen dem kleinen zu.

Ich kicke einen Weinkorken vor mich her, der auf dem Beton lag.

Als ich aus dem Ostkreuz trete, beugt sich gerade liebevoll beschützend eine Reihe blasser Straßenlampen über die glänzende Straße. Kurz halte ich den bleichen Mond für eine weitere Straßenlampe, ein wenig schief. Ich gehe durch das matte Licht. Nach Hause. Mit der Hoffnung, dass der Ofen noch warm ist.


Britta Koth
Benebelt

 

Ost- und Westkreuz treffen sich
bei Nebel heimlich wöchentlich
nach dem letzten Passagier
fahren sie auf ein, zwei Bier.

Nach Kreuzberg mit der Straßenbahn
doch den genauen Nachtfahrplan
hat das Westkreuz heut’ vergessen
sie ham zu lang zusammgesessen.

Jetzt ist es schon dreiviertel drei
die letzte Tram ist grad vorbei
beide ham ihr Geld versoffen
lassen ihre Rechnung offen.

Schnell, kriminell und unerkannt
und zusätzlich noch abgebrannt
müssen sie – wie unbequem –
jetzt zu Fuß nach Hause gehn.

Das Westkreuz ist schon losgegangen
da hat der Schwindel angefangen
sodass das Ostkreuz auf der Stelle
über eine Bodenwelle.

Übel auf die Fresse fällt
und in dieser Nebel-Welt
unerhört um Hilfe schreit
die Nacht ist lang, Erlösung weit …

Seit dieser nebelreichen Nacht
ist der Schmerz im Kreuz erwacht
nun geht das Ostkreuz täglich früh
zur Rücken-Physiotherapie.

Man hört es ohne Ende klagen
es müsse ständig zuviel tragen
all die Stufen, all die Brücken
drücken ihm so auf den Rücken.

Das Gerenne, das Geknäule
schaden seiner Wirbelsäule
und seit vielen Tagen schon
nimmt es dauernd Cortison.

Besucher sind daher gebeten
nicht so kräftig aufzutreten.
Auch die beiden Bahnen
müssen wir hier mal ermahnen:
nicht so rumpeln, nicht so knallen
nicht so auf die Gleise prallen!

Und wenn wieder Nebelwände
ihre weißen Geisterhände
um die Ostkreuz-Trassen wehn –
dann lasst es doch mal saufen gehn!


 

Annette Ludwig
Kartibubba

 

Allen Katzen dieser Welt gewidmet,
besonders denen meiner Familie: Billy,
Kartibubba, Ottilie, Otti, Krambambuli und Rocky

 

1.

Ich erinnere mich an eine heiße Woche in Sizilien. Ich bin dort mit meinem älteren Bruder und einigen italienischen Freunden verabredet, die wir schon viele Jahre kennen. Wir wollen noch einmal Sonne tanken, bevor mein Studium in Freiburg beginnt. Das letzte Jahr am Gymnasium war ein schweres Jahr. Wir wollen diese letzten Tage genießen, um zu wissen, dass wir nichts verpasst haben.

 

In Sizilien erwartet uns das übliche Programm. Hitze von fast 40 Grad Celsius, dass man sich nur noch an den Strand oder den Pool retten kann und die einzige Erleichterung am Abend an der Bar oder der Disco der Anlage mit dem eigenartigen Namen Kartibubbo. Highlight eines jeden Abends ist das Abendessen. Ein Büffet erwartet uns mit leckeren italienischen Speisen, zwar immer wieder mit dem gleichen Angebot, aber immerhin ist dies die einzige Zeit, wo man die sizilianischen Temperaturen ertragen kann und das Gefühl hat, sich etwas schicker machen zu müssen.

Am Tag sehen wir uns meist etwas an. Die Städte sind klein und wirken trocken. Kein Wunder, denn hinter dem Wasser sieht man bereits Malta am Horizont. Wir fahren in der Mitte der Woche ins zwanzig Kilometer entfernte Marsala um einzukaufen. Wie immer verpassen wir die Ladenöffnungszeiten und haben vergessen, dass ganz Italien zwischen 13 und 17 Uhr schläft, um den Abend  und die Nachtstunden genießen zu können. Wir schlendern durch die staubigen Straßen und holen uns etwas zu trinken und lassen uns irgendwo an einer Bushaltestelle nieder, weil sich ohnehin niemand bei der sengenden Hitze bewegen kann. Mit einem Mal sehe ich vor dem in meiner Nähe parkenden Auto einen weißen Fleck, der sich bewegt. Ich komme näher und erkenne eine Katze. Es muss ein Katzenbaby sein. Sie ist klein und abgemagert. Ich versuche sie unter dem Auto hervor zu locken, aber sie ist scheu und verkriecht sich weiter unter dem Wagen. Mein italienischer Freund hat die Idee, Milch zu besorgen, um sie herausziehen zu können. Im benachbarten Kiosk holt er einen Becher Milch und erregt damit solche Aufmerksamkeit, dass die gesamte Belegschaft daraufhin aus ihrem Laden kommt, um uns zu beobachten.

Wir stellen den Becher seitlich neben das Auto und gehen einen Schritt zurück. Es dauert eine Weile, bis sich die kleine Katze unter dem Auto hervor bewegt. Langsam und humpelnd geht sie auf den Becher zu und beginnt zu trinken. Mit Schrecken sehen wir eine große verschmutzte Wunde an ihrem rechten Hinterbein, die sich von ihrem Kniegelenk bis zu den Zehen zieht. Wir lassen sie trinken und überlegen, was wir mit ihr tun könnten. Sie in der Stadt zu lassen, scheint uns unmöglich für ein verletztes, halb verhungertes Tier. Wir entscheiden, sie mit in unsere Anlage zu nehmen. Immerhin könnten die Touristen sie dort füttern, wenn wir nicht mehr da sind. Dies wäre allemal besser als hier in der Stadt. Langsam nähert sich ihr mein italienischer Freund und nimmt sie vorsichtig am Kragen. Sie bewegt sich nicht. Wir sehen das erste Mal direkt in ihr Gesicht. Augen, so blau wie ein wolkenloser Himmel, so blau, dass sie fast weiß sind, sehen uns an. Ich kann es nicht glauben, dass eine Katze solche Augen haben kann. Ich öffne meine Tasche und lasse sie vorsichtig hinein gleiten. Wir gehen zum Auto und lassen sie aus der Tasche. Die kleine Katze flüchtet sich unter den Beifahrersitz und bleibt dort regungslos liegen. Wir wollen nichts mehr sehen, wollen nur noch aus der Stadt zurück in die Anlage. Zurück nach Kartibubbo.

Wir lassen die weiße Katze aus der Tasche und stellen ihr Wasser und zuvor gekauftes Katzenfutter in einem Plastikteller vor unseren Bungalow. Gierig beginnt sie zu fressen und verschwindet daraufhin in den angrenzenden Büschen. Unsere Tage gehen dahin wie zuvor. Wir schlafen lange und gehen an den Pool, abends an die Bar. Jeden Morgen finden wir die Plastikteller leer vor und sehen die kleine weiße Katze ab und zu durch die Büsche streifen oder mit der großen schwarzen Wunde am rechten Bein zum Futter humpeln. Manchmal nehmen wir sie hoch. Die Ohren sind schwarz von Milben, durchs weiße Fell laufen dicke Flöhe und das Bein droht zu entzünden. Unser Abflug steht bevor. Ich frage mich, ob wir so abfliegen können, ob wir so abfliegen wollen. Mit einem Mal geht alles ganz schnell. Unsere italienischen Freunde besorgen eine Adresse eines benachbarten Tierarztes. Ich nehme die Katze und fahre mit meinem Bruder in den Ort, an dessen Namen ich mich nicht erinnere. Wir können die Praxis nicht finden und telefonieren mit dem Arzt, der uns von der Tankstelle abholt, bis zu der wir es geschafft haben. Ich ziehe die Katze unter dem Beifahrersitz hervor, unter den sie sich wieder verkrochen hat, und stecke sie in die Tasche, um sie zum Arzt zu tragen. Ich sehe, wie mein Bruder das Gesicht verzieht, vor Ekel beim Anblick ihrer Wunde. Der junge Arzt nimmt sie an sich und horcht ihren kleinen Brustkorb ab. Sie atmet schwer. Er tastet ihr Bein ab und röntgt es. Ich kann nicht glauben, was ich höre. Es ist nicht gebrochen. Der Arzt säubert die Wunde und ich sehe sie mir an, bevor er den Verband anlegt. Vom Kniegelenk bis zu den Zehen ist das Bein geöffnet. Ich sehe rohes Fleisch und erkenne die Muskeln. Die Ränder der Wunde sind rabenschwarz. Er spritzt ein Antibiotikum und versucht einen Verband anzulegen. Die Katze wehrt sich und schreit erbärmlich, so dass die Schwester eingreifen muss. Am Ende werde ich dazu gerufen, um sie festzuhalten. So schaffen wir es endlich zu dritt, ihr den Verband anzulegen. Sie hat bei uns allen dreien Kratzspuren hinterlassen. Sie sitzt erschöpft auf dem Arzttisch. Ich versuche sie langsam zu streicheln und höre mit einem Mal einen vertrauten Ton. Ich hatte immer Katzen in meiner Kindheit, kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen, aber hab es bei dieser nie gehört. Ein Schnurren voller Vertrauen und Augen, so blau, dass man kaum glauben kann, dass sie echt sind, die mich ansehen aus einem so mageren Gesicht, dass man den Schädel darunter sieht. Ich bitte den Arzt um einen Impfpass und ein Gesundheitszeugnis, weil ich glaube, dass es das ist, was wir brauchen, um sie auszufliegen. Genau kann uns das niemand sagen, weder der Tierarzt, noch die deutsche Botschaft, mit der wir telefonieren und die die Verantwortung an den behandelnden Arzt weiterzureichen versucht. Der Arzt gibt ihr eine Spritze, ich weiß nicht einmal wogegen, und überreicht mir den Impfpass und einen leeren Pappkarton, in dem ich die Katze transportieren kann. Ihre Freiheit ist nunmehr vorbei. Der Verband darf nicht unnötig beschmutzt werden.

Wir fliegen am nächsten Tag zurück nach Deutschland. Die kleine Katze mit uns in einem winzigen Katzenkorb, ausgelegt mit Papier. Keiner hat von uns am Flughafen in Palermo Papiere verlangt, die wir so umsichtig vorher besorgt hatten. Das Einzige, was wir tun mussten, war die Entrichtung von 15 Euro für den Tiertransport. Was soll ich mit der Katze machen, geht es mir durch den Kopf. Ich fange in diesem Semester an zu studieren, werde in Freiburg und nicht in Berlin sein und habe über die Unterbringung der Katze nicht nachgedacht, zumal auch meine Verwandtschaft bereits mit Tieren gesegnet ist.

 

2.

Ich bin in diesem Sommer 18 Jahre alt geworden und das erste Mal für längere Zeit von zu Hause weg. Ich habe mich sehr auf mein Studium gefreut, besonders darauf, selbstständig zu werden und nicht mehr unter kritischer Beobachtung meiner Eltern zu sein. Das Studium macht mir Spaß, besonders aber das Studentenleben. Manchmal sind wir nächtelang unterwegs in den Clubs dieser Stadt, so dass wir morgens nicht immer pünktlich in den Vorlesungen sitzen. Manchmal wundere ich mich über meine eigene Kondition und kann mir kaum vorstellen, wie ich dies fünf Jahre durchhalten werde. Allerdings, meine Noten sind gut und es gibt keinen Grund zur Sorge. Wenn wir feiern, sind wir am liebsten unter uns. Wir sind eine kleine Runde bestehend aus vier Kommilitonen, die alle dasselbe studieren. Mit Mädchen haben wir wenig am Hut. Irgendwie gefällt uns nie richtig eine oder wir sind uns tatsächlich selbst genug. Vielleicht sind wir auch einfach noch zu jung um uns ernsthaft zu verlieben. Ich weiß noch nicht einmal wirklich, was mein Typ ist. Gibt es so etwas überhaupt oder ist es eine Einbildung oder Zusammenfassung dessen, was einem im Leben begegnet ist? Ich jedenfalls kann es an niemandem festmachen. Kann ich es nicht? Ich wohne unweit der Uni in einem privaten Apartment, das ich mir mit einem Mitbewohner teile. Jeden Morgen steige ich auf mein Fahrrad, um Richtung Uni zu radeln. Jeden Morgen sehe ich eine Frau in einem roten Opel an der Ampel warten, immer um die gleiche Zeit. Jeden Morgen steigt ein älterer Mann zu ihr ins Auto. Ich kann sie nur durch die Scheibe sehen. Sie muss älter sein als ich, sehr blond, sehr attraktiv. Ich habe oft daran gedacht, sie anzusprechen, habe mir im Kopf Dialoge zusammengestellt, die ich gleich wieder verworfen habe, habe nach Gründen gesucht, es nicht zu tun. Vielleicht wollte ich auch nur ihr Gesicht sehen, das sich immer hinter einer Scheibe versteckt hielt, wollte ihre Stimme hören und sehen, ob danach der Zauber verfliegt.

 

Die Jahre vergehen. Ich stehe kurz vor meinem Abschluss und bin ruhiger geworden. Ich konzentriere mich auf die Prüfungen und mache Pläne, wie es weiter gehen soll, wo ich wohnen werde, wohin mich das Leben führt. Ich fahre längst mein eigenes Auto, gehe mit Mädchen aus, die meine Pläne nicht beeinflussen.

Bis ich zu meiner letzten Prüfung fahre. Ich halte an der Ampel, neben mir ein roter Opel, darin eine blonde Frau. Ich kann mich nicht erinnern, wie lange ich sie nicht gesehen habe. Oder habe ich sie einfach nicht mehr bemerkt oder bemerken wollen? Ich drehe mich zu ihr, sie lässt die Scheibe herunter. Ich sehe das erste Mal genau in ihr Gesicht. Sie sieht mich direkt an. Ich traue meinen Augen nicht. Warum beschleicht mich mit einem Mal dieses Gefühl, das ich nicht einordnen kann, was ist es, das mich plötzlich so traurig macht, warum verstehe ich nicht, was sie mir sagt? Ich sehe nur ihre Augen, so blau, dass sie fast weiß sind, so blau wie der Himmel ohne Wolken an einem Sommertag. Ich sehe wie sich ihre Lippen bewegen und merke, wie sich meine Gedanken überwerfen. Ist es das, wonach ich immer gesucht habe, kann es sein, dass es begründet ist in einem einzigen Wesen, das ich längst vergessen glaubte? Ich weiß nur noch eins. Ich muss zurück nach Berlin.

 

3.

Ich kann es kaum erwarten nach Hause zu kommen. Als ich den Bahnhof Ostkreuz sehe mit seinem vertrauten, schmuddeligen Charme, bessert sich meine Laune. Ich bin angekommen. Den ganzen Weg zuvor habe ich nur an den letzten Tag gedacht. Warum habe ich nichts gesagt, als ich endlich die Gelegenheit dazu hatte, ging es mir durch den Kopf. Warum war ich nicht in der Lage, ihr in die Augen zu sehen, obwohl ich all die Jahre darauf gewartet habe, dass sie mich ansprechen würde, weil ich selbst nicht den Mut dazu gehabt hatte. Weil sie nie allein war, weil sie zu viel Stil hatte, weil sie zu schön war oder weil ich es nicht gewagt hätte, sie mit meiner Gegenwart zu belästigen.

Getrieben von einer inneren Unruhe fahre ich in meine Straße ein und parke mein Auto an meinem gewohnten Platz. Ich gehe die Treppe hinauf und schließe meine Wohnung auf. Ich werfe  meine Tasche in die Ecke und nehme mein altes Telefonbuch aus meiner Schublade. Ich habe es seit Jahren nicht geöffnet und die Seiten sind gelb geworden. Ich suche einen Namen und finde eine Nummer. Langsam wähle ich die Zahlen und habe Angst, es könnte jemand den Hörer abnehmen und ich habe noch mehr Angst, es würde nicht passieren. Etwas drückt unheimlich auf meinen Bauch, oder ist es mein Herz, während ich in den Hörer lausche. Endlich vernehme ich eine Stimme, leise, aber vertraut. Es ist lange her, dass ich diese Stimme gehört habe. Ich habe das Gefühl, als wenn eine jahrelange Last von meiner Seele fällt, so dass ich anfangs kaum sprechen kann, als ich erkannt werde und mich ihre Worte begrüßen. Sie fragt, ob ich zum Kaffee komme, gleich morgen, dann wann ich möchte. Sie freut sich, mich zu sehen. Ich freue mich, sie zu sehen, ich kann es kaum erwarten.

Ich finde nicht gleich ihre Wohnung und muss erst danach fragen. Ich klingele an ihrer Tür und höre müde Schritte, die sich nähern. Ich sehe in ihr alt gewordenes Gesicht, erkenne die vertrauten Züge, sehe in ihre gütigen, liebenden Augen. Sie bittet mich herein und möchte alles wissen, wie ich die letzten Jahre verbracht habe, wie mein Studium gelaufen ist. Ich erzähle ihr von Dresden, von meinem Leben, von meiner Arbeit. Sie hört interessiert zu und ihre klugen Augen sehen mich an. Sie weiß, warum ich gekommen bin, weiß, warum ich mich nicht wage zu fragen, weiß, warum ich mich die ganze Zeit nicht gemeldet habe. Meine Augen suchen die Wohnung ab und ich werde unruhig. Sie bemerkt es und schlurft langsam aus dem Zimmer, lächelt vor sich hin mit ihrem alten wundervollen Gesicht und öffnet eine Tür. Ich sitze wie versteinert in meinem Stuhl, als sich eine kleine Gestalt geschmeidig durch die Tür schlängelt. Sie ist mittelgroß, sehr weiß, der Gang würdevoll, der Kopf erhoben. Sie läuft auf mich zu und sieht mir direkt ins Gesicht. Ich kann es kaum glauben, als ich ihre Augen sehe. So blau, wie ein Himmel ohne Wolken, so blau, dass sie fast weiß sind. Ich versuche sie zu berühren, aber sie zuckt skeptisch zurück. Meine Augen suchen das rechte Bein ab und finden nichts Ungewöhnliches. Ich denke an gestern und beginne zu verstehen. Ist das alles wegen dir? Kann es sein, dass mich dein Gesicht verfolgt und mir keine Ruhe lässt? Bis jetzt. Ich weiß nun, dass ich auf einen roten Opel warten werde, dass ich auf ihn warten muss, dass ich sie diesmal selbst ansprechen kann, weil ich meine Ruhe gefunden habe.

Ich drehe mich zur Gastgeberin und frage nach dem Namen der weißen Katze, meiner Katze. Sie sieht mich erstaunt an und sagt, ich müsse es doch wissen.

Das ist Kartibubba.


Ilse Treue
Sibylle

 

Schwer lag der Nebel über dem Ostkreuz, als Sybille die Bahnhofstreppen empor hastete. Pustend oben angekommen sah sie nur noch die Schlusslichter des Zuges. Ärgerlich schaute sie auf die Uhr. Dann zuckte sie hilflos mit den Schultern. Nichts zu machen, sie war zu spät dran. Wird Herbert auf sie warten? Sie hatten sich zu einem Stadtbummel verabredet, wollten durch die Schönhauser Allee schlendern, auch irgendwo etwas essen. Wann war ich das letzte Mal mit einem Mann in einer Gaststätte, überlegte Sybille. Das ist lange her. Sie war nicht mehr die Jüngste. Seit mehreren Jahren lebte sie allein und wollte es auch bleiben. In der Wandergruppe war sie Herbert begegnet. Er konnte interessant erzählen, konnte Pflanzen und Bäume bestimmen. Selbst viele Vogelstimmen waren ihm vertraut. Sie hörte ihm gern zu. Seine ruhige, besonnene Art gefiel ihr. Schnell gewöhnte sie sich an seine Nähe. Als er neulich nicht mitwandern konnte, vermisste sie ihn. Heute trafen sie sich zum ersten Mal außerhalb der Wandergruppe. Mit einer Mischung aus froher Erwartung und innerer Spannung hatte sie sich auf den Weg gemacht – und musste sich so verspäten. Sie wusste, dass Herbert großen Wert auf Pünktlichkeit legte. "Heute, im Zeitalter der Handys, hat man es nicht nötig, Freunde im Ungewissen zu lassen", meinte er oft verdrossen, wenn sich ein Teilnehmer verspätete. Worauf Sybille stets konterte, dass ein Handy nun einmal nicht jedermanns Sache sei. Sie hätte auch keines und vermisse es auch nicht. Doch heute vermisste sie es. Sie war im Betrieb aufgehalten worden, musste dann ewig auf den Bus für den Schienen-Ersatzverkehr warten. Die Krönung war aber die Baustelle vor dem Bahnhof Ostkreuz. Ehe sie den richtigen Weg zum Eingang fand, hatte sie kostbare Zeit verloren und den Pendelzug verpasst. "Es ist schon ein Kreuz mit dem Ostkreuz", seufzte sie. Und das ist erst der Anfang. Was wird da noch alles auf uns zukommen? Doch alles Lamentieren half nichts, davon kam die nächste Bahn auch nicht schneller. Jetzt hieß es warten, warten. Ihr fröstelte. Das neblige Wetter gab ihrer Stimmung den Rest. Das ist aber auch eine dicke Suppe heute! Alles erschien ihr wie durch einen milchigen Schleier. Missmutig schaute sie vom Ringbahnsteig auf die unteren Gleise hinab. Züge, die aus Erkner oder Mahlsdorf kamen, konnte man nur ahnen. Erst kurz vor dem Bahnhof tauchten sie schemenhaft auf. Die summenden Fahrgeräusche verschluckte der Nebel. Gewohnheitsmäßig schweiften ihre Blicke zum alten Wasserturm, dem Wahrzeichen dieser Gegend. Das konnte doch nicht sein! Er war weg, versteckt hinter einer weißen Wand! Angestrengt schaute sie in seine Richtung. Für einen Augenblick wurde ein Spalt sichtbar und ließ die Spitze des Turmes erkennen. Doch im nächsten Moment verschwand sie wieder. Für den kranken Bahnhof hat der Nebel eigentlich etwas Tröstliches, kam es ihr in den Sinn. Er streichelt und kühlt seine vielen rostigen Wunden. Unter seinem Schleier wirkten sie auch nicht ganz so hässlich. Eine merkwürdige Atmosphäre hing in der Luft. In dem wabernden Nebel glaubte Sybille Gestalten zu sehen, die um den Turm schwebten. Ach was, ihre Phantasie spielte ihr einen Streich. Aber nein, jetzt hörte sie ein leises Kichern wie von übermütigen Kobolden. So ein Kobold schien auf ihrem Rücken zu sitzen und ihr die Zeit zu stehlen.

Man erzählte sich, dass in dem Wasserturm die Kobolde und Geister der Bahn schliefen. Nur bei Unwetter und dichtem Nebel verließen sie das alte Gemäuer. Mit den Kobolden hatten die Geister ihre liebe Not, denn für diese begann eine lustige Zeit. Übermütig trieben sie mit den Menschen ihren Schabernack. Jetzt, wo es durch den Umbau des Bahnhofes manches Chaos gab, hatten sie besonderen Spaß. Hektische Passanten ließen sie stolpern, setzten sie in verkehrte Züge oder stellten anderen Unfug an. Schadenfroh belachten sie obendrein ihre Opfer. Dagegen mussten die hilfsbereiten Geister der Bahn pausenlos auf dem Posten sein. Unsichtbar setzten sie sich neben den Triebwagenfahrer und leiteten ihn sicher durch den Nebel. Andere Bahngeister beobachteten die schwer überschaubare Baustelle vor dem Bahnhof. Kinder und hilfsbedürftige Personen nahmen sie unmerklich an die Hand und brachten sie auf den richtigen Weg. Dabei kam es manchmal zum Streit mit den Kobolden, die in ihrem Übermut keine Grenzen fanden. Das bekam auch Sybille zu spüren, die schon den ganzen Tag von Kobolden verfolgt wurde. Zu spät bemerkte ein Bahngeist das. "Diesmal geht ihr aber entschieden zu weit", entrüstete er sich. Wie ließ sich das wieder gut machen? Der Zeitverlust war nicht aufzuholen. Man musste Herbert finden und ihn zur Geduld ermuntern. Eilig schwebte der Bahngeist davon.

Unterdessen wartete Sybille immer noch. Endlich fuhr ein voll besetzter Zug ein, der hier endete und wieder zurück pendelte. Die Fahrgäste schoben und schubsten sich heraus, die Wartenden auf dem Bahnsteig  drängten in die Bahn hinein. Bevor Sybille einstieg, warf sie einen letzten Blick zum Wasserturm. Ihr schien es, als ob die Nebelschwaden sie anlächelten. "Immer positiv denken", redete sie sich zu, obwohl sie kaum noch Hoffnung hatte, Herbert zu treffen. Sie schimpfte auf die Bahn, haderte mit sich selbst und beschwor alle guten Geister, Herbert am Treffpunkt ausharren zu lassen, wenigstens dieses eine Mal. Aber kein Geist hörte sie. Herbert war nicht da. Ratlos stand sie am vereinbarten Platz, blickte in alle Richtungen, doch vergebens. Warum nur hat er nicht auf mich gewartet, ging es ihr durch den Kopf. Konnte er sich nicht denken, dass Schienenersatz- und Pendelverkehr einen Zeitplan durcheinander bringen? Die Vorfreude wich einer Enttäuschung. Es sollte eben nicht sein. Schon bei der ersten kleinen Bewährungsprobe zerbrach ihre aufkeimende Freundschaft. Das tat weh.

Mit bitteren Gedanken trat sie den Heimweg an. Traurig stieg sie am Bahnhof Ostkreuz aus dem Zug. Traurig blickte sie noch einmal zum Turm, der verschwommen aus dem sich sachte lichtenden Nebel herausschaute. Noch immer schwebten Wattefetzen um ihn herum. Wieder kam es ihr vor, als ob freundliche Gestalten herab lächelten. Doch diesmal konnte sie nicht positiv denken. Wie dumm sie war, sich Hoffnungen zu machen. Sie hatte wirklich geglaubt, ihrem Leben noch einmal eine Wendung geben zu können. Der Traum zerfloss im Nebel. Resigniert ging sie das letzte Stück zu Fuß nach Haus.

Mechanisch schloss sie die Tür auf. Mechanisch hängte sie ihre Jacke auf den Bügel. Mechanisch nahm sie den Hörer ab, als das Telefon klingelte. Sekunden später leuchteten ihre Augen. "Wo bist du? Von wo rufst du an?" — "Wie ist das passiert? Brauchst du Hilfe?" — "Gut, ich komme." "Ich konnte dich leider nicht erreichen", entschuldigte sich Herbert. Sibylle war wie ausgewechselt. Herbert hatte sich den Fuß verstaucht. Zum Glück war nichts Schlimmeres passiert. Schnell legte sie eine Flasche Wein in ihre Tasche und machte sich auf den Weg.

Es wurde ein harmonischer Abend. Sie hatten sich viel zu erzählen. Herbert genoss ihre Fürsorge. In Sybille regte sich ein lange nicht mehr gekanntes Gefühl von Geborgenheit. Sie dachte an die Nebelschwaden, die ihr zugezwinkert hatten, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. "Habt Dank!", sprach sie still zu sich selbst. Gleich morgen wird sie sich ein Handy kaufen. Schließlich schweben nicht jeden Tag freundliche Gestalten um den Wasserturm.

Leise verließ der Bahngeist die beiden. Hier war er nicht mehr vonnöten. Für ihn wurde es höchste Zeit, in den Turm zurück zu kehren. Das Wetter hatte sich gebessert. Die Sicht wurde  klarer. Mit dem Verschwinden des Nebels mussten auch die Kobolde und Geister verschwinden. Wer nicht rechtzeitig zurückfand, wurde vom Wind verweht und später von der Sonne aufgesogen. Erschöpft schlüpfte er in letzter Minute durch einen Fensterspalt, wo er von den anderen Geistern ungeduldig erwartet wurde. Nun, da auch der Letzte heim gefunden hatte, fielen alle in einen tiefen Schlaf. Manch einer lächelte im Traum. Die Kobolde kicherten noch eine Weile miteinander. Dann schliefen auch sie ein. Um den Wasserturm, der jetzt wieder wie eh und je stumm dastand, wehte sanft der Nachtwind. Sobald aber die nächsten Nebel aufziehen, schweben die Bahngeister vom Turm herab und verrichten unerkannt ihre hilfreiche Arbeit.


 

Peter Grünwald
La belle nébuleuse

 

1

Reisende, die sich mit der Ringbahn dem Ostkreuz von Norden her nähern, befinden sich in luftiger Höhe. Sie überfliegen die Frankfurter Allee, huschen an Fensterreihen, Fabriken, Hinterhöfen und Brandmauern entlang, immer in Höhe der dritten, vierten Etage, und staunen nicht schlecht, wenn der Zug dann hält und sie sich plötzlich von Leuten umringt sehen, die sich auf Augenhöhe mit ihnen befinden.

Ich bin am Ostkreuz. Es ist ein blanker, heller Vormittag, ungewöhnlich für diesen sich allmählich neigenden November. Die Gleise, sonst nur dazu da, den Zügen den Weg leicht zu machen, blitzen und blinken heute, als redeten sie aufgeregt miteinander; sie treffen sich in Knäueln, verabreden etwas, um dann wieder nach allen Richtungen auseinander zu stieben.

Aber ich muss weiter, stadteinwärts, also hinunter, den Abermillionen Füßen, die diese Treppe schon getreten haben, ein weiteres Paar hinzufügend. Ich bin auf dem Weg zu "Meinem Antiquariat". Ich habe es vor ein paar Jahren zufällig entdeckt und bin oft genug wiedergekommen, um es als "Mein Antiquariat" zu betrachten. Es befindet sich in einer kleinen Seitenstraße, eigentlich ist es ein Durchgang, eine Passage, die nur auf sehr guten Berliner Stadtplänen verzeichnet ist. Sie liegt so etwa zwischen Torstraße und Weinmeisterstraße (oder war das die Münzstraße?). Mehr will ich nicht sagen. Es ist ein verschwiegenes Antiquariat in einer verschwiegenen Gasse. Und ich möchte, dass das so bleibt.

Auch das Gebäude, dessen beide unteren Etagen das Antiquariat einnimmt, ist ungewöhnlich für Berlin: schmale Fassade, heiteres, aber solides, üppiges Neobarock aus dem späten Neunzehnten, unverputzter Kalksandstein, unrestauriert, aber völlig intakt. Man wähnt sich plötzlich in Paris, in einer Gasse im Marais etwa. Der Erker über dem Portal wird von zwei Karyatiden gestützt. Im Gegensatz zu den üblichen Atlassen oder Herkulessen, sind es hier aber zarte Frauen, die trotz ihrer Schwerstarbeit die anmutigen Linien wahren und entspannt miteinander zu plaudern scheinen.

Ich bin kein Büchersammler, keiner von denen, die über die Antiquariate herfallen, ständig auf der Jagd nach Inkunabeln und raren Erstausgaben. Es wäre auch viel wahrscheinlicher, auf einem Flohmarkt zwischen all dem Konsalik- und Danella-Altpapier in der Ein-Euro-Wühlkiste auf eine Erstausgabe von Musil, Rilke oder Frisch zu stoßen als hier. Hier kennt man sich mit Büchern aus. Der Besitzer ist ein kleiner alter Mann, freundlich aber wortkarg, so gar nicht wie einer, der am Kaufen oder Verkaufen ein berufsmäßiges Interesse hätte. Und dann ist da noch eine junge Frau, die meistens mit Büchern beladen durch den Laden huscht. Ich vermute, es ist eine Verwandte des Besitzers, vielleicht eine Enkelin. Obwohl ich öfters hier bin, gelte ich wohl nicht als Stammkunde, dazu kaufe ich zu selten etwas. Aber als die junge Frau mir das erste Mal einen Kaffee anbot, vor ein paar Monaten, war das so, als hätte ich die höheren Weihen empfangen, als sei ich aufgenommen worden, nicht als ein Bücherkäufer — was hier wohl eher profan wäre —, sondern als Kenner. Ich genieße die pfeffrige Atmosphäre, die alte Bücher verbreiten, stöbere durch die Reihen, lese mir die Buchrücken vor und nicke zustimmend, wenn ich auf alte Bekannte treffe.

Heute früh wurde mir allerdings durch Lisas überraschenden Anruf klar gemacht, dass "Mein Antiquariat" gar nicht so ganz meins ist, es womöglich nie wirklich meins war. Es ist Lisas Antiquariat, sie arbeitet nämlich dort, wie ich jetzt weiß.  Lisa ist meine Ex-Freundin. Unsere Wege haben sich seit drei Jahren nicht mehr gekreuzt. Es hieß, sie habe einen Langweiler geheiratet und ließe sich nirgends mehr sehen. Aber das hat mich nicht überrascht. Auch andere Frauen haben, nachdem sie mich verlassen hatten, Langweiler geheiratet. Warum das so ist, wage ich allerdings nicht mich zu fragen.

 

2

Ich habe kaum den Laden betreten, da klappt irgendwo eine Tür und Lisa kommt auf mich zu. Lisa sieht aus wie früher. Hat sie sich wirklich nicht verändert oder liegt das an mir, weil ich es so will?

Lisa hält sich nicht lange mit der Begrüßung auf. Sie weist mir den Weg in die Tiefen des Ladens, es geht ein paar Stufen hinauf, und dann sind wir in einem kleinen Büro im Zwischenstock. Es ist ein niedriger Raum mit einem halbrunden Fenster mit Blick in einen kleinen Hof, in dem eine mächtige, einsame Platane steht. Sie steht dort so disparat, dass ihr Anblick mich sofort fesselt, verwundert, ja fast erschreckt. Der Baum ist augenscheinlich sehr viel älter als die Häuser dieses Viertels, die sind aus dem späten neunzehnten Jahrhundert und müssten damals um den Baum herum gebaut worden sein.

"Der Baum ist mein Freund", sagt Lisa, die meinem Blick gefolgt ist, "er erzählt mir vom Wechsel der Jahreszeiten".

Der Raum ist finster, es gibt einen großen Schreibtisch, Regale, Stühle und ein altes Ledersofa. Überall stapeln sich Bücher. Der Computermonitor zeigt wirr anmutende Tabellen, ein anderer Bildschirm zeigt das Innere des Ladens. Lisa deutet auf den einzigen freien Stuhl, ich setze mich. Lisa setzt sich auf eine Bücherkiste und zündet sich eine Zigarette an. Sie raucht immer noch diese maisgelben, dicken Gitanes wie früher. Wo sie die wohl her hat?

"Und du handelst jetzt mit alten Büchern?" Ich merke sofort, dass die Frage herablassend ironisch klingt. Was rede ich da? Was ist mit mir los? Zum Glück geht Lisa gar nicht darauf ein.

"Meine Arbeit ist es, Ordnung und Übersicht in den Buchbestand zu bringen, etwas, was hier schon seit Generationen immer wieder begonnen und ebenso oft aufgegeben worden ist. Aber ich will es schaffen. Ich bin nicht versessen darauf, aber es macht mir Freude. Ich liebe diese Arbeit: Die Bibliothek von Babylon neu erschaffen, als Datenbank. Manchmal stoße ich auf echte Schätze. Und von Zeit zu Zeit macht der Laden mit meiner Hilfe ganz gute Geschäfte. Und dann freuen wir uns alle, obwohl es niemand für wirklich wichtig hält."

"So kenne ich dich gar nicht."

"Ach nein?" Lisa lächelt. "Wer kennt schon wen. Manchmal verirrt sich jemand aus meinem früheren Leben hierher. In der ersten Zeit bin ich dann meistens nach vorn in den Laden gegangen, um ihn zu begrüßen. Das habe ich dann bald aufgegeben. Ich kann mein Leben niemandem erzählen und ich mag es nicht hören, wenn andere mir ihr Leben erzählen. Es sind ja meistens Lügen."

"Aber ich erzähle doch gar nichts."

"Dann ist es ja gut. Wenn jetzt jemand, den ich von früher kenne, den Laden betritt, begnüge ich mich damit, seine Anwesenheit mit einem Blick auf dem Monitor der Überwachungskamera zu registrieren. Ich beobachte ihn eine Weile, lasse ein paar Bilder aus einer fernen Vergangenheit vorbeiziehen und wende mich wieder meiner Arbeit zu. C’est tout."

"Und warum bin ich jetzt hier und nicht auf deinem Monitor?"

"Weil du verrückt genug bist, dich von Geheimnissen inspirieren zu lassen." Sie schlägt das Buch, das sie die ganze Zeit auf dem Schoß gehalten hat, auf, entnimmt ihm einen Zettel und reicht ihn mir. "Sieh mal, was ich gefunden habe."

Es ist ein zweifach gefaltetes Blatt brüchigen bräunlichen Papiers in einem altmodischen Format, Oktav nennt man das wohl, bedeckt mit hebräischen — für mich allerdings völlig kryptischen — Zeichen, geschrieben mit einer Feder und brauner oder braun gewordener Tinte. Im unteren Drittel des Blatts, größer geschrieben und durch Einrahmen hervorgehoben:

52 31 06 N 13 24 36 E 39049,13889

"Ich kenne einen Theologiestudenten, der das Hebraicum hat, ein alter Kunde. Der sagt, diese hebräischen Zeilen ergeben keinen Sinn, wahrscheinlich willkürlich aus irgendwelchen talmudischen Schriften abgemalt. Aber das hier", Lisa zeigt auf die umrandete Zeile, "das hier ist wirklich interessant!"

"N, E. Das sind offensichtlich Koordinaten. Nördliche Breite, östliche Länge, Grad, Minuten, Sekunden…"

"Und weißt du, wo das ist? Ostkreuz! Ein paar Meter südlich der Stadtbahngleise und ein paar Meter westlich von der Ringbahn."

"Und was soll dort sein, eine Böschung mit Unkraut? Ein verfallener Schuppen? Ein keltisches Grab? Die Kiste mit dem Heiligen Gral?"

"Ich wusste, dass es dir gefallen würde", erwiderte sie ungerührt, "genau dort steht der alte Wasserturm!"

"Und die anderen Ziffern?"

"Paulchen, unser Praktikant, hat es herausgefunden: Seit Computer mit dem Datum rechnen, hat für sie jeder Tag, beginnend beim 1. Januar 1900, eine fortlaufende Nummer. Die Nummer 39049 ist demnach der 28. November 2006." Lisa blickt mich triumphierend an. Auf ihrem Gesicht zeigen sich erste hektische Flecken. Allmächtiger, die Frau ist in Fahrt! Und um auch etwas beizutragen, sage ich: "Das ist morgen."

"Ganz recht."

"Verstehe. Und die Ziffern nach dem Komma, das könnte die Uhrzeit sein."

"Genau. Aber der Witz ist, diese Ziffern stellen keinen Wert dar, sondern eine Relation. Prozent, Promille, so etwas. Darauf muss man erst mal kommen!"

"Ah ja. Und 139 Promille von 24 Stunden wären demnach…"

"Drei Stunden, zwanzig Minuten. Ich hab's schon ausgerechnet."

"Die Nachricht ist also: Das Ereignis — was immer das ist! — findet am 28. November 2006 um drei Uhr zwanzig im oder am Wasserturm statt!"

"Ich sehe einmal nach, ob ich die beiden ersten Bände zu dem Ding da noch finde. Geh nicht weg." Und schon, mit wehendem Pferdeschwanz, ist Lisa verschwunden.

Wieso kommt es niemand, mir auch nicht, seltsam vor, auf einem Zettel, der augenscheinlich mindestens vierzig, fünfzig Jahre alt ist, wenn nicht noch älter, ein Comupterdatum zu finden? Ich blättere in dem Buch, das den geheimnisvollen Zettel enthielt. Es ist der dritte Band von "The Sacred Magic of Abramelin the Mage", MacGregor Mathers’ Übersetzung der hebräischen Ausgabe von 1548, verlegt bei John M. Watkins, London, 2. Auflage, 1900, lese ich auf dem Titelblatt. Es enthält seitenweise magische Wortspielquadrate, aus denen, wie es heißt, die Zukunft gelesen werden könne. Falls es zwischen dem Buch und dem Zettel darin einen Zusammenhang gibt, werden wir vor unlösbaren Fragen stehen. Kabbalistische Zahlenmystik ist nun nicht gerade mein Fachgebiet.

Heute früh war mein Leben noch einfach. Es drehte sich um die Frage, ob meine Haushaltskasse es erträgt, wenn ich der Novemberdepression in den Süden entfliehe oder nicht.

Draußen ist es unterdessen dunkelgrau geworden. Die Platane streckt ihr gelbgrünbräunlich geschecktes Gerippe in das Himmelsviereck weit über sich. Es regnet. Und jetzt sind sogar Schneeflocken dazwischen. Vormittage im Spätherbst nach dem ersten Schnee, das erinnert mich an etwas, trägt mich weit fort:

Ich sehe Lisa, Lisa vor sechs Jahren, ihre graugesprenkelten Augen, die immer ein wenig verwirrt schauen, zumal jetzt, wo sie ihre Brille abgenommen hat. Sie klopft sich den Schnee vom Mantel. Für dieses Wetter ist sie wieder einmal viel zu dünn angezogen. Sie hat kalte Hände und eine kalte Nase. Sie trinkt gern Tee "mit etwas drin", auch am frühen Morgen. Ihre Stimme ist leise, auch wenn sie flucht, wie jetzt, auf das Wetter. Manchmal hört man einen nördlichen Akzent heraus. Sie badet gern lange, summt dabei vor sich hin und scheint weit weg zu sein, in ihrer Kindheit vielleicht oder noch früher. Meine Jeans passen ihr gut, beinahe noch besser als mir, jedenfalls sieht sie viel besser darin aus, finde ich. Ihre Brüste sehen immer so aus, als wäre ihnen kalt…

"He! Was ist mit dir? Träumst du?" Lisa ist zurück, ohne Bücher, aber mit einem Zettel in der Hand. Und sie sieht mich an, als wüsste sie genau, woran ich bis eben gedacht habe. Und ich bemühe mich, nicht so auszusehen, als befürchtete ich das.

"Die fehlenden Bände gibt es nirgends", sagt Lisa, "aber ich habe mit Sophie Brouillard telefoniert. Sie wird heute Nacht am Ostkreuz sein. Du triffst sie dort. Sie kennt sich aus und weiß, worauf bei Dingen, die, nun ja, ungewöhnlich sind, zu achten ist. Außerdem kennt sie Matt."

"Das wird ja eine richtige Zusammenkunft: erst eine Sophie und dann auch noch Matt. Was sind das für Leute?"

"Sophie ist Sophie, du wirst schon sehen. Und Matt, den sie kennt, das ist Matthias Matulke. Matt gehört der Turm."

"Die Deutsche Bahn hat diesem Matt den Ostkreuzturm verkauft?"

"Nein, er hat ihn besetzt. Und die Bahn tut nichts dagegen, so lange er für sich bleibt und sich unauffällig verhält. Ein komischer Kauz, durchgeknallt, früher mal Ethikprofessor gewesen. Er soll für die DDR in der UNO-Kommission mitgemischt haben, die eine internationale Konvention zur Vorgehensweise bei Kontakten mit Außerirdischen ausgearbeitet hat, in den Siebzigern. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Matt ist unser Mann, falls du in den Turm hinein musst."

 

3

Der S-Bahn-Zug fährt wie durch Watte. Das Ostkreuz sehe ich nur als Namen, als leuchtend durchlaufenden Schriftzug im Innern des Waggons. Draußen ist nichts. Nichts außer Nebel. Es ist kurz vor drei. Lisa hat mir drei Dinge mitgegeben: den Abramelin ("Falls es doch mit dem Buch zusammenhängt."), ihr Mobiltelefon ("Halte mich auf dem Laufenden!") und eine Packung von ihren Gitanes Maïs ("Damit du durchhältst!"). So also werden einsame Krieger für eine heikle Mission ausgerüstet! Ein wenig erinnert mich das an unsere Kinderspiele, Lisas und meine. Da ging es auch immer darum, Geheimnisse zu lüften oder zu bewahren. Unsere ersten erotischen Geheimnisse waren dann auch so geheim, dass ich sie nicht einmal meinem Tagebuch anvertraut habe, sondern ein zweites, noch geheimeres anlegte, ein Schattentagebuch sozusagen, das ich sogar vor mir selber versteckte. Ich habe es später nie wieder gefunden.

Der Nebel ist undurchdringlich. Ich sehe die Bahnsteigkante erst, wenn sie eine Handbreit vor meinen Füßen auftaucht. Der Nebel dämpft alle Geräusche, kein Zuggeklapper mehr, keine Stimmen. Und dennoch kommt es mir laut vor, dieses Scharren, Schlurfen, Wispern überall. Das ist wohl so, weil die Blindheit meine Ohren geschärft hat.

Ein schmaler Schatten, der sich kaum merklich von dem ihn umgebenden milchigen Grau unterscheidet, schwebt auf mich zu. "Bist du bereit?", flüstert eine Frauenstimme dicht an meinem Ohr. Das muss Sophie sein.

"Klar bin ich bereit. Aber wofür?" Meine Worte sind nur noch ein Selbstgespräch, denn der Schatten ist schon wieder verschwunden.

Manchmal reißen die Nebelschwaden auf und ich kann die Mütze vom alten Wasserturm sehen. Was mag er enthalten, jetzt, da die Züge schon lange nicht mehr mit Dampf fahren?

Zwei tanzende Schatten tauchen vor mir auf, gestikulierend debattierende junge Männer.

"Wenigstens kann ich behaupten, mich immer wie ein Gentleman benommen zu haben", sagt der eine.

"Aber vielleicht warst du auch nur ein Trottel!", sagt der andere.

Dann sind sie wieder fort.

Ich höre einen tiefen, Sekunden anhaltenden Ton. Dann Stille. Dann wieder dieser Ton. Das ist ein Nebelhorn! Matt hat ein Nebelhorn auf seinem Turm!

Und jetzt erscheint wieder Sophie — ich halte diesen Schemen für Sophie — aus dem Nebel: "Haben Sie das Buch? Ich brauche das Buch!"

Die beiden Schattenmänner kommen zurück.

"Das Leben ist anstrengend. Und ist es einmal nicht anstrengend, ist es langweilig", sagt der eine.

"Ja ja, immer so zwischen Stress und Tristesse verrinnt das Leben", sagt der andere.

Sophie huscht an mir vorbei und zischt: "Das Buch! Und gehen Sie weg!" Dann ist sie wieder fort, vielleicht wegen des dicken alten Mannes, der plötzlich neben mir steht, wirres Haar, nachlässig übergeworfener Mantel, darunter, sehe ich, trägt er einen Schlafanzug. Ein Typ aus der Nachbarschaft? "Hören Sie das", krächzt er, "da ist es wieder! Dürfen die das überhaupt? Ich kann nicht schlafen! Jedes Mal bei ein bisschen Nebel dieses verdammte Getute! Ich werde sie verklagen!"

Ich find’s schön, so ein Nebelhorn. Es erinnert mich ans Meer. Ich bedauere manchmal, dass Berlin nicht an einem Meer liegt.

Durch einen Riss im Nebel kann ich für Augenblicke bis zum Turm sehen. Dort, irgendwo zwischen den Gleisen, sehe ich Sophie stehen. Oder schweben, denn ihre Füße sehe ich nicht. Sie ist schön, sehr schön sogar, so weit ich das sehen kann, und wütend, das sehe ich ganz deutlich. Sie spricht zu mir. Ich verstehe nichts, kann aber von ihren Lippen Wörter wie "Das Buch!" und "Idiot!" ablesen. Dann ist sie verschwunden.

Sophie. Das kommt von Sojia, das ist Griechisch und bedeutet Weisheit. Welch eine Ironie!

 

4

Zwei Tage später erfahre ich, dass das Gelände um den Wasserturm seit vorgestern mit Drahtgitterzäunen umstellt wäre. Den Leuten habe man etwas von "archäologischen Fundstätten" erzählt. Andere behaupten, der Turm wäre in jener Nacht plötzlich giftgrün gestrichen gewesen und ein Trupp vom Grenzschutz hätte die ganze Nacht geschrubbt, um das Zeug bis zum Hellwerden wieder wegzubekommen. Und was die echten Verschwörungstheoretiker dazu meinen, kann man sich leicht ausmalen.

Hin und wieder, wenn ich das Ostkreuz passiere, steige ich aus, setze mich für ein paar stille Minuten auf eine Bahnsteigbank und starre den Turm an. Näher heran komme ich nicht, gleich hinter den Gleisen beginnt ein hoher Metallgitterzaun. Ich habe den Abramelin bei mir, allerdings in der Guthschen Übersetzung von 2006. Es ist ein krauses Buch, aber mehr auch nicht. Es ist viel zu neu, um magisch zu sein. Niemand weiß etwas von Matt. Und Sophie? Als Feenerscheinung war sie umwerfend, als Göttin der Weisheit eine Enttäuschung.

Und dann dieser Turm da. Irgendwann werde ich den Dingen auf den Grund gehen und hinaufsteigen. Ja, so ist das, manchmal muss man hinauf, um auf den Grund zu kommen. Aber nicht heute.


Katharina Triebe
Die Gunst der Stunde

 

"Hallo, ihr Lieben, recht schönen guten Morgen!" Gut gelaunt tönte Plackmüllers Stimme durchs Büro. Einige Kollegen nickten ihm zu, andere waren schon eifrig am Telefonieren. Die Sekretärin klapperte fröhlich mit dem Kaffeegeschirr und balancierte schwungvoll das Tablett an ihm vorbei ins Büro des Chefs. Plackmüller schlenderte zu seinem Schreibtisch, schob den Aschenbecher zur Seite und stellte die Aktentasche ab. Eigentlich war seit fünf Minuten Arbeitszeit in der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, kurz BfA, höchste Zeit also, sich der Akten anzunehmen, aber bevor er richtig loslegte, musste Plackmüller unbedingt noch eine Sache loswerden. Er tippte seinen Kollegen an. "Na, Bernhard, schon Pläne für’s Wochenende?" Der legte seine Listen beiseite und blickte auf. "Ja, aber bestimmt nicht so aufregende wie du!" Plackmüller grinste. Er war als Frauenheld bekannt und hielt mit seinen Bekanntschaften auch nicht hinter dem Berg. Er war ein flotter Kerl, konnte amüsant  plaudern und das Geld saß ihm locker in den Taschen. Wenn er von seinen Errungenschaften erzählte, ruhte im Büro die Arbeit und alle lauschten seinen Histörchen. Der einzige, den sie unberührt ließen, war Heinevetter. Ein hoffnungsloser Fall in punkto Frauen, der, obwohl bereits Mittdreißiger mit schwindender Haarpracht, bis vor kurzem noch bei seiner Mutter gewohnt hatte. Er galt als schüchtern, hielt zu niemandem Kontakt und vergrub sich am liebsten völlig in seine Arbeit. Mit verbissenem Eifer blätterte er auch heute wieder in seinen Unterlagen, markierte hier eine Zeile, unterstrich dort einen Absatz.

Plackmüller hatte inzwischen flugs ein Foto aus seiner Aktentasche gezogen, glättete liebevoll die Ecken und zeigte es stolz für alle sichtbar hoch. "Sie heißt Sylvia!" Nicht nur Bernhard, auch die anderen traten nach und nach näher. Das Foto war schon etwas ramponiert, zeigte eine üppige Blondine mit prächtigen Locken und verdammt hübschen Beinen, die auf einer Parkbank saß. "O lala, wo hast du die denn aufgegabelt?", rief einer bewundernd. Plackmüller lächelte geschmeichelt. "Aufgegabelt ist zuviel gesagt, wir sind heute Abend um 20 Uhr am Bahnhof Ostkreuz verabredet. Ich habe sie über eine Annonce kennen gelernt." Er tat höchst geheimnisvoll und kostete die Aufmerksamkeit der Kollegen genüsslich aus. "Als Erkennungszeichen werde ich eine rote Rose tragen und mein grünes Samtjackett anziehen." "Gott, wie romantisch!" Die Sekretärin kicherte und schaute sich das Foto neugierig an. "Na, dann viel Spaß!" Plötzlich ging die Tür auf und der Chef trat ein: "Meine Damen und Herren, gibt es etwas Wichtiges, was Sie von der Arbeit abhält? Es ist bereits zwanzig Minuten nach neun!" Mit scharfem Blick hatte er das Foto erspäht und war zornig errötet. Rasch zerstreute sich der Kreis und alle begaben sich möglichst unauffällig zu ihren Plätzen. Der Chef hasste lange Privatgespräche, außerdem stand die Festsetzung der jährlichen Prämienhöhe vor der Tür, wer wollte sich da schon unbeliebt machen? Kurze Zeit später war nur noch das Rascheln von Papier zu hören.

 

Es war wie verhext; ausgerechnet heute, wo Plackmüller zeitig Feierabend machen wollte, um zu seinem Rendezvous zu eilen, schüttete ihn der Chef mit Arbeit zu. Stapelweise Akten mit Beschwerden von Bürgern türmten sich auf seinem Tisch, zu denen dieser noch am gleichen Tag Stellungnahmen wünschte. Fast sah es so aus, als wolle sich der Chef an ihm rächen wegen des Auftritts am Vormittag. Nervös blickte er auf seine Armbanduhr. "Es hilft alles nichts, notfalls muss ich gleich von der Arbeit aus zum Bahnhof Ostkreuz fahren, eine Rose kann ich dort immer noch kaufen", murmelte er vor sich hin. Das Büro hatte sich inzwischen geleert, selbst Heinevetter machte heute zeitig Feierabend. Als der Zeiger der Uhr schon bedrohlich nahe an die Acht gerückt war, klappte Plackmüller mit lautem Knall den letzten Ordner zu. "Geschafft!" Mit wehenden Haaren rannte er die Treppe der BfA hinunter. Zwar waren es nur zehn Autominuten bis zum Ostkreuz, aber er musste ja noch rasch zum Blumenstand.

Draußen empfing ihn dichter Nebel. Nasskalte Schwaden hüllten ihn ein, aus denen nur die Lichter der vor ihm fahrenden Autos rot und gelb hervorschimmerten. Was war heute nur los? Erst ging es nur im Schritttempo voran, dann standen sie ganz. Vorne am Eingang zum Bahnhof Ostkreuz musste etwas passiert sein. Undeutlich erkannte er eine dunkle Menschentraube. Kurz entschlossen wendete er und fuhr einen Schleichweg. Bei diesen Sichtverhältnissen musste man schon ausgesprochen ortskundig sein, um sich zurechtzufinden. Plackmüller kannte sich aus. Auf dem Bahnhof Ostkreuz herrschte reges Gedränge, wegen des Nebels hatten viele Züge Verspätung und die Wartenden schimpften. Auf Bahnsteig D gab es einen Blumenkiosk – nur leider waren ausgerechnet rote Rosen ausverkauft, gelbe gab es und rosafarbene, aber rote nicht. "Bei dem Nebel sieht Ihre Freundin die Farbe sowieso nicht richtig", ulkte der Verkäufer und fügte hilfsbereit hinzu: "Versuchen Sie es doch mal am Kiosk Ausgang Sonntagstraße." Also wieder runter vom Bahnsteig D und hin zum Ausgang. Tatsächlich, dort hatten sie noch rote Rosen. Die Uhr war inzwischen auf Viertel nach acht vorgerückt. Hoffentlich wartete sie noch.

 

Diesmal würde es klappen. Sylvia verspürte gleich beim Aufstehen ein gutes Gefühl. Sie hatte extra einen freien Tag genommen, um nur ja genug Zeit für die Vorbereitungen zu haben. Als sie gegen Mittag vom Frisör zurück kam, stieg langsam Unruhe in ihr auf. Immer besorgter wurde ihr Blick aus dem Fenster. Der Nebel draußen wurde dichter und begann schließlich als Nieselregen herab zu fallen. Für ihre Frisur konnte das Wetter nicht ungünstiger sein. Die ganze  Pracht würde in sich zusammenfallen. Andererseits war Nebel wieder gut, um etwas zu kaschieren. Um ehrlich zu sein, war Sylvia nicht mehr ganz so jung wie auf dem Foto, die Figur weniger straff, der Teint nicht mehr ganz so frisch. Doch was half es, niemand wurde mit der Zeit jünger. Lange vor der verabredeten Zeit brach sie auf. Der Nebel war dicht und die Sicht reichte höchstens fünfzig Meter. Kurz bevor sie in den Eingang zum Bahnhof einbog, sah sie die Bescherung. Jemand hatte einen Schäferhund überfahren, der nicht angeleint gewesen und einfach auf die Straße gerannt war. Er war tot. Ringsumher standen Leute, gafften und hielten den Verkehr auf. Sylvia lief weiter, rein in den Bahnhof. Auf Bahnsteig B stellte sie sich gut sichtbar in Positur und wartete aufgeregt. Ihr Blick eilte immer wieder zur Uhr.

Da kam er ja! Sie strahlte. Auch er hatte sie erspäht und winkte mit der Rose. Seine Augen leuchteten vor Freude. Ein genauerer Beobachter hätte darin auch eine Spur von Triumph entdecken können, aber dafür war es wohl zu neblig an diesem Abend.

 

"Tach!" Brummig betrat Plackmüller am Montagmorgen das Großraumbüro. "Na, wie war’s?" "Was?" "Na, euer Treffen am Freitag am Ostkreuz, mit Sylvia, du weißt schon!" Neugierig starrten jetzt alle auf Plackmüller. Der winkte bloß ab. "Vergiss es, erst kam ich zu spät aus dem Büro raus, dann stand ich im Stau wegen eines Unfalls und dann hat sie entweder nicht gewartet oder ich habe sie nicht gefunden. Dämlicher Nebel." Damit war für Plackmüller das Thema erledigt. Hastig zündete er sich eine Zigarette an, blies den Rauch aus und machte sich mit unterdrücktem Zorn an die Arbeit. Ihn versetzte man nicht so ohne weiteres. Das ärgerte ihn maßlos, ging hier aber Keinen etwas an. Mit vielsagenden Blicken machten sich die Kollegen wieder an die Arbeit, teils schadenfroh, teils gleichmütig. Nur Heinevetter schaute versonnen lächelnd aus dem Fenster. War doch ein verdammt netter Freitagabend mit Sylvia gewesen. Wie clever von ihm, schnell nach Hause zu laufen, sein grünes Jackett anzuziehen und im Süßwarengeschäft eine Marzipanrose zu kaufen. Sylvia hatte das besonders originell gefunden. Und der Chef war ihm auch dankbar gewesen für den Tipp, Plackmüller die Bürgerbeschwerden abarbeiten zu lassen. Wie gut der Nebel doch war, so hatte Sylvia auf den ersten Blick gar nicht erkannt, dass der Mann, auf den sie wartete, einige Jahre älter war als gedacht. Bis der Nebel sich verzog, hatte längst die Sympathie gewonnen und das Äußerliche in den Hintergrund gedrängt. Heute würden sie sich wieder sehen. Heinevetter rieb sich vergnügt die Hände. Es lebe der Nebel!


Holger Hermann
Der Türsteher

 

Thomas, der Wert darauf legt, nur Tom genannt zu werden, blickt an diesem Samstagnachmittag im Winter 2007 aus dem Fenster seines Wohnzimmers; seit letzter Nacht ist er 32 Jahre alt.

In dem Raum stehen ein großes graues Metallbett, eine abgewetzte schwarze Ledercouch, ein neues TV-Gerät und eine alte Kommode, die völlig mit Fitnesspräparaten in XL-Abpackungen und Colaflaschen zugestellt ist. Die dunkelbraunen Tapeten an den Wänden sind durch den Rauch von Toms Zigaretten und die Ofenheizung vergilbt und stammen wie die mit Sportsachen übersäten Fußbodendielen noch aus Vorwendezeiten.

Die ganze Wohnungseinrichtung ist eigentlich nur noch hässlicher Sperrmüll, aber Tom hat das noch nie wirklich wahrgenommen.

Tom ist 194 Zentimeter groß, hat einen kräftigen, gut modellierten Körper, dazu ein Gesicht mit einem ausgeprägten Kinn und stahlblauen Augen. Die Jungs auf der Arbeit nennen ihn deshalb den schönen Tom, was Tom mag, denn er ist sehr eitel.

Sein Blick schweift über den ewig tosenden Autoverkehr, der von der Elsenbrücke kommend auf die Stralauer Allee einbiegt zu den alten Kränen des Behala- Osthafens. Sie liegen regungslos da, daneben fließt träge die Spree. Heute ist sie graugrün bis schwarz, völlig leer ohne irgendeinen Vogel, nicht ein einziges Schiff befindet sich auf ihr. Bis zum Frühling, wenn das angeregte Geschnatter der Passagiere auf den unzähligen Ausflugsdampfern sie wieder zu neuem Leben erweckt, hat sie immer etwas Trostloses an sich, wie Tom findet.

Auf der anderen Uferseite stehen die riesigen Treptowers und verkünden ihren Glauben an wirtschaftliche Macht. Obwohl auch das Badeschiff der Arena, die Designerläden von Berlin-Labels, MTV und die Universal Studios nur ein paar hundert Meter von hier entfernt liegen, ist die Gegend hier absolut nicht hip.

Kurz gegenüber seiner Wohnung liegt in einem genauso von Autoabgasen gezeichneten, schmutzig hellgrünen Haus, wie die ganze Ecke hier, die Kneipe, wo schon am Vormittag die immer gleichen Typen die immer gleichen Geschichten erzählen, um ihre Zeit totzuschlagen. Die Kneipe spielt entweder gar keine Musik, Siebziger-Jahre-Schlager oder alte laute Rockmusik. Wer dann noch das Bedürfnis nach einem Gespräch hat, muss brüllen. Doch die meisten sitzen hier so lange das Geld reicht und sie sich auf dem Hocker halten können, alleine mit ihrem Bier da.

Ein paar Mal war er nach der Arbeit zum Frühstück ab sechs Uhr dort und hatte Glück, sie spielten jedes Mal von Rammstein "Mein Herz brennt", was er mag. Vielleicht hat die Betreiberin der Kneipe aber auch einfach nur eine begrenzte CD-Sammlung, wundern würde es Tom nicht.

Weil er aber überhaupt keinen Alkohol trinkt, bemerkte er, dass er irgendwie nicht dazu gehört. Tom der nicht einmal einen Kühlschrank besitzt und jeden Tag lange zum Frühstücken ausgeht, läuft seitdem wieder zu den Cafés in der Sonntagstraße oder der Simon-Dach-Straße.

Es ist schon dunkel, als er seinen 14 Jahre alten Mischlingshund Jerry (ja, sie heißen beide wie die Figuren aus der Zeichentrickserie) zur Verabschiedung streichelt, der dabei wie immer leise jault und sich an Tom immer näher herandrängt. Der herzkranke Hund  wird aufs Alter immer anhänglicher und merkt, wann Tom nur kurz oder lang ihn alleine lassen wird. Wenn Tom die alte Holztür zu seiner Wohnung abschließt und sich auf den Weg zur Nachtschicht in die Kulturbrauerei macht, weiß er, dass Jerry sich hinter der Tür schlafen legen wird.

Tom ist einer der wenigen Hausbewohner, die noch einer regulären Arbeit nachgehen, wie er mitbekommen hat, seit er vor zwei Jahren hier in eines der unsanierten Altbauhäuser am Markgrafendamm eingezogen ist. Egal wann er kommt oder wann er geht, mehrere seiner Nachbarn sitzen immer drüben in der Kneipe.

Während Tom die Wohnungseinrichtung völlig kalt lässt, legt er auf sein eigenes Aussehen viel Wert. Seine Kleidung ist fast immer neu, ansonsten lässt er seine Sachen waschen, die Hemden bügeln, seine Schuhe sind immer geputzt, seine Frisur ist immer perfekt, alle 14 Tage geht er zum Frisör.

Heute hat er einen grünen Militär-Parka angezogen, sein schwarzes Haar ist kurz geschnitten und leicht gegelt und er war gestern Mittag ein wenig zu lange im Solarium, wie er jetzt merkt, denn seine Haut spannt trotz Gesichtscreme immer noch.

Tom ist Türsteher, heute Abend steht er an der Tür des S-Clubs in der Kulturbrauerei. Aber vor welchem Club er steht, ist ihm ziemlich egal, dafür hat er schon in zu vielen Clubs der Stadt gearbeitet. Das ist auch gut so, wenn man in einem Club richtig Stress hatte mit jemandem von den Gästen, geht man halt erstmal in einen anderen Laden.

Ob die Clubs im neuen Bezirk Mitte liegen, in Prenzlauer Berg, wie die in der Kulturbrauerei, oder die Clubs an der Warschauer Brücke, er kennt fast alle in diesem Teil des ehemaligen Ostberlin.

Sein Chef Sergei, ein Russe, vermittelt Tom und die anderen Türsteher in seinem Gebiet überall hin. In Berlin ist das Geschäft an der Tür der Clubs streng aufgeteilt, zwischen den ehemaligen Ost- und Westbezirken verläuft eine Mauer, als hätte es die Wende nie gegeben.

Der S-Club läuft im Gegensatz zu vielen anderen Clubs immer noch gut. Das Publikum besteht zum großen Teil aus Schülern und Studenten aus der (westdeutschen oder ostdeutschen) Provinz. An der Tür zu den Clubs kann man die wirtschaftliche und soziale Lage einer Stadt besser ablesen als an jeder statistischen Erhebung. Seit der Jahrtausendwende geht es für die meisten Clubs Berlins bergab. Die Leute verlieren ihre Jobs oder verdienen so wenig, dass sie, wenn sie mal weggehen, kaum noch etwas ausgeben wollen. Toms Aufgabe an der Tür ist es deshalb, darauf zu achten, dass das wenig betuchte Publikum aus den Plattenbaubezirken des Ostens oder die türkischen oder arabischen Jugendgangs aus Neuköln, Wedding oder Schöneberg zum großen Teil vor dem Laden bleiben. Damit man den Clubs von Sergei keine rassistischen Vorurteile bei der Abweisung von Gästen vorwerfen kann, ist die Hälfte der Türsteher grundsätzlich nicht deutscher Herkunft. Wer nach Umsatz aussieht, kommt dagegen fast immer rein. Denn es geht nur ums Geschäft und nicht um die Black Music, die im S-Club hauptsächlich gespielt wird. Wer die Tür zu einem Club hat, bestimmt nicht nur was für ein Publikum hereinkommt, sondern auch zum Teil, wer dort Drogen verkaufen darf, wer Spirituosen einschmuggeln darf oder wer es versuchen kann, die Provinzhühner mit Alkohol oder KO-Tropfen abzufüllen, um seinen speziellen Spaß mit ihnen zu haben.

Obwohl Tom gestern Geburtstag hatte, war er wie jeden Freitagmittag im Fitnessstudio. Vier Mal die Woche geht er in den großen Fitnessclub am Bahnhof Ostkreuz.

Eigentlich mehr ein Laden für die Büroangestellten der Umgebung, die nach ihrer Arbeit einen verzweifelten Kampf gegen ihr zunehmendes Gewicht und den Verfall ihrer erschlaffenden Körper führen. Tom gehört zu der kleinen Gruppe der Muskelmänner, die sich die etwas exklusivere Umgebung leisten wollen. Eigentlich verachtet Tom die schlaffen Büroangestellten auf ihren Trimmrädern und Laufbändern, ist aber immer gut drauf und zu jedem freundlich und so ziemlich beliebt bei allen. Besonders die jungen Büromiezen himmeln ihn an und baggern ihn oft ziemlich direkt an.

Er selber macht sich jedoch weder besonders viel aus Sex noch aus Liebesbeziehungen. Durch das Training und die vielen Nachtschichten ist er eigentlich immer nur ausgelaugt. Wenn es hoch kommt, hat er einmal im Jahr Sex, meist mit einer Tussi aus dem S-Club, versagt dann im Bett aber meist total. Bis vor ein paar Jahren ging Tom grundsätzlich nur in die reinen, billigeren Bodybuilding Läden, um auch mal in Ruhe ein Kampftraining für die Tür machen zu können, aber die verschwinden hier immer mehr, seit an der Rummelsburger Bucht immer mehr teure Eigentumswohnungen gebaut werden, und so muss er in die so genannten Lifestyle-Fitnessclubs gehen.

Beim Training selber stemmt er jedes Mal in der gleichen monotonen Reihenfolge stundenlang die Gewichte, bis die Muskeln brennen. Zum Schluss schwimmt er ein paar Bahnen in der Schwimmhalle oder geht in die Sauna, danach immer ins Solarium.

Sein Weg, nachdem er sein Wohnhaus verlassen hat, führt ihn fast immer am Markgrafendamm in Richtung S-Bahnhof Ostkreuz. Vorbei an Autohäusern und kleinen Automärkten, an zweistöckigen, langsam verfallenden Gewerbegebäuden wie dem Altpapierankauf, wo er, als er in seine Wohnung einzog, die Unmengen an Katalogen und Zeitungen aus dem Keller seines Vormieters für fünf Cent das Kilo verkaufte. Zum Schluss quetscht er sich auf dem engen Fußweg an der alten Klinkerbrücke entlang, höllisch darauf achtend, nicht von den unzähligen Autos überrollt zu werden, wenn er auf die andere Straßenseite zum Eingang Hauptstraße des Bahnhofsgeländes will. Ob sie diesen engen Fußweg irgendwann mal verbreitern werden, denkt er dann oft.

Die lange angekündigten Bauarbeiten am Rostkreuz haben vor kurzem endlich begonnen, viele alte Bäume sind schon verschwunden, kahl liegt die Gegend nun da, der Blick ist nach allen Seiten frei.

Die nächsten Stunden wird Tom warten, darauf dass die S-Bahn kommt, dass die Nacht an der Tür zum S-Club ruhig vergeht und darauf, dass die S-Bahn für den Heimweg kommt. Im Lauf der Jahre ist er an der Tür immer ruhiger geworden. Wenn Leute ihn beleidigen oder anspucken, reagiert er schon lange nicht mehr, wenn sie ihn anfassen, rastet er jedoch aus. Toms kleines Geheimnis um Ärger vorzubeugen ist, dass er viel redet, am liebsten mit Tussis.

Da jedoch die Abgewiesenen, besonders wenn sie in Gruppen auftreten, im Laufe der Jahre immer aggressiver werden, ist er schon froh, wenn er den Abend ohne ernsthafte Schlägereien überstanden hat.

Eigentlich hat Tom einen Abschluss in BWL, was man gar nicht glauben würde, wenn man den Schrank in seiner typischen Türsteher-Aufmachung sieht.

Aber was er auch an Geschäftsideen hatte, ob in die Filmbranche einzusteigen, wie halb Berlin, oder bildleserreportermäßig in den Clubs Prominente zu fotografieren und die Bilder dann zu verkaufen,  brachte nie regelmäßig das gewünschte Geld, und so macht er weiter die Tür. Unter den Türstehern ist die Konkurrenz groß, viele arbeiteten wie Tom zu unregelmäßig, um damit alleine richtig Geld zu verdienen. Freundschaften gibt es nicht, nur oberflächliches Palavern und gegenseitiges Belauern, wer sich mit Sergei am besten versteht.

Als er sonntags gegen 5.30 Uhr nach seiner Schicht müde am S-Bahnhof Ostkreuz aus seiner Bahn aussteigt, denkt er nicht mehr an die Tussis oder den Stress an der Tür, sondern nur an Jerry, der ihn sicher schon sehnsüchtig erwartet. Der Hund will dann immer sofort raus, seine volle Blase entleeren und noch ein wenig Gassi gehen.

In letzter Zeit schafft es Jerry immer schlechter durchzuhalten bis Tom da ist. Ohne zu murren reinigt dann Tom die Wohnung und tröstet Jerry. Ansonsten geht der Hund am liebsten zum Ufer hinter der S-Bahnbrücke auf Stralau spazieren, wo am Tage die Kinder der Umgebung lachend spielen. Dort und auf den immer weniger werdenden unbebauten Brachen sind Jerrys Lieblingsstellen zum Schnüffeln.

Der große Muskelmann und der kleine alte Hund bieten dann ein Bild, das viele Passanten zum Lächeln veranlasst, wenn sie an ihnen vorbeigehen.

Der Bahnhof ist in einen dichten Nebel getaucht, vermischt mit der Trübe und Dunkelheit wie sie nur Winternächte haben, man kann selbst auf dem beleuchteten Bahnsteig nicht sehr weit sehen. Wie immer macht er sich beim Laufen kurz vor der Treppe zur Hauptstraße eine Zigarette für den Heimweg an. Da auf der Bahnsteigseite, wo er aussteigt, kurz vor der Treppe, seit Tagen gebaut wird, muss er auf die andere Seite ausweichen und bemerkt, mit dem Anzünden der Zigarette beschäftigt, so zu spät jemand, der ihn aus dem Nebel von der Seite so heftig anstößt, dass er das Gleichgewicht verliert und auf das Gleis fällt, wo gerade der Gegenzug Richtung Gesundbrunnen einfährt.

 

Tom hat keinerlei Chance. Als der Zug Tom überfährt, rollt nicht sein ganzes Leben ab, wie er es oft im Kino gesehen hat, er denkt nicht an seine Eltern, seine Kindheit, Schulzeit oder seine Exfreundin, er fragt sich nur, wann jemand Jerry, der nun alleine ist, aus der Wohnung befreien wird.

 

Die Untersuchung des Vorfalls ergab keine Anzeichen für Selbstmord oder Fremdverschulden. Der Zugfahrer des einfahrenden Zugs sah nur Tom fallen und konnte nur noch mehr bremsen, als er es ohnehin bei einem Halt macht, die Kameras auf den Bahnsteig waren zum Tatzeitpunkt wegen einer technischen Störung nicht in Betrieb.

Zeugen, die etwas Verdächtiges gesehen hatten, fanden sich nicht. Es gab auch keine Hinweise darauf, ob Tom Streit im S-Club mit Gästen, anderen Türstehern in der S-Bahn oder auf dem Bahnsteig hatte.

Das Ergebnis lautete "Tod durch selbstverschuldeten Unfall".


Inka Engmann
Das Märchenbuch
Fortsetzung der Geschichte vom alten Wasserturm

 

Ich bin jetzt immer ein bisschen traurig, wenn ich am Ostkreuz auf die S-Bahn warte. Es ist leer hier, seit mein Freund, der alte Wasserturm, auf Reisen gegangen ist. Er fehlt mir! Und die Eule ist auch weg, niemand hat je wieder ihren Schrei gehört. Die beiden fehlen mir so sehr, dass ich viele Stunden meiner Freizeit damit verbracht habe, im Internet die Boulevardmeldungen der ganzen Welt zu durchforsten. Mein Englisch ist dadurch besser geworden, aber den alten Wasserturm und seine Bewohnerin, die Eule, habe ich nicht gefunden.

Ich warte am Ostkreuz, will zu meiner Freundin fahren. Es ist Sonntagmorgen, es ist kühl und neblig. So ganz dicker, fetter Nebel, wie in einem alten Schwarzweiß-Gruselfilm. Ich starre in die graue Suppe. Plötzlich springe ich auf. Das kann doch nicht sein! Aus dem Nebel tauchen undeutlich die Umrisse des alten Wasserturms auf… "Du bist wieder da!", juble ich und renne los. Ich stolpere, falle fast die Bahnhofstreppe runter, fange mich wieder, renne auf die Straße, Bremsen quietschen, jemand schimpft hinter mir her, ich pralle atemlos gegen einen Zaun.

Nichts zu sehen. Nur dichter, undurchdringlicher Nebel. Trotzdem klettere ich über den Zaun und taste mich vorwärts. Ich stolpere fast in das gähnende schwarze Loch, das nach dem Verschwinden des alten Wasserturms übrig geblieben ist. Traurig lasse ich mich am Rand des Loches auf den Hintern plumpsen. Kein Turm da. Aber was war das vorhin? Eine Fata Morgana? Oder krieg’ ich schon Halluzinationen?

Verstimmt schlurfe ich zurück zum Ostkreuz. Vor mir taucht eine dunkle Gestalt aus dem Nebel auf. Mein Herz klopft schneller. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich heute Morgen noch keinem Menschen begegnet bin. Die Gestalt kommt auf mich zu, drückt mir blitzschnell etwas in die Hand und ist schon wieder im Dunst verschwunden.

Ich zittere. Dieser Nebel kann einen schon auf komische Filme schicken! Ich betrachte den Gegenstand in meiner Hand. Ein Buch. "Die Märchen der Brüder Grimm" steht drauf. Warum gibt der mir ’n Buch? Vielleicht sind da Drogen drin und ich werde gleich verhaftet? Erschrocken lasse ich das Buch fallen und gehe ein paar Schritte weiter. Aber keine Polizeihundertschaft stürmt den Bahnhof, nur die S-Bahn kommt endlich. Ich laufe zurück, suche fieberhaft auf dem Boden herum, greife das Märchenbuch und springe schnell in die S-Bahn. Dort holen mich Wärme, Beleuchtung und die Fahrgäste in die Wirklichkeit zurück. Aber ist schon ’n komischer Morgen heute – erst die Wasserturm-Halluzination und dann der gruselige Fremde. Warum hat der mir das Buch gegeben? Ich schlage es auf und beginne zu blättern. Der Froschkönig, Rotkäppchen, Aschenputtel – alles altbekannte Märchen. Die Illustrationen überraschen mich, sie erinnern an die Bilder, die man in uralten Handschriften findet. Neugierig blättere ich zurück, ich will wissen, wer der Künstler ist. Aber nur "Die Märchen der Brüder Grimm" steht auf der ersten Seite. Kein Herausgeber, kein Verlag, nichts. Ich gucke auf die letzte Seite, aber da steht auch nichts. Hm. Komisch. Ich blättere weiter in dem Buch herum, bin jetzt bei Rapunzel. Plötzlich schreie ich laut auf. Starre auf die Illustration. Der Rapunzelturm mitten in einer blühenden Landschaft ist – mein alter Wasserturm!

Es besteht kein Zweifel, haargenau so hat er ausgesehen! Und da fliegt ja auch die Eule durch die Luft! Liebevoll streichle ich über das Bild. "Wo seid ihr?", flüstere ich.

 

Meine Freundin ist unzufrieden mit mir. Ich kann mich aber auch gar nicht auf unsere Gespräche konzentrieren, die rätselhaften Begebenheiten von heute morgen und das geheimnisvolle Märchenbuch gehen mir nicht aus dem Kopf. Meiner Freundin erzähle ich nichts davon, sie würde nur sagen: "Jetzt geht wieder deine Fantasie mit dir durch!" Auch der Nebel, der sich den ganzen Tag nicht lichtet, trübt die Stimmung.

Ich fahre schon am frühen Nachmittag wieder los. Am Ostkreuz steige ich aus. Aber ich gehe noch nicht nach Hause — irgendetwas hält mich hier fest. Ich setze mich auf eine Bank. Der Nebel ist immer noch undurchdringlich. Ich starre ins Nichts. Plötzlich spüre ich ein Rauschen, wie Flügelschläge eines großen Vogels… Ich höre einen Eulenschrei… Aus dem Nebel tauchen undeutlich die Umrisse des alten Wasserturms hervor…

Ich umklammere mein Märchenbuch und wage kaum zu atmen. Jemand setzt sich neben mich, aber ich wende meine Augen nicht vom alten Wasserturm. Ich weiß, wer neben mir sitzt.

"Du hast die Bilder in dem Buch gemalt", flüstere ich.

Der Fremde schweigt.

"Du weißt, wo sie hingegangen sind", flüstere ich.

Der Fremde schweigt.

"Kann ich mitkommen?", hauche ich kaum hörbar.

Der Fremde schweigt. Er steht plötzlich vor mir. Er trägt einen schwarzen Mantel, sein Gesicht ist unter einer Kapuze verborgen. Er macht eine Bewegung mit dem Kopf: "Folge mir!", soll das wohl heißen. Mein Herz rast. Ich zögere, der Fremde ist so unheimlich…

Er dreht sich um und droht im Nebel zu verschwinden. Eine Sekunde lang ringe ich noch mit meiner Angst, dann springe ich auf und folge ihm.


 

Thomas Kunze
Wundersames am Ostkreuz

 

Etwas lief gehörig schief in den letzten Wochen im Bahnhof Ostkreuz: Züge fuhren zwar ein, kamen aber nicht wieder hinaus; Ampeln sprangen willkürlich von Grün auf Rot und umgekehrt; die Schilder der Zugrichtungsanzeiger schlugen wie wild und unaufhörlich nacheinander um, so dass es fortwährend rasselte; Menschen schüttelten ungläubig den Kopf und brummten leise vor sich hin; "Ich muss doch zum Bahnsteig D, warum bin ich auf A gelandet? Ich kenne mich nicht mehr aus, das ist doch unglaublich!" Ansagen im Lautsprecher waren entweder gar nicht zu vernehmen oder dröhnten so laut, dass man sich die Ohren zuhalten musste. Doch nicht an allen Tagen gab es diese Merkwürdigkeiten. An manchen ging alles reibungslos und das Ostkreuz funktionierte so wie in den letzten 120 Jahren: S-Bahn-Züge fuhren pünktlich ein, Menschen stiegen aus, andere ein oder um, Züge fuhren davon, neue kamen. Am unheimlichsten (man kann auch sagen am schönsten) aber war es an jenen Tagen, an denen das Ostkreuz ruhig wie ein stiller, von keinem Lufthauch bewegter See da lag, nur den wechselnden Schattenspielen von Sonne und Wolken ausgesetzt, die mal bedrohliche, mal heiterlustige Bilder auf Bahnsteig und Gleis warfen. Ich stand dann lange und unbeweglich auf Bahnsteig F, der hoch über allen Gleisen thront, sah die Gräser sich in das Sonnenlicht räkeln, vernahm das Rascheln von wildem Kleingetier im hier üppig sprießenden Gesträuch, duckte mich vor dem mächtigen, schwarz drohenden Wasserturm, schaute nach Osten auf das konturlose Lichtenberg, dann nach Westen auf den Fernsehturm, bevor sich mein Blick ganz in der Ferne verlor. Irgendwann kam ich wieder zu mir, ging zum Bahnhofsvorplatz und kämpfte um einen der raren Plätze in den Omnibussen des Ersatzverkehrs.

Das alte Ostkreuz sollte als einer der letzten großen Berliner Stadtbahnhöfe umgebaut werden. Die Planungsphase, die sich über mehr als zehn Jahre hingezogen hatte, war beendet, die einst so wilden, undurchdringlichen Randböschungen abrasiert und die ersten Bau- und Montagewagen aufgefahren. Man hatte lange hin und her überlegt, ob man den Bahnhof vollständig schließen könne, doch für einen der größten und bedeutendsten mit über hunderttausend Fahrgästen täglich war dies für unmöglich befunden worden. Da nicht nur der Zugbetrieb unregelmäßig oder gar nicht vonstatten ging, sondern auch die Umbauarbeiten immer wieder auf unerklärliche Weise gestört wurden, war die Situation seit Wochen äußerst angespannt und kritisch. Es wurde ein Krisenstab eingerichtet, der heute dies, morgen das beschloss, ohne allerdings damit die Bauarbeiten um mehr als einen Jota voranbringen oder einen regelmäßigen Zugverkehr gewährleisten zu können. Man kann sich denken, dass es an Unmutsäußerungen von aufgebrachten Fahrgästen nicht mangelte. Wütende Leserbriefe erreichten die Lokalredaktionen, von den Berliner Verkehrsbetrieben forderte man die Entlassung der Manager, selbst der Verkehrssenator stand zur Disposition.

Eines frühen Morgens erkundete ich wieder die Lage auf dem Bahnhof, schaute mich um und stellte verdrossen fest, dass kein Zug sich bewegte. Ich wollte gerade zum Ausgang gehen, als ich auf dem Gleisbett direkt vor einer S-Bahn etwas Kleines hin und her laufen sah. Es blieb stehen, schaute an der Schnauze der Bahn hoch, nickte zufrieden, verschwand darunter, dann erklang ein nicht sehr lauter doch deutlich hörbarer metallischer Klang wie beim Schlagen eines Hammers auf ein Eisenrad, kurz darauf kam diese kleine Gestalt wieder hervor und ging gemächlich den Strang entlang. Verdutzt rieb ich mir die Augen: Mäuse, Ratten, Marder, Igel sogar Füchse hatte ich schon oft am Ostkreuz gesehen, doch ein Wesen auf zwei Beinen, mit zwei dürren Armen, mit einer Mütze auf dem Kopf? Das musste ich mir einbilden. Ich folgte oben auf dem Bahnsteig schnell seiner Richtung, rief: "Holla, was ist das denn?", worauf sich das Wesen umblickte und im Nu irgendwohin verschwand. War es eine optische Täuschung, vom Dunst des Morgens geformt? Oder war es eines der hier lebenden Kleinsttiere, das ich in meinem Ärger und Verdruss zu einem winzigen Männlein gemacht hatte? Ich musste mich setzen und sann über diese Ostkreuz-Fata- Morgana nach. Ein Spruch aus meinen Kindertagen fiel mir ein, den meine Großmutter – sie lebte viele, viele Jahre am Ostkreuz – mir immer dann ins Ohr geflüstert hatte, wenn wir auf dem Bahnsteig standen und ein Betriebsausfall gemeldet wurde. Sie sagte dann stets, das war das Ostkreuzmännlein und man müsse es nur höflich bitten, dann ließe es die Züge wieder fahren. Ich hielt das natürlich für Reste eines im Volk verankerten Aberglaubens. Doch komischerweise war jedes Mal bald darauf die Störung behoben und die Züge verkehrten wieder. Der Spruch kam mir aus dem Gedächtnis und ich sagte ihn laut vor mich hin:

"Ostkreuz-Männlein, Ostkreuz-Männlein
Haselnuss und Sträucherei,
Ostkreuz-Männlein, Ostkreuz-Männlein
Gib die Strecke wieder frei!"

Ich hatte kaum ausgesprochen, da erklang von irgendwoher ein mürrisches "Nein, niemals!" Ich blickte erschrocken zur Seite und sah ein kindsgroßes Wesen mit langer Nase, grauem Spitzbart und Zipfelmütze neben mir auf der Bank sitzend. Es hatte eine kurze, braune Joppe an, eine geflickte, derbe, rotkarierte Hose und ließ seine Beine unwillig von der Bank baumeln. "Warum hast du mich gerufen, was willst du von mir? Und wenn schon, egal, du bekommst es doch nicht!" "Wer bist du denn?", entrang es sich mir, starr vor Schreck. "Frag nicht so dumm", entgegnete das Männlein gereizt, "hast mich gerufen, wirst es schon wissen". "Ich habe dich nicht…" – doch ich hielt inne und besann mich. "Dann bist du das Ostkreuz-Männlein, dich gibt es wirklich und es war keine Flunkerei meiner Oma?" "Papperlapapp – deine Großmutter jedenfalls war noch eine echte Ostkreuz-Anwohnerin, vertraut mit dem Zauber dieser Gegend, dem Charme des alten Bahnhofs, den Geheimnissen seiner Gleise… Jetzt treiben sich nur noch Hinzugezogene hier herum oder Touristen, die die Köpfe schütteln, wenn sie unsere verfallene Anmut erblicken, Heutzeit-Menschen, die stöhnen, wenn sie die paar Stufen mit ihren schweren Koffern hinauf und wieder hinunter müssen. Sollen sie sich doch nicht so beladen", sagte es vorwurfsvoll und in ungerechtem Tone. Hätte mich der Grimm, der seinen Worten entströmte, nicht so stark wie ein realer Schmerz ergriffen, ich hätte geglaubt, ich spräche mit mir selbst. Doch neben mir saß tatsächlich dieses Männlein, scheinbar hervorgekommen vom Ostkreuz-Grunde, einem Reich, das uns Menschen unzugänglich ist. "Du bist ungerecht." Ich fühlte mich gekränkt. "Ich selbst wohne mein ganzes Leben am Ostkreuz und die Touristen, das ist eben die neue Zeit!" "Papperlapapp", spuckte es aus, "das weiß ich, dass du von hier bist, nur einem Angestammten, der die Verse aufsagt, darf ich mich zeigen und auch nur, wenn ich will. Und 'die neue Zeit, die neue Zeit' — was soll das heißen? Ich mag die neue Zeit nicht, sie vertreibt uns", sagte es mit der Bitterkeit eines Menschen, der in eine düstere Zukunft blickt. "Aber warum…", hub ich zu sprechen an — doch da war der Platz neben mir schon leer und das Männlein verschwunden. Gleich darauf vernahm ich das dunkel raunende Geräusch sich aufladender S-Bahnen, die Signalanlagen schalteten auf Grün und aus dem Lautsprecher ertönte eine befreit klingende Stimme mit der Durchsage, dass der Fahrbetrieb fortgesetzt werden könne. Ich dankte im Geheimen dem Männlein, stieg ein und fuhr zur Arbeit.

Als ich am nächsten Morgen zum Ostkreuz kam, lag es wieder in christlicher Stille – kein Zug rauschte heran, die Signallichter schliefen noch und die Menschen strömten zurück zu den Bussen, die rings um das Ostkreuz bereitstanden und alle Straßen verstopften. Ich kam an einer Gruppe von Bauarbeitern vorbei, die am nördlichen Teil des Bahnhofes mit dem Umbau begonnen hatte. Unmutig sprachen sie mit zwei Architekten oder Technikern und beklagten, dass sie heute wieder nicht arbeiten könnten, da kein Kran sich drehe, der Haufen Schottersteine für das Gleisbett verschwunden sei, die neuen Bahnschwellen verstreut auf dem Gelände umher lägen und der frisch gemischte Beton sich nicht ausbreiten lasse, da er sofort erstarre. "Es ist wie verhext, es scheint kein glücklicher Stern über dem Ostkreuz zu liegen!", hörte ich einen von ihnen sagen. Ich wandte mich ab und sprach leise die Worte: "Ostkreuz-Männlein, Ostkreuz-Männlein…".

"Was willst du schon wieder?", erklang es mürrisch hinter mir. Das Männlein sah müde und abgekämpft aus, so, als habe es die ganze Nacht gearbeitet. "So kann es nicht weitergehen!", sagte ich vorwurfsvoll. "Du unterbrichst den Zugverkehr, behinderst die Umbauarbeiten, lädst den Menschen täglich neue Mühen auf und bereitest ihnen viel Kummer. Von den finanziellen Kosten ganz abgesehen, die durch dein störrisches Verhalten schier ins Unermessliche getrieben werden!" Meine Worte schienen ihn getroffen zu haben, er wurde rot vor Zorn, plusterte sich auf, wuchs ins Riesenhafte und schrie drohend von oben herab: "Wer bereitet wem Kummer? Wer macht sich daran, unser hundertjähriges Leben hier am Ostkreuz zu zerstören? Wer will uns vertreiben, uns unser Heim nehmen?" Ich war erschrocken, bat ihn, nicht so laut zu schreien, blickte vorsichtig umher, niemand aber schien Notiz von dem aufgebrachten Männlein zu nehmen. "Komm, komm wieder herunter, mach dich klein, damit ich mit dir reden kann." Es schrumpfte auf Knabengröße herab, ließ die Schultern hängen und senkte den Kopf. "Weißt du", erklang matt seine Stimme, "ich und meine Familie leben hier seit über hundert Jahren, seit den ersten Tagen des Ostkreuzes. Wir sind Eisenbahngnome, entstanden mit den ersten Gleisen, Zügen und Bahnhöfen, gehören seit jeher dazu, sind so etwas wie die Beschützer und guten Seelen von Transport und Verkehr auf den Schienen. Wir haben alles gesehen, hier am Ostkreuz miterlebt, selbst mit angepackt: die Inbetriebnahme des ersten Bahnsteigs 1882, 1902 das Errichten der gusseisernen Stützen und der Bahnsteigüberdachung, den 50 Meter hohen Wasserturm, von 1909 bis 1912 erbaut, das Wahrzeichen des Ostkreuzes. Auch zwei Kriege haben wir hier erlebt, das Ende 1945, dann beim Wiederaufbau mitgeholfen. Eine schöne, hoffnungsvolle Zeit vieler gemeinsamer Hände. Doch auch die Zeiten davor waren aufregend: Männer in Sakkoanzügen, weißen Hemden, Trenchcoats und Filzhüten. Die Frauen in weiten Hemdkleidern und Pelzmänteln auf dem Weg ins Varieté oder Ballhaus. Dann die Sechziger, Siebziger, Achtziger – zwar überfüllt, doch lebendig und der wichtigste Verkehrsknoten des Ostens. Ich und meine Familie hatten immer genug Raum zum Leben – im löchrigen Gleisbett mit vielen unterirdischen Höhlungen, in den wildromantischen, für Menschen undurchdringlichen Haselnuss-, Rosen- oder Weidensträuchern, in denen wir mit Fräulein Kaninchen, Herrn Ratte, Frau Maus oder Herrn Fuchs viele schöne Feste gefeiert haben, unter den großen, Schatten spendenden Bäumen an der Nordringkurve, in den Schutz bietenden Böschungen – Ostkreuz ist der grünste und naturbelassenste Bahnhof Berlins —, in den vielen Werkzeugschuppen und Lagerbaracken, in denen der Mensch nur selten war und wir uns so aufs Beste einrichten konnten. Dies alles wird bald verschwinden und nach der Komplettsanierung wird ein steriler, von Glas, Stahl und Beton dominierter, riesiger Einkaufspavillon mit nichts mehr an den alten, freien, offenen und charaktervollen Bahnhof von einst erinnern." Es hielt einen Augenblick inne. "Ich musste in den letzten Jahren eine Reihe meiner Verwandten – sämtlich Exilanten vom Spandauer oder Lehrter Bahnhof, vom Alexanderplatz, der Papestraße oder Gesundbrunnen — hier bis an unsere Kapazitätsgrenze aufnehmen. Bald droht uns dasselbe Schicksal, der erzwungene Exodus, weil wir zwischen Hochglanzfassaden, undurchdringlichen Gleisbetten, spärlich bewachsenen Hängen und dichten Fußbodenplatten nicht mehr leben können." Es schaute auf, doch sein Blick blieb leer, in eine unbestimmte, endlose Ferne gerichtet. Ich verspürte Mitleid mit ihm, wollte ihn trösten. "Aber es wird doch…" "Kein aber", unterbrach mich das Männchen barsch, "unsere Macht ist zu gering, unsere Kräfte nur angepasst an ein Zeitalter, in dem der Atem des Erfindergeistes wehte und mit einfacher Mechanik die Industrialisierung vorangebracht wurde. Alles hier am Ostkreuz erinnert daran, ist Zeugnis dieser grandiosen Epoche. Doch das Verhältnis hat sich verkehrt: Wissenschaft und Technik sind mittlerweile Bereiche mit eigener, innerer Logik, die nichts weiter kennt als das Fortschreiten, mächtiger Werden und Vervollkommnen. Der Mensch ist nur noch Mittel zu diesem Zweck, schwaches Anhängsel mächtiger Triebkräfte. Und in dem Maße, in dem diese unsichtbaren und unheimlichen Kräfte den Menschen beherrschen, schwächen sie ihn und damit uns Gnome, die guten Geister der Gründerzeit." Und obgleich ich ganz anderer Auffassung war als das Männlein, tat es mir in seiner Resignation leid. "Was wollt ihr jetzt tun?", fragte ich. Es schaute in die Ferne. "Wir werden uns wohl dem großen Treck nach Osten anschließen müssen, Gebiete vor und hinter dem Ural aufsuchen und Bahnhöfe besiedeln, auf denen noch Süßgräser durch die Bodenplatten des Perrons wachsen und wo man das Warten auf den Zug nicht durch Shopping verkürzen kann. Doch noch ist es nicht soweit", sagte es kämpferisch und verschwand.

Die nächsten Tage am Ostkreuz waren weiter durch Ausfälle und Störungen aller Art gekennzeichnet. Und obwohl ich am Schicksal der Ostkreuz-Gnome wirklich Anteil nahm und sie mich dauerten, war ich allmählich diese Misslichkeiten leid und beschloss, zum Krisenstab zu gehen und dort vom Ostkreuz-Männlein und seinem Wirken zu erzählen. Man kann sich vorstellen, wie viel Glauben mir geschenkt wurde. Man schaute sich gegenseitig mit einem mitleidigen Lächeln an, gab mir den Rat, in nächster Zeit etwas auszuspannen und schob mich ungeduldig zur Tür hinaus.

Doch das Ostkreuz-Männlein ließ in den nächsten Wochen und Monaten in seiner Aktivität nicht nach, ja forcierte sie sogar: kein Zug verließ mehr den Bahnhof, die Bauarbeiten kamen völlig zum Erliegen und die Menschen waren am Ende ihrer Geduld und Kräfte. Mittlerweile war auch die Bauleitung entlassen, doch die neue agierte ebenso glücklos wie die alte. Ich selbst war in dieser Zeit häufig auf dem Bahnhof und beschwor jedes Mal das Ostkreuz-Männlein; vergeblich, es erschien nicht mehr und oft war mir, als hörte ich nur ein sardonisches Lachen irgendwo vom Grunde des Bahnhofes.

Eines Morgens traten drei Männer der neuen Leitung vor mich hin. Sie sahen fahl aus, ihre Wangen waren eingefallen, die Augen ausgehöhlt, die Stirn in hundert Falten gelegt. Sie wandten sich an mich. "Alles, was Sie damals von diesem Gnom, diesem Ostkreuz-Männlein, unseren Vorgängern erzählt hatten, ist unwissenschaftlich und liegt außerhalb unserer Vorstellungskraft, und es ist überflüssig zu sagen, dass wir Techniker, Architekten oder Baustatiker kein Wort von dem glauben. Doch gewisse, seit Monaten anhaltende unerklärliche Vorgänge hier auf dem Gelände zwingen uns dazu, nichts unversucht zu lassen, die prekäre, nicht mehr ertragbare Situation zu ändern. Was immer Sie wahrgenommen haben wollen, pardon, was immer Sie gesehen, mit wem auch immer Sie gesprochen haben, helfen Sie uns. Wir bitten Sie inständig – unser Ruf, ja unsere ganze berufliche Zukunft steht auf dem Spiel." Sie sahen betrübt zu Boden und alles an ihnen drückte erbarmungswürdige Hilflosigkeit aus. Ich wollte ihnen helfen, wollte uns alle von den nach und nach Nerven zersetzenden Zuständen befreien. Ich überlegte. Sollte man in einer Nacht alle möglichen Schlupflöcher verstopfen, jedes Gebüsch, jeden möglichen Winkel ihres Aufenthaltes, jeden alten Schuppen zerstören, versiegeln, platt machen, um den Gnomen auch die letzten Refugien ihres Hierseins zu nehmen? Sollte man in einer konzertierten Aktion und mit entschlossener Gewalt die Erdlinge in ihre Löcher zwingen, um sie so lebendig zu begraben? Ich dachte an die Klagen des Ostkreuz-Männleins, dachte daran, dass sie als gute alte Geister dieses Bahnhofes über hundert Jahre lang hier zufrieden gelebt und zum Wohle aller Fahrgäste gewirkt hatten. Nein, auch wenn ihre Zeit abgelaufen war, das hatten sie nicht verdient, das durfte man ihnen nicht antun. Doch was dann? Darauf warten, dass sie ihren Widerstand aufgeben, noch weitere drei, fünf oder acht Monate täglich mit ihnen um jeden Zentimeter ringen? Ich sagte zu den mit ihren Füßen auf den Bodenplatten scharrenden Männern, ich wüsste wirklich nicht, wie hier zu helfen wäre, doch eine Idee hätte ich, eine einzige, man könne es ja versuchen. Ich teilte sie ihnen mit, doch noch ungläubiger und mit kaum mehr Hoffnung als sie gekommen waren, verließen sie mich.

Am anderen Morgen – ich hatte es mit ihnen so abgesprochen – waren über einhundert Ordnungskräfte um das Ostkreuz gruppiert, die Busse in der Nacht abgefahren und die Straßen frei. Jedem der verwunderten, die Busse suchenden Fahrgäste wurde ein kleiner Zettel in die Hand gegeben und alle wurden gebeten, sich auf den Bahnsteigen einzufinden. Stumm, mit einem Achselzucken, neugierig nachfragend oder lauthals ablehnend – es kamen doch fast alle der Bitte nach, so dass sich nach rund zwei Stunden siebzigtausend Menschen im und um den Bahnhof versammelt hatten. Man kann sich die Unruhe und Ungeduld vorstellen, mit der die vielköpfige, wogende Masse darauf wartete, dass etwas geschehe. Nun war ich dran. Ich ging zum Mikrophon der provisorisch über den ganzen Bahnhof aufgestellten Lautsprecheranlage. "Ich bitte Sie", sprach ich laut und gut vernehmbar, "gleich mit mir den Text zu sprechen, der in Ihren Händen liegt. Fragen Sie nicht, warum, Sie würden es doch nicht glauben. Doch das ist unsere einzige Chance",  lautete mein sibyllinischer Schluss. Ich gab das Zeichen und aus zehntausenden von Kehlen erscholl klar, kraftvoll mit dem Mut der Verzweifelten:

"Ostkreuz-Männlein, Ostkreuz-Männlein
Hast gelebt hier hundert Jahr.
Hast uns manchen Streich gespielt,
Vieles schien uns wunderbar.
Ostkreuz-Männlein, Ostkreuz-Männlein
Alles ändert sich im Leben.
Wenn’s auch schwerfällt. Lebe wohl!
Musst dir jetzt den Abschied geben."

Alles verstummte einen Augenblick, kein Laut war im ganzen Areal zu vernehmen, alle hielten den Atem an, niemand wagte sich zu regen. Ich weiß nicht, ob es eine halbe, drei oder zehn Minuten der völligen Ruhe waren, die wir so verharrten. Doch dann ein Zischen in den Elektroführungen, ein Brummen in den Batterien, die Signalanlage schaltete auf Grün, die S-Bahn-Türen öffneten sich, die erste Durchsage erklang, kurz – der Fahrbetrieb konnte wieder aufgenommen werden. Er wurde an jenem und an allen folgenden Tagen nicht mehr unterbrochen. Die Umbauarbeiten gingen zügig voran und bald schon zeigte sich der Bahnhof Ostkreuz in neuem Glanze.

Noch sehr oft denke ich an das kleine, freundlich-grimmige Ostkreuz-Männlein und wünsche ihm, dass es und seine Mannen auf ihrem Treck in den Osten irgendwo neu heimisch geworden sind.


Barbara Blum
Licht und Schatten am Ostkreuz

 

Milchiger Vorhang liegt über Berlin.
Und der Bahnhof mit den vielen Gleisen
ist verschwunden unter dem Schleier des Dunstes.
Gleise kreuzen sich am Bahnhof des Ostens,
silberne Strahlen bis zum Horizont.

Es ist am Morgen, wo es grau und feucht zugleich,
und die Katze irrt umher,
die ihren Platz am Wasserturm verlor.
Alle Schrebergärten sind verschwunden,
weichen dem Umbau Ostkreuz.

Wo seid ihr Bäume, ihr Lieben,
die ihr mir Halt gegeben,
auf euren Ästen,
ihr wart meine Freunde.
Meine Menschen haben mich verlassen.
Ich fühle mich elend,
sagt die Katze.

Endlich gute Sicht,
endlich sind die Bäume verschwunden,
es ist soweit.
Die Bagger bringen Freiheit,
weiten Raum zum Bauen.
Nun wird der Bahnhof modern und groß,
sagen die Menschen.


Bärbel Heger
Es ist lang her ...

 

Meine Erinnerungen an den Bahnhof Ostkreuz beginnen im Jahre 1968. Zwei Mädchen von 16 Jahren aus dem Kreis Strausberg zogen aus in die "weite Welt". Im September 1968 begann nämlich unsere Lehre in der kaufmännischen Berufsschule an der Marktstraße kurz hinter dem Berliner Bremsenwerk, "Die Bremse" genannt. Um 6 Uhr 25 fuhr unsere Bahn, meine Freundin kam aus Eggersdorf und ich aus Fredersdorf. Wir waren aufgeregt, kamen wir doch beide aus dörflichen Kleinstädten am Rande von Berlin und für uns war es damals immer ein tolles Abenteuer in die Stadt zu fahren.

Wir machten uns also am ersten Tag unserer Lehre auf den Weg, aufgeregt und abenteuerlustig. Dieser riesige Bahnhof Ostkreuz machte uns ganz schön Angst. So viele Menschen tummelten sich dort auf dem Bahnsteig, um aus-, ein- und umzusteigen. Oh Gott, finden wir den richtigen Ausgang? Man, schubsen die hier alle morgens schon herum! Ah, da drüben, Ausgang Sonntagstraße. Dann bis vor zur Ecke, dann nach rechts, da sahen wir schon den Riesenbau vom Bremsenwerk.

Vier Stunden später gingen wir den gleichen Weg wieder mit Schlappohren und schiefem Mund zurück. Man, war das eine blöde, dreckige, große Schule! Dreihundertzwanzig wurden da ausgebildet und leider nur Mädchen. Wo wir uns doch in diesem Alter viel mehr für Jungen interessierten. An den Wänden dieser Schule konnte man sehr gut die letzten fünfzehn Jahre ablesen. Ob es die Sprüche waren – heute heißt es Graffiti – oder die Kaugummis, die manche "aus dem Westen" bekamen, oder einfach nur das Marmeladenbrot, was da noch klebte.

Einen Lehrer über vierzig als Klassenlehrer hatten wir auch bekommen, das war für uns damals steinalt, na gut, ist es eigentlich heute auch wieder. Aber heute sind wir selber über fünfzig und haben einen anderen Blickwinkel. Und im Laufe der Zeit bei ihm merkten wir, dass er alle Tricks und Kniffe junger Mädchen kannte. Ob es vorgetäuschte Ohnmachtsanfälle waren, um ein paar Stunden früher abzuhauen, um sich mit seinen Freunden zu treffen, oder es die obligatorischen Bauchschmerzen waren, die Mädchen so haben. Er wusste für alles eine Lösung und sie war nicht immer zu unseren Gunsten. Schon gar nicht kamen sie dem nahe, was wir damit eigentlich bezweckt hatten.

Auf dem Bahnhof Ostkreuz haben wir bei schönem Wetter auf den Bänken gesessen und noch schnell unsere Hausaufgaben gemacht — oder auch von anderen abgeschrieben. So manche S-Bahn haben wir Richtung Strausberg ziehen lassen, wenn wir mit unserem Freund noch ein bisschen knutschen wollten. Auf diesem riesigen Bahnhof kannte uns ja keiner. Das wäre in unserem Dorf nicht möglich gewesen, da hätte irgendein Nachbar uns gesehen und gleich bei unseren Eltern zu Hause Bescheid gesagt.

 

Ich erinnere mich an einen Morgen, es war auch die Fahrt zur Berufsschule. Ich stand mit meiner Freundin in einer Menschenmasse dicht gedrängt. Morgens um diese Zeit waren die S-Bahnen nach Berlin immer besonders voll. Wir quatschten über Jungs und das nächste Wochenende. Da sagte meine Freundin: "Du, mir fummelt da einer hinten am Reißverschluss meines Rockes herum." Wir standen so dicht, dass wir uns nicht bewegen konnten. Ich sagte: "Tritt doch mal mit deinem Fuß nach hinten, dann wirst du schon den Richtigen treffen." Sie sagte: "Man, das geht doch nicht, nachher treffe ich den Falschen und der haut mir eine runter. Ich weiß doch nicht mal, wer mich da befummelt." Ich schaute mir alle in der Nähe stehenden Männer an. Keiner verzog eine Miene oder wurde rot oder sonst etwas, woraus ich erkennen könnte: Der ist es!

Sie fing schon fast an zu heulen und ich sagte:"Pass auf, wir machen das anders." Ich sah noch einmal in die Runde und sagte dann ganz laut: "Sag ihm doch einfach, dass er die Pfoten von deinem Rock wegnehmen soll, das traut er sich sicher nicht einmal bei seiner Frau zu Hause". Alle schauten auf uns — oh Gott, wie peinlich! Schräg hinter mir stand ein Matrose, zwei Köpfe größer als ich und doppelt so breit. Er saget:"Keine Angst, Mädels, ich hab das Schwein schon im Auge, ich warte nur auf die nächste Bahnstation." Der Zug fuhr mit einer riesigen Geschwindigkeit in den Bahnhof Ostkreuz ein, wo wir ja auch aussteigen mussten. Doch bevor wir zur Tür drängten, hatte der Matrose einen kleinen schmächtigen Mann hervorgezerrt — alle rückten zur Seite — auf einmal war auch Platz. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein und der Matrose reesst die Tür der S-Bahn auf — früher ging das noch während der Fahrt — er hatte das Männchen am Kragen, seine Beine berührten kaum den Bahnsteig. Der Matrose sagte: "Fang an zu laufen, ich glaube, der Fahrtwind wird dir gut tun", und liess ihn los. Alles im S-Bahnwaggon schrie auf. Der kleine Mann rannte und rannte und rannte, fast schaffte er es auch, aber dann schlug er doch der Länge nach hin. Die S-Bahn hielt, die Türen gingen auf — außer unserer, die war ja schon offen — die Leute stiegen aus, keiner kümmerte sich mehr um den kleinen Mann oder um uns. Wir winkten dem Matrosen noch zu und gingen zum Ausgang Sonntagstraße. In der Schule erzählten wir unsere Story und waren für heute die Stars des Tages. Man, war das ein Abenteuer!

Manchmal, wenn ich heute über Ostkreuz fahre, muss ich daran denken und lächle vor mich hin, ist das schon lange her. Das Männchen ist bestimmt heute über 80 oder nicht mehr da, und der junge Matrose hat bestimmt schon Familie wie ich jetzt.

Wieder ein anderer Tag auf dem Weg zur kaufmännischen Berufschule, wir bogen in die Boxhagener Straße, Ecke Marktstraße, ein und sahen viel Blaulicht und einen Krankenwagen. Da wir ganz interessiert auf die Lichter sahen und die vielen Polizisten, die da herumlaufen, haben wir das, was kurz vor uns auf dem Straßenrand liegt, nicht bemerkt.

Zwei Sekunden später krallte sich die Hand meiner Freundin in meinen Jackenärmel und sie fing an zu schreien und atmet ganz schwer. Jetzt sah auch ich, was sie völlig außer sich gebracht hatte. Da lag jemand auf der Erde mit einer Decke zugedeckt.

Es war ein junger schlanker Mann, er hatte eine Lederkombi an — ein Motorradfahrer, der gerade an dieser Ecke tödlich verunglückt war. Unter der Decke schaute seine Hand hervor, schneeweiß hob sie sich vom Schmutz der Straße ab. Diesen Anblick habe ich mein Lebtag nicht vergessen können. Noch oft habe ich von der schwarzen Gestalt auf der Erde und der schneeweißen Hand geträumt.

Die Polizisten kamen auf uns zu und sagten:"Bitte weitergehen", aber meine Freundin und auch ich waren nicht in der Lage einen Schritt zu gehen, wir starrten nur auf den toten jungen Mann. Ein anderer Mann in Zivil kam und schob uns sachte zur Seite, so dass wir nicht mehr auf die Leiche starren mussten, und drückte uns auf die Treppenstufen eines Hauses, das in der Nähe war, herunter. Er sprach ganz ruhig auf uns ein — ich weiß nicht mehr, was er alles gesagt hat, aber es tat gut. Nur den letzten Satz weiß ich noch wie heute. Er stellte sich direkt vor uns und sagte:"Das ist furchtbar für euch Mädchen, ihr wart zur falschen Zeit am falschen Ort. Wo müsst ihr hin?"

Wir stotterten was von Schule und da und zeigten mit dem Finger in die Richtung unserer Schule. Er zog uns wieder von den Treppenstufen hoch, nahm uns bei der Hand und ging mit uns bis zur S-Bahn-Unterführung, vielleicht 50 oder 100 Meter, mit. Langsam spürten wir unsere Körper wieder und setzten einen Fuß vor den anderen. Der Mann sagte:"Geht jetzt, ihr könnt nichts mehr für ihn tun."

Übrigens der Motorradfahrer — er war erst 19 und hatte das Motorrad ganz neu zum Geburtstag bekommen, das lasen wir dann in der Zeitung am nächsten Tag.

So vergingen die Jahre. Jedoch, wenn ich heute mit dem Auto an dieser Ecke Boxhagener und Markstraße vorbei fahre, denke ich immer noch an diesen jungen Mann. Für ihn war es sein Schicksal, für uns fing unser Leben erst an.


 

Thomas Rehaag
Barbara

 

Hoffmann schlenderte die Treppe hoch. Feierabendlicher Vorweihnachtsverkehr hastete von vorn und von hinten vorüber. Entsexualisiert, trist und zu modisch praktischen Paketen gebündelt. Beieinander und jeder gegen jeden. Ein gesellschaftlicher Ramschladen. Von Zug zu Zug hastend wie von einem mysteriösen Schwungwerk angetrieben.

Es gab Treppen in Odessa und Dieppe. Einmal waren es die Kosaken und der Panzerkreuzer und das andere Mal die Kanadier, die sich an den Stufen die Zähne ausbissen. Pfuschende Etappenhengste und korrupte Manager, "große historische Umbrüche", Rolltreppen auf und ab, moralisierende Politiker, Atomwaffen, Umweltverschmutzung, Weihnachten, Arbeitslosigkeit, absolutes Elend, Kinder schändende Familienfreunde, Billigangebote, anschaffende rumänische Transvestiten, unfähige Handwerker, kosmetische Operationen, Kriege, Videoüberwachung, gläserne Patienten und orientierungslose Pottwale.

Und heute biss sich selbst der Weltgeist in den Schwanz. Und nächstes Frühjahr wollten sie den Mist hier modernisieren. Im Westen gab's noch so ein Kreuz. Wahrscheinlich genauso meschugge wie das hier.

Das alles ging Hoffmann durch den Kopf, während er auf den Zug Richtung Frankfurter Allee wartete. Seine Klamotten gerieten langsam außer Form und das einzige Ehrbare an ihm bestand aus seiner stattlichen Korpulenz, einem akkuraten Haarschnitt und den auf Hochglanz polierten Halbschuhen.

Den ganzen Nachmittag hatte er sich treiben lassen: Bölschestraße, Spreetunnel, Müggelsee, Teufelssee, Müggelsee, Spreetunnel, Bölschestraße, Bahnhof. Düster, introvertiert, traurig, phlegmatisch, gebildet, intellektualisiert, gehässig, zynisch, ironisch, sarkastisch, angewidert, liebesbedürftig und verschroben paranoid. Eine allzu menschliche Hölle und ein verwundeter Drache mit aufrechtem Gang.

Er drängte sich in die überfüllte Bahn und drehte sich sofort zur Tür. In der rechten Hand trug er eine gegen die Hose schlappende Plastiktüte mit seinen Fressalien: zwei Büchsen Nasi Goreng, ein halbes Grillhähnchen vom Türken und zwei Büchsen Efes.

Seit vier Jahren wohnte er in einem modernisierten Altbau, Seitenflügel Hinterhof, zweiter Stock. Denkerflur, Innen-WC mit Waschbecken und Nasszelle, Küche, Zimmer, Heizung.

Aus seiner vorigen Bude musste er raus. Keine Mietschulden, nur ein etwas gründlicherer Umbau. Aus den mittleren Buden sollten zweistöckige Mansardenwohnungen werden mit Wendeltreppe und so, und auch die Außenklos und die Öfen kamen unter den Hammer. Und ausgerechnet er wohnte in so einer Mittelbude. Besser gesagt Höhle.

Seit seinem Einzug vor zwanzig Jahren hatte er kein einziges Mal renoviert und seine Vormieterin, eine ältere Nikotinistin im Perlonkittel, wohl auch nicht. Die von zubetonierten Kabelkanälen durchfurchte Raufaser war so stark vergilbt, dass kaum noch Blumenmotive zu erkennen waren, über der Küchenlampe befand sich ein schimmliger Wasserfleck, im Boiler war die Spirale durchgebrannt, das Abflussrohr hing auf halb acht, das Klo war mal wieder verstopft und jede Nacht fraßen sich die Mäuse durch die nackten Zimmerdielen. Und mit den Möbeln sah es auch nicht besser aus.

Am liebsten wäre er hier gestorben. Aber man ließ ihn nicht. Wegen all der Erinnerungen. Wegen des Flecks über der Couch.Wegen seiner letzten leidenschaftlichen Erfüllung vor zwanzig Jahren: Kathi, die erzgebirglerische Transe. Spack wie ein Kleiderständer. Picklige schmale Wangen. Blaugraue Katzenaugen. Dunkelblond gelockte Loden. Einen Kopf größer als er und keinen Schwanz und keinen Arsch in der Hose. Aber trotzdem. Er wusste auch nicht, was ihn ritt. Vielleicht sein Deo. Vielleicht der rätselhafte Schalk seiner Blicke, wenn er sich zwischen seinen Schenkeln abmühte oder ihm die Fußsohlen ableckte oder an diesen schlanken langen Zehen lutschte.

Oder er wollte diese in einem Mann gefangene Frau befreien, erwecken, beschützen, streicheln, behüten, glücklich machen ...

Nie hatte er gespürt, dass seine Mutter ihn liebte, und sein Vater war ein fremdgehender venerischer Pomadenhengst, den er nur aus dem Familienalbum kannte. Nichts als das verkrampfte Gehabe einer berufstätigen Hysterikerin, allein erziehenden Mutter, verschrobenen Hobbyliteratin, unglücklichen Liebhaberin, verunsicherten Schlägerin und sich quälenden Asthmatikerin.

Mit der Zeit stellte sich der neurotisierte Müll aus diffizilen Nörgeleien, gekränkter Eitelkeit und koketten Eifersüchteleien ein. Eines Nachts im Sommer gingen die Nerven mit ihnen durch und sie produzierten eine jämmerliche Szene. Und als die Klappe endlich fiel, drosch er Kathi aus der Bude. Barfuß und nur im Bademantel und mit seinem ganzen Fummel.

Vorsichtig klinkte er die Tür hinter sich zu, kickte die Schuhe ab, zog sich den Mantel aus und schlich in die Küche. Die reinste Festtagsbeleuchtung. Er leerte die Tüte, schnappte sich einen Teller und wälzte den Vogel aus der Folie. Den Teller in der Linken und das Bier in der Rechten trabte er ins Zimmer.

"Hey!", rief er leise. Babara lag im Slip auf der Matratze und blinzelte in die von den Fensterbrettern strahlenden Höhensonnen.

"Hi, Hoff."

Er setzte sich an den Tisch und drehte die Keule raus. Flutsch. Gleich hatte er die angebrannte Pelle am Wickel.

"Hey!" Er hielt die Hand drunter.

"Ja." Babara setzte die Sonnenbrille ab und rekelte ihm das Haupt zu. Sie sahen sich kurz in die Augen. "Gleich, Hoff..." Ihn ständig im Auge behaltend, streifte sie sich rasch den Slip ab und stand auf, die schlankgliedrigen Hände in die Taille gestemmt und mit dem Blick zu ihm. Die Pelle hinterschlürfend nickte er ihr beflissen zu. Geheminisvoll lächelnd wog sie sich leicht in den Hüften.

"Jetzt nicht, Babara." Sie betrachtend, nagte er die Keule ab und trank ein Schluck Bier.

Sie war ungefähr so groß wie Kathi, aber gebaut wie ein durchtrainierter Schwimmer, mit sehnigen Oberarmen, sich zart nach außen wölbendem Brustkorb, langen kräftigen Beinen, knochigen langzehigen Füßen, sich prall kugelndem Hintern und kaum sichtbarem Bauchnabel.

Das sich nach allen Seiten aufplusternde, rot-gelb-blau-grüne Haar fiel ihr tief in die Stirn bis knapp über die kräftig nachgezogenen, kohlschwarzen, schmalen Augenbrauen und die einige Millimeter ins Fleisch schneidene Nasenwurzel. Die Nase selbst war sehr flach, lang und kräftig geraten, mit breiten Nüstern und stumpfer Spitze. Über den eingefallenen Wangen lugten ihre seltsam grünen Mandelaugen hervor und ihr kantiges Kinn korrespondierte nur schwer mit dem sich keck nach oben stülpenden blassroten Mund.

"Okay", hauchte sie lasziv. "Was macht 'n dein Finger?" Sie stakste zu ihn hin und hockte sich neben ihn.

"Hmmm..." Er schmiss den Knochen auf den Teller und hielt ihr die rechte Hand hin. "Hat sich 'n bisschen zusammengezogen, die Schweinerei." Sie blinzelten sich lächelnd zu.

Gestern Abend hatte er sich beim Essen Zubereiten in den oberen Zeigefinger geschnitten, kurz unter dem Knöchel und bis knapp über die Ader. Bami Goreng. Der Pamps saß so fest in der Büchse, dass er die Gabel zu Hilfe nehmen musste, und der scharfkantige Deckel ragte senkrecht in die Höhe und er wurde wütend und rutschte ab und es blutete und blutete. Ins Waschbecken, in seinen Mund, auf das Linoleum und in die Pfanne.

Babara pulte das Pflaster ab und glitt mit der Zunge über den suppenden Spalt. Wieder und wieder. Ein kitzelnd dumpfer Schmerz strömte ihm durch Hand, Arm und Herz. Sein Glied geriet etwas in Fahrt. Sein Gesicht erhitzte sich zu einem pulsierenden Rot. Enerviert seufzend zerrte er sie an den Haaren zu sich hoch bis dicht vor sein Gesicht und starrte ihr böse in die Augen.

"Ist gut, Hoff. Ich zieh mir was an", sagte sie leise.

Über der Nähmaschine neben dem Bücherregal lagen ihre Klamotten, superenge, rotweiß gestreifte Leinenhosen, ein weißes Nicki mit dem Spruch "Ich liebe Streuselkuchen" in lila Sütterlinschrift, eine schwarze Nappalederjacke, graublaue, unten abgelatschte Polyestersocken und giftgrüne Schnürstiefel.

"Wir schmeißen uns zum alten Glaswerk. Die Gegend haste doch so gerne", palaverte er pro forma. Loslassend machte er sich über das Brustfleisch her. Sie stand auf und stakste zu ihren Klamotten.

Jedes Stück stammte von ihm. Außer die Socken und Schuhe natürlich. Liebevolle Maßarbeit. Er hatte es mal gelernt und seit seiner Entlassung schneiderte er schwarz, denn er hasste es zu sparen und kam mit dem mickrigen Hartz-4-Satz gerade so über die Runden.

Schlingend checkte er das Interieur ab. Neben dem Fenster an der Wand stand auf einem flachen Ablagetisch der Fernseher, ein Stück weiter links das mittelprächtige Bücherregal, es folgten der tief in die Ecke gedrängte Computertisch und sein wuchtiger Garderobenschrank aus solidem Span. Schräg hinter ihm, auf der salz- und pfefferfarbigen Auslegware gleich neben der Tür, stand der asbachuralte Tangentialplattenspieler mit den brummenden Boxen und in seinem Nacken wusste er noch drei übereinander gewürfelte längliche Bücherkisten aus nussbraunem Holz mit aufklappbaren gläsernen Türen und eingeschraubten Messingknäufen. Obendrauf ein Radio mit eingebautem Kassettendeck, vier Haufen Kassetten, eine gelbe tönerne Vase mit nach unten sprießenden Blätterranken und eine rote Schreibtischleuchte.

Als er sich die Finger abwischte, wurde Babara fertig.

Rings um den Tisch ordneten sich vier dunkelblau gepolsterte, hellbraune Holzstühle. Und über allem baumelte ein farbloser Lampion mit roter Birne.

Tisch, Bücherkisten, Plattenspieler und Garderobenschrank stammten von ihm. Die restlichen Möbel, die Matratzen, den Fernseher, die Auslegware, das Radio und den Computer hatten ihm seine Verwandten untergejubelt, weil man mit vierzig nicht mehr "so leben" konnte. Und er machte sich ab und zu Gedanken darüber, ob es jemals zu schaffen war, die Bude hier so runterkommen zu lassen wie die in der Proskauer.

Als er ihren Blick auf sich ruhen fühlte, stand er auf, griff nach dem Bier und brachte den Teller in die Küche. Gott sei Dank, wurde sie nie sauer oder machte ihm irgendwelche Szenen. Es sei denn... Blöd vor sich hinlächelnd schlappte er zum Fenster. Unterwegs klemmte er den Teller in die Abtropfe. Im Hof stand ein riesiger Baum, was für eine Sorte, wusste er nicht, da er sich aus Natur nichts machte. Nur in manchen Fenstern sah er Licht. Genüsslich schluckte er das Bier hinter. Ihn interessierten sie nicht. Vor den Fenstern hatte er weder Rollos noch Gardinen. Konnte durchaus sein, dass sie gerade einer durchs Fernglas belinste. Er knüllte die Büchse zusammen und stopfte sie in den Müll. "Die Perversen sind immer die anderen", dachte er, zurück ins Zimmer schlappend.

Als er eintrat, stand sie noch immer auf derselben Stelle. Rasch wandte er sich zur Seite und sah ihr in die Augen. Zögernd setzte sie sich in Bewegung. Sie kamen aufeinander zu. Auf halbem Wege trafen sie sich. "It's timing", murmelte er, sie in die Arme nehmend. Sie drängte ihn etwas zurück. Kein Wunder. Sofort sah er ihr in die Augen und hauchte ihr einen Kuss auf den Mund. "Ich zieh mir nur was über und dann hauen wir ab", stammelte er hektisch.

"Okay, Hoff." Er knipste die Höhensonnen und das Licht aus. Dann bugsierte er sie in den Flur und sie kramten ihre Sonnenbrillen hervor.

Unten hakte sie sich bei ihm unter. Sie passte sich seiner Schrittfolge an. Braves Mädel. Eisern hielten sie ihre Richtung. Immer an den Häuserwänden entlang ohne jemandem auszuweichen. Sie kamen gut voran und nach ungefähr vierzig Minuten erreichten sie die letzte Ampellinie vor der Stralauer Bucht. Unter der ersten Laterne schwang er sich herum und stellte sich ihr in den Weg. Er hatte so viel Bums drauf, dass ihnen die Sonnenbrillen auf die Nasenspitzen rutschten. Um so besser. Sie trat noch einen Moment auf der Stelle und stand still. Das war ihr einziger Fehler, aber sie arbeiteten dran.

"Hey!" Er kassierte die Sonnebrillen ein.

"Ja, Hoff." Ihr unters Kinn greifend okkupierte er ihren Blick.

"Pass mal auf. Das da drüben wird 'ne richtige Maßarbeit. Schlimmer als auf der Matratze. Also pass auf, wo du hin trittst, Engel. All right?"

"All right." Er trat aus dem Weg und sie hakte sich wieder bei ihm unter. Drüben hoffte er auf wenig Betrieb.

Sie folgten den aufgefädelten Neonrhomben um die Bucht schreitender Laternen. Der Weg schlängelte sich in eine scharfe Biege. Aus der angeblendeten Schummrigkeit zwischen den Lichtern sausten zwei Räder mit aufgeblendeten Scheinwerfern auf sie zu. Erst kurz voreinander bekam man sich mit. Sie rissen ihre Lenker nach rechts und umkurvten die eng beieinander liegenden, wegbreiten Pfützen. Hoffman meinte einen abgebissenen Fluch zu hören.

Periodisch krallte sie sich in seinen Arm. Ahnend erhofft und doch im Takt einer imaginären tickenden Wahrscheinlichkeit.

Die Jahre seit "Kathi"... Die Finsternis legte sich auf ihn wie eine unduldsame Nova: eisig, aufrichtig, nüchtern, beherrscht... Ihn verletzen sollende Liebschaften, schmachtende Illusionen, flüchtige Geschichtchen, Jobs, Auszeiten, Bekannte, Freunde. In Erinnerung geronnene Ironie und sich selbst vernichtender Sarkasmus - schließlich.

Der Weg zackte leicht empor. Die neue Turtelbank wirkte wie ein sich steril gebärdener Zweck und eine amorphe Schwester. Das erste Mal, dass sie ihm gefiel. Tief durchatmend rumpelten sie aus der Kurve. Links das Wasser. Rechts die Fläche mit den flachen Büschen, dem Hochspannungsmast und den sich wie riesige Reisigbesen in die Höhe streckenden Bäumen. Die Volleyballanlage. Der schwimmende Jugendklub. Die in eine stark konturierte Dunkelheit abreißenden Lichter.

Sie schwenkten zu den Ruinen ab. Ringsum scharfer Bernsteinschein. All das erschien ihm verhangen, unscheinbar und winzig.

Als sie aus dem Schatten des Durchgangs traten, versperrte ihnen eine seltsame Gestalt den Weg. Hoffmann erkannte ihn gleich, diesen ihm ständig begegnenden Schutzengel.

Er trug eine große Sonnenbrille, eine aus dem Leim gehende Dauerwelle, einen hellen Rollkragenpullover, irgendwelche Wildlederstulpen sowie eine dunkle Cordkluft und der einzige Lichtblick an ihm war sein wohl ständig verbundener rechter Unterarm.

Ihm zaghaft zunickend schlenkerte er an ihm vorbei und er hatte den Eindruck, dass er ihm verschmitzt zulächelte.

Keine Zeit. Mechanisch hielten sie den Takt bis über die Straße. Erst unter einer der Laternen vor der Brücke rempelte er gegen ihre Brust. Rasch starrte er ihr in die Augen. Sie trat noch ein Weilchen auf der Stelle. Dann blieb sie stehen. Er kramte die Sonnenbrillen hervor.

"Setz sie auf." Synchron nestelten sie sich die Dinger über die Nase. Arm in Arm kehrten sie um. Links vorne folgten sie dem Markgrafendamm in Richtung Wasserturm. Alle wichen ihnen aus. Das Spektakel nahm seinen lauf. "Des Kaisers neue Kleider", dachte er süffisant vor sich hin pfeifend. "Na, Gott sei Dank aber auch...." Der Durchgang zum Bahnhof, die Treppe, die Brücke, die Treppe, der Ausgang, die Straße... Mit ihnen klappte es immer besser.

Beim Überqueren der Waldeyer schnitten sie ein abbiegendes Müllauto. Der Kumpel trat auf die Bremse und zeigte ihnen den Stinkefinger. Unbekümmert flanierten sie weiter. Wahrscheinlich stand auf ihrem Orangemann der Spruch "Wir lieben Müll" und sie wollten so schnell wie möglich unter die Dusche und zurück zu ihren Familien oder hatten noch einige Fuhren runter zu reißen und dann erst. Egal.

In der Küche riss er sich ein frisches Bier auf und sah auf den Wecker. Gleich Viertel nach zehn. Derweilen stand Babara wartend vor der Matratze. Na ja, ihm gefielen Ginger Rogers und Fred Astaire. Er schlich ins Zimmer, knipste den Lampion an, zwinkerte ihr mit dem rechten Auge zu und schaltete den Computer ein. Während sich der Rechner hoch schaukelte, fischte er die CD aus dem gegen die Wand gelehnten Stapel und schob sie ein. Auf dem Bildschirm erschienen die aufgelisteten Titel und der bunt zackende Rythmustimer. Es ging los. Sich in den Knien wiegend soff er die Büchse aus.

"Hey!" Er ließ die Büchse fallen, löschte das Licht und schlurfte zu ihr hin.

"Ja, Hoff." Er nahm ihr die Brille ab und lächelte ihr in die Augen. "Zieh dir bitte die Schuhe aus. Ich will 'n bisschen tanzen."

"Okay." Sie tat 's. Ihre Socken muffelten nach frischem Schweiß. Sie schlangen die Arme umeinander. Nase an Nase, Auge in Auge, Schoß an Schoß wogten sie sich um den Tisch. Bei "Change Partners" kam es ihm vor, als ob er sich selbst führte. Es war sein Lieblingssong und er wiederholte ihn einige Male. Abrupt bekam er einen hoch. Ihr tief in die Augen blickend drängte er sie auf die Matratze und zwängte sich zwischen ihre Schenkel. Sie schuckelte ihn auf und ab, mit einigen überraschenden Schlenkern nach rechts und nach links und er wehrte sich mit einer Serie lascher Stöße. Von schräg hinten blinzelte sie der Rythmustimer an und all das kriegte eine verrucht perverse Note. Na wenn schon. Er war nun mal ein Schenkel-, Fuß- und Arschfreak und die Realität gab es schon lange nicht mehr her.

Auf und ab, Schlenker rechts, Schlenker links, Stoß, Stoß, Stoß...

Als die CD zu Ende war, spritzte er sich konvulsivisch gegen ihren Schoß stemmend ab. Sofort wurde sie ruhig. Er quälte sich hoch und tatterte zum Lichtschalter. "Einige Minuten zu früh", dachte er, den Lampion anknipsend. Er schlich zurück, wälzte sie auf den Rücken und krempelte die Jacke und das Nicki hoch. Über den Nieren befanden sich die Schmiernippel für die Gelenke. Ein Stück weiter oben, genau zwischen den Schulterblättern, steckten das Uhrwerk und der Hauptschalter. Er drückte den Schalter, deckte die Klamotten drüber und legte sich neben sie.

Barbara stammte aus einer Genfarm in Denver, Colorado. Er hatte ihnen per Brief die gewünschten Maße und seine speziellen Geruchsvorlieben übermittelt, sowie einen Fetzen Hornhaut beigelegt. Sie konnte ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen, benötigte ihre tägliche Dosis UV-Strahlen für die Solarzellen, Silikonöl für die Gelenke und genügend Auslauf für ihre Fitness. Was sie antrieb stand nicht im Katalog. Sie kostete tausend Euro und "Gentech" kam kaum nach.

Er zündete sich ein Zigarillo an und dachte sich ein paar neue Klamotten für sie aus. Morgen wird sie ein Jahr alt und er hatte es noch nie mit ihren Fußsohlen versucht. Mal sehen, ob sie da unten genauso empfindlich war wie Kathi.


Robert Göbel
Ostkreuz im Aufwind

 

Zu lange hockt der Krake
gekreuzt und altersschwach
am Rummelsburger Wasser
im Nebel und im Krach.

Und seine Arme ragen
nach West-Nord-Süd und Ost
im Innern, an den Nerven,
da nagt der Eisenrost.

Den düst’ren, hohlen Bahnhof
durchschreit' ich mit Entsetzen
ich seh den Strom der Menschen
von Bahn zu Bahnsteig hetzen.

Trepp’ auf, Trepp’ runter tragen
zigtausende von Füßen
versteinerte Gesichter
keine Zeit zum Grüßen.

Tatatata-Tatatata
Bremsen kreischen, dröhnen
ICEs stürmen vorbei
kein Zustand zum Gewöhnen.

Nach dem ersten Spatenstich
den Neubau will man wagen
draußen hocken Ungeheuer
die scharren, baggern, nagen.

Das Bahnhofshaus wird transparent
der Krake wird zerschlagen
rollende Treppen und Lifte
die können Menschen tragen.

Ein Treffpunkt wird das neue Kreuz
zigtausende von Füßen
ruhen und entspannen sich
und es bleibt Zeit zum Grüßen.


 

Stefanie Erdrich
Sinne im Nebel

 

Ich zögere an der Tür, obwohl ich nie etwas deutlicher wollte. Diesen Weg zurücklegen, alleine. Verboten habe ich ihm, mich zu begleiten. Ich will wieder ich sein, nicht Anhängsel. Nur ein kurzes Stück ist es, die Sonntagstraße hinunter bis zum Ostkreuz, zur S-Bahn und zurück. Nur ein kurzes Stück war es, früher. Alte Maßstäbe gelten nicht mehr.

Meine Angst begleitet mich zur Tür hinaus. Überrascht bleibe ich stehen, die Helligkeit blendet. Dicker, schwerer Nebel, ich sehe keine Armlänge weit. Dennoch fühle ich mich fast geborgen in einem unsichtbaren Schutzkreis, nichts Bedrohliches zu bemerken. Kein sichernder Blick die Straße hinauf und hinunter gehört mehr zu mir. Es gibt keine Gesichter, die eingeschätzt werden, nur Gestalten, Schatten, die vorbeihuschen.

Angewiesen bin ich auf die Sinne, die ich früher kaum beachtete. Schritte höre ich und Vogelgezwitscher, Frühlingsstimmung, das passt nicht in den Januar. Was machen die Vögel, sie sitzen und warten, bis der Nebel sich auflöst, bis sie alles wieder von oben betrachten können, aus sicherer Entfernung. Doch der Nebel ist nicht bei ihnen, bei mir ist er, nur bei mir, ich vergaß. Unsicher tappe ich Schritt für Schritt. Wie ein Kleinkind, das laufen lernt und dabei schwankt wie ein Betrunkener, der ständig droht, aus dem Gleichgewicht zu geraten.

Meine Straße im Nebel ist nicht auszumachen. Einfach geradeaus, bis es nicht mehr weitergeht. Es klingt leicht. Links surrt die Straßenbahn, ehe sie um die Kurve rumpelt, neben mir holpert ein Auto auf dem Kopfsteinpflaster. Ich höre eine ungeölte Fahrradkette und das Schattern des Schutzblechs. Fahrrad fahren, welche Freiheit.

Ich überquere die Holteistraße und stoße gegen einen fest stehenden Pfeiler, mein Knie schmerzt einschießend. Dicht neben mir brüllt ein Mann: "Haste ein Problem? Komm her, Alter!" Ein Streit am Imbiss, den ich nicht vorhersehen konnte. Erschrocken bin ich von der Plötzlichkeit der Lautstärke, für den Augenblick übertüncht der Schreck den Schmerz im Knie. Vorbei an den Stimmen, nichts als ein Meer von Weißgrau, dennoch scheue ich mich, an der Wand entlang zu tasten, an den Hauseingängen. Ich könnte einen Menschen berühren, der herauskommt. Ich schaue nach unten. Nicht einmal bis zum Boden kann ich sehen. Das übliche vor sich Hinstarren, um Lücken im Pflaster und dampfenden oder hart gewordenen Rückständen auszuweichen, es entfällt. Ich verliere die Orientierung, wo ist Geradeaus?

Langsam, sehr langsam bewege ich mich voran, das ist nicht meine alte Geschwindigkeit. Ich bewege mich wie durch Honig, die Arme leicht vorgestreckt. Dennoch, so zerbrechlich sie auch ist, ich bin froh über die Freiheit, alleine zu gehen. Freude, gepaart mit Angst vor Zusammenstoß, vor Verletzung. Die vertraute Umgebung, ich erkenne sie nicht, die alten Orientierungspunkte aufgelöst. Der Nebel ist milchig und undurchdringlich, ich bin noch immer geblendet. Die Augen könnte ich schließen, ich wage es nicht, aus Furcht etwas zu verpassen. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich da bin, wo ich glaube zu sein, es erinnert mich an einen Spaziergang im Wald meiner Kindheit, aber nein, der Boden ist anders, der Boden ist unverkennbar, die Schritte.

Gerüche spalten sich nicht heraus, schwere Januarluft, die kalt in die Lunge sinkt. Nur Erinnerung sind die Düfte, die in wenigen Wochen zurückkehren, die schönen und die schlimmen. Die süßliche Zone, die mich sofort den Atem anhalten lässt, um nur nicht mehr davon hineinzulassen. Ich denke an weiche Frühlingsluft, die Gerüche mit sich spazieren trägt, sie frei gibt. Die ersten blühenden Pflanzen, den Kaffeeduft und den Zimtgeruch frischgebackener Kuchen, vielleicht abgelöst von einer Geruchsstraße von gebratenem Fleisch und altem Frittierfett.

Sonne wärmt mein Gesicht, es erstaunt mich, den Nebel wähne ich überall. Sonne auf dem Gesicht, was macht das mit den Menschen, anders sehen sie aus, glücklich. Sehen kann ich es nicht mehr, das Lächeln auf den Gesichtern, Erinnerung. So wird es bleiben, immerzu tappen im Halbdunkel, auch im Sonnenschein, weil der Nebel nicht außen ist, sondern innen, in meinen Augen. Bedrohlich. Oder kann man das lernen, Vertrauen zu haben in eine Umwelt, die ich nicht sehe, die aber mich sieht, da der Nebel mich frei gibt? Sehen können sie mir mitten ins Gesicht, unverhohlen, direkt, sehen können sie meine Angst und Unsicherheit. Das Gesicht, wie ein offenes Buch, jeder kann hineingreifen. Die Maske habe ich noch drauf, in mich gekehrt, abweisend, doch was nützt sie mir, wackelig wie ich bin. Ich fühle mich schutzlos ohne Augen, die sind im Nebel, innen, doch nach außen gibt der Nebel mich frei.

Endlich komme ich an der Lenbachstraße an, ich überquere sie vorsichtig, ganz konzentriere ich mich auf Motorgeräusche, nichts ist zu hören. Dann stoße ich rechts auf den Bauzaun, an dem ich es wage, mich festzuhalten, mich entlang zu tasten, gleich bin ich da. Mein Herz klopft schneller, ich schaffe es alleine, ich habe es gewusst, ich schaffe es. Ein Motor heult auf, ich erschrecke, der Zaun ist zu Ende und ich wage es nicht, ihn loszulassen. Ich höre ein Knirschen unter meinen Schuhen, es klingt hart und erschütternd, es sind Scherben einer Bierflasche, auf die ich getreten bin. Es klingt grausam und kalt und das Glück, bis hierher gekommen zu sein, verpufft. Ich kann nicht mehr, nicht noch einmal den ganzen Weg zurück, heute nicht. Die Sinne spielen mir einen Streich, mehr ist auf mich eingeströmt, als ich verkrafte. Ich sacke zusammen, in die Hocke, ein kleines Paket, sichernd die Arme um die Knie gelegt. "Anne?", sagt die vertraute Stimme, "Anne?"

Ich bin erleichtert, weil er nicht auf mich gehört hat, er ist mir gefolgt und ich bin nicht allein.


 

Doris Bewernitz
Operation Schneewittchen

 

Die Luft war zum Schneiden. Felix rauchte seine Pfeife, Moritz, Siggi und Frank Zigaretten und die beiden Nichtraucher Max und Edmund öffneten ab und zu aus Notwehr das Fenster. Sie kannten sich schon lange. Alle wussten von der üblen Geschichte, die Felix passiert war, und die Empörung saß ihnen im Hals.

"Leute, ist das eine Suppe hier!", stöhnte Max, während er das Fenster aufmachte. "So ein Nebel wünsch' ich diesem Knastor auf der Baustelle..., entschuldige, Felix." Mit den letzten Worten spielte er auf Felix' Bitte an, den Namen Knastor in seiner Gegenwart nicht mehr zu erwähnen.

"Nichts leichter als das", witzelte Edmund, der zuletzt Techniker bei der DEFA gewesen war, "ich hab noch 'ne Nebelmaschine zu Hause." Plötzlich waren alle Feuer und Flamme und überraschten Felix mit einer geballten Ladung solidarischer Freundeskraft. "Das wär's doch, Mensch! Wir bauen Eddis Maschine nach, stellen die Dinger rund um den Bahnhof auf und nebeln ihn zu!", rief Moritz, seines Zeichens Konstrukteur. Darauf erzählte Siggi etwas von alten Luftschutzkellern, er hätte mal Pläne davon gesehen und meinte, die könne man doch wunderbar zur Aufstellung der Maschinen und als Versteck nutzen, sozusagen für die Arbeit im Untergrund. "Sag mal, wie funktioniert denn so eine Nebelmaschine?" "Eigentlich braucht man nur Wasser." "Ob's das da unten gibt?" Die fixe Idee nahm immer mehr Gestalt an. Morgens war der Plan gefasst. Wie im Bergwerk würden sie arbeiten, wie die sieben Zwerge, und den Bahnhof, ihre geliebte Prinzessin, eine Zeit lang unsichtbar machen, so dass ihm niemand etwas antun könne. Der Name ergab sich dann ganz von selbst: "Operation Schneewittchen".

"Aber wir sind nur sechs Zwerge", lachte Edmund und rieb sich die Augen vor Müdigkeit. "Vielleicht steigt ja der Nebelgott persönlich mit ein und gibt ein paar echte Schwaden gratis dazu!"

In den nächsten Wochen hatten Felix und seine Freunde viel zu tun.

 

Es war ein Kampf David gegen Goliath gewesen. Die Ausschreibung zur Umgestaltung des Ostkreuz-Bahnhofs hatte sich über Jahre hingeschleppt, bis die Jury schließlich zwei Konzepte favorisiert hatte: die von Felix Grundmann und Michael Knastor. Zwei Entwürfe, die verschiedener nicht hätten sein können. Knastor hatte einen Umbau à la Hauptbahnhof vorgeschlagen: Stahl, Glas, Beton. Felix' Konzept ging von einer behutsamen Instandsetzung aus, bei der die Grundstruktur im Großen und Ganzen erhalten werden sollte. Natürlich hatte er Fahrstühle, behindertengerechte Übergänge und eine Erneuerung der maroden Substanz vorgesehen. Aber schonend. Es sollte nicht ein gesichtsloses Monstrum werden, von denen es in Berlin mittlerweile mehr als genug gab. Auf den ersten Blick würde der Bahnhof aussehen wie immer. Nur schöner.

Felix' Entwürfe hatten anfangs, nicht nur wegen der günstigen Finanzierung, etliche Geldgeber interessiert. Zuerst hatte Knastor ihn nur ausgelacht und als "ewig Gestrigen" beschimpft. Ihm vorgeworfen, er wäre nicht innovativ. Als sie aber beide als letzte Bewerber übrig geblieben waren, wurden seine Intrigen immer perfider. Bei der entscheidenden Sitzung hatte er sich mit dem scheinheiligsten Gesicht zu Wort gemeldet:

"Haben Sie sich das gut überlegt, meine Herren? Wollen Sie das Projekt wirklich jemanden geben, dessen Fahrstil einen Menschen umgebracht hat?" Wäre Felix abgebrühter gewesen, hätte er solch ein Vorgehen abschmettern können: "Unsachlich, gehört nicht hierher…" Doch ihm war, als hätte ihm jemand in den Magen getreten. Fast hätte er sich übergeben. Er schaffte es gerade noch, seine Papiere in die Aktentasche zu stopfen, seine Krücke zu greifen und den Raum zu verlassen. Er wusste: Auf diese Art von Schlagabtausch konnte und wollte er sich nicht einlassen.

Woher hatte sein Konkurrent diese Informationen? Woher wusste er von dem Verkehrsunfall vor fünf Jahren, bei dem Felix nicht nur sein linkes Bein, sondern auch seine Frau verloren hatte? Dieser Schicksalsschlag hatte ihn verändert. Er hatte Margot geliebt. In den fünfundzwanzig Ehejahren war das eher noch mehr geworden. Da nützte es ihm nichts, dass es nicht seine Schuld gewesen, dass der betrunkene Lastwagenfahrer wie aus dem Nichts in sie hineingerast war. Jetzt musste er mit der Lücke leben, die Margot hinterlassen hatte.

Seine Mitarbeiter hatten ihm später geschildert, wie Knastor seine "Flucht" anschließend quasi als Schuldeingeständnis dargestellt und sich obendrein reinzuwaschen versucht hätte, indem er beteuerte, dass er seinem "Kollegen" ja beileibe nichts Böses wolle, aber zum einen sollte man bedenken, dass Körperbehinderte in der Regel labile Menschen seien, das Ostkreuzprojekt erfordere jedoch ein solides Nervenkostüm, und zum anderen mögen sie doch ruhig nachprüfen, was an der Verkehrsunfallgeschichte dran sei, er habe nur am Rande davon gehört… Natürlich wusste er genau, dass gar keine Zeit mehr zum Nachprüfen war.

Für Felix war das ein harter Schlag. Er hatte sein Herz an dieses Projekt gehängt. Nun versucht er sich einzureden, dass der Schmerz bald vorbeigehen würde. Sein Freund Max meinte: "Du solltest nicht aufgeben, Felix. Dein Konzept ist viel besser als seins!"

"Nein, Max, es ist aus. Mich mit solchen Leuten anzulegen, verkrafte ich nicht mehr. Die Arbeit von vier Jahren zum Teufel…"

Felix' Team stieg aus dem Vorhaben aus. An die Öffentlichkeit drang von all dem nichts. Das Ostkreuzprojekt galt nun als Knastors Sache. Der war es zufrieden.

Während in Felix' Küche die Schneewittchen-Idee heranreifte, saß Knastor mit seiner Frau im Wohnzimmer, sah sich die Tagesschau an und strich sich selbstzufrieden über seinen nicht unerheblichen Bauch, als er den Sprecher seinen Namen sagen hörte: "Mit dem Umbau des Ostkreuz-Bahnhofs, eines S-Bahn-Knotenpunktes in Berlin, wird voraussichtlich im April 2007 begonnen. Der Architekt Michael Knastor, der für seine Pläne den Senatszuschlag erhielt, wird gleichzeitig die Bauaufsicht übernehmen. Die voraussichtlichen Kosten belaufen sich auf vierhundert Millionen Euro". Als er die Summe hörte, grinste er. Sie glaubten aber auch alles! War das ein Kampf gewesen, besonders gegen diesen letzten Konkurrenten, wie hieß er noch, Felix Grundmann, der ihn mit seinem niedrigen Finanzbudget fast aus dem Rennen geworfen hätte! Hätte er nicht seine Zuträger gehabt, wer weiß, ob es gut ausgegangen wäre. Aber so hatte er einiges über den Alten erfahren und konnte ihm im rechten Augenblick den entscheidenden Schlag versetzten. Wunderbar, wie der reagiert hatte! Das übertraf all seine Erwartungen. Dazu noch ein paar geschickte finanztechnische Winkelzüge, so dass er mit seinem Budget haarscharf unter dem vom Grundmann kalkulierte…, diese Gurken haben ja keine Ahnung. Und schon hatte er den Zuschlag!

"Die werden sich noch umgucken!", lachte er, "nicht meine Schuld, wenn sie nicht nachrechnen, oder, Mutti? Wo ist denn auf Großbaustellen je ein Finanzplan eingehalten worden?" Er schnalzte mit der Zunge und fühlte sich wie ein Held.

Mutti, genauer gesagt Elfriede Knastor, sagte das, was sie immer sagte: "Ja, Michael."

"Na, ein bisschen mehr Begeisterung könntest du schon zeigen, meine Liebe. Weißt du, was das für uns bedeutet? Das gibt einen schönen Lebensabend in Monaco, erst das Geld raus, dann wir hinterher. Sobald die Kiste steht. Denn ein bisschen hat dein Göttergatte gemogelt und wenn das klar wird, müssen wir ja nicht mehr hier sein…"

"Aber Michael, was sagst du da? Ist das nicht gefährlich? Ich meine…"

"Mutti, du meinst gar nichts. Du hältst schön deine süße Klappe, nicht wahr, du hast sowieso keine Ahnung. Und ansonsten, vertrau mir." Damit war das Gespräch für ihn erledigt.

 

"Morgen geht's also los", sagte Felix, als er den Fernseher ausstellte. "Schade, dass wir keinen Probelauf machen konnten. Und meint ihr wirklich, dass Knastor sich davon beeindrucken lässt?"

"Du alter Skeptiker, wird schon klappen", meinte Siggi, "auf jeden Fall ärgern wir ihn".

"Also dann, Umzug heute Nacht. Haben wir alles?" Die vernebelte Luft in Felix' Küche machte der Operation Schneewittchen bereits alle Ehre. Die Männer nickten sich zu. "Na, dann helfe uns Gott", meinte Frank. "Ja", lachte Moritz, "Zwerg Nummer sieben".

Sie hatten eine arbeitsreiche Zeit hinter sich. Die Luftschutzkeller gab es tatsächlich. Die acht Räume, die durch Gänge miteinander verbunden waren, boten genug Platz. Zwölf Maschinen standen an Ort und Stelle, sechs Klappbetten waren aufgebaut, Geschirr, Spirituskocher, Taschenlampen, diverse Essenvorräte, Tabak, Zigaretten, Notfallmedikamente und ein kleines Radio. Zum Glück hatten sie in einem der Keller ein altes Wasserrohr und sogar noch einen funktionierenden Elektroanschluss entdeckt. Sie waren bereit.

 

Am 10. April 2007 steckte die Sonne zaghaft ihre rosavioletten Morgenstrahlen über die Frankfurter Allee, als Knastor mit seinem Mercedes einem kleinen Polo die Vorfahrt nahm. Er hatte es eilig. Schließlich warteten alle nur auf ihn. Der Wetterbericht hatte ein Hoch angekündigt. Zur Feier des Tages trug er seinen neuesten Anzug, den ihm seine Sekretärin Monic empfohlen hatte. Überhaupt, diese Sekretärinnen! Er hatte jetzt drei und konnte sich kaum entscheiden. Natürlich stand ihm nicht im Mindesten der Sinn danach, mit seiner Ehefrau Elfriede auszuwandern. Schließlich war er ein Mann in den besten Jahren. Doch Elfriede würde das kleinere Problem sein. Ein Kinderspiel bei ihrer geradezu krankhaften Vorliebe für Pralinen. Sie aß immer die ganze Schachtel auf einmal, da konnte er sich drauf verlassen. Und ihr Herz war nicht mehr das beste. Also eine kleine Überdosis Digimerk und – zack. Aber das konnte er später erledigen. Jetzt galt es am Ball zu bleiben, bis er das Geld hatte. Und dann musste er sich noch entscheiden, mit welcher der drei Sekretärinnen…

"Guten Morgen, Herr Knastor! Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem großen Tag!" Der Polier erwartete ihn am Eingang Sonntagstraße. "Wir haben noch etwas Bodennebel, aber das wird sich wohl gleich geben. Die Kräne sind aufgebaut und alle Mannschaften zur Stelle."

"Wunderbar. Dann kann's ja losgehen. Bodennebel? Haben sie doch gar nicht angesagt. Na ja, keine Zeit verlieren. Also, meine Herrschaften: Ortsbegehung vor dem Start."

"Also, das ist…" Knastor hatte mit seinen Leuten den unteren Bahnsteig betreten, runzelte die Stirn und rieb sich die Augen. Er sah nichts. Undurchdringlicher, weißgrauer Dunst umgab ihn. Fast wäre er in einen Bohrschacht gefallen. "Eine Sauerei ist das, stellen Sie das sofort ab!", schnauzte er, woraufhin der Polier ihn an den erwähnten Bodennebel erinnerte.

"Dann setzen Sie die Halogenfluter ein, verdammt. Wir beginnen pünktlich!"

Wäre eine bessere Sicht gewesen, hätte man den Bahnhof mit einem Lagerhaus verwechseln können: Kräne überragten die alten Dachkonstruktionen, auf jeder verfügbaren Fläche türmten sich Schweißanlagen, Stahlträger, Zementsäcke, Stein- und Glasplatten. Zusätzlich machten Absperrungen und Baugruben den Passagieren, die verzweifelt versuchten ihre S-Bahn zu finden, schwer zu schaffen. "Das ist unmöglich!", fluchte Knastor. Der Nebel hing über den Gleisen wie eine Glocke. Die Umrisse der Bahnsteige verschwanden, das Blumenhäuschen vor ihm war gerade noch zu erkennen, die ausgestellten Sträuße allerdings geisterten wie verwaschene Farbkleckse durch das Grau. Menschen tauchten auf dem Bahnsteig auf, gingen ein paar Schritte und waren schon wieder verschluckt. In der Ferne erkannte er die Spitze des Wasserturms, sie sah aus als schwebe sie in der Luft. Die unteren zwei Drittel waren im Dunst verschwunden. Geradezu unheimlich. Knastor konnte sich nicht erinnern, jemals solch einen Nebel erlebt zu haben. Er hatte Mühe, aus dem Bahnhof wieder herauszufinden.

 

Felix und seine Freunde fuchsten sich schnell ein. Drei von ihnen hatten immer Bereitschaft an den Maschinen, die sie jeweils kurz vor Sonnenaufgang anstellten und die zur Zufriedenheit aller wunderbar funktionierten. Die anderen kümmerten sich ums Essen oder hielten Wache am Eingang. Sie mussten vorsichtig sein, vor allem leise. Ein Wachdienst mit Hund war auf der Baustelle postiert worden, der sogar nachts seine Runde drehte.

"Ob sie Verdacht schöpfen?", meinte Edmund.

"Warum sollten sie, ist doch 'n ganz normaler Nebel…" Felix' und Edmunds Feldbetten standen nebeneinander und abends flüsterten sie oft lange miteinander: Sie konnten beide schlecht einschlafen, Felix dachte an Margot und Edmund an die DEFA. Dafür wachten sie ohne Wecker auf, was in dieser Situation sehr vorteilhaft war. "Mensch, Felix, hätt'st du dir träumen lassen, dass wir auf unsere alten Tage noch solche Zwergenfaxen machen?" Ja, es bereitete ihnen tatsächlich Vergnügen. Ein wenig fühlten sich alle sechs in ihre Kinderzeit zurückversetzt, erzählten sich Ferienlager- und Abenteuergeschichten. Felix hatte sich lange nicht mehr so wohl gefühlt.

 

Knastor wurde immer nervöser. Seit Wochen schoben sie den Bau jetzt schon auf. Und er musste diese ganzen Idioten bezahlen, die nur herumlungerten und darauf warteten, mit der Arbeit beginnen zu können. Im ganzen Land war das Wetter paradiesisch. Nur auf seiner Baustelle nicht. Neuerdings hatte er ständig denselben Alptraum: Er ist vollkommen von kleinen Tröpfchen eingehüllt, bis er sich vorkommt wie in einem Aquarium. Selbst die Geräusche der einfahrenden Züge hören sich ganz künstlich an. Riesige, erfolglos kämpfende Halogenfluter, die aussehen wie Kraken, wabern zusammen mit seinen drei Sekretärinnen durch einen immer dichter werdenden Nebel, der ihm schließlich sogar die Sicht nimmt, als er sich daran macht, das Digimerk in Elfriedes Pralinen zu füllen. Stattdessen tut er es in seinen eigenen Kaffee… Schweißgebadet erwachte er dann immer und lief wieder und wieder zum Fernseher, um sich die Wetterprognosen anzusehen. Sie besagten durchweg das Beste für Berlin. "Aber das ist unmöglich!", schimpfte er. Die Fluter hatten gar nichts gebracht, trotz der stärksten und teuersten Lampen, die sie verwendet hatten. Die Sicht verbesserte sich von zwei auf drei Meter, das war alles. Er hatte sich beim Meteorologischen Institut in Potsdam über den Wetterbericht beschwert, daraufhin kamen Fachleute von dort, liefen nun auch noch auf dem lahmgelegten Bahnhof herum, machten Messungen und sprachen von einem einzigartigen Phänomen, dessen Ursache sie "sicher bald ergründen" würden. Doch nichts geschah. Das Telefon wurde sein Kampfgerät. "Hallo? Hier Knastor. Haben Sie endlich was rausgekriegt? Sie wissen nicht, wer ich bin? Sehen Sie keine Nachrichten? Ja, holen Sie Ihren Chef, zum Teufel noch mal."

"Matschke, Meteorologisches Insti… Ach Herr Knastor, ja natürlich. Entschuldigen Sie, meine Sekretärin hat Sie wohl nicht… Aber so beruhigen Sie sich doch. Ich kann Ihre Situation völlig verstehen. Dieser Ostkreuz-Nebel, ein schreckliches… - Wie? – Nein, das tut mir außerordentlich leid, unsere Spezialisten haben noch nichts herausgefunden. Es ist uns ein Rätsel. Ich kann es mir nicht im Geringsten erklären. Wetter ist Wetter, sage ich immer.  Vielleicht will der Bahnhof nicht umgebaut werden… – Was? – Aber ich kann doch nicht… - Bitte? Ich bin nicht schwerhörig! Ja, natürlich müssen Sie mir die Spezialisten bezahlen. Sie haben mich doch beauftragt. Was das kostet? Aber Herr Knastor, das kann ich nicht so aus dem Hut… Ich soll die Männer auf der Stelle abziehen? Also jetzt hören Sie mal… Nun werden Sie nicht beleidigend! Was heißt hier nichtsnutzige Wetterfrösche?! – Nein. – Auf gar keinen Fall! Wie Sie wünschen. – Die Rechnung schicke ich Ihnen. Auf Wiederhören."

Knastor war ein Nervenbündel und wurde täglich ungenießbarer. Er fragte sich, wie er diesen Ausfall je wieder einholen sollte. Die Zeit rannte ihm davon, die ersten Investoren machten Druck, sie wollten Ergebnisse und vor allem ihre Werbeplakate am Bahnhof sehen. Fotografen rückten an und ebenso kopfschüttelnd wieder ab. Mit Sehen war hier gar nichts. Reporter bedrängten ihn mit sinnlosen Fragen. Er hätte sie alle umbringen können. Selbst seine reizenden Sekretärinnen gingen ihm mittlerweile aus dem Weg und erfanden fadenscheinige Ausreden, wenn er, um seinen Frust zu vergessen, mit ihnen ein Schäferstündchen abhalten wollte. Der Baustart verzögerte sich von Woche zu Woche. Er würde Ärger kriegen, wenn nicht gar den Auftrag verlieren. Wie konnte dieser verdammte Bahnhof so lange im Nebel liegen, wo ansonsten in der ganzen Stadt das schönste Frühlingswetter herrschte?

 

Felix stand hinter dem verbarrikadierten Kellereingang und sog genüsslich an seiner Pfeife. Seine Armbanduhr zeigte halb fünf. Er wusste, dass Max jetzt die Maschinen hochschaltete. Durch eine Bodenritze konnte er ein Stück vom Sternenhimmel erkennen. Eine unbändige Sehnsucht überkam ihn: Himmel, Sonne, frische Luft! Obwohl sie sich wirklich alle sehr um Fassung bemühten, zeigten sich doch schon die ersten Gefängnisallüren. Sie waren jetzt zwei Monate hier. Wie lange würden sie noch aushalten? An Vorräten mangelte es ihnen nicht, auch auf Gemütlichkeit konnte er getrost verzichten, aber dieses Eingesperrtsein, das schlug ihm zusehends auf die Seele! Eine richtige frische Mahlzeit hätte er auch gern mal wieder gegessen, er träumte schon von Äpfeln, Weintrauben und grünem Salat. Und Knastor gab natürlich nicht auf. Das wäre in den Nachrichten gekommen. Es war immer nur von einer Verschiebung aufgrund starken Nebels die Rede. Was hatten sie sich eigentlich gedacht? War das ganze Unternehmen nicht wirklich kindisch?

"Verdammt Felix!" Max kam atemlos auf ihn zugerannt. "Das Wasser! Irgendjemand muss es abgestellt haben. Oder die alten Rohre haben schlapp gemacht und sind irgendwo gebrochen. Es kommt nichts mehr! Kein Tropfen!"

"Ja, dann…" Felix verstummte, als er in das Gesicht seines Freundes sah. So sang- und klanglos sollte alles vorbei sein? Die ganze Mühe – für nichts? "Wenigstens haben wir ihn ein bisschen geärgert, oder?" Max erriet seine Gedanken und protestierte so lautstark, dass Felix ihm die Hand vor den Mund hielt. "Der Wachschutz!", flüsterte er, legte seinem Freund den Arm um die Schulter und schob ihn den Gang hinunter zu den anderen. Betroffenheit machte sich breit. Moritz und Siggi beschlossen, sich sofort auf die Suche nach dem eventuellen Rohrbruch zu machen. Frank meinte, vielleicht fände man noch eine andere Wasserquelle. Es klang nicht sehr überzeugend. Schließlich hatten sie alle erreichbaren Kellerausläufer schon gründlich in Augenschein genommen. Edmund drehte wortlos den Spirituskocher an und machte sich daran, drei Büchsen Bohneneintopf zu öffnen.

"Mach doch lieber erst mal Kaffee", meinte Max

"Geht wohl schlecht", entgegnete Edmund, "ohne Wasser".

Sie würden aufgeben müssen, dachte Felix. Hier waren keine anderen Wasserrohre. Wahrscheinlich war es den anderen ebenso klar. Aber keiner wollte es aussprechen. Sie mussten es erst verdauen. Jeder für sich.

 

Ein Freudenschrei hallte durch Knastors Wohnzimmer. "Klare Sicht! Wir legen los!", verkündete der Polier am Telefon. "Ist das wahr?", schrie Knastor, "gucken Sie auch richtig?" "Klare Sicht, Mutti! Klare Sicht!", schrie er wie von Sinnen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Das Telefon fiel ihm aus der Hand. Fast hatte er schon begonnen, an göttliche Rache zu glauben und nun fühlte er, dass doch noch ein Rest Verstand in ihm war. Irgendwo. Irgendwo in ihm. Er musste ihn jetzt nur schnell finden. Einen klaren Kopf behalten. Sein Schädel brummte. Irgendwo hatte er doch diese Kopfschmerztabletten... "Klare Sicht, klare Sicht…" murmelte er und griff nach dem ersten besten Tablettenpäckchen in seiner Nachttischschublade.

 

Auf der Baustelle erhob sich an diesem Morgen ein unglaublicher Lärm. Der so lang gebremste Arbeitseifer schien sich augenblicklich entladen zu wollen. Es klang, als würde eine Bombe nach der anderen explodieren und alles in Schutt und Asche legen.

Felix und seine Freunde löffelten mit resignierten Gesichtern ihre Bohnensuppe. Putz rieselte von der Kellerdecke. Moritz und Siggi waren von ihrer Suche stumm zurückgekommen, hatten die Köpfe geschüttelt, mit den Schultern gezuckt und sich dazugesetzt. Eine Weile war nur das Scheppern und Bersten von oben zu hören. Die Männer versuchten, Haltung zu bewahren.

"Eine Kälte ist das hier", warf Edmund hin. "Und so feucht."

"Richtige Rheumaluft", gab Siggi zurück, "Zeit, dass wir rauskommen".

"Na ja", meinte Max schließlich, "bei dem Krach merkt wenigsten keiner, wenn wir uns davonmachen".

Felix räuspert sich. "Trotzdem Leute, ich… danke euch…". Er hatte mehr sagen wollen, doch jetzt steckte ihm ein riesiger Kloß im Hals.

"War 'ne gute Zeit", entgegnete Moritz, "'n richtiges Abenteuer".

Plötzlich verstummte der Lärm über ihnen so abrupt wie er begonnen hatte. Erstaunt sahen sie sich an. Sie lauschten. Es blieb still. Frank stand auf und drehte das Radio an. "Achtung, Autofahrer!", sagte der Sprecher gerade, "ganz Berlin ist von einem dichten Nebel bedeckt, der sich während der letzten halben Stunde schlagartig ausgebreitet hat. Die Sicht beträgt weniger als fünf Meter. Es wird dringend geraten, die Fahrzeuge nach Möglichkeit nicht zu benutzen. Die Polizei befürchtet ein Verkehrschaos…"

"Also doch!" Felix strahlte. "Der siebte Zwerg! Der Nebelgott! Na, der hat sich den richtigen Zeitpunkt ausgesucht! Dann können wir Schneewittchen ja ihm überlassen. Leute, kehren wir in die so genannte Zivilisation zurück! Kommt ihr mit zu mir? Auf 'n frischen Salat und 'ne ordentliche Dusche?"

 

Es sei noch erwähnt, dass Herr Michael Knastor, als der Polier ihn anrief, um ihn vom erneuten Nebelausbruch zu unterrichten, nicht mehr ans Telefon gehen konnte. Um diese Zeit befand er sich gerade unter den Händen zweier erfahrener Notärzte, die sich redlich mühten, sein Herz wieder in Gang zu setzten. Versehentlich hatte er das Elfriede zugedacht Medikament eingenommen, und zwar die gesamte Packung mit zehn Tabletten. Es grenzte an ein Wunder, dass er gerettet werden konnte. Da er allerdings nur noch die Worte "Klare Sicht? Das ist unmöglich!" von sich gab, wurde er in die Nervenklinik eingewiesen. Diagnose: Paranoide Persönlichkeitsstörung, Größenwahn und ausgeprägte Nebelphobie.

Schwester Anni, die geduldig genug ist, sich wieder und wieder seine absurde Ostkreuz-Geschichte anzuhören, von der sie natürlich kein Wort glaubt, nickt ihm freundlich zu und sagt dann zu ihren Kolleginnen: "Na ja, der Knastor, eben ein bisschen vernebelt im Kopf…"

Das Ostkreuzprojekt wurde übrigens aufgegeben. Offizieller Grund: Berlin ist mehr als pleite. Der Bahnhof erstrahlt wie eh und je im bekannten morbiden Charme und gilt inzwischen als heißer Tipp unter Touristen.


 

Josef Ludwig
Franziska

 

Also gingen die zwei entgegen der sinkenden Sonne,
die in Wolken sich tief, gewitterdrohend verhüllte,
aus dem Schleier bald hier, bald dort
mit glühenden Blicken
strahlend über das Feld die ahnungsvolle Beleuchtung.

Goethe, Hermann und Dorothea

Für meine Enkelkinder Fritzi und Bruni am verträumten Ostkreuz in Berlin-Friedrichshain

Die Alten wussten um eine Geschichte, wonach ein Junge unserer Familie eine schöne Prinzessin gefreit. Sie meinten, es wäre die lautere Wahrheit, und doch glaubte kaum jemand daran. Man hielt sie für ein Märchen und damit hatten die Leute wohl recht, denn sie hörten von seltener Liebe, die dem Ahnherrn zuteil geworden sein soll:

Zwischen Wiesen und Wald lag mein Dörflein bescheiden ausgebreitet, das weiße Kirchlein erhöht in der Mitten und am Rande geschmückt mit einem blinkenden See. Unweit lag das Herrenhaus in einem weiten Parke. Gewaltige Bäume schlossen es ein und hielten gleich Riesen Wache. Nur die Kuppel ragte über die Wipfel hinaus; sie strahlte golden im Sonnenlicht und schien des nachts eine Krone zu sein, besetzt mit blitzenden Sternen.

Das Land war fruchtbar, mit einem milden Klima gesegnet und konnte zwei Ernten geben. Es gehörte dem Herrn Baron, soweit das Auge nur reichte, mit allem was sich darauf befand, die Menschen eingeschlossen. Die Bauern aber drückte die Fron, sie grollten in ihren Hütten und manch einer ballte die Faust — so war hier wohl doch nicht Eden.

Eigentlich gehörte ich nicht hierher und war nur Gast, auch wenn ich mich zugehörig fühlte. Die Eltern hatten mich hierher geschickt und so lebte ich beim Gutsverwalter, der ein Bruder meiner Mutter war. "Sieh dich dort um", hatte Vater mir gesagt, "wenn du einmal der Bauer bist, wird dir die Reise nützen!"

***

Baron und Baronin waren bereits in den Jahren mit schon erwachsenen Kindern. Ein Mädchen aber war noch nachgekommen mit großem Abstand zu den Geschwistern. Das nun wollte unterhalten sein und brauchte dazu einen Spielgefährten. Die Herrin bestimmte mich dazu, wohl da ich nicht als Bauernjunge zählte und so zur Not als brauchbar galt. Ich wurde ernsthaft durch sie eingewiesen:

"Du darfst mit Franziska zusammen sein ('Welche Gnade', dachte ich mir, 'mit diesem Fratzen!'), doch denke daran, sie ist ein Fräulein und du hast sie zu achten mit allem Respekt. Du musst ihr dienen und willfährig sein, ganz gleich, was sie auch fordert. Nur pass gut auf, dass ihr nichts Böses geschieht, ich müsste dich hart dafür strafen!"

Nach dieser Belehrung wäre ich gerne weggelaufen; der Oheim aber machte Mut: "Ich weiß, das Fräulein ist verwöhnt, doch ist es auch ein liebes Kind, vielleicht könnt ihr sogar Freunde werden."

Die ersten Tage waren mir ein Greuel; ich fühlte mich zum Dienst gezwungen, das Hexlein aber zierte sich und ließ mich den Abstand zu ihr fühlen. Allmählich jedoch legte sich die Spannung, der Ausbund wurde nett und freundlich und meine Pflicht begann mir leidlich zu gefallen.

Zwischen Franziska und mir begann nun eine echte Kinderfreundschaft. Man ließ uns gewähren, die Erwachsenen mischten sich kaum ein und ich fühlte keine Standesschranken.

***

Mit der Kinderzeit gingen auch die Tage mit Franziska zu Ende. Ihre Eltern litten mich nicht mehr im Haus und ich musste das Mädchen meiden. Ich fühlte mich einsam, vom Glück weggestoßen und es fiel mir sehr schwer, ohne die Freundin zu sein. Oft trieb mich die Sehnsucht und ich lief Stunde um Stunde um Schloss und Park, ihr Bild zu erhaschen. Manchmal sah ich sie auch, sie winkte mir zu und wir unterhielten uns für Minuten. Doch die alte Vertrautheit schwand immer mehr, ein vornehmes Fräulein stand nun bei mir und ich begann mich vor ihr zu genieren. Langsam, ganz langsam verstand ich auch, welch tiefer Graben zwischen uns lag; sie weit oben und ich tief am Grunde.

Ich fühlte mich gedemütigt und verhöhnt, abgelegt wie ein Werkzeug, das nicht mehr zu gebrauchen ist. Der Groll nagte an mir und ich war böse auf die Welt und mich.

Wie von ungefähr nahm mich mein Oheim beiseite: "Du kennst doch den freundlichen älteren Herrn, der öfter Gast des Barons ist?"

"Den Runden", entfuhr es respektlos meinem verdrossenen Sinn.

"Ganz recht." Unbefangen erhielt ich Antwort, ganz ohne Belehrung. Ich fühlte Gefahr und fragte schnell: "Und was soll es mit ihm auf sich haben?"

"Du ahnst es sicher schon, doch will ich dir’s deutlich sagen: Dieser Herr ist noch unbeweibt und möchte sich zu seinem Geld auch noch mit Jugend schmücken — er hat um Franziska angehalten!"

Das Herz krampfte sich mir zusammen; mir war, als müsste ich im Innersten erlahmen. Der Ärger aber zwang aus mir heraus: "Möge sie glücklich werden mit dem Reichen!"

Der Oheim wurde nun bestimmt. Er fuhr mir ungehalten über meinen losen Mund und sagte, was ich in tiefster Seele selber dachte: "Franziska möchte wohl lieber alles tun, nur nicht den Alten nehmen, nur hat sie niemand, der ihr hilft. Ich hoffte deshalb sehr auf dich, du aber verstehst nur Bosheit zu verbreiten, anstatt ihr männlich beizustehen." Wie er mich doch verkannte!

Ich fand Franziska an ihrem Lieblingsplatz, demselben, wo wir früher spielten. Mich empfing ein dankbarer Augenstrahl von einem sehr blassen Mädchen: "Schön, dass du kommst", mochte das heißen.

Sie sprach offen zu mir, ganz ohne Schnörkel, als wäre noch immer Kinderzeit: "Früher sagte ich Onkel zu ihm, er schaukelte mich auf den Knien und ich hatte ihn gerne. Plötzlich aber verlangt mich der Verräter zur Frau, ohne nach Neigung und Willen zu fragen!"

Was ihre Eltern von der Sache hielten, wollte ich wissen und hätte am liebsten wie ein Hofhund geheult, wäre sie nur nicht so gefasst gewesen: "Sie meinen, meine Erregung werde sich legen, wenn ich erst selber Baronin wäre. Auch sähen sie keinen Grund zur Aufsässigkeit, denn vor mir läge eine gute Partie. Und im Vertrauen sagte mir Mutter noch, bei ihr wäre das alles sehr ähnlich gewesen. So sei nun einmal der Frauen Los und darein müsse man sich fügen."

Ich fragte weiter bang, ob sie denn auch so denke. Ihre Antwort kam stolz und entschlossen, hart und klar wie aus der Gewitterwand: "Ich lasse mich nicht zwingen…!" — und bittend, leise hinterher: "Willst du mir dabei helfen?"

Mich durchfuhr es glühendheiß, als hätte mich ihr Arm umfangen: "Ja!", sagte ich und war bereit, alles für sie zu wagen.

***

An einem dämmrigen Morgen lag über dem Park ein heller Schein und rotleuchtende zuckende Flammen darunter, beizender Qualm zog auf das Dorf zu. Ich rannte los, die Sorge trieb mich an und lief wohl vielmals schneller als die andern.

Es brannte bereits alles lichterloh, das Schloss, die Ställe und Scheunen, vom Winde kräftig angefacht. Gleich Zwergen mühten sich einige Menschlein, die Riesenfackel zu löschen.

Ich konnte Franziska nicht finden und jagte in Angst umher, jeden Winkel nach ihr abzusuchen. Dabei glaubte ich doch immer noch, sie wäre gewiss nach ihrer Art längst irgendwo beim Helfen. Ein Schreckensschrei, wie im Wahnsinn ausgestoßen, entriss mir meine Hoffnung: "Franziska ist noch im Schlosse!" Das Entsetzen fuhr mir in die Glieder, doch lähmte es nur für den Augenblick. Mein Herz ließ mich rasend werden und ich stürmte wie irr durch das Tor. Ich fand sie in ihrem Zimmer vor dem Bild Mariens zusammengesunken. Zu Tode erschrocken nahm ich sie auf, um durch Feuer und Rauch verzweifelt das Freie zu suchen. "Gott hilf!", flehte ich und wirklich gelang mir die Rückkehr. Hier fiel ich wohl nieder mit meiner Last, denn auch mir vergingen die Sinne.

***

Die Herrschaft wohnte jetzt im Altschloss, einem maroden unscheinbaren Bau. Ich war dort wieder zugelassen, durfte die Franziska sehen und musste mich nicht allzu untertänig zeigen — das war wohl jetzt auch nicht geboten.

Der Baron verstand mein Tun als Dienerpflicht, den Grundherrn treulich zu beschützen — als ob ich nicht auch einem armen Teufel beigestanden hätte!

Was ich mir wünschte? Die Antwort lag mir ganz vorne auf der Zunge, doch schluckte ich sie schnell ganz tief in mich hinein. Ich sagte: "Nichts." Auch war mir seine Frage peinlich, als ließe sich hier Handel treiben.

Bald kamen Gerüchte auf, der Baron wäre so gut wie am Bettelstab und besäße kaum mehr als ein Bauer. Das Feuer habe ihn ruiniert, alles Hab und Gut verschlungen und nur die Schuld nicht angerührt. Seine letzte Hoffnung läge bei Franziska, doch nun zögere der reiche Bräutigam, als reize nicht mehr die Umworbene.

***

Ich lebte wie im Taumel, der glückhaftigste Traum benahm mir den Sinn und ließ sich nicht unterdrücken — Franziska an meiner Seite! Als ich den Eltern darüber erzählte, verstanden sie das als gewagten Scherz. Der Gedanke allein lag ihnen fern und war für sie widersinnig; nur ein Kranker konnte ihn haben. Auch war mir die Braut schon ausersehen und alles längst abgesprochen: "Die heiratest du", sprach erbost die väterliche Gewalt, "sie arbeitet gut, hat ein hübsches Gesicht und ist nicht von den Ärmsten!" Ich aber war voller Entschlossenheit und leistete ihm Widerstand; es schien zum Krach zu kommen. Bei meiner Mutter hatte ich mehr Verständnis gefunden, doch schlug ihre Meinung nicht für mich aus: "Es ist schön und sehr lieb, das adlige Kind, und ich habe es gerne. Doch kommt es aus einer anderen Welt und passt nicht zu dir", entschied sie für mich, "es gehört zu den feinen Leuten!"

***

Es war Herbst und das Land in goldfarbenem Licht, nicht anders als unser Gemüt. Wir verlebten eine himmlische Zeit — abends gurrten die Tauben uns zu und nachts schlug die Nachtigall. Selbst die Sonne war uns zugetan, kaum ruhte sie noch, nur eine Rast legte sie ein auf rötlichen Wolken hinter dem Park. Immer mehr wuchsen wir in den Gedanken hinein, uns für immer anzugehören.

Mein Glück blieb nicht ganz ungetrübt. Vaters Warnung verfolgte mich; sie saß als Geist in meinem Nacken und flüsterte mir drohend zu: "Das Mädchen ist dir gut, weh dir, du führst es ins Verderben!"

"Franziska ist wohlbehütet aufgewachsen", sinnierte ich, "allem Schönen zugetan und kennt vom Leben nur die angenehme Seite. Was aber kann ich ihr schon bieten? Wie hatte Vater doch gesagt: 'Mutter schuftet den lieben langen Tag und schläft spätabends vor Erschöpfung ein. Meinst du, das sollte auch Franziskas Zukunft werden?'" Ich sah ihr schönes kluges Gesicht vor mir und ihre zarten feingliedrigen Hände. "Könnte sie wohl in meinem kleinen Kreise leben?", fragte ich mich, "kann ich ihr ebenbürtig sein, wenn auch auf meine Weise?"

Die Bedenken quälten mich und ließen sich nicht überwinden, wie Felsen lagen sie auf mir. "Na siehst du", unterbrach mich nun frohlockend meine Bürde, "so manches will besprochen sein. Sei jetzt kein Feigling, du musst ganz offen mit ihr reden!" Franziska aber hatte sich bereits entschieden und kannte auch kein Wanken mehr. Sie war daher enttäuscht von mir und fühlte sich verraten. Ein Zauderer sei ich, warf sie mir vor, und würde Zeit vertun mit Grübeln, wo festes Handeln nötig wäre!

***

Bald darauf verzog die Familie Franziskas, weit weg ins Mährische hinein, und auch Franziska musste mit ihr gehen. Mein Onkel aber merkte rasch an meinem sonderbaren Wesen, dass ich an schwerer Krankheit litt. "Geh zurück zu deinem Vater", riet er mir, "der will ins Ausgedinge gehen — bei mir gibt’s eh nichts mehr zu tun". Ich tat es auch, hoffte ich doch, meinem Kummer damit Zügel anzulegen.

Fürs erste war ich auch gefasst, denn Arbeit gab es übermäßig. Fast unmerklich aber kam die Sehnsucht über mich, wuchs und nahm mich gefangen Tag und Nacht, bis sie unbändig wurde. Ich fieberte auf Nachricht von ihr und bebte, wenn ein Fremder kam, er könnte mir ein Briefchen bringen. Alles versank um mich, ich nahm meine Umwelt nicht mehr wahr, nur an Franziska konnte ich noch denken.

Warum nur schrieb sie nicht — waren die Eltern übermächtig, konnte sie krank geworden sein, hatten Zweifel sie geängstigt; was alles mochte bloß geschehen sein? Schon sah ich nur endlose Pein vor mir und nie wiederkehrende Seligkeit. Düster und leer verrann die Zeit und einzig blieb mir das Hoffen.

An einem meiner dumpfen Tage kam ein Mann auf unseren Hof geritten und fragte nach dem jungen Herrn. Mein Vater, dem ein Scherz stets nahe lag, rief auch sogleich nach mir in diesem Sinne.

Ich war gerade im Schweinestall, den Tieren auszumisten. Meine Kleidung passte sich dem an und auch der Geruch als Drumherum. Der Reiter sah enttäuscht nach mir, als ob er unter meinem Anblick litte. Deshalb zog er wohl auch zögernd nur ein duftiges Papier aus seiner Satteltasche, wie es bisher in der Lausitz kaum je ein Mann erhalten hatte. Ich las mit Ungeduld. Ein jedes Wort umarmte mich; ich musste in das Haus entfliehen, um mich vor Vater und dem Boten nicht innerlich ganz auszuziehen:

Franziska lebte jetzt bei einer betagten reichen Dame, der sie Zeit und Grillen zu vertreiben hatte. Es ging ihr gut, jedoch… Wie schnell ich sie sogleich verstand. "Nun aber los", sprach ich trunken zu mir, "die Hochzeit vorbereiten!"

***

Die Eltern hatten sich in meine Wahl ergeben, wenn auch manches 'Aber' geblieben war. Vater sah im 'Fräulein' noch immer die Obrigkeit; Mutter dagegen machte Beschwerde, dass Franziska so gar nichts vom Haushalt verstand und keine Kuh zu melken verstand. Beide aber meinten: "Vielleicht lässt sich’s regeln, lade sie endlich nach Hause ein!"

***

Meine Eltern, gekleidet in ihren Sonntagsstaat, erwarteten uns an der Gartentür. Sie waren beide recht aufgeregt, dazu Vater noch steif und linkisch. Auch Franziska war nervös, doch ihr halfen Erziehung und Natürlichkeit und so machte sie Vater einen Knicks und küsste der Mutter die Hände.

Der Besuch wurde freundlich zu Tisch gebeten und saß bald unterm Marienbild, selbst wie eine Madonna anzusehen, und wo es sonst nach Kartoffeln roch, lag jetzt der Duft von Wiener Parfüm.

Das Gespräch begann schleppend und nur zögernd wurden die ersten Worte gewechselt. Bald aber verlor sich die Scheu; den Eltern gefiel die schöne ungewöhnliche Braut, die sich lieb und nett verhielt und ohne allen Dünkel. Auch Franziska war sehr angetan, sie fühle sich wohl aufgenommen, als würde sie zum Haus gehören.

Natürlich wurde dem Gast auch das Haus gezeigt, zusammen mit Stall und Scheuer. Mutter hatte Franziska untergehakt und sprach von ihrem langen Tag, der fast nicht enden wollte. Forschend blickte sie zu ihr hin, wie sie die Sache wohl aufnahm. Mir war unwohl bei dem Frauengespräch — sollte hier eine Prüfung geschehen, wollte Mutter warnen, vielleicht gar meine Liebe vergraulen?

***

Eine solche Braut hatte das Dorf noch nicht gesehen, eine Prinzessin saß am Festtagstisch im reichen Kleid der hochgestellten Dame, schwarzglänzendes Haar umrahmte ihr feines schmales Gesicht und wunderbar strahlten die Augen.

Aus dem herrschaftlichen Hause war kein Gast zur Feier erschienen — und wir hatten so sehr gehofft. Franziska schmerzte des Vaters Grausamkeit und sie litt darunter, gerade an diesem Tage. Eine tiefe Bitternis kam über sie und verzweifelt begann sie zu weinen. Gespräch und Geklapper verstummte und die Musik brach ab, selbst nach dem Glase wagte niemand zu greifen. Es wurde sehr still an der Tafel, als habe der Tod sich eingestellt. In unsere Starre aber brach Jubel ein; eine Lerche schwang sich auf über dem nahen Berg und ließ mit ihrem kleinen Lied auch große Sorgen schmelzen.

Franziska hatte sich gefasst, meine Mutter küsste sie herzlich und ich drückte ihr sanft die Hand. Sie verstand, ein neues Leben soll beginnen, da heißt es zuversichtlich sein. Auch fühlte sie wohl jetzt so recht zum ersten Mal: "Hier bin ich zu Hause, allezeit!"

***

Was Franziska einmal als Vergnügen galt, wurde nun zu harter ungewohnter Arbeit. So manches fiel ihr schwer, auch wenn sie alle Mühen wie selbstverständlich aufnahm und kein Opfer darin sah.

Sie war jetzt Bäuerin und bangte um die Ernte mit mir und jedes kranke Tier bereitete ihr Sorge. Doch las sie weiter ihre Bücher und auch ein Flügel stand im Haus, wenn das auch für die Nachbarn schon sehr ungewöhnlich war. Sie aber brauchte ihn, mit ihm drückte sie ihr Fühlen aus und spielte darauf ihr Leben: Leicht und heiter schweben die Töne heran, gleich einem frohen Gesange. Zarter und inniger wird ihr Lied, getragen dann und feierlich, wie eine hohe Weihe. Ein düsteres Geschehen mischt sich ein, wie letztes verzweiflungsvolles Winken, das in Ruhe übergeht, wenn auch mit herben Seiten.

Nur wenige Jahre nach unserer Heirat starben ihre Eltern, zu einer Versöhnung war es nicht gekommen. Die meinigen aber hatten sie sehr lieb gewonnen und schenkten ihr alle Herzenswärme. "Sie ist doch eine arme Waise", sagten sie, "und braucht ein wohlig Körbchen." Die Mutter war ihr sonderlich verbunden und nahm etwa die Stelle einer weisen Freundin ein. Meinen Vater wieder freute ihre überlegte entschlossene Art und auch die Schönheit sah er gerne. Er war stolz auf sie und es schmeichelte ihm wohl, sie nah bei sich zu haben; stets stellte er sie als Tochter vor, so oft das nur gehen wollte.

Für mich aber war sie der "Ewige Frühling", wie er in Stein vor dem Schloss ihres Vaters stand, doch voll drängenden Lebens, mit einem Lächeln um den Mund und den Blick nach vorn gerichtet.

***

Franziska quälte das Heimweh nach dem Ort, an dem sie aufgewachsen war und sich ihr Leben jäh gewendet hatte. Also machten wir uns auf die Reise, ihrem Sehnen nachzugeben.

Das einstmals stolze Schloss begann schon zu zerfallen — die morschen Mauern ragten nur noch kraftlos in den klaren Himmel, bereits von erstem Strauchwerk überwuchert. Die weißen Götter waren längst vom hohen Sims gefallen und lagen nun zerschlagen im Gebüsch und auf dem ungepflegten Rasen. Von seiner Kuppel aber war so ganz und gar nichts mehr geblieben, wie auch von all dem alten Glanze. Überall war Wildnis eingezogen, um mit verschwenderischer Fülle rasch ihre Herrschaft auszubreiten. Nur die alten Bäume standen noch, mit Ästen tief zur Erde, als würden sie Trauer tragen.

Rings um die Gruft wuchs üppig der Holunder und hüllte sie mit seinem Dufte ein. Unendlich viele kleine weiße Blüten strichen uns sanft Gesicht und Hände und neigten sich auch nieder zu den Steinen, die alten Namen zu liebkosen. Nichts Trennendes schien mehr zu sein. Franziska aber litt, der alte Schmerz kam wieder über sie und aufs Neue wurde ihr bewusst, was sie doch nie so ganz vergessen konnte: Das Band zu ihren Eltern war zerrissen, auch wenn sie selber daran halten wollte. Die Lebenden hatten sich abgewendet und so blieben nur die Toten. Ich fühlte ihre Not, auch wenn sie nicht nach Trost verlangte; sie trat mir dadurch nur noch näher. "Nie darfst du sie enttäuschen", nahm ich mir vor, "sie hat so vieles für dich aufgegeben!"

Von ihrem Lieblingsplatze her drang Lachen und fröhliches Geschrei, als wäre ein Fest im Gange. So war es auch; die Kinder aus dem Dorfe tobten sich hier aus und planschten in dem flachen Wasser, wie wir das einmal selber taten. Wir störten nicht ihr Spiel, doch nahmen wir zum Abschied ein wenig ihres Frohsinns in uns auf, ihn als ein gutes Zeichen mit uns wegzutragen. "Lass uns nach Hause fahren", bat Franziska, schon wieder heiterer gestimmt. "Die Kinder werden auf uns warten, ich freue mich auf sie."

Mir ging die Reise nicht mehr aus dem Sinn. Immer wieder blickte ich im Geist zurück, wie um ein letztes Lebewohl zu sagen. Ich sah kein Schloss mehr und nichts von seiner hohen Kuppel, nur öder Wald lag noch vor mir.

Das Schicksal von Franziskas Eltern hatte mich doch sehr getroffen, auch wenn ich zu ihnen ohne Bindung war. Ein unbestimmtes böses Ahnen ließ mich nicht mehr los, es würde sich an meinem Hause wiederholen. Die Zukunft schien mir plötzlich ungewiss und schuf heimliche Sorge.

Von alledem erzählte ich dem Vater und der Mutter. Sie wollten mir wohl meinen Kummer nehmen, denn Vater sagte munter-vorwurfsvoll: "Hast du sie denn nicht selber weggetragen", er meinte des Schlosses Krone und spielte auf Franziska an, "und schmückt sie nicht aufs Schönste jetzt dein Haus?" Ich aber dachte still bei mir: "Wie lieb doch deine Eltern sind!"

***

Es war Abend. Ganz allmählich senkte sich die Dämmerung über das Land und hieß es stille werden.

Wir saßen unterm Lindenbaum, aneinandergelehnt, und hielten uns an den Händen. Ein letztes Mal rief der Kuckuck vom Walde her, doch zählten wir nicht mehr die Jahre.

Leise hörte ich neben mir sagen: "Mein Vater wird mir verzeihen und stolz auf mich sein, drüben gelten wohl andere Werte…" — und zärtlich nach einer Weile: "Es war schön auf der Welt — mit dir…" Ich wollte etwas von seltsamen Gedanken erwidern, doch war sie bereits über die Schwelle getreten und mir vorausgegangen, wie so oft im Leben,

meine Franziska.


Kerstin Janke
Rückkehr

 

Sanft streichelt der Nebel den grauen, steinigen Boden, umzingelt alles, was sich ihm in den Weg stellt, hüllt ein und verdeckt. Die Wartenden auf dem Bahnsteig fröstelt es und sie ziehen ihre Mützen tiefer in die gleichgültigen Gesichter. Nur wenige sind es, die so früh am Morgen schon unterwegs sein müssen, die ersten Knechte der Zivilisation am heutigen Tage. Sie kennen einander, weil sie sich nahezu täglich sehen, nie wechselt ein Wort die verschiedenen und doch so gleichen Welten. Auf eine seltsame Art und Weise scheint es heute unangenehmer, dass niemand spricht, drückend kommt es einer Verpflichtung gleich, seinen eigenen Gedanken zu folgen, denn der Nebel schafft Distanz. Man sieht den Anderen kaum und wird auch selbst nicht gesehen. Dichter, noch dichter solle der Nebel werden, wünsche ich mir, dann könnte ich hier sitzen bleiben, unbemerkt. Und ich müsste nichts sehen, nichts von meinem neuen, alten Leben, ich will es nicht sehen, ich traue mich nicht. Zwar bin ich angekommen, jedoch noch nicht da und frage mich, ob ein Zurückkommen überhaupt möglich ist.

Mehr als ein Jahr ist es her, dass ich Abschied nahm. Ich wollte frei sein, alles hinter mir lassen, ganz gleich ob ich es liebte oder hasste. Ich konnte das Grau der Stadt und die tägliche Routine nicht mehr ertragen, ich wollte es einfach nicht mehr erdulden. Es war nichts Schlimmes passiert, nicht ein einzelnes Ereignis verdiente es, als Auslöser benannt zu werden. Nein, die vielen kleinen Stiche des täglichen Einerlei seien als schuldig enttarnt, kaum spürbar in dem Moment, in dem sie die Seele treffen, hinterlassen sie doch Kratzer und Zweifel. Sollte das schon alles gewesen sein? Nur noch arbeiten, bis Rente und Alter ihre Fühler in die kleinen Kratzer bohren würden? Zu groß ist die Welt, um nicht wenigstens einen zweiten Zipfel davon mit eigenen Augen zu entdecken.

So reifte der Plan heran. Er hatte sich, ohne dass ich es wirklich bemerkte, als unkündbarer Untermieter in meinen Gedanken festgesetzt. Ein willkürlich festgelegtes Datum wurde zum Zentrum meines Tuns, zum Mittelpunkt aller organisatorischen Überlegungen und zum Nabel aller Sehnsüchte. Ich hatte ein Ziel und wusste, es zu erreichen kostete nur ein wenig Mut. Ein Jahr Pause in der australischen Sonne sollte es sein, zwölf Monate Zeit zum Leben, zum Nachdenken und zum Nichtstun.

So logisch und erstrebenswert mir mein Traum erschien, so unverständlich empfanden ihn Freunde und Familie. Ob ich mir des Risikos bewusst sei, welches eine Kündigung für Lebenslauf und Geldbörse mit sich brächte? Wie ich das Jahr finanzieren wolle, bereitet allen außer mir die größte Sorge. Niemand, auch ich nicht, machte sich Gedanken darüber, wie ich mich bei meiner Rückkehr fühlen würde.

Was ist schon ein Jahr im Irrgarten des Lebens eines Menschen? Zu wenig oft, um den richtigen Weg zu finden, lang genug jedoch, um einmal abzubiegen. Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor. Ich bin gespannt und beängstigt zugleich, was wird sich alles verändert haben? Ist dieser Kiez noch mein Kiez?

Gestern Nachmittag fand die kleine, entdeckenswerte Nebenstraße des Lebens, die ich die letzten zwölf Monate entlang gereist war, ihr Ende in Berlin-Tegel. Keineswegs plötzlich oder überraschend biegt sie nun wieder auf die viel befahrene Hauptstraße ein. Seit Wochen mahnte die innere Stimme, rief Unruhe und Unsicherheit hervor. Und schließlich, als wäre es ein unabwendbares Schicksal, landete das Flugzeug, in dem ich die Heimreise angetreten, und führte jedes Ignorieren der Tatsachen ad absurdum.

So schön hatte ich mir das vor einem Jahr vorgestellt. Freunde würden am Flughafen warten, sich freuen mich wieder zu sehen, so wie auch ich, endlich vom Heimweh erlöst, mit neuer Kraft in mein altes Leben zurückkehren würde. Doch es kam anders, unerwartet, obwohl die Situation fast genau der entsprach, wie ich sie mir ausgemalt.

Viele Freunde standen aufgereiht, sie alle strahlten, hatten Begrüßungsplakate gemalt. Nur ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Statt eilig und von Vorfreude überwältigt aus dem Flieger zu stürzen, um mich der herzlichen Begrüßung der Wartenden zu ergeben, blieb ich bis zuletzt sitzen. Gedanken überschlugen sich. Warum fiel es mir so schwer, den Moment, der mir noch vor einem Jahr als krönender Endpunkt meines kleinen Ausfluges erschienen war, zuzulassen? Ich wünschte plötzlich, ich hätte niemandem den Zeitpunkt der Heimkehr kundgetan und bekäme jetzt die Zeit, in Ruhe anzukommen. Allein. In melancholischer Erinnerung dessen, was ich in der Fremde zurückgelassen. Auch ein kleines Stück meiner Seele hatte ich am anderen Ende der Welt verloren.

Doch da standen sie, alle die mir lieb und teuer, bereit, mich aufzufangen. Unsicher umarmte ich einen nach dem anderen, es hätten auch zehn Jahre vergangen sein können. Sätze wie 'Schön, dass Du wieder zu Hause bist', flogen zielsicher durch die von Geschäftigkeit durchtränkte Luft des Flughafens. Waren sie auch wie Balsam auf der Heimat suchenden Seele, vermochten sie doch nicht in mein tiefstes Innerstes vorzudringen. Zu Hause. War ich hier zu Hause? Ich hatte keine Wohnung, keinen Job und fühlte mich fremd. Würde ich mich nach einem Jahr in der Fremde auf die Suche nach der Nähe machen müssen, so wie ich mich vor zwölf Monaten aufmachte, die Ferne zu finden?

Noch am selben Abend fand eine Willkommensparty im Park für mich statt. Genauso hatte ich es mir erträumt, damals, als die Ferne noch fern und ich zu wissen glaubte, wo meine Heimat war. Es war kühl, wir tranken Glühwein. Ich saß inmitten meiner besten Freunde und sah doch von außen zu. Diese Party unterschied sich in Nichts von all den vielen anderen, die wir schon gemeinsam gefeiert hatten, wir redeten, lachten, tanzten. Dieselben Menschen waren dieselben Charaktere geblieben. Ich spürte, ich war diejenige, die sich und ihren Blick auf die Welt verändert hatte.

Die Gesprächsthemen drehten sich um alltägliche Dinge und erschienen mir zuweilen nicht sonderlich wichtig, belanglos gar, wohl waren mir meine eigenen Erlebnisse und Gedanken noch zu allgegenwärtig. Niemand schien ernstlich interessiert, in meine Welt eintauchen zu wollen. Ein kurzer, knapper Abriss über die Schönheit meiner Reise genügte völlig. Was soll man schon antworten auf die Frage 'War sicher klasse, ein Jahr in der Sonne, oder?' Ein 'Ja' als Antwort brachte nicht den Einstieg in detailreiche Schilderungen meines Abenteuers, nein, zumeist löste es Abhandlungen aus, warum mein Gegenüber gerade daran gehindert wurde, seinen Job zu kündigen. Ich war so sehr mit mir und meinem Erlebten beschäftigt, dass es mir schwer fiel, die Anderen in ihrer Selbstzentrierung zu akzeptieren. Genau wie sie glaubte ich, mein Leben sei das erlebenswerteste, meine Gedanken die denkenswertesten. Alles stellte ich in Frage und maßte mir gar Urteile über die verpassten Gelegenheiten anderer Leben an. Offenbar war ein Jahr genug, den 'normalen' Weg zu verlassen. Doch wie lange würde es dauern, die Hauptstraße wieder zu finden und sich einzureihen in den stetigen, nahezu gleichmäßigen Strom auf der Straße des Lebens? Wie viel Zeit wird es brauchen, sich anzupassen auf diesem Weg, auf dem alle geradeaus fahren und die farbenfroh ausgeschilderten Abfahrten mit den Abenteuer verheißenden Namen zwar lesen, aber dennoch rechts liegen lassen? Ich wusste plötzlich, dieses Jahr hatte mehr verändert, als ich hätte vorausahnen können. Würde es auch mehr sein, als mir lieb war?

Beinahe die ganze Nacht saßen wir im Park. Mond und Sterne hatten lange ihre strahlende Herrschaft übers Firmament verteidigt, doch in der Morgendämmerung zog Nebel auf. Langsam erst, vereinzelte Fetzen. Dann immer bestimmter, geradezu provozierend bei dem Versuch zu verschleiern und nicht minder besänftigend dabei, alle Ecken und Kanten zu glätten. Ich hatte das Angebot einer Freundin ausgeschlagen, bei ihr zu nächtigen. Es war ja schon früh genug, die S-Bahnen fuhren schon, ich wollte los. 'Wohin?' fragte mich niemand, nicht einmal ich selbst.

Bahnhof Ostkreuz, Endstation eines langen Ankommens. Nun sitze ich hier auf meiner Reisetasche, in der alles steckt, was ich noch ohne Einschränkungen meinen Besitz nennen kann, und betrachte die Menschen, die schweigend zur Arbeit eilen. Während der Nebel sie zu erdrücken scheint und ihre Sorgenfältchen tiefer zeichnet, legt er sich um mich wie ein Schutzmantel, bewahrt er mich vor allzu viel Weitsicht. Bis jetzt habe ich die Entscheidung aufgeschoben, wohin ich fahren soll. Drei Stationen im Norden warten meine Eltern auf meine Rückkehr, ganz selbstverständlich gehen sie davon aus, ich würde die nächsten Wochen bei ihnen wohnen. In entgegengesetzter Richtung steht ein Gästebett bei einer Freundin bereit. Die Bahn nach Osten würde mich zu der kleinen Pension bringen, in der ich vorsichtshalber ein Zimmer reserviert hatte. Aus Westen war ich gekommen, gestern. Ist derselbe Weg zurück nicht auch eine Option? Geradezu symbolisch bietet mir dieser Bahnhof alle Möglichkeiten, zu viele Möglichkeiten. Dies ist mehr als eine Autobahn-Abfahrt, die man unschlüssig betrachten und dann leichthin vorbeiziehen lassen kann. Dies hier ist eine Kreuzung, an der ich mich entscheiden muss.

Der Nebel schließlich ist es, der mir sagt, wie ich es anstellen soll. Wieder rattert die Anzeigetafel alle Zielbahnhöfe durch, die sie für die heran schnurrenden S-Bahnen bereithält. Scheinbar wahllos stoppt sie und gibt so die Richtung der Reise vor. Züge haben es einfach im Leben, ihnen bleibt keine Wahl. Doch heute Morgen verwehrt das graue Dickicht den Blick auf eben jene Anzeigentafel, heute wäre es leicht, dem Zufall das Feld zu überlassen. 'Lass dich nicht verwirren von vorgegeben Richtungen', scheint der Nebel mir zuzuraunen. 'Ignoriere sie und folge deinem Gefühl.' Ob es auch Zufall ist, dass der Zug nach Flughafen Schönefeld hier nicht hält? Wie viele Menschen wären vielleicht schon, anstatt wie immer zur Arbeit, in Richtung unbekannte Ferne aufgebrochen? Gedankenversunken steige ich einfach ein, ich bin nicht sicher, auf welchem Bahnsteig ich mich befinde, wohin die Bahn fährt, die ich wähle. Ich bin fest entschlossen, Zufall und Nebel über meinen Weg entscheiden zu lassen. Zurückbleiben bitte, die Türen schließen. Nach Norden geht es. Als der Zug das Ostkreuz hinter sich lässt scheint auch der Nebel an Undurchsichtigkeit zu verlieren. Ich weiß, ich werde aussteigen, noch drei Stationen. Kaum noch Nebel draußen. Ich werde ankommen. Irgendwann.


Rudolf Reinsch
Hinter Wolken und im Nebel

 

Robert hat schon oft an dieser Straße gestanden, direkt vor der Bahnbrücke. Wenn er die Straße überqueren würde, wäre er im nächsten Augenblick schon im Fußgängertunnel unter der Brücke. Seine Mutter hatte ihm aber immer wieder in aller Strenge klargemacht: "Nur bis an die Straße, kein Stück weiter, hast du gehört?!" Er hatte es gehört. Jedes Mal, wenn er mit seinem Roller die Wohnung verließ, klang ihre strenge Stimme in seinen Ohren. Er kannte den Satz zur Genüge.

Bis hierher zu kommen, war einfach und völlig ungefährlich. Von der Haustür aus fuhr er nach rechts bis zur Hauptstraße. Mit einem Fuß stand er auf dem Roller und mit dem anderen Fuß musste er sich immer zehn Mal und dann noch ein paar Mal abstoßen. Er fuhr beim Bäcker rechts um die Ecke, vorbei am Schreibwarengeschäft, wo es das Hauchpapier gab, vorbei an der Einfahrt zur Brauerei, vorbei an der Einfahrt zum Glaswerk und schon war er an der Bahnbrücke. Hier war immer viel zu sehen. Besonders interessant und spannend war es, wenn Züge oben entlang fuhren. Entweder kamen sie von rechts und fuhren ein Stück weiter über die Spreebrücke oder sie kamen von dort und verschwanden dann donnernd auf dem Bahndamm.

Bei den S-Bahn-Zügen wusste Robert schon ganz genau, wie sich das Geräusch veränderte.

Bei den Zügen, die von rechts aus dem Bahnhof kamen, wurde das Heulen immer heller und lauter und das Rattern auf den Schienen immer schneller. Wenn sie aber von der anderen Seite, von der Spreebrücke kamen, war es genau umgekehrt, weil sie ja dann gleich in den Bahnhof einfuhren.

Noch viel interessanter war es, die Güterzüge zu beobachten. Die waren viel länger und polterten ganz anders über die Brücke hinweg. Die Lokomotiven hatten mächtig zu tun. Sie schnauften und stießen dicke Qualmwolken in die Luft. Wenn der Wind den Qualm nach unten in die Straße drückte, dann verschwand der Zug teilweise hinter diesem grauen Vorhang. Außerdem bekam Robert einen strengen, beißenden Geruch in die Nase.

Die Waggons, die von der Lokomotive gezogen wurden, waren oft ganz verschieden. Wenn es keine geschlossenen Wagen waren, konnte man Sandberge, Kohlen, große Kabelrollen oder sogar Autos auf ihnen erkennen.

Immer wenn Robert mit seiner Mutter durch den Fußgängertunnel gegangen war, hatte er sich vorgestellt, dass gleichzeitig solch ein Güterzug oben über die Brücke fährt. Aber erlebt hatte er es nie.

Nun stand er also wieder mit seinem Roller an dieser Straße vor der Brücke und wartete auf die nächsten Züge. Nur diesmal war alles ganz anders. Er war viel schneller bis hierher gekommen, denn er hatte einen neuen, viel besseren Roller. Mit dem kam er leichter und bequemer vorwärts. Er musste sich jetzt nicht mehr mit einem Fuß abstoßen, sondern konnte mit beiden Füßen auf dem Trittbrett vom Roller stehen bleiben. Er musste nur immer wieder die Stange am hinteren Rad nach unten treten und dann rollte er auf den mit Luft gefüllten Rädern schnell und gemütlich vorwärts. Das Lenken war zwar etwas schwieriger, weil er das Gleichgewicht halten musste, aber daran hatte er sich bald gewöhnt. Wenn er also nur einmal kräftig auf die Stange treten würde, dann wäre er schon auf der anderen Straßenseite und auch ganz schnell in dem Tunnel unter der Brücke. Die Straße war fast leer. Robert sah kein Auto und keinen Radfahrer. Es waren nur wenig Leute in seiner Nähe, aber niemand beachtete ihn. Ein S-Bahnzug ratterte über die Brücke. Das Rattern klang wie: "Mach es, Robert, mach es, Robert!" Dann war es auch schon passiert.

 

Als er auf der anderen Straßenseite gegen die Bordsteinkante fuhr, musste er den Roller kurz anheben, aber im nächsten Augenblick war er im Tunnel und unter der Brücke hindurch.

Nun war er in dieser anderen, lebhaften und für ihn verbotenen Welt. Doch so viel anders kam sie ihm gar nicht vor. Er legte noch eine kleine Strecke zurück und bog dann rechts in die große, breite Straße ein. Seine Mutter sagte immer Damm zu dieser Straße, aber noch irgend etwas vorneweg. Robert rollerte auf dem Gehweg zwischen den Leuten immer weiter. Links neben ihm fuhren Autos auf der Straße und rechts waren die Häuser mit den Geschäften und Hauseingängen. Robert fuhr und fuhr. Es kam keine Straße, die er hätte überqueren müssen und er dachte sich, dass er, wenn es nicht weitergeht, einfach wieder zurückfährt. So einfach wieder zurückfährt, wie er hergefahren war. Er hatte keine Angst und war sich seiner Sache ganz sicher. Plötzlich merkte er, dass neben ihm keine Häuser mehr waren und dass er über ein paar niedrige Zäune und Mauern hinweg im Hintergrund den Bahndamm erkennen konnte. Die Züge, die sich bisher hinter den Häusern versteckt hatten, waren wieder zu hören und zu sehen.

Robert rollerte noch ein Stück, bis die Straße nach rechts abbog, dort aber kam er nicht weiter.

Vor ihm war alles verbaut. "Hier kannst du nicht durch!", sagte ein Mann zu ihm. Er sagte es ganz freundlich, aber Robert bekam trotzdem einen gewaltigen Schreck. Plötzlich überkam ihn ein ungutes Gefühl und ihm wurde bewusst, dass er sich noch nie alleine so weit von zu Hause entfernt hatte. Alles, was ihm den Weg versperrte, kam ihm irgendwie schwarz oder zumindest dunkel vor. Der Mann vor ihm schüttete eine dunkle, dicke Masse aus einem Eimer in ein kleines Loch auf der Straße. Ein anderer Mann rutschte vor dem Loch auf den Knien umher und strich den Brei mit einer Kelle glatt. Hinter den Männern stand ein großer schwarzer Wagen mit einem riesigen Kessel, in dem die Masse gekocht wurde. Überall stiegen Qualmwolken hoch, von der Straße, aus dem Eimer und aus einer Öffnung in dem großen Kessel. Wenn Robert zwischen den Wolken, die direkt vor ihm hochstiegen, hindurch sah, konnte er in einiger Entfernung einen Bahnhofseingang mit einer großen Uhr und eine Brücke erkennen. Nun wurde ihm wegen seiner Rollerfahrt doch ein wenig unheimlich und er wollte so schnell es ging wieder nach Hause. Während er seinen Roller  in die entgegengesetzte Richtung drehte, konnte er zwischen den Wolken noch einen stämmigen hohen Turm sehen. Es kam Robert so vor, als wenn der Turm eine Pudelmütze aufhat, aber ohne Bommel, nur mit einer Spitze.

Robert rollerte schnell und ohne sich unterwegs aufzuhalten den Weg, den er gekommen war, wieder zurück. Als er durch den Fußgängertunnel hindurch war und die ihm verbotene Straße überquert hatte, war er richtig erleichtert. Noch ein paar Mal treten und er war wieder in "seiner" Straße mitten zwischen den anderen Kindern, die dort spielten.

Seine Mutter ahnte nichts von seinem abenteuerlichen Ausflug. Der Tag ging wie immer zu Ende, aber vor dem Einschlafen sah Robert noch einmal die Bilder, die sich ihm bei seiner Rollerfahrt eingeprägt hatten. Er sah besonders die Rauchwolken von der Lokomotive und von den Straßenarbeiten und wie hinter diesen Wolken die Güterzüge und die Umrisse von diesem großen Turm zum Vorschein kamen.

 

Es war 15 Jahre später. Robert war nach den Jahren, die die Familie evakuiert war, nun seit Ende des Krieges wieder in Berlin. Gleich als sie zurückkamen hatte seine Mutter eine Wohnung in der Nähe vom Bahnhof Ostkreuz bekommen. Dort hatten sie sich inzwischen eingelebt. Das Haus in Stralau, in dem sie vorher wohnten, hatte den Krieg nicht überstanden. Überhaupt war das Leben auf der Halbinsel nach Kriegsende noch nicht wieder richtig in Gang gekommen. Berlin war ja noch immer dabei, die größten Wunden zu heilen, die der Krieg der Stadt zugefügt hatte. Gleichzeitig war aber der Aufbau in vollem Gange. Das wirtschaftliche und kulturelle Leben pulsierte wieder.

Robert war seit einiger Zeit Mitglied in einem Rundfunkchor, der im Funkhaus in der Masurenallee seine Proben abhielt, Studioaufnahmen machte und bei Veranstaltungen auftrat.

Diese umfangreiche Freizeitbeschäftigung war mehrmals in der Woche mit S-Bahn-Fahrten auf dem Berliner Ring verbunden. Auf dem Ring zu fahren empfand Robert immer als eine tolle Sache. Mit jedem Meter, den man sich von einem Bahnhof entfernte, kam man ihm gleichzeitig um die gleiche Strecke wieder näher.

Im Chor hatte Robert seine Freundin kennen gelernt. Wenn sie beide am späten Abend nach der Probe mit der Bahn zurückfuhren, lag meistens ein langer, anstrengender Tag hinter ihnen, und es galt, gegen die Müdigkeit, die durch die Bahnfahrt noch verstärkt wurde, anzukämpfen. An einem Abend traf das besonders zu. Die Probe hatte mächtig geschlaucht und hinzu kam ein furchtbares Mistwetter. Eine dichte Wolkendecke erdrückte förmlich die ganze Stadt unter sich. Es fiel Nieselregen. Dichte Nebelschwaden dämpften alle Geräusche und ließen kaum eine ordentliche Sicht zu. Auf den Bahnhöfen siegte zwar die Beleuchtung, aber auf der freien Strecke konnte man beim Blick aus dem Fenster die Konturen der Häuser nur erahnen.

Roberts Freundin wohnte in der Nähe vom Bahnhof Schönhauser Allee. Ehrensache, dass er mit ausstieg und sie bis zu ihrem Haus begleitete. Bei dieser Unterbrechung der Fahrt war er natürlich putzmunter. Um so schneller überkam ihn aber der Schlaf, als er wieder in der Bahn saß. Irgend etwas hatte ihn dann geweckt. Wahrscheinlich waren es zugestiegene Fahrgäste, die sich laut unterhielten. Robert kam langsam zu sich und sah aus dem Fenster. Er erkannte schemenhaft die Silhouette eines Turmes. Eines Turmes? Nein, des Turmes! Des Wasserturmes am Bahnhof Ostkreuz. Augenblicklich war Robert hellwach. Der Zug hatte den Bahnhof  bereits verlassen." Na klar", dachte Robert, "Ausstieg verpasst!" Seine Gedanken kamen auf Touren. Zu sehen war kaum etwas. Er wusste aber, dass der Zug jetzt über die Brücke fuhr, die für ihn das Tor nach Stralau darstellte. Über die Brücke, unter der er als Kind immer stehen wollte, wenn oben gerade ein Güterzug hinwegdonnerte. Robert stierte aus dem Fenster in den dichten Nebel und sah in Gedanken, wie er unten mit seinem Tretroller an der Kynaststraße stand, wie er versuchte, hinter den Rauchschwaden der Lokomotive die Güterwagen zu erkennen und wie er dann auf seinem weiteren Weg durch den Straßenarbeiter mit dem Asphalteimer gestoppt wurde. Während diese Bilder in seinen Gedanken vorbeizogen, rollte der Zug über die Spreebrücke und in den Bahnhof Treptower Park. Robert stieg aus und fuhr mit dem Gegenzug zurück. Er verließ dann den Bahnhof Ostkreuz am Ausgang zum Markgrafendamm. Die Bahnhofsuhr war beleuchtet und zeigte eine halbe Stunde vor Mitternacht. Das Wetter war um keinen Deut besser geworden. Robert versuchte mit seinen Blicken den Nebel zu durchdringen. Er sah hinauf zur Brücke, zum Bahndamm und in die Richtung zum Wasserturm. Wenn er sich sehr anstrengte, dann schien es ihm, dass er die Umrisse des Turmes mit seinem "Pudelmützendach" erkennen könne.

Er verspürte keine Lust bei diesem dichten, Furcht einflößenden Nebel nach Hause zu laufen. Er wartete auf die Straßenbahn, um die zwei Stationen zu fahren. Nach ein paar Minuten hörte er sie, aus der Richtung von Klingenberg kommend, herankreischen. Zu sehen war sie nicht.

So, wie der ganze Bahnhof und alles andere in dieser Nacht, war auch die Straßenbahn im Nebel versteckt.


Günter Dittrich
Das Gleismännlein

 

Die Weihnachtsfeiertage sind überstanden. Es ist Mittwoch, der 27. Dezember 2006. In meinem Kalender steht, dass an diesem Tag vor 57 Jahren die Gravitationstheorie des alten Einsteins veröffentlicht wurde. Ich bin mir sicher, dieses Werk war für Physiker interessant, aber für die so genannten normalen Menschen wie meine Frau und mich gab es 1949 andere Probleme. Wir waren noch Kinder. Unsere Eltern saßen oder standen mehr auf und in der Bahn, um bei Bauern im Umland von Berlin Bettwäsche oder Geschirr gegen Lebensmittel einzutauschen…

Warum fällt mir das jetzt ein? Liegt es am nebligen und windigen Vormittag? Scheinbar bewirkt das Warten auf die S-Bahn des oberen Bahnsteiges mit dem verschleierten Ausblick auf die Randgebiete von Berlin, so nannte mein Vater den Blick in Richtung Lichtenberg und Treptow, eine gewisse sentimentale Stimmung oder ich will einfach nicht den kalten Wind spüren… So sitze ich hier auf einer Bank, schaue auf die Fachschule am Ostkreuz. Denke kurz daran, dass ich 1990 mein Diplom dort abgelegt habe. Wir waren die letzten Studenten, die ein Ostdiplom erhielten. DDR-Bürger, die einen Hochschulabschluss besaßen, aber kein Diplom, durften bis zum Eintritt des 45. Geburtsjahres ihr Diplom nachholen. Dieses Gesetz wurde nach unserem Abschluss außer Kraft gesetzt…

Plötzlich spricht mich ein kleiner Mann an. Ich halte ihn für einen Liliputaner. Vielleicht hat der heute seinen freien Tag. Man sieht diese Menschen sonst nur im Zirkus, geht es mir durch den Kopf.

"He, du da, ja, du da auf der Bank! Oder sitzt noch einer neben dir?"

Ich schaue mich auf der Bank um. Aber neben mir sitzt keiner. Der nächste Fahrgast steht mindestens zehn Meter weiter vorn auf dem Bahnsteig. Schaut in Richtung Frankfurter Allee.

"Was wollen Sie von mir?", frage ich zurück. Füge etwas unwirsch hinzu: "Wann der nächste Zug kommt, weiß ich auch nicht und ob dieses Jahr noch Schnee fällt, auch nicht."

Der kleine Mann lässt sich nicht abschütteln durch meine Unhöflichkeit und beginnt erneut:

"Mensch, sei nicht sauer, dass ich dich in deinen Gedanken gestört habe, aber du solltest keine Gehirnsubstanz mehr an Diplome verschwenden oder DDR-Gesetze. Diese Zeit ist vorbei. Das war einmal. Genauso wie dieser alte Bahnhof bald Geschichte sein wird. Hier bleibt kein Stein auf dem anderen. Du wirst schon sehen. Hier kommt so ein Glaspalast hin und Fernzüge halten hier und…"

Ich unterbreche den Redefluss des Mannes: "Woher wussten Sie von meinem Diplom? Habe ich so laut gesprochen? Wer sind Sie überhaupt?"

Er macht eine Verbeugung. Lüftet kurz seinen Hut und plaudert weiter:

"Mein Name ist Gleis. Meine Verwandten nennen mich das Gleismännlein. Bitte nicht verwechseln mit dem Glasmännlein. Ihr, mein Herr, kennt doch das Märchen vom Hauff, 'Das kalte Herz'. Na sicher kennt Ihr das..., der Kohlenpeter, der Holländermichel und die Auswechslung des warmen Herzens gegen ein Steinherz. Na, dämmert's, junger Mann? Übrigens, wie heißt Ihr denn?"

Da steht er nun, der kleine Mann, der mich erst duzt, nun aber mit Sie anredet, und wartet auf eine Antwort. Soll ich ihm meinen richtigen Familiennamen sagen oder auch einen Künstlernamen? Lohnt sich überhaupt die Bekanntschaft zu machen, so auf diese Art auf dem Bahnsteig Ostkreuz? Wenn ich mir seine Kleidung ansehe, bestätigt sich meine Vermutung: Er gehört bestimmt zu einem Zirkus… In der Weihnachtszeit kommen immer die Zirkusleute nach Berlin… Sein blaues Glitzerkostüm, der spitze Silberhut und dieser goldene Kinderspaten.

Dieser Spaten irritiert mich. Er sieht wie ein normaler Spaten aus, nur kleiner, scheint aus Gold zu sein oder ist es bloß Messing? Aber die Schaufel verwandelt sich sekundenlang in einen Dreispitz oder habe ich Halluzinationen? Liegt wohl am Wetter oder an seinen Magiekünsten…

"Wissen Sie, Herr Gleis, es macht wenig Sinn, Ihnen meinen Namen zu sagen. Ich steige in den nächsten Zug und fahre ab. Sie gehen zu ihrem Zirkus. Wir sehen uns nie wieder. Also, bin ich der Meinung,  ich bleibe für Sie ein Nobody. So sagt man das jetzt auf Neudeutsch".

Er schaut mich an, schüttelt vorsichtig seinen Kopf damit der silberne Spitzhut nicht runterfällt, nimmt seinen Spaten von der Schulter und tupft ihn kurz auf den Bahnsteig. Ein wildes Rauschen setzt ein. Der Nebel lichtet sich. Ich kann kaum die Geräusche auseinander halten:

Es hört sich wie das Pfeifen und Stampfen von Dampflokomotiven an. Gleichzeitig die fast singenden Zischgeräusche der ICE-Züge, wieder schwere Güterwaggons, die scheinbar mit Kohlen beladen sind. Es poltert bei jedem Schienenstoß. Ich höre die Geräusche, aber ich sehe die Fahrzeuge nicht auf dem Bahnhof Ostkreuz. Sicherlich fahren sie unten lang, Richtung Alexanderplatz oder Strausberg… Plötzlich wieder Stille von einer Sekunde zur anderen…

Was ist hier los? Spukt es oder war es dieses Gleismännlein mit seinem Spaten?

"Gut, gut!", sage ich. "Ein sauberer Trick. Funktioniert bestimmt jeden Abend im Zirkus. Bin echt beeindruckt, Herr Gleis!"

Er schaut mich nur an, fragt mich, ob ich denn nichts begriffen hätte. Nicht aus einem Zirkus komme er, sondern von diesen Gleisen am Ostkreuz. Er sei der Bewacher dieser Gleise, der Anlagen, Signale, Bahnsteige, Treppen, Wartehäuschen. Kurzum alles, was zu einem großen Kreuzungsbahnhof gehört. Er wird dafür sorgen, dass dieser Bahnhof nicht verschandelt wird wie so viele in Berlin. Nur noch Glas, Beton und etwas Stahl. Dabei sind Bahnhöfe Visitenkarten der Städte. Eigentlich sogar des Landes…

Ich frage vorsichtig, um ihn nicht zu erzürnen, wie er den Umbau des Bahnhofes, der angrenzenden Straßen und Grundstücke verhindern will. Ob es nicht besser wäre dieses marode Bauwerk…

Aber das Wort marode lässt ihn fast ausrasten. Er stampft mit dem Fuß auf, tippt wieder mit dem Spaten auf den Bahnsteig. Meine Augen sehen den Bahnhof wie er bestimmt vor dem großen Krieg ausgesehen haben muss. Auch die Kleidung der Leute sieht so aus, als wären sie einem Modemagazin der zwanziger Jahre entstiegen…

"Na, ist das vielleicht marode Baukunst, mein Herr?", fragt mich das Gleismännlein. "Wenn schon bauen, dann so wie es ursprünglich mal aussah, vor den Bombenangriffen… Gut, gut, Fahrstühle für junge Mütter oder ältere gehbehinderte Menschen, doch keine Rolltreppen. Mehr Überdachung könnte auch nicht schaden. Aber ansonsten soll dieser Bahnhof ein technisches Denkmal werden." Er strahlt mich an.

"Eine Frage habe ich noch, Herr Gleis. Gibt es noch mehr Gleismännlein in Deutschland? Kümmern die sich um alle großen oder ehemaligen großen Bahnhöfe. Ich meine zum Beispiel den Lehrter Bahnhof, den Ostbahnhof, Bahnhof Gesundbrunnen oder die Ruine Bahnhof Warschauer Straße...?"

Er schaut mich an. Zischt durch seine weißen Zähne: "Bin ich allmächtig wie euer so genannter Gott. Nein, bin ich nicht. Bin einer der letzten Gleismänner. Es werden zu viele überfahren. Ich bin nur für diesen Bahnhof zuständig, für keinen anderen und das ist schwer genug. Du Schlaumeier kannst mir helfen, diesen Bahnhof zu erhalten. Hört nicht auf die Bahn-AG-Aktionäre, sondern auf euer Eisenbahnerherz oder zumindest Modelleisenbahnerherz. Wenn schon Rekonstruktion dann richtig: Herstellung des Urzustandes unter Einbeziehung moderner Technik, aber keine Verschandlung des Stadtbildes! Haben Sie mich verstanden, mein Herr?"

Zeitgleich mit seinen Worten setzt wieder ein Dröhnen ein, dass mir die Ohren weh tun und die Augen brennen, so dass ich sie schließen muss… Ich schlage die Augen wieder auf. Vor mir steht der S-Bahnzug in Richtung Schönhauser Allee… Menschen steigen aus… Ich begreife: Es war nur ein Traum auf einer Bank des Bahnhofs Ostkreuz. Trotzdem flüstere ich vor mich hin, bevor ich in den Zug einsteige: "He, Kleiner, ich werde mein Bestes geben, um den Schaden so gering wie möglich zu halten beim Umbau. Es ist nach der Wende schon zuviel vernichtet worden. Nicht nur Bahnhöfe!"

Der S-Bahn-Zug fährt langsam an. Eigentlich hätte ich die eine Station auch laufen können, aber dann gäbe es nicht die Begebenheit Gleismännlein… Wie war das heute mit der Gravitation im Kalender: Die Grundeigenschaft jeder Materie ist Masse… Der Bahnhof Ostkreuz ist doch solch eine Masse… Sie äußert sich als Trägheit oder Beharrungsvermögen gegen jede Veränderung ihres Zustandes. Ostkreuz hat lange widerstanden, teils freiwillig, teils unfreiwillig… Wenn nun die 'Masse Mensch' auf den Bahnhof Einfluss nimmt…? Wieder wollen die Augen sich schließen. Ich stehe schnell auf. Die S-Bahn hat die Station Frankfurter Allee erreicht. Muss sowieso raus. Luft schnappen… Und nachdenken.


 

Barbara Skop
Paul

 

Eigentlich ist es mir unerklärlich, wie es kommt, dass ich gerade heute an Paul denken muss, an den ich zwanzig Jahre nicht gedacht habe. Plötzlich spüre ich ihn fast körperlich, sehe sein angespanntes Gesicht vor mir, als hätte ich ihn soeben erst getroffen.

An all die fein gemachten und artigen Kinder mit ihren schönen Schulranzen, ordentlichen Hosen und gebügelten Gesichtern erinnere ich mich nicht mehr. Sie sind mir nur noch als eine abgeschlossene Masse von glücklichen Kindern in Erinnerung, denen ich während meiner Kindheit begegnete.

Aber an Paul, den alle verachteten, weil er immer fürchterlich stank und auch sonst nicht wie die anderen Kinder war, erinnere ich mich sehr gut.

Wir riefen den Sonderling lieber "Paule", weil "Paul" doch so ordentlich klang.

 

Ich sehe ihn noch hilflos und unbeholfen um sich schlagen, weil ihn wieder jemand aus der Klasse gehänselt hatte. Paul stierte oft teilnahmslos in der Gegend umher. Er war dann seltsam abwesend. Er ließ auch niemanden an sich heran. Die noch so kleinste Freundlichkeit schleuderte er mit blitzenden Augen einem ins Gesicht zurück. Ich glaube, er spürte die Almosen, die ihm da hingehalten wurden, und die wollte er nicht. Später aber blickten seine graublauen Augen so durchdringend, dass ich glaubte, einen Erwachsenen vor mir zu haben. Sie erschienen mir in einem eigenartigen Gegensatz zu seinen trotzigen und ständig feuchten Lippen zu sein. Die spröden, widerspenstigen Haare standen an irgendeiner Stelle immer zu Berge.

Paul saß zu jener Zeit auf der letzten Schulbank der rechten Reihe. Wir nannten sie die Wandreihe, die es neben der Fenster- und Mittelreihe gab, in der jeweils zwei Kinder nebeneinander saßen. Bei Paul wusste man nie, ob sein Platz links oder rechts war, denn er rutschte immer von einem Stuhl zum anderen, ununterbrochen hin und her.

Obwohl wir uns nicht umdrehen sollten, wandte ich meinen Kopf ab und zu heimlich nach hinten. Ich glaubte zu sehen, dass Paul immer noch sabbert. Paul sollte damals im Grunde schon in der vierten Klasse sein, aber die Schule, und alles andere auch, interessierte ihn nicht.

Als Paul zehn Jahre alt geworden war, empfand er das als etwas ganz Besonderes.

Er wollte es mit allem noch mal versuchen. Aber als er nach der letzten Schulstunde nach Hause lief, fand er seinen Vater wieder neben irgendwelchen übel riechenden Flaschen hockend und die Mutter mit roten Augen vor.

Er wollte es nicht mehr ertragen.

Er verstand einfach nicht, warum manche Kinder glücklich sein durften und manche wieder nicht. Wer durfte schon über das Glück eines anderen entscheiden?

Wer waren diese Bestimmer?

Wer waren diese Nichtbestimmer?

 

Paul hatte sich damals den alten Rucksack vom Hängeboden heruntergeholt und gerade nur das Nötigste eingepackt. Dieser uralte Rucksack gehörte einst seinem Großvater, der sehr viel herumgekommen war. Paul hatte diesen alten Mann nie zu Hause besucht; später wusste Paul, dass es dieses Zuhause nie gab. Immer hatte er ihn nur draußen angetroffen, auf einer verwitterten Bank in irgendeinem Park mit finsteren, armseligen und trunksüchtigen Gestalten, oder aber er traf ihn ab und zu auf einem schmuddeligen Bahnhof, wenn er mit unserer Klasse ins Schwimmbad fuhr.

Jetzt wollte er auch viel herumkommen, Abenteuer erleben und endlich froh sein. Niemals wieder würde er Prügel einstecken müssen, dachte er damals, nie wieder gehänselt werden, nie wieder Verachtung der Feingemachten ertragen müssen – nie wieder alleingelassen werden.

Weggehen und allein lassen wird nur noch er, hörte ich ihn etliche Male flüstern.

 

Es müssen in dieser Nacht endlose Stunden vergangen sein, in denen Paul über seinem voll gestopften Rucksack und seinen Träumen gewacht hatte. Bis weit nach Mitternacht brannte das Licht in seinem Zimmer.

Er kam an diesem Morgen danach noch einmal zur Schule.

Er schien uns sonderbar heiter.

Aber keiner wusste, dass Paul schon fort war.

 

Ich glaube, es waren zwei oder drei Tage vergangen, nach denen man den erstarrten, leblosen Jungenkörper fand. Es war wohl die eine Vollmondnacht – sie lag im dichten Nebel und war schneidend kalt – die ihn letztlich in die Knie zwang.

 

Heute, wenn ich an dem auf dem Weg zum Bahnhof stehenden Altkleidercontainer vorbeihaste, um die für mich letzte mögliche S-Bahn am Ostkreuz zu erreichen, der stechende Geruch meinen Blick anzieht und meine Augen die verwitterte Bank, auf der immer dieselbe, in Lumpen gehüllte Kreatur mit spröden, widerspenstigen Haaren herumlungert, abtasten, frage ich mich, was wohl aus Paul geworden wäre.


Silke Jochen
Eine Sache der Ehre?

 

Ein lautes Klingeln riss mich unliebsam aus dem Schlaf. Als ich zum Hörer rübergriff, streifte ich einen Arm. So ein Mist! Den hatte ich ganz vergessen!

Wieder das aggressive Klingeln. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es drei Uhr früh war. Der Kerl neben mir regte sich.

"Ja?"

"Hier Marko. Wir haben einen Toten. Komm zum Bahnhof Ostkreuz. Du wirst uns bestimmt nicht verfehlen!", und schon hatte Marko aufgelegt. Seine stakkatohaften Ansagen hatte ich nun schon ein paar Mal genossen und er nervte mich einfach. Er war der Neue bei uns und ich durfte ihn einarbeiten und zu allem Übel war er auch noch ein Macho wie er im Buche stand.

Als ich die Wohnung verließ, warf ich noch mal einen Blick auf den Typen in meinem Bett. Ich überlegte kurz, wie er hieß, aber ich hatte es schon wieder vergessen. Insgeheim hoffte ich nur, dass er weg sein würde, wenn ich wieder heim käme.

 

Am Bahnhof Ostkreuz wimmelte es von Polizeifahrzeugen, aber sonst waren wenige Passanten unterwegs und ich fand das Aufgebot übertrieben, schließlich war die Person schon tot, oder?

Der Bahnhof lag von einem seltsamen Nebel umhüllt, so wie in einem alten Sherlock-Holmes-Film, wenn die Kamera, kurz bevor der Mord passiert, durch die dunklen Straßen von London fährt. Einfach unheimlich! Mir lief ein Schauder über den Rücken. Als ich aufblickte, ragte der Wasserturm hoch vor mir auf, durch den dichten Nebel konnte man kaum die runde Kuppe erkennen.

"Na, an was erinnert er dich?" Marko war neben mich getreten und grinste blöd.

"Was haben wir?", fragte ich betont gelangweilt. Man musste seine ständigen anzüglichen Bemerkungen einfach ignorieren.

"Toter Asiate auf den Gleisen. Noch nicht identifiziert. Wurde von einem Zug überrollt. Keiner hat was gesehen."

"Haben wir das Videoband der Überwachungskamera?"

"Bin dabei. Die brauchen erst tausend Genehmigungen, um das Band rauszugeben."

"Steckt vielleicht die Zigarettenmafia dahinter?"

"Könnte alles sein."

Ich war todmüde und wollte in mein Bett. Ich guckte Marko von der Seite an. Er sah auch nicht gerade frisch aus, aber der Drei-Tage-Bart stand ihm irgendwie.

 

Erst der Leichenbeschauer konnte uns eine Stunde später die Brieftasche des Opfers geben und er bestätigte uns, dass der Tod durch Überrollen des Zuges eingetreten war.

"Sonst hat er keine Spuren durch Fremdeinwirkung gefunden", sinnierte Marko.

"Also vielleicht Selbstmord?" Ich schlürfte an meiner vierten Tasse Kaffee, aber irgendwie machte mich das auch nicht munterer.

"Ich habe das Videoband immer noch nicht. Aber unser Opfer ist Chinese, also nix mit Zigarettenmafia. Oder sind die auch irgendwie organisiert?"

"Keine Ahnung", antwortete ich gähnend.

"Ah, wohl etwas lustlos, Frau Kommissarin. Hä? Wohl heute Nacht wieder mal total ausgepowert, was?"

Am liebsten hätte ich ihm eine gescheuert.

"Hatte er Familie?" Ich versuchte es mit bohrenden Blicken.

"Laut Computer eine geschiedene Frau: Lung Hui Chen. Professorin an der Humboldt-Uni! Wow! Und zwei Kinder. Einen Sohn, siebzehn Jahre und eine sechsjährige Tochter."

"Dann statten wir ihnen mal einen Besuch ab."

 

Auf der Hinfahrt sagte keiner ein Wort. Es war für Marko von Anfang an klar, dass er als Mann unseres Teams den Dienstwagen fährt und ich ließ ihm diesbezüglich die Oberhand. Bisher hatte er mich auch immer brav nach Hause gefahren, fast wie ein Verehrer.

Als uns Frau Chen öffnete, hätte ich alles erwartet - den biederen Dutt einer Professorin oder eine dicke Brille vielleicht – aber nicht diese zierliche Kindfrau mit den langen seidigen schwarzen Haaren, die mich aufmerksam musterte.

"Rusche, Kripo Berlin. Wir sind hier wegen Ihres Mannes", stellte ich mich vor.

"Hat er wieder Schwierigkeiten?" Sie schien nicht überrascht und hatte ihre Mimik voll unter Kontrolle.

"Können wir vielleicht reinkommen?", fragte Marko, so direkt wie immer.

Sie führte uns in ein geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer, in dem die Farben schwarz und weiß dominierten. Nur eine kleine rote Holzvitrine mit Glastüren, die an der Wand hing, fiel aus dem Rahmen. Sie war in goldener Farbe mit chinesischen Schriftzeichen bemalt.

Frau Chen zuckte nicht mit der Wimper, als wir ihr vom Ableben Ihres Ex-Ehemannes berichteten.

"Er war ein guter Mann, aber leider spielsüchtig. Damit hat er uns fast in den Ruin getrieben. Die ganze Familie", sagte sie sachlich.

"Spielsüchtig?"

"Ja, er hatte überall Schulden. Und da habe ich ihn verlassen."

Die Frau war auf jeden Fall konsequent, dachte ich.

"Wo arbeitet ihr Mann?"

"Er ist Pianist im Berliner Orchester. Fragen Sie seinen Chef. Er heißt Heinze. Falls er ihn noch nicht rausgeschmissen hat."

"Frau Chen, war Ihr Ex-Mann eventuell selbstmordgefährdet? Gab es da mal eine Andeutung?", fragte ich so sanft wie möglich, aber Frau Chen schien die Frage nicht zu stören.

"Chinesische Männer begehen keinen Selbstmord!", sagte sie resolut und ich merkte, wie sogar Marko bei ihren harten Worten etwas zusammenzuckte.

"Was ist übrigens dort in der kleinen roten Vitrine?" Ich deutete auf die Wand.

Jetzt zeigte Frau Chen das erste Mal eine Gefühlsregung: "Oh, das sind sehr alte Schriftrollen aus der Familie meines Mannes. Sie sind über 500 Jahre alt und sehr wertvoll. Sie werden vom Vater zum Sohn weitergegeben. Schon seit Generationen!" Sie nickte die ganze Zeit beim Erzählen und schien sehr stolz zu sein. Ihr Gesicht strahlte.

 

Im Auto erhielten wir einen Anruf, dass das Video von der Überwachungskamera angekommen sei, und wir fuhren sofort ins Büro. Auf dem Video war deutlich zu erkennen, wie jemand Herrn Chen nach einem Handgemenge auf die Schienen stieß.

"Was hat der da in der Hand?" Marko zeigte auf den Bildschirm.

"Irgendwas Längliches. Dieser Mistnebel! Man kann nicht mal erkennen, ob der andere ein Mann oder eine Frau ist." Ich kniff die Augen zusammen.

"Ist es ein Messer?"

"Sieht eher quadratisch aus?! Siehst du jetzt! Da! Da stößt er ihn auf die Schienen."

"Also doch Mord!", sagte Marko bestimmt.

"Aus dir wird ja doch noch ein richtiger Kommissar!" Ich grinste Marko an.

"Veralbern kann ich mich alleine", sagte der mit unbewegter Miene, er imitierte Frau Chen.

"Sie kommt eben aus einem anderen Kulturkreis, in dem man nicht so offen seine Gefühle zeigt", verteidigte ich sie.

"Sie hat Jahre mit dem Mann zusammengelebt und zeigt nicht die kleinste Regung darüber, dass er tot ist?", sagte Marko nachdenklich.

"Lass uns lieber mal zu seinem Chef fahren. Vielleicht gab es da Streit."

 

Herr Heinze lud uns in sein Büro ein. Er war sehr von der Nachricht erschüttert.

"Verstehen sie mich nicht falsch, aber ich wollte ihn mehr als einmal rausschmeißen. Er hat zweitausend Euro aus unserer Kasse gestohlen. Wenn er nur nicht ein so verdammt genialer Pianist wäre…" Er schüttelte traurig den Kopf.

"Kam es zum Streit?"

"Mit mir? Nein, nein. Er wollte alles zurückzahlen. Meinte, dass er bald zu sehr viel Geld käme, und ich habe ihm geglaubt. Aber gestern Abend hat er sich mit Luis gestritten. Er spielt auch hier im Orchester. Sie können ihn fragen."

Luis war ein Hüne von einem Mann und hatte ein ernstes Gesicht mit slawischen Gesichtszügen.

"Er war mein Freund", sagte er traurig, "aber er hat mir fast zehntausend Euro geschuldet. Gestern wollte er mich noch mal anpumpen. Meinte, es wäre das allerletzte Mal. Ha! Und am nächsten Tag wollte er mir alles zurückzahlen. Ich weiß nicht, wie er das machen wollte. Ich habe ihm jedenfalls nichts gegeben".

"Und um welche Uhrzeit war das genau?", fragte Marko.

"Nach der Probe. So gegen 22 Uhr."

"Und wo sind Sie danach hingegangen?", fragte Marko streng.

"Nach Hause! Wohin sonst? Sie glauben doch nicht etwa, dass ich…?"

Marko guckte mich vielsagend an: "Sie müssen eine Aussage bei uns im Revier machen. Überlegen sie sich schon mal ein Alibi", sagte Marko überheblich und ich hätte ihm am liebsten einen Tritt in den Hintern gegeben.

Luis guckte mich betroffen an.

"Kommen Sie vorbei, wenn sie es einrichten können." Ich reichte Luis meine Karte.

"Das war unnötig! Wir sind hier nicht im Fernsehen, verdammt!", schnauzte ich Marko im Auto an.

"Er war’s doch wohl! Wer sonst? Zehntausend Euro! Oder würdest du irgendeinem deiner Freunde so viel Geld leihen und es nie zurück verlangen?! Sie haben sich gestritten und ruck, zuck! hat der Riese ihn auf die Schienen befördert."

Mein Handy klingelte, mein Kollege war dran. Sie hatten Chens Handy gefunden. Es lag zwischen den Gleisen.

"Und wer hat ihn zuletzt angerufen?", fragte mich Marko im Auto.

"Seine Ex-Frau."

"Komisch, oder? Sie hat gar nichts davon erwähnt", meinte Marko.

"Sie wird schon ihren Grund haben und außerdem haben wir sie nicht gefragt."

"Vielleicht wollte er sich gestern von ihr Geld leihen?", überlegte er.

"Vielleicht ist er auch an einen Kredithai geraten und der ist sauer geworden und bei seiner Ex-Frau aufgetreten?", fügte ich hinzu.

"Ich denke ja weiterhin, dass es dieser Luis war. Der hatte jedenfalls ein Motiv", antwortete Marko.

"Wir fahren noch mal zu seiner Frau."

Auf der Fahrt dachte ich über das Video der Überwachungskamera nach und sah die miteinander rangelnden Personen vor meinem geistigen Auge: beide waren gleich groß gewesen.

"Wie groß war eigentlich dieser Chen?", fragte ich Marko, ich wusste, er schrieb sich alle Einzelheiten auf. So machten es alle Anfänger.

"Maximal 165 Zentimeter, ja, hier steht’s: 162 Zentimeter genau. Warum?"

 

Diesmal öffnete uns der Sohn der Chens, er hatte kurze schwarze Haare und ein interessantes Gesicht. Seine mandelförmigen Augen sahen verweint aus.

"Können wir deine Mutter sprechen?", fragte Marko und drängte in die Wohnung.

Die Tochter hüpfte fröhlich durch das Wohnzimmer, sie wusste wohl noch nicht Bescheid.

"Geh bitte in dein Zimmer, Ling. Wir müssen etwas besprechen", sagte die Mutter zu ihr und der Sohn blieb bei uns im Wohnzimmer.

"Wir haben erfahren, dass Sie gestern Nacht, kurz vor dem Unfall, Ihren Mann angerufen haben. Sagen Sie uns bitte, worum es in diesem Gespräch ging?", fragte ich.

Frau Chen wurde das erste Mal nervös und rang mit den Fingern.

"Er war gestern hier und hat rumgeschrien. Ich wollte ihm sagen, dass er nie wieder herkommen sollte." Frau Chen klang fast weinerlich, immer wieder guckte sie zu der Vitrine und dann zu ihrem Sohn.

"Sie hatten also einen Streit? Um was ging es da?", hakte Marko nach.

Ich musterte Frau Chens zierliche Figur und überlegte, ob sie stark genug wäre, um ihren Mann auf die Gleise zu stoßen. Aber richtige Wut setzt bekanntlich besondere Kräfte frei.

"Um nichts Besonderes. Nur Geld, wie immer", sagte sie betont lässig und machte eine wegwerfende Geste. Sie versuchte, wieder die Maske der Gleichgültigkeit aufzusetzen.

"Ging es um die Schriftrollen? Wollte Ihr Mann sie verkaufen?", fragte Marko und ich war erstaunt über seinen Scharfsinn.

"Ja, so war es! Er hat sie mitgenommen." Frau Chen schien jetzt wieder sehr entschlossen zu sein und ihr Blick war starr auf Marko gerichtet.

"Und da sind Sie ihm hinterher gerannt…?", insistierte Marko weiter.

"Ja! Und wir haben uns gestritten… auf dem Bahnhof… und da ist er rückwärts gegangen… und auf die Schienen gefallen. So war’s!" Sie nickte.

Sie atmete stoßweise, als stände sie kurz vor einem Infarkt, aber ihr Gesicht war vollkommen unbewegt. Ich bewunderte ihre Selbstbeherrschung.

"Nein! Nein!", rief plötzlich Ling und kam ins Zimmer. Sie musste hinter der Tür gelauscht haben. "Dan ist ihm hinterhergerannt. Nicht Mama, sondern Dan!" Sie zeigte auf ihren Bruder.

Frau Chen sprang auf: "Red nicht so einen Quatsch! Ich habe dir gesagt, du sollst in dein Zimmer gehen!"

Ling brach in Tränen aus: "Man darf doch nicht lügen, oder, Mami, oder?"

Dan war schweißgebadet und vibrierte am ganzen Körper.

"Also, du bist ihm hinterher gelaufen, und dann…?",  sagte ich leise zu Dan.

Dan jaulte laut auf und schlug sich mit den Händen gegen den Kopf: "Ich wollte es nicht!", brach es aus ihm heraus. "Er hat rumgebrüllt und irgendwas von einem neuen Anfang gefaselt. Aber ich wusste, er lügt! Er lügt immer! Und jetzt wollte er auch noch das Familienerbe verhökern! Das musste ich doch verhindern!"

Frau Chen stand auf und nahm ihren Sohn in die Arme. Sie streichelte ihm zärtlich über die Haare. Ihr Blick war voller Sorge und Mitgefühl.

"Sie müssen ihm glauben, es war nur ein Unfall. Nur ein böser Unfall."

 

Auf dem Heimweg fuhren wir noch mal an dem Turm am Ostkreuz vorbei. Ich starrte nach oben.

"Na, jetzt sieht man ihn ja wieder ganz deutlich stehen!", grinste Marko, der meinem Blick gefolgt war.

"Ach, halt den Mund!" Aber ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.


Guido Woller
Ganz leis' steigt weißer Nebel auf

 

Früh am Morgen warte ich
auf dem Bahnsteig. Das Gesicht
schlafgezeichnet, ausdrucksleer
mimt das Ostkreuz Großstadtflair.

Fröstelnd gähnend sitz' ich nun
und warte auf die Bahn,
die letzte ist mir vor der Nase
um Achte weggefahr’n.

Geduldig wartend dreh' ich mir
’ne Kippe auf den Knien
und gönne mir in dieser Form
mein Morgennikotin.

Kreuz und quer und rauf und runter,
eilen Menschen müd’ und munter,
steigen aus und steigen ein,
manche schauen mürrisch drein,
andere sind froh und lächeln,
Tauben gurren, Hunde hecheln.

Das Holz ist morsch, der Stahl zeigt Rost,
die Gleise schmücken sich mit Frost,
die Bahn fährt ein, ’ne Mutter drängelt
sich ins Abteil, ihr Kind das quengelt,
rot leuchtend das Signal ertönt
und gellend laut mein Ohr verwöhnt.
Die Türen schließen sich entspannt,
ein Opa kommt noch angerannt,
verpasst den Zug, verflucht die Welt,
sein Dackel Waldi glotzt und bellt.

’ne ganze Weile schau’ ich schon
mir an den strammen Wasserturm,
der lange schon das Ostkreuz schmückt
und Groß, Klein, Jung und Alt entzückt.
Und eh’ ich mich verseh’ und merk’
fährt ein mein Zug nach Lichtenberg.

So nimmt der Morgen seinen Lauf
ganz leis’ steigt weißer Nebel auf.


 

Roman Kieß
Freundschaftsdienst

 

Fröstelnd zog ich den Kragen meiner Jacke enger. Obwohl ich an der Wand in dem kleinen Durchgang lehnte, krochen die Kälte und die Feuchtigkeit in meine Kleidung. Es war früh, zu früh, und der Nebel schien wie eine Wand aus Watte.

Innerlich verfluchte ich mich, diesem Treffpunkt zugestimmt zu haben. Doch jetzt war es zu spät, es gab kein Zurück mehr. Mein Herz fing an schneller zu schlagen, als Schritte über den Weg zwischen den Baracken knirschten. Doch dann tauchte ein fremdes Gesicht aus dem Nebel auf und ich lehnte mich wieder an die Wand, während der Fremde weiterging, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Er hatte grobe Arbeitsschuhe an und einen Blaumann. Darüber eine Cordjacke, ich wunderte mich, warum ihn nicht fror. Die Schiebermütze aus Kunstleder saß ihm akkurat ausgerichtet auf dem Kopf und sein Henkelmann mit dem Mittagsmahl klapperte leise an seiner Seite. Sein Gesicht sah müde und fahl aus. Hatte er mich absichtlich nicht angeschaut, um mich in Sicherheit zu wiegen? Gehörte er zu den Anderen? Unsinn. Sicherlich ein harmloser Passant auf dem Weg zur Arbeit.

Wieder hörte ich Schritte, diesmal aus der anderen Richtung, von der Neuen Bahnhofstraße her. Eine alte Frau mit Stock näherte sich. Erstaunlich schnell, fand ich. Ich fange an Gespenster zu sehen.

Von fern drang das Kreischen von Schienen herüber, die Ringbahn ratterte von Süden heran. Schon war die Alte an mir vorüber gestapft. Sie schenkte mir einen kurzen Seitenblick, allerdings schien sie nicht weiter an mir interessiert. Das beruhigte mich wieder etwas. Ein Blick auf die Zeiger meiner Uhr, noch eine Viertelstunde…

Ich war früher gekommen. Schlafen konnte ich seit Stunden nicht mehr. Dann dachte ich an das Treffen gestern mit Adam im Volkspark.

 

Adam Goldberg hatte ich vor drei Jahren kennen gelernt. Als Korrespondent durfte ich damals für den "Glasgow Herald" zu den Olympischen Sommerspielen nach Berlin reisen.

Adam war für die "Morgenpost" bei der Eröffnungsfeier im Olympiastadion. Wir haben uns auf Anhieb verstanden. Ein Glücksfall damals, denn die Sekretärin des "Herald" hatte meine Hotelbuchung in den Sand gesetzt und natürlich war in ganz Berlin während der Olympiade keine Unterkunft mehr zu finden. Er bot mir sein Studierzimmer an, das vor der Währungskrise die Kammer für das Dienstmädchen der Familie Goldberg gewesen war. Ihre Wohnung lag im Helenenhof.

Erneut drang schwach der Klang von Schritten an mein Ohr. Sie waren zielstrebig, mir wurde es flau im Magen. Aber es war kein Polizist, sondern nur ein weiterer unscheinbarer Passant, wohl ein Angestellter, denn er trug einen steifen Hut, einen Anzug und einen langen, wenngleich etwas schäbig wirkenden Mantel darüber. Sein Blick streifte mich von oben herab, aber ich war mir sicher, er hatte mich schon wieder vergessen, als er durch den Nebel in den Brückenbogen verschwand.

 

Keine Ahnung wie Adam erfahren hatte, dass ich in Berlin weilte. Beim Notar war eine Erbschaftsangelegenheit meiner Mutter zu besprechen. Die Reise war ihr zu weit und beschwerlich, so hatte ich mich anerboten. Gestern brachte ich den ganzen Papierkram hinter mich und bereits heute Mittag ging mein Schnellzug nach Hamburg, wo mich das Paketboot nach Glasgow erwartete.

 

Ein Blick auf die Uhr, noch zwölf Minuten. Sollte ich schon hoch gehen und auf dem Bahnsteig warten? Nein, das schien mir zu auffällig. Im Nebel sah ich trübe die Lichtkegel der Lampen auf dem Bahnsteig oben leuchten. Aber war es nicht viel verdächtiger allein hier unten herumzulungern?

 

Wieder dachte ich an die Olympiade. Wie prächtig hatte sich Hitler-Deutschland präsentiert, sowohl seinen Friedenswillen als auch die Völkerfreundschaft betont. Aber Adam hatte meinem gefälligen Deutschlandbild schnell ein paar gehörige Risse zugefügt. Am Abend in der Kneipe, nach dem Sieg des großen Jesse Owens im 100-Meter-Lauf, erzählte er mir, Hitler hätte getobt. Ich fand, auf der Ehrentribüne hatte der Reichskanzler das aber ganz sportlich aufgenommen. "John", sagte Adam zu mir, "du blickst nicht hinter die Kulissen dieses riesengroßen Schmierentheaters." Nach dem Anschluss Österreichs zwei Jahre darauf und dem Einmarsch ins Sudetenland, begann mir langsam zu schwanen, dass Adam damals wusste, wovon er sprach.

 

Ich griff mir die braune lederne Aktentasche und ging langsam zum Brückenbogen. Der Nebel fühlte sich feucht auf meinem Gesicht an. Mich bedrückten dieser Morgen und die Ungewissheit, was noch kommen würde.

Langsam nahm ich die Stufen zum Bahnsteig, so als ob ich alle Zeit der Welt hätte. Oben standen die beiden Männer, jeder für sich, doch von der alten Frau mit dem Stock war nichts mehr zu sehen.

 

Als ich vorgestern vom Mittagessen ins Hotel zurück kam, hielt mir der Portier einen Zettel unter die Nase. Es habe jemand für mich angerufen und gebeten, mich unter der angegebenen Nummer zu melden. In der Kabine rätselte ich, ob es der Notar sein könne, doch da wurde ich bereits mit Adam verbunden. "Wir müssen uns unbedingt treffen." Es kam mir komisch vor, dass er statt eines Cafés den Volkspark Friedrichshain wählte. "Morgen, um zwölf, am Parkeingang Landsberger Platz."

 

Jetzt war ich etwa in der Mitte des Bahnsteigs angelangt und stellte meine Tasche – wie verabredet – an der Mittelstrebe der Sitzbank ab. Keiner von den Wartenden hatte mich dabei beobachtet. Der Nebel lichtete sich, doch nur wenig. Es kamen zwei junge Männer die Treppe hoch und diskutierten über einen Boxkampf vom vergangenen Wochenende. Sie stellten sich an den Aufgang und als mich einer unvermittelt musterte, blieb mir fast das Herz stehen. Sollten die beiden den Fluchtweg abriegeln? War der Bahnsteig bereits umstellt? So gelassen wie möglich drehte ich mich nach rechts, zu meiner Erleichterung war aber an diesem Treppenaufgang kein Mensch zu sehen. Ich blickte erneut nach links, doch die beiden waren schon wieder in ihre Diskussion vertieft. Um unbeobachtet auf meine Armbanduhr schauen zu können, drehte ich den Wartenden den Rücken zu. Noch acht Minuten. Warum kam kein Mensch vom rechten Treppenaufgang? Konnte das Zufall sein? Fröstelnd trat ich von einem Bein auf das andere und versuchte unauffällig unter dem Rand meines Hutes die untenliegenden Bahnsteige zu mustern. Außer den trüben Lichtpunkten der Bahnsteiglampen war jedoch nichts durch den grauen Schleier zu erkennen.

 

Adam hatte mich rasch in Richtung Park gezogen. "Nur eine Sicherheitsmaßnahme, damit man uns nicht belauschen kann", meinte er beruhigend. Nun erst konnte ich meine Wiedersehensfreude äußern, aber Adam lächelte unsicher. "Es sind keine erfreulichen Umstände, muss ich gestehen. Kurz nach den Winterspielen konnte mein Chefredakteur die Tatsache, dass ich nach deutschem Recht ein so genannter "Halbjude" bin, nicht mehr vertuschen. Ich musste gehen."

Von diesen Rassegesetzen hatte ich gehört, aber da Politik nicht in mein Gebiet fiel, hatte ich mich nicht eingehender damit beschäftigt.

"Aber es geht mir um etwas anderes. John, ich muss dich um einen großen Gefallen bitten." "Alles was du willst, schließlich hast du mir damals aus der Patsche geholfen." "Oh, unterschätze das nicht. Ich habe mich entschlossen zu emigrieren. Vielleicht habe ich sogar schon zu lange gewartet. Einige meiner Freunde sind in den letzten Monaten spurlos verschwunden, sogar ganz bekannte Namen darunter! Vereinzelt mal eine Postkarte aus einem Lager und dann nichts mehr." Ich sah, dass es ihm ernst war. "Viel wichtiger ist jedoch, dass diese Schweinereien endlich im Ausland bekannt und verurteilt werden. Vielleicht bringt sie das wieder zur Besinnung. Hör zu…"

Adam gab mir die abgewetzte lederne Aktentasche und weihte mich in die Details ein. "Wir haben den Bahnhof Ostkreuz zur Übergabe ausgesucht. Du kennst ihn von damals und man hat – für den Fall des Falles – mehrere Fluchtwege offen." Es seien Fotos und Dokumente über mehrere politische Gefangenenlager, Adam nannte sie "Konzentrationslager", und noch ein Schreiben an den panamaischen Honorarkonsul in London. "Ohne ein gültiges Visum komme ich nicht aus Deutschland raus." Beim Abschied fielen wir uns in die Arme. "Du musst unbedingt nach Glasgow kommen, wenn du es geschafft hast. Ein Talent wie dich bringe ich bestimmt beim "Herald" unter."

Noch drei Minuten. Wieder kam jemand die linke Treppe hoch. Mir stockte der Atem. Das musste der Kurier sein. Er hatte genau die gleiche Ledertasche in der Hand. Seine graue Schiebermütze tief in die Stirn gezogen, trat er jetzt auf den Bahnsteig. Blaue abgewetzte Joppe und eine graue Hose schlabberten um seine Waden, die Arbeitsschuhe waren klobig, aber sauber. Jetzt erst konnte ich seine Augen erkennen. Er blickte völlig desinteressiert an mir vorbei. Ich stand knapp zwei Meter neben der Bank als er dort seine Ledertasche genau neben meiner abstellte. Keiner der anderen Anwesenden hatte darauf geachtet. Er zog eine Zigarette aus seiner Brusttasche und zündete sie mit einem Streichholz an, dessen Flamme er mit der hohlen Hand gegen den Wind schützte. Tief sog er den ersten Rauch ein und atmete ihn dann befreit mit zurückgelegtem Kopf nach oben aus. Das macht er gut, gibt sich völlig natürlich. Was hätte ich darum gegeben, jetzt eine rauchen zu können. Etwas woran man sich festhalten kann während dieser quälenden Warterei. Aber ich hatte nie geraucht. Und es war sicherlich nicht der geeignete Zeitpunkt damit anzufangen.

Von der Sonntagstraße drang gedämpft der Lärm von schnellen Schritten herauf. Es mussten mehrere Personen sein. Ich hielt den Atem an, gleich würden sie die Treppe hoch stürmen. Ich blickte nach rechts, da bewegte sich etwas im Dunkel des Treppenaufgangs. Wir waren eingekreist! Mir trat Schweiß auf die Stirn. Drüben am Ende des Bahnsteigs kommt man die Böschung hinab und dann in Richtung Rummelsburger See. Prüfend glitt mein Blick über den Bahnsteig. Könnte ich es unbehelligt bis dorthin schaffen?

Die Ringbahn fuhr ein, in der Aufregung hatte ich ihr Nahen gar nicht gehört. Drei Frauen und zwei Männer stürmten die linke Treppe hoch und wandten sich gleich den sich öffnenden Türen in den vorderen Wagen zu. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie der Kurier gelassen nach der Ledertasche griff, der "falschen", und dann mit einem schnellen Sprung gerade noch in die abfahrbereite Bahn stürzte.

Und plötzlich war alles still um mich herum. Langsam schaute ich mich um. Dann griff ich die Ledertasche und ging, mich mühsam beherrschend, langsamen Schrittes zur Treppe. Mein Herz pochte wie wild. Der Wind begann die Nebelwand aufzulösen und so trieben nun große Schwaden an mir vorüber. Schwer wog die Tasche in meiner Hand, aber das war wohl nur Einbildung. Gerne hätte ich reingeschaut, doch Adam hatte mich beschworen, die Tasche nicht vor dem Verlassen deutschen Bodens zu öffnen. Kurz innehaltend schaute ich noch mal hinter mich. Alles ruhig. Langsam ging ich die Treppe hinab und ärgerte mich über meine Aufregung. Ich trat unter dem Brückenbogen hervor, langsam löste sich die Anspannung, die Übergabe hatte geklappt. Mit dem Handrücken wischte ich den Schweiß von der Stirn. Die Tasche fest im Griff, schritt ich weiter. Wir hatten sie überlistet. Ein Lächeln zog sich über mein Gesicht.

Am Durchgang zur Sonntagstraße löste sich eine Gestalt aus dem Schatten der Mauer. Sie trug einen langen schwarzen Ledermantel und eine Nebelschwade hüllte ihre Füße ein als ich sie bemerkte. Mein Lächeln gefror...


Christa Block
Nebel-Gespenster

 

Ein dichter Nebel lag über Berlin und vor allem in den weniger bebauten Ecken mit großen Freiflächen hielt er sich besonders dicht. Kein noch so kleines Lüftchen blies den Dunst weg.

Als ich morgens kurz nach sechs Uhr das Haus in der Corinthstraße verließ, konnte ich die andere Straßenseite nur erahnen. Den Markgrafendamm, der nur wenige Meter entfernt lag, sah ich schon gar nicht. Nur an einigen Stellen zeigte der Nebel einen gelbrötlichen Farbton, dort leuchtete eine Straßenlaterne. Licht spendete sie jedoch nicht. Und so ging ich, wie in Watte gehüllt, meinen Weg Richtung Bahnhof Ostkreuz. Kaum war ich um die Ecke gebogen, hatte ich den Eindruck, als flatterte etwas an mir vorbei. Ein Vogel? Nein, dafür war das Etwas zu groß. Aber was sollte es sonst gewesen sein? Nachdenklich ging ich weiter in den Dunst hinein. Die Sichtweite betrug nur wenige Meter und da! Wieder bewegte sich etwas Dunkles neben mir. Ich lief jetzt etwas schneller, war schon an der Ecke Persiusstraße und hörte vor mir Stimmen. Zwei Menschen, die sich unterhielten und ich hielt mich dicht hinter ihnen, blieb in ihrem Schutz. Doch wovor sollten sie mich eigentlich schützen? War ich in Gefahr, nur weil an mir Schatten vorbei flogen? Quatsch, ich spinne! Die S-Bahn-Geräusche kamen näher, also musste ich dicht vor dem Bahnhofseingang sein. Plötzlich hörte ich von vorn einen Aufschrei: "Huch, was war denn das? Hast du das gesehen?" Ich war jetzt näher, denn die beiden schienen stehen geblieben zu sein. "Da flatterte etwas Großes, das musst du doch auch bemerkt haben!" "Hier war nichts, du träumst. Los, komm weiter, sonst kommen wir zu spät." Ich hatte aufgeschlossen und zu dritt betraten wir die kleine Bahnhofshalle. Der Nebel dämpfte sogar hier unsere Schritte und es war, als schlichen wir uns heimlich irgendwo hinein.

Der Bahnsteig war voller als sonst, die meisten Autofahrer hatten wohl doch ihren fahrbaren Untersatz stehen gelassen und nutzten die öffentlichen Verkehrsmittel. Der Zug Richtung Zentrum ließ auf sich warten; wahrscheinlich hatten die Fahrer Probleme mit der Sicht auf die Signale und fuhren im Schritt. Heute wird es wohl viele Menschen geben, die zu spät ihr Ziel erreichten. Dicht neben mir standen drei Frauen und plötzlich fielen die Worte "Flattern" und "Gespenst!". "Ja, ganz sicher und immer dicht neben mir. Einmal habe ich ganz deutlich etwas Schwarzes gesehen, wie große Flügel oder so!" Die Frau war ganz aufgeregt und die zwei anderen sahen sie ungläubig an. Ich konnte mich nicht zurückhalten und mischte mich ein. "Ich habe das auch gesehen, mehrmals auf meinem Weg über den Markgrafendamm. Völlig geräuschlos und flatternd." Nun, zu viert rätselten wir herum, auch noch im Zug, der überfüllt ankam und in den wir uns hineindrängeln mussten und dicht beieinander standen. "Also, eine Fledermaus kann es nicht gewesen sein, dafür war es viel zu groß und fliegen die denn um diese Zeit und vor allem hier am Ostkreuz umher?"

Die drei Damen stiegen aus und ich blieb mit meinen Gedanken allein zurück. Was kann noch mit so großen Flügeln in der Luft sein? Tauben? Nein, davon gibt es zwar viel zu viele, aber Tauben waren es nicht. Krähen? Groß und schwarz sind sie ja und die scheinen sich in der Großstadt sehr wohl zu fühlen und vermehren sich zusehends. Aber so geräuschlos ohne Krächzen und Flügelschlagen sind die nicht unterwegs. Übrigens auch viel zu klein. Nein, es muss etwas anderes gewesen sein, was mir da im Nebel, und nicht nur mir, begegnet ist.

 

Der Tag verging schnell und die Arbeit ließ mich alles Flatternde vergessen. Noch hatte sich der Nebel nicht gelichtet und die Wetterberichte in meinem kleinen Radio überschlugen sich nur so mit ihren Prognosen – das Wetter bleibt vorerst wie es ist. Kein Wind in Sicht, der einmal kräftig in den Dunst blasen und alles Neblige verschwinden ließe. Also auch der Heimweg im Nebel! Und mit flatternden Gespenstern! Denn kaum war ich auf dem Markgrafendamm, waren sie wieder da! Diesmal, vielleicht weil ich schon darauf wartete, sah ich mehr. Schwarz und wesentlich größer als der größte Vogel, den ich kannte, schwebte es an mir vorbei. Ich wollte zugreifen, doch ich griff ins Leere. Ich beschleunigte meine Schritte. War ich denn ganz allein hier auf der Straße? Ging denn keine Menschenseele in die gleiche Richtung. Nichts war zu hören, Stille um mich herum. Bis ich an meinem Haus war, trat das Phänomen noch zweimal auf. Verängstigt und hastig betrat ich den dunklen Hausflur, tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn nicht gleich, obwohl ich ihn seit Jahr und Tag  blind mit der Hand finde und atmete auf, als die Flurbeleuchtung anging. Ich sah mich um. Hatte ich etwa befürchtet, das Gespenst wäre mit mir ins Haus geschlüpft? Natürlich war ich allein! Erst in meinen vier Wänden kam ich zur Ruhe. Doch beim Abendessen, beim Fernsehen und im Bett musste ich immer wieder an diese rätselhafte Erscheinung denken.

 

Beim Morgenkaffe dann die ersten Nachrichten im Radio und während sie in der Regel mehr Geräuschkulisse als Informationen waren, horchte ich mit einem Mal auf. Von Gespenstern, Flatterwesen war die Rede und vom Gelände um den Bahnhof Ostkreuz! Nicht nur ich hatte sie gesehen, auch andere und sie hatten sich an den Rundfunk gewandt, suchten Aufklärung, wollten die Polizei einschalten. Andere den Naturschutz, im Fall es sich um seltene Tiere handelt, die nur im Nebel und nur hier auftauchen. Es gab die unmöglichsten Spekulationen und damit wurde das alles, was mir vorher ein wenig unheimlich erschien, schon wieder lächerlich. Aber nur hier in meiner Wohnung. Unten auf der Straße im dichten Nebel ging es mir schon wieder ganz anders und gar nicht gut. Denn schon war das Flattern da und ich war froh, dass an der Ecke eine Frau stand und mich bat, mit ihr gemeinsam den Weg zu nehmen. Sie hatte bisher nur im Radio von der eigenartigen Schattenfigur gehört und ich konnte nun aus eigener Erfahrung berichten und schon wurde auch sie Zeuge einer schwarzen Gestalt, die an uns vorbei flog. Ängstlich klammerte sie sich an meinen Arm und wir hasteten gemeinsam durch die Nebelschwaden.

Am Bahnhofskiosk kaufte ich mir meine Tageszeitung und schon auf der ersten Seite fand ich eine Notiz über das "Gespenst vom Ostkreuz". Man hatte also auch gleich einen Namen gefunden, der in dicken Buchstaben als Überschrift diente. Der Artikel kam etwas ironisch daher, wofür ich volles Verständnis hatte, der Schreiber hatte ja nur vom Gespenst gehört und es nie selbst erlebt. Ich sollte eigentlich in der Zeitung anrufen und ihn für meinen abendlichen Heimweg anheuern. Dann kann er am eigenen Leibe erfahren, wie es ist, wenn etwas Schwarzes, Großes und Undefinierbares an einem vorbei fliegt.

Der Zeitungsschreiber war sich auch sicher, dass das Geheimnis sich von selbst lüften würde, nämlich dann, wenn der Nebel vorbei wäre. Dann könne man nämlich alles Fliegende, Flatternde usw. erkennen und werde überrascht sein über das, was einem so unheimlich vorkam.

 

Mein Heimweg und auch der nächste Morgen unterschieden sich nicht von den vorangegangen Nebeltagen. Undurchsichtiger Dunst, Ostkreuz ohne Wasserturm, gedämpfte Geräusche, fremde Menschen, die sich zu Gruppen zusammengefunden hatten und gemeinsam auf den Weg machten und flatternde Gespenster. Und der Zeitungsschreiber muss meinen stillen Vorwurf empfangen haben, denn er hatte sich tatsächlich auf den Weg gemacht und gleiche Erlebnisse einfangen können wie ich. Auch die Polizei soll unterwegs gewesen sein und so berichtete man stolz, ja es gibt dieses Flatterwesen, aber es ist bisher keine Person zu Schaden gekommen, außer dass bei dem einen oder andere Passanten der Blutdruck etwas angestiegen war. Also handelte es sich um ein friedliches Gespenst! Doch niemand konnte es bisher einfangen und so blieb es eben geheimnisvoll. Und dann noch eine wichtige Meldung: Im Laufe des Tages sollte endlich Wind aufkommen und die Wetterfrösche versprechen ein Verschwinden des dichten Nebels. Ich atmete auf und mit mir noch etliche S-Bahn-Fahrer, die wie ich die Köpfe in die Zeitung gesteckt hatten.

 

Am Abend hatte ich Glück, da ich wegen dringender Einkäufe einen anderen Weg nahm und am Morgen schien die Sonne durch mein Fenster und schon schmeckte mir mein Frühstück besser. Beschwingt machte ich mich auf den Weg, hüpfte fröhlich die Treppenstufen hinunter, öffnete weit die Haustür und übersah endlich wieder einmal die Straße. Von Gespenstern keine Spur! Die hatten sich also mit dem Nebel davon gemacht. Doch das war ein Irrtum. Kaum war ich in den Markgrafendamm eingebogen, flatterten sie mir entgegen. Mehrere als Batman oder Fledermaus oder als sonstwas verkleidete Kinder sprangen herum. Ihre schwarzen, langen Umhänge bewegten sich wie die Flügel riesiger Vögel auf und ab und sie umkreisten mich nicht mehr lautlos, sondern laut kichernd. Eigentlich war mir das Lachen vergangen, doch ich ließ mich anstecken und wurde schnell genau so fröhlich wie sie. Nicht alle Fußgänger reagierten so wie ich, andere schimpften die Kinder kräftig aus, weil sie die Ruhe und den Frieden am Ostkreuz gestört hatten und man ein paar Tage nur ängstlich durch die Straßen gelaufen war.

Noch hatte die Zeitung die Erscheinungen im Markgrafendamm nicht aufgeklärt, noch rätselte man herum und versprach, sich mit Experten zu konsultieren. Wir, die wir es besser wussten, lachten uns heimlich eins ins Fäustchen und waren gespannt auf die nächsten Nachrichten. Doch am nächsten Tag gab es zeitungsmäßig kein weiteres Rätselraten. Ein pfiffiger Passant hatte die Kinder in ihren Kostümen fotografiert und nun prangte auf der ersten Seite der Zeitung ein großes Bild der "Gespenster vom Ostkreuz"!


Franziska Dreke
Auf der Katzenbank

 

Berlin rumpelte am Fenster vorbei. Häuser, Straßen, Bäume und immer wieder Bahnhöfe. Draußen wurde es langsam dunkel und die Scheiben der Bahn warfen die Gesichter der Leute zurück wie ein Spiegel. Wie aufgereiht saßen sie nebeneinander, die Gesichter müde und teilnahmslos, manche hatten die Augen geschlossen, andere steckten die Nase in ein Buch, andere in eine Zeitung. Janosch starrte auf sein eigenes Spiegelbild in der Scheibe gegenüber und der Vergleich mit den anderen Gestalten rechts und links von ihm fiel nicht unbedingt positiv aus. Für Mitte vierzig sah er schon ganz schön hinüber aus. In diesem Licht wirkten seine Augenringe noch schwärzer, seine Haare noch dünner und an den Mundwinkeln hatten sich tiefe Falten eingegraben. Wann waren die denn aufgetaucht? Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Er wusste nur, dass der Typ, der ihn dort anschaute und den er gut genug aus dem Badezimmerspiegel kannte, wahrscheinlich nicht wirklich einen zweiten Blick wert war. Er musste es sich eingestehen: er war ein totaler Langweiler, ein Durchschnittstyp mit einem Durchschnittsgesicht, einem Durchschnittshaarschnitt, einer Durchschnittskrankenversicherung, einem Durchschnittsjob – einem Durchschnittsleben eben. Er hatte keine aufregenden Hobbys – um genau zu sein, hatte er eigentlich überhaupt keine Hobbys – keine ausgefallenen Lebensgewohnheiten, nicht einmal irgendwelche dunklen Geheimnisse. Er bezahlte immer pünktlich seine Telefonrechnung. Er trank nie übermäßig, rauchte nicht und hatte auch sonst keine Laster. Jeden Tag ging er ohne nach links und rechts zu gucken denselben Weg von der Bahn nach Hause, er hatte in den letzten fünf Jahren nicht ein einziges Mal verschlafen und er wechselte täglich seine Unterhose.

"Ich bin ein echter Spießer", dachte Janosch resigniert und rückte automatisch ein Stück ab, als sich eine junge Frau schwungvoll auf den leeren Platz neben ihm klemmte. So viele Leute machten ihn nervös, besonders, wenn sie weiblich und jung waren. Früher war er da nicht so schüchtern gewesen, aber jetzt war das anders. Janosch fühlte sich unbehaglich in dem engen Abteil und er kam sich eingekeilt vor und bedrängt. Der Mann gegenüber blätterte geräuschvoll seine Zeitung um, eine dicke Frau einige Meter weiter redete gestikulierend auf das unter ihr rechtes Ohr geklemmte Handy ein und die junge Frau neben ihm wühlte in ihrer Handtasche. Janosch rückte noch etwas weiter ab und stieß dabei gegen ein Knie auf der anderen Seite neben ihm, das einem lesenden Mädchen gehörte. Er entschuldigte sich murmelnd, als es aus seinem Buch zu ihm aufsah. Schaudernd bemerkte er Piercings in ihrer Nase und an ihren Augenbrauen und einen wirren Schopf pinkfarbener Haarsträhnen, die unter seiner Kapuze hervorsahen. "Warum müssen sich die jungen Leute heutzutage nur so verschandeln?", dachte Janosch, aber sie hatte wenigstens ein nettes Lächeln und ihre Augen waren auf irgendeine Art ungewöhnlich. "Macht nix", sagte sie und vertiefte sich wieder in ihr Buch.

Janosch war dennoch erleichtert, als er endlich aussteigen konnte und verließ fast fluchtartig die Bahn. Sofort ließ das Engegefühl in seinem Hals nach und aufseufzend ließ er schließlich die Tür seiner Wohnung hinter sich ins Schloss fallen. Diese Leute würden ihn noch einmal verrückt machen! Im Kühlschrank fand er noch ein letztes kaltes Bier, etwas Brot und eine halbe Dose Thunfisch. Außerdem gab es noch einige schrumpelige Tomaten, die von seinem letzten Vorhaben, sich gesünder zu ernähren, übrig geblieben waren. Er machte den Kühlschrank zu, weil er keine Lust hatte, sie wegzuwerfen und wusste, dass sie wahrscheinlich in einer Woche immer noch dort liegen würden. Früher hatte er sich mehr um so etwas gekümmert, aber jetzt hatte er irgendwie keine Kraft mehr dafür. Janosch aß im Wohnzimmer auf dem Sofa, während er sich durch das Fernsehprogramm schaltete. Früher, mit Sofie, wäre es ihm nie eingefallen, vor dem Fernseher zu essen, aber jetzt…

Er zappte sich durch mehrere Seifenopern und Quizshows, Nachrichten und einen Film, von dem er wusste, dass er ihn schon mehrmals gesehen hatte, aber von dem ihm der Titel trotzdem nicht einfallen wollte, und blieb bei einer Diskussionsrunde hängen. Janosch trank sein Bier in kleinen Schlucken und erst nach einiger Zeit wurde ihm klar, dass die Runde im Fernsehen über ein Buch diskutierte. "Das ist ein Skandal!", sagte ein Mann, "noch nie wurde so etwas so unverblümt ausgedrückt". Eine kleine nervös wirkende Frau antwortete ihm, dass sie besonders interessant fände, dass sich das Buch so stark von seinen Vorläufern unterscheide und dass … Janoschs Gehirn streikte. Er fand Bücher grauenhaft. Er konnte nicht verstehen, warum Leute sich so viel Zeit für eine doch offenbar so sinnlose Sache wie das Lesen nahmen. Er hatte keine Geduld dafür. Ja, früher, wo Sofie noch da war, da hatte er auch noch hin und wieder gelesen und ganz früher, als er Kind war, da hatte er sogar recht häufig gelesen, viele Abenteuerromane, Indianerbücher, aber irgendwann hatte er kaum noch Zeit gehabt und lieber fern gesehen. Deutlich erinnerte er sich an die Bücherstapel auf Sofies Nachttisch, auf dem Wohnzimmertisch, im Bad  — ständig war man darüber gestolpert — sie hatte die Bücher förmlich verschlungen, aber als sie auszog, hatte sie alle mitgenommen und die paar, die er später noch in einer Kiste gefunden hatte, hatte er wutentbrannt in den Müll geworfen. Bücher und Sofie, das gehörte zusammen und das Kapitel war nun endgültig abgehakt.

Um zehn schaltete Janosch den Fernseher aus. Er ging ins Bad, putzte sich die Zähne und zog sein Hemd aus. Er griff in die Hosentaschen, um sie auszuleeren und die Hose gleich in die Maschine zu werfen, und hielt plötzlich einen säuberlich zusammengefalteten rosa Zettel in der Hand. Janosch runzelte die Stirn und starrte den Zettel an. Er konnte sich nicht daran erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben. Langsam faltete er ihn auseinander. Die Nachricht darauf war kurz und äußerst merkwürdig:

Sonntag bei Nebel am Ostkreuz.
07.30 Uhr auf der Katzenbank.

*

Am nächsten Morgen ging Janosch ziemlich müde zur Arbeit. Er hatte sogar fast verschlafen. Die halbe Nacht hatte er wach gelegen und über den merkwürdigen Zettel  nachgedacht. Er konnte sich nicht erklären, wie er in seine Hosentasche geraten war und vor allem, was die seltsame Botschaft darauf zu bedeuten hatte. Irgendwie hatte er an diesem Morgen das Gefühl, als würde sich etwas in seinem Leben bewegen, aber er war sich nicht sicher, ob diese neue Komponente ihm wirklich gefiel. Janosch war ein Gewohnheitsmensch, seine Gewohnheiten und täglichen Routinen waren sein stabiler Rahmen, in dem er sich bewegte, und jede Kleinigkeit, vor allem wenn sie so unvorhergesehen passierte wie diese, warf ihn durcheinander wie ein zu kleines Boot bei starkem Wellengang.

Die Woche verlief jedoch ereignislos. Janosch ging wie immer zur Arbeit und danach den gewohnten Weg nach Hause und es tauchten keine weiteren Zettel auf. Am Samstagabend, als Janosch von einer Partie Pool mit einem alten Freund nach Hause kam und den Fernseher anschaltete, kündigte der Wetterbericht gerade für den nächsten Tag eine Nebelbank an, die sich bis zum Nachmittag hartnäckig halten würde. In Janoschs Kopf summte es plötzlich.

SonntagbeiNebelamOstkreuz SonntagbeiNebelamOstkreuz SonntagbeiNebelamOstkreuz. Janosch schaltete den Fernseher aus und ging ins Bett. Dort fasste er einen Entschluss.

*

Um diese Zeit war der Bahnhof wie ausgestorben. Wo sich wochentags Menschenmengen die alten ausgetretenen Stufen hinauf- und hinunterwälzten, herrschte am Sonntagmorgen gähnende Leere. Es sah fast wie auf einem Geisterbahnhof aus und bei diesem Nebel, durch den man kaum fünf Meter weit sehen konnte, wirkte alles noch trostloser. Janosch kam es vor, als hallten seine Schritte auf dem Pflaster, aber das konnte auch Einbildung sein. Etwas weiter entfernt fuhr ratternd eine Bahn vorbei, dann wurde es wieder still. Fröstelnd zog sich Janosch die Jacke um die Schultern. Er musste verrückt sein, um diese Zeit hierher zu kommen. Was wollte er überhaupt hier? Und alles nur wegen dieses albernen Zettels! Was sollte der überhaupt bedeuten?  Wer hatte ihn herbestellt? "Vielleicht war das alles nur ein Scherz, um dich aus dem Bett zu locken, und du Trottel bist natürlich prompt darauf reingefallen", dachte Janosch ärgerlich. Vermutlich beobachtete ihn jetzt gerade jemand, wie er hier albern zu einer unmöglichen Zeit herumlief und lachte sich halbtot darüber. Jetzt war er schon den ganzen Bahnhof abgelaufen und keine Spur von jemandem, den er kannte. Janosch dachte gerade darüber nach, dass es ihm gar nicht ähnlich sah, solchen Aufforderungen einfach zu folgen, als er sie sah: eine kleine schwarze Katze, die die Treppe zum oberen Bahnsteig hinauflief. Janosch heftete sich an ihre Fersen. "Jetzt verfolge ich schon Katzen", dachte er missmutig. Die Katze lief die Treppe bis zum Ende hinauf und bog dann um einen Getränkeautomaten, der vor Janosch aus dem Nebel auftauchte, dann sprang sie auf eine Bank und rollte sich auf ihr zusammen, als würde sie jeden Tag dort liegen. Janosch ließ sich vorsichtig neben ihr nieder. 7.30 auf der Katzenbank. Nun ja -  eine Katze hatte er und eine Bank war auch da. Seine Uhr zeigte 7.35 Uhr, aber nichts passierte. Janosch streichelte ein wenig die Katze und kam sich reichlich dumm vor. Durch den Nebel drang das Rumpeln der Züge und Schritte klangen aus der Ferne herüber und verklangen wieder. Die Geräusche hörten sich bei Nebel so anders an, irgendwie seltsam gedämpft. Komisch, dass ihm das nie vorher aufgefallen war. Janosch schloss die Augen und streichelte dabei weiter die Katze, die leise zu schnurren begann. Ihr Fell war ganz weich und sehr warm. Als er die Augen wieder öffnete, erschrak Janosch. Neben ihm am anderen Ende der Bank saß jemand. Er hatte nicht gehört, dass überhaupt jemand  gekommen war. Janosch starrte die Person an. Sie trug einen schwarzen Pulli und fleckige Jeans. Die Kapuze des Pullis war über den Kopf gezogen und die Person hatte ein Buch auf dem Schoß und las darin, als würde sie schon ewig dort sitzen. Janosch war sich sicher, dass er die Augen nur wenige Sekunden geschlossen hatte. Er räusperte sich und sein Gegenüber blickte von seinem Buch auf. Einige pinkfarbene Haarsträhnen blitzten unter der Kapuze hervor und Janosch erkannte erstaunt das Mädchen mit den Piercings, das in der Bahn neben ihm gesessen hatte.

"Da sind Sie ja!", stellte sie mit einem kurzen Blick auf ihn fest, als wäre er und nicht sie eben erst aufgetaucht. Janosch war sprachlos.

"Ja", stotterte er hilflos und begann in seiner Tasche zu kramen bis er den rosa Zettel gefunden hatte. Er faltete ihn auseinander und reichte ihn dem Mädchen, das ihn stirnrunzelnd las. "Katzenbank, aha", sagte es, "nun, da sind Sie ja offenbar richtig, die Katze ist ja schon da." Janosch war nun vollends verwirrt. "Aber ich hab keine Ahnung, wer mich herbestellt hat und warum." "Tja, das frage ich mich auch jeden Tag", meinte das Mädchen und sah ihn nachdenklich mit seinen unergründlichen dunklen Augen an. "Kaugummi?", wechselte es dann plötzlich abrupt das Thema.

"Wie?" Janosch zuckte verwirrt zurück und sah dann, dass sie ihm ein abgenutzt aussehendes Kaugummi hinhielt. Er bejahte zerstreut. Was machte es schon, dass er nie Kaugummi aß? Achselzuckend riss sie das Kaugummi in zwei Hälften und gab ihm eine davon. Die andere wickelte sie aus und steckte sie genüsslich in den Mund. Das Kaugummi sah rosa aus wie der Zettel, den Janosch in seiner Hosentasche gefunden hatte und schmeckte nach künstlichem Erdbeeraroma. Für eine Weile saßen sie beide in Gedanken versunken kauend auf der Bank und starrten stumm in den Nebel. "Tolles Wetter, oder?", unterbrach das Mädchen schließlich wieder die Stille.

"Was?", fuhr Janosch auf, "das hier? Diese Suppe?"

"Ich find’s toll. Denken Sie nicht auch, dass der Nebel so was Erhabenes hat? Irgendwie beruhigend. Er macht alles still und die Welt irgendwie kleiner und übersichtlicher. Man sieht nicht mehr so viel von der Hektik, sondern nur noch einen Teil davon." Janosch dachte darüber nach. Da war schon was dran. "Außerdem ist alles so geheimnisvoll", fuhr sie fort, "schauen Sie nur – dort drüben." Ihre Hand wies nach rechts und Janosch sah verschwommen eine große dunkle Silhouette.

"Das ist der alte Wasserturm. Sieht er nicht schaurig aus?" Sie flüsterte nun fast. "Ich stelle mir bei Nebel immer vor, ich wäre in einem fremden Land und müsste nun die Umgebung um mich herum erstmal erkunden. Das ist fast dasselbe Gefühl." Janosch dachte, dass das Mädchen neben ihm wirklich sehr seltsam war. "Ich komme mir auch ohne Nebel immer vor, als wäre ich in einem fremden Land", rutschte es ihm heraus und erschrocken hielt er inne. Aber das Mädchen schien seine Bemerkung überhaupt nicht komisch zu finden. Es nickte und streichelte geistesabwesend die Katze, die immer noch zusammengerollt zwischen ihnen lag. Sein Blick folgte ihrer Hand und fiel dabei auf das Buch, das sie neben sich auf die Bank gelegt hatte.

"Was liest du denn da?" Er fragte sich, ob man Mädchen in dem Alter überhaupt noch duzen sollte und wie alt es denn wohl sein mochte.

"Interessiert Sie das wirklich?", fragte es. "Ich glaube, Sie lesen nicht wirklich viel, wahrscheinlich sogar nie." In seinem Inneren fragte eine aufgebrachte Stimme, woher sie das wohl wissen konnte und wie sie dazu käme, ihm so etwas einfach zu unterstellen, doch er widersprach nicht. Stattdessen nickte er nur. "Meine Frau hat viel gelesen", stellte er fest.

"Hat", sagte sie trocken und warf ihm einen ihrer unergründlichen Blicke zu. Ihre Augen waren so dunkel, dass sich darin nichts erkennen ließ, und Janosch musste an zwei dunkle Brunnen denken. "Bevor sie ausgezogen ist, um mit einem anderen Mann zusammenzuleben." Janosch fragte sich, wieso er ihr das alles erzählte. Schließlich kannte er sie gar nicht und das ging sie gar nichts an. "Mmhh", machte sie nur.

"Alles geht nur um den Tiger", stellte sie plötzlich fest. Tiger? Janosch runzelte die Stirn bis er begriff, dass sie von dem Buch redete. "Ja, der Tiger, mit dem Pi auf dem Rettungsboot gefangen ist auf offener See und der ist natürlich hungrig und stellen Sie sich mal vor, Sie sind mit einem Tiger auf einem Boot zusammen, da würden Sie auch nicht so ruhig bleiben!"

"Nein, würde ich wahrscheinlich nicht", dachte Janosch und dann dachte er noch, dass das Ganze total verrückt war, dass er hier saß mit diesem seltsamen Mädchen auf einer Bank, die Katzenbank hieß, und über Tiger in Rettungsbooten redete.

"Ich könnte Ihnen was vorlesen", schlug das Mädchen unvermittelt vor und pustete sich eine pinkfarbene Haarsträhne aus dem Gesicht. "Oder haben Sie es eilig?" Janosch schüttelt mechanisch den Kopf. Nein, eilig hatte er es nicht. Und verrückter konnte es ja kaum noch werden. Das Mädchen holte tief Luft und spuckte das Kaugummi aus. Es flog weit über die Bahnsteigkante und verschwand lautlos im Nebel. Dann schlug es das Buch auf und begann zu lesen.

Nach den ersten Worten schloss Janosch die Augen. Er hatte lange nichts gelesen und vorgelesen hatte ihm noch viel länger niemand mehr. Er hätte nicht gedacht, dass es ihm gefallen könnte, aber genau das tat es. Das Mädchen hatte eine sehr gute Stimme, eine Stimme, die prädestiniert dafür schien, jemandem vorzulesen. Sie war tief und melodisch und schwang in sanften Bewegungen auf und ab, auf und ab, auf und ab, wie Wellen es taten. Kleine Wellen und dann große mit Schaumkämmen. Die Luft schmeckte plötzlich salzig und Janosch driftete davon. Wasser schlug ins Boot, manchmal, wenn die Wellen zu hoch waren, und endlose Weiten umgaben ihn. Das kleine Boot tanzte verloren auf den Wellen und Gischt spritzte auf Janoschs nackte Arme. Janosch sah hinunter auf seine Hände, er hielt ein kleines Ruder -  was sollte er damit in diesem riesigen Ozean ausrichten - und dann drehte er den Kopf noch ein wenig und erstarrte. Vor ihm, vielleicht zwei Meter entfernt im Bug des Bootes, saß ein großer bengalischer Tiger und schaute ihn aus funkelnden gelben Augen an.

Als Janosch die Augen aufschlug, klappte das Mädchen das Buch zu.

"Der Nebel hat sich gelichtet", sagte es und Janosch blickte sich um und sah den Wasserturm dunkel und deutlich unweit entfernt. Eben fuhr zischend ein Zug ein. "Tschüs!", rief das Mädchen und sprang in die Bahn, deren Türen sich hinter ihm schlossen. Janosch blickte sich um. Die Katze war verschwunden, einige Leute eilten vorbei. Der Tiger war auch verschwunden, hinter den Bäumen, und Janosch lebte, genau wie Pi. Er konnte es nicht fassen. Als er auf die Uhr sah, war es fast fünf. Sein Magen knurrte und ächzend stand er auf. Auf dem Heimweg fiel ihm ein, dass er das Mädchen nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte.

*

Am Mittwoch entschied sich Janosch, die Tomaten im Kühlschrank zu entsorgen. Dann ging er zum Supermarkt. Auf dem Weg dorthin ging er langsamer als sonst. Er hing seinen Gedanken nach und blieb am Ende vor einem Schaufenster stehen. Erst nach einer Weile bemerkte er, dass es das Schaufenster eines Bücherladens war. Im Supermarkt kaufte er Zutaten für einen Salat – und warf nach einigem Zögern am Ende auch allen anderen fragwürdigen Inhalt aus seinen Küchenschränken in den Müll. Auf dem Weg zurück ins Haus öffnete Janosch seinen Briefkasten. Er fand darin die Telefonrechnung, einen Werbeprospekt und einen kleinen rosa Zettel.

Samstag, 07.30 Uhr auf der Katzenbank.
Natürlich bei Nebel.

Der Inhalt überraschte ihn nicht mehr. Es wunderte ihn nur, wie sie herausgefunden hatte, wo er wohnte.

*

"Wie heißt du eigentlich?", wollte Janosch wissen. Er goss sich aus der Thermoskanne Tee ein. Diesmal war er vorausschauender gewesen, er hatte auch Brote gemacht, vorsichtshalber für zwei. Er wollte nicht noch einmal halb verhungert nach Hause kommen. Es war Samstag und der Nebel war grau und undurchdringlich, so dass Janosch sich auf der Bank fühlte wie auf einer in Watte verpackten Insel. "Zoe", sagte sie. "Reicht das?" Dann biss sie herzhaft in eines der Brote. Irgendwie wirkte sie, als hätte sie schon länger nichts gegessen. Sie trug denselben schwarzen Pulli mit der Kapuze und ihre Haare standen wild vom Kopf ab, als wäre sie eben erst aus dem Bett gefallen. Vielleicht war sie das ja auch. Für eine Weile kaute sie schweigend und Janosch warf ab und zu einen schnellen Blick zur Seite während er vorsichtig an seinem Tee nippte. Zwischen ihnen hatte sich die Katze zusammengerollt und schnurrte leise im Schlaf. Janosch fragte sich zum wiederholten Mal, ob sie wohl zu Zoe gehörte. Sofie hatte Katzen auch gemocht, fiel Janosch plötzlich ein. Jahrelang hatte sie ihm damit in den Ohren gelegen, aber er hatte sich stets geweigert, ein Haustier anzuschaffen. Warum eigentlich? Die Gründe, die ihm damals so plausibel erschienen waren, fielen ihm nun nicht einmal mehr ein. Heute schien ihm der Gedanke, eine Katze zu haben, gar nicht mehr so abwegig.

"Wie lange leben Sie eigentlich schon allein?", unterbrach Zoe die Stille. "Haben Sie nie daran gedacht, sich neu zu verlieben?" Janosch verschluckte sich an seinem Tee und musste husten. Daran gedacht, sich neu zu verlieben – was für eine seltsame Formulierung!

"Daran gedacht schon", gab er zögernd zu, "aber irgendwann habe ich mich wohl nicht mehr getraut – ja, das ist es wohl. Ich habe ja auch nicht so viel mit Frauen zu tun und…" Er stockte verlegen, als er sich dessen bewusst wurde, dass Zoe aufgehört hatte zu kauen und ihn direkt anschaute. Nervös wandte er sich ab und stieß dabei versehentlich an die Katze, die schläfrig mit dem Schwanz zuckte. Zoes Augen waren wirklich beunruhigend. Zwei helle Suchscheinwerfer, die bis auf den Grund seiner Seele zu leuchten schienen und dort gnadenlos alles ans Tageslicht zerrten, das dort unten schon jahrelang lag und mittlerweile von einer meterhohen Staubschicht bedeckt sein musste.

"Oder vielleicht können Sie sich ja auch gar nicht mehr verlieben." Eine Pause entstand. "Glauben Sie eigentlich an die wahre Liebe?", fragte sie plötzlich unvermittelt. Janosch dachte nach. Der Nebel schien nicht nur die Welt um ihn herum, sondern auch sein Denken zu verlangsamen. "Nein", meinte er schließlich zögernd. Sofie – ja, geliebt hatte er sie sehr, aber richtig bewusst geworden war ihm diese Tatsache erst, als sie fort war und mit ihr all ihre Sachen -  als ihre Zahnbürste aus dem Bad verschwunden war und ihre Kleider aus dem Schrank und besonders ihre Bücher. "Es tut mir leid, Janosch", hatte sie gesagt, "ich muss unsere Liebe irgendwann einfach unterwegs verloren haben. Vielleicht habe ich nicht genug darauf aufgepasst." Aber er hatte noch viel weniger darauf aufgepasst. Die Wochen danach waren einsame Wochen, einsam mit zu viel Stille hinter den Schränken und in den leeren Kommodenschubladen, die daraus entwischte, so sehr man auch aufpasste, und sich heimtückisch in der ganzen Wohnung ausbreitete. Janosch schob die Erinnerungen zur Seite. Auch an das konnte man sich gewöhnen.

"Für manche gibt es sie wohl – die eine große Liebe", sinnierte Zoe. Sie hatte plötzlich ein Buch in der Hand. Janoschs Puls beschleunigte. "Für Hajime und Shimamoto zum Beispiel."

"Shimamoto", Janosch kostete den Namen wie eine Praline. "Shimamoto… – wirst du mir von ihr erzählen?", fragte er und erschrak gleichzeitig vor seiner Frage. Zoe lächelte ihr unergründliches Lächeln und schlug das Buch auf. Ihre Stimme zog Janosch weit fort, nach Tokio. Er stand in einer Bar hinter dem Tresen und ihm gegenüber saß sie – Shimamoto.  Sie zog an einer Zigarette und ihre blutroten Lippen bildeten einen atemberaubenden Kontrast zu ihrer fast weißen Haut. Im Hintergrund spielte Musik – Janosch kannte das Stück, es klang wie "Star-Crossed Lovers" – und Shimamotos Augen sahen ihn unverwandt an. Sein Blick folgte ihren schlanken Fingern, mit denen sie sich elegant eine feine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, ihre anmutigen, fast zarten Bewegungen und dann Shimamotos Gesicht, das sich plötzlich verschob und zu Sofies Gesicht wurde, Sofie mit ihren brauen Augen, Sofie, die nach Gingkoseife duftete, Sofie…

*

Der Herbst war ungewöhnlich trüb. Regentage kamen und gingen und selten wurde es richtig hell. Manchmal regnete es nicht – an diesen Tagen kam der Nebel. Janosch störte das Wetter nicht. Zoe und er sahen sich nun öfter, aber der Rhythmus ihrer Treffen schien sich nach keinem Schema zu richten, vom Wetter abgesehen. Der Ort ihrer Treffen jedoch war immer derselbe. Die Katzenbank war nie besetzt, wenn Janosch kam – außer von Zoe. Es schien ihm fast, als wäre sie bei Nebel nur für sie beide reserviert. Bei schönem Wetter allerdings schien sie eine ganz normale Bank zu sein mit Leuten, die darauf Platz nahmen um auf die nächste Bahn zu warten oder um sich einfach auszuruhen.

Zoe kündigte ihre Treffen immer einige Tage vorher an. Er versuchte vergeblich, herauszufinden, wie sie das zustande brachte. Manchmal klebte eine Nachricht an seiner Haustür, ein anderes Mal entdeckte er einen rosa Klebezettel an seiner Thermosflasche und auch in seiner Brieftasche fanden sich mitunter rosafarbene Notizen. Einmal fand er sogar einen Zettel in seinem Terminkalender. Doch nicht nur ihre Methoden, in sein Leben einzudringen, blieben für Janosch schleierhaft. Zoe selbst war ihm ein Rätsel. Er fand heraus, dass sie Salamibrote mochte und dass sie Katzen für ihre Seelenverwandten hielt (wie sie ihm erklärte, hatte sie einmal ein Buch gelesen, in dem jemand mit Katzen sprechen konnte), aber das war auch schon alles. Über Zoes Leben erfuhr Janosch nichts. Zoe selbst erzählte nie von sich und Janosch fragte auch nicht. Meist redeten sie über abstruse Daseinstheorien und oft schwiegen sie auch einfach und schauten, während jeder seinen eigenen Gedanken nachhing, hinüber zur nebelverhangenen Silhouette des Wasserturms. Schweigen war leicht mit Zoe, genauso leicht wie es war, ihr zuzuhören. Und während es Janosch anfangs noch seltsam vorgekommen war, mit einem gepiercten Mädchen mit pinkfarbenem Haar auf einer Bahnhofsbank zu sitzen und sich vorlesen zu lassen, so erschien es ihm mittlerweile fast natürlich. Zoes magische Stimme hatte ihn nach und nach wie mit einem feinen Faden umsponnen und langsam verzaubert.

"Lies mir vor!", bat er und Zoes Schmeichelstimme öffnete Tür und Tor der lang verschmähten Bücher und zog ihn weit mit sich fort auf lange Reisen über unwegsame Straßen und nie beschrittene Pfade. Sie ließ ihn mit hunderten Augen sehen und mit tausenden neuen Sinnen fühlen. Auf dem Heimweg klang die Melodie von Zoes Stimme in ihm nach und oft saß er noch den ganzen Abend auf dem Sofa. Der Fernseher schwieg. Janosch hatte ihn abgestellt, um die Melodie nicht zu übertönen.

*

Eines Tages kam Janosch zu spät zum Bahnhof. Er hatte verschlafen – das erste Mal seit vielen Jahren. "Was sie mir wohl heute vorliest?" fragte er sich und beschleunigte seine Schritte. Die Wahl, die Zoe traf, schien stets völlig planlos zu sein – wie einer plötzlichen Laune entsprungen.

Der Nebel verschluckte Janoschs Schritte, als er die Treppe hinaufhastete, aber er schien mit jeder Stufe nach oben etwas nachzulassen. Auf der obersten Treppenstufe bemerkte er überrascht, dass er den Wasserturm schon fast vollständig sehen konnte. Als er um den Getränkeautomaten bog, war die Katzenbank leer. Von Zoe keine Spur, und auch die Katze war nirgends zu entdecken. Janosch blickte sich um. Der Nebel hatte sich bereits so sehr gelichtet, dass er von einem Ende des Bahnsteigs zum anderen blicken konnte, doch er war völlig allein. Erst beim zweiten Hinsehen bemerkte er, dass auf der Bank etwas lag. Es war ein kleines Päckchen, das mit Zeitungspapier eingeschlagen war. Janosch ließ sich auf die Bank fallen. Noch immer war niemand zu sehen. Auf dem Päckchen klebte ein rosafarbener zusammengefalteter Zettel. "An Janosch auf der Katzenbank", verkündete die vertraute Schrift. Langsam faltete er den Zettel auseinander und las:

"Janosch, ich bin sicher, dass du mich jetzt nicht mehr brauchst.
Viel Glück, Zoe"

Janosch schlug das Zeitungspapier auseinander. "Der Vorleser", verkündete der Titel auf dem Buch. Janosch hatte ihn noch nie gehört, aber er gefiel ihm. Lange starrte er auf den kleinen rosa Zettel in seiner Hand.

Er konnte nicht sagen, wie lange er dort auf der Katzenbank gesessen hatte. Langsam belebte sich der Bahnhof. Züge fuhren ein und aus, Türen öffneten sich zischend und schlossen sich wieder, Leute hasteten vorbei.

"Schönes Wetter heute, nicht wahr?", riss ihn plötzlich eine Stimme nah neben sich aus seiner Betäubung.  Er wandte sich zur Seite und blickte in braune Augen, die von kleinen Lachfältchen umgeben waren. Die Frau deutete mit der Hand in Richtung Wasserturm. Erst jetzt bemerkte Janosch, dass die letzten Reste des Nebels inzwischen völlig verschwunden waren und dass die Sonne herausgekommen war.

"Einfach toll, diese Helligkeit nach all dem trüben Wetter." Die Frau neben ihm blinzelte in die Sonne und strich sich geistesabwesend eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Bewegung erinnerte Janosch an etwas, aber er vermochte nicht zu sagen, was es war.

"Was lesen Sie denn da?", fragte sie mit einem Blick auf sein Buch. Janosch sah hinunter auf seinen Schoß, wo noch immer das Buch lag – Zoes Buch. Behutsam strich er über den Einband. Er zögerte. "Haben Sie gerade etwas Zeit?", fragte er dann aus einer plötzlichen Eingebung heraus.

"Ja", sagte sie langsam, "eigentlich schon", und ein zögerndes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

Da öffnete Janosch das Buch, räusperte sich und begann mit klarer Stimme zu lesen.