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Kultur- und Nachbarschaftszentrum

Buch 2008

Zu diesem Buch
Ein Vorwort

Als im Spätherbst 2007 der Aufruf zu diesem Schreibwettbewerb erging, hielten viele der interessierten Schreiberinnen und Schreiber das Thema für eine gute Idee; aber nur wenig später konnte man auch Stimmen vernehmen, die – etwas kleinlauter – das Ostkreuz-Spiel für zu schwierig, zu kompliziert hielten. Spiel – das klingt beim ersten Hinhören nach Leichtigkeit und Unernst. Aber dann ist es in der Tat so, dass die Ambiguität des Wortes Spiel zunimmt, je mehr Sätze mit diesem Wort einem in den Sinn kommen: Das Spiel machen. Spielchen spielen. Was wird hier gespielt? Das ist doch kein Spiel! Aus Spiel wird Ernst und umgekehrt. Alles nur gespielt. Das Spiel ist aus! Spiel 's noch einmal, Sam! – Und schon ist man mittendrin in einem komplexen Wort-Spiel, in dem es um das Wort spielen geht.

Die ältesten Gesetze der Welt sind Spielregeln.

Das Spannende am Spiel ist dessen ungewisser Ausgang. Und selbst im Siegen und Gewinnen ist man mitunter nicht ganz sicher, ob es sich wirklich gelohnt hat. Die Pyrrhussiege, die Danaergeschenke, jeder kennt das. Wir spielen, wenn wir Mutmaßungen über den Ausgang künftiger Ereignisse anstellen oder Details vergangener Ergebnisse modifizieren, um zu sehen, was dann dabei herausgekommen wäre: das Was-wäre-wenn-Spiel oder das Es-ist-nicht-so-wie-es-aussieht-Spiel oder das Nehmen-wir-mal-an-Spiel. Oder wir kombinieren spielerisch scheinbar disparate Dinge wie Mozart und Osterglocken, wie eine Ringbahnfahrt und Beethovens Dritte Sinfonie. In einer anderen Geschichte in diesem Band werden die Fabelwesen aus älteren Ostkreuzgeschichten zitiert und zusammengebracht: ein sprechendes Hündchen, ein Zeitung lesender Fuchs, Gleismännlein und Ostkreuzmännlein. In einer anderen Geschichte lässt der Erzähler die recht skurrile Personage seiner früheren Ostkreuz-Literaturversuche kritisch Revue passieren.

 

Spielen, schreiben – über das Spielen schreiben, da ziehen auch schon die großen Spieler der Weltliteratur an uns vorüber, von Dostojewskis unglücklichem Aleksej, der das Spiel als Herausforderung des Schicksals und als Lust an der Selbstzerstörung erlebt und daran krank wird, über den wahrhaft kosmologischen, an schierer Größe scheiternden Glasperlenspielen des Magister Ludi Josef Knecht bis zu Borges' "Die Lotterie von Babylon", wo die Versuche der lotteriebesessenen Babylonier, Zufall und Glücksstreben in einen gesellschaftlichen Zusammenhang zu integrieren, schließlich die groteskesten Blüten treiben. Schiller indes hatte wohl Höheres im Sinn, als er den Homo ludens zur Krone der Schöpfung ernannte. In seinem 15. Brief "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" heißt es: "… der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur ganz Mensch, wo er spielt."

Spielen, das ist kein Kinderkram, so viel ist sicher. Kinder lernen etwas über die Wirklichkeit, indem wir ihnen Nachbildungen aus der Wirklichkeit als Spielzeug in die Hand geben. Der Erwachsene wähnt sich über das Alter des Spielens hinaus, dabei unterscheidet er sich vom Kind nur dadurch, dass sein Spiel auf ein anderes Objekt gerichtet ist: es ist die Wirklichkeit selbst. Erst im Spiel macht die Wirklichkeit uns Vergnügen, wird sie uns vertraut, fühlen wir uns in ihr zu Hause.

Für einen Bergsteiger ist das Klettern ein Spiel mit sich selbst, zwischen seinem Geist, der zum Gipfel will, und seinem Körper, der das durchaus nicht will.

Der Feind des Spielerischen ist die Gewohnheit. Die Gewohnheit sagt: Das habe ich schon immer so getan. Im Spiel jedoch wird nichts so gelassen, wie es ist. Da heißt es: Mal sehen, ob es nicht anders besser getan werden kann. Ist die Gewohnheit ein konservatives Herangehen an die Aufgabe, uns die Welt zutunlich zu machen, so ist das Spiel ein revolutionäres.

 

Und zu diesem Spiel gehört letztlich auch das Schreiben selbst. Wenn Literatur, Kunst überhaupt, Vorahnung der Wirklichkeit ist, dann ist sie auch ein Spiel mit der Wirklichkeit. Sie liefert uns, den Lesenden, die sich an diesem Spiel beteiligen, den Spiel-Raum. Und sie liefert uns die Regeln dazu. Denn ohne Regeln könnten wir mit der Wirklichkeit nicht spielen. Wir hätten verspielt.

Wir wünschen diesem Buch recht viele spielfreudige Leserinnen und Leser.

 

Rainer Fischer Berlin, im Juni 2008

Buch 2008

Zu diesem Buch
Ein Vorwort

Als im Spätherbst 2007 der Aufruf zu diesem Schreibwettbewerb erging, hielten viele der interessierten Schreiberinnen und Schreiber das Thema für eine gute Idee; aber nur wenig später konnte man auch Stimmen vernehmen, die – etwas kleinlauter – das Ostkreuz-Spiel für zu schwierig, zu kompliziert hielten. Spiel – das klingt beim ersten Hinhören nach Leichtigkeit und Unernst. Aber dann ist es in der Tat so, dass die Ambiguität des Wortes Spiel zunimmt, je mehr Sätze mit diesem Wort einem in den Sinn kommen: Das Spiel machen. Spielchen spielen. Was wird hier gespielt? Das ist doch kein Spiel! Aus Spiel wird Ernst und umgekehrt. Alles nur gespielt. Das Spiel ist aus! Spiel 's noch einmal, Sam! – Und schon ist man mittendrin in einem komplexen Wort-Spiel, in dem es um das Wort spielen geht.

Die ältesten Gesetze der Welt sind Spielregeln.

Das Spannende am Spiel ist dessen ungewisser Ausgang. Und selbst im Siegen und Gewinnen ist man mitunter nicht ganz sicher, ob es sich wirklich gelohnt hat. Die Pyrrhussiege, die Danaergeschenke, jeder kennt das. Wir spielen, wenn wir Mutmaßungen über den Ausgang künftiger Ereignisse anstellen oder Details vergangener Ergebnisse modifizieren, um zu sehen, was dann dabei herausgekommen wäre: das Was-wäre-wenn-Spiel oder das Es-ist-nicht-so-wie-es-aussieht-Spiel oder das Nehmen-wir-mal-an-Spiel. Oder wir kombinieren spielerisch scheinbar disparate Dinge wie Mozart und Osterglocken, wie eine Ringbahnfahrt und Beethovens Dritte Sinfonie. In einer anderen Geschichte in diesem Band werden die Fabelwesen aus älteren Ostkreuzgeschichten zitiert und zusammengebracht: ein sprechendes Hündchen, ein Zeitung lesender Fuchs, Gleismännlein und Ostkreuzmännlein. In einer anderen Geschichte lässt der Erzähler die recht skurrile Personage seiner früheren Ostkreuz-Literaturversuche kritisch Revue passieren.

 

Spielen, schreiben – über das Spielen schreiben, da ziehen auch schon die großen Spieler der Weltliteratur an uns vorüber, von Dostojewskis unglücklichem Aleksej, der das Spiel als Herausforderung des Schicksals und als Lust an der Selbstzerstörung erlebt und daran krank wird, über den wahrhaft kosmologischen, an schierer Größe scheiternden Glasperlenspielen des Magister Ludi Josef Knecht bis zu Borges' "Die Lotterie von Babylon", wo die Versuche der lotteriebesessenen Babylonier, Zufall und Glücksstreben in einen gesellschaftlichen Zusammenhang zu integrieren, schließlich die groteskesten Blüten treiben. Schiller indes hatte wohl Höheres im Sinn, als er den Homo ludens zur Krone der Schöpfung ernannte. In seinem 15. Brief "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" heißt es: "… der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur ganz Mensch, wo er spielt."

Spielen, das ist kein Kinderkram, so viel ist sicher. Kinder lernen etwas über die Wirklichkeit, indem wir ihnen Nachbildungen aus der Wirklichkeit als Spielzeug in die Hand geben. Der Erwachsene wähnt sich über das Alter des Spielens hinaus, dabei unterscheidet er sich vom Kind nur dadurch, dass sein Spiel auf ein anderes Objekt gerichtet ist: es ist die Wirklichkeit selbst. Erst im Spiel macht die Wirklichkeit uns Vergnügen, wird sie uns vertraut, fühlen wir uns in ihr zu Hause.

Für einen Bergsteiger ist das Klettern ein Spiel mit sich selbst, zwischen seinem Geist, der zum Gipfel will, und seinem Körper, der das durchaus nicht will.

Der Feind des Spielerischen ist die Gewohnheit. Die Gewohnheit sagt: Das habe ich schon immer so getan. Im Spiel jedoch wird nichts so gelassen, wie es ist. Da heißt es: Mal sehen, ob es nicht anders besser getan werden kann. Ist die Gewohnheit ein konservatives Herangehen an die Aufgabe, uns die Welt zutunlich zu machen, so ist das Spiel ein revolutionäres.

 

Und zu diesem Spiel gehört letztlich auch das Schreiben selbst. Wenn Literatur, Kunst überhaupt, Vorahnung der Wirklichkeit ist, dann ist sie auch ein Spiel mit der Wirklichkeit. Sie liefert uns, den Lesenden, die sich an diesem Spiel beteiligen, den Spiel-Raum. Und sie liefert uns die Regeln dazu. Denn ohne Regeln könnten wir mit der Wirklichkeit nicht spielen. Wir hätten verspielt.

Wir wünschen diesem Buch recht viele spielfreudige Leserinnen und Leser.

 

Rainer Fischer Berlin, im Juni 2008

Christoph Berk - Der erste Zug

 

Christoph Berk
Der erste Zug

1.

Ostkreuz, hat sie gesagt, denke ich und blicke mich auf dem Bahnsteig um, ein wenig zu früh, weil ich gleich in den ersten Zug gestiegen bin, wovon sie allerdings nichts gesagt hat, vom ersten Zug, und vom Bahnsteig auch, weshalb ich mich frage, wo denn am Ostkreuz, und schaue auf den Fahrplan hinter der dreckigen Scheibe, der neun S-Bahnlinien anzeigt, neun Linien inmitten von Gleisen, Brücken, Menschen und Lärm.

 

2.

Ostkreuz, denke ich und blicke den Bahnsteig entlang und ärgere mich, dass ich nicht nachgefragt habe, sie spielt mit mir, denke ich, und ich möchte gar nicht spielen, denn mir ist es sehr ernst, glaube ich jedenfalls, und jetzt stehe ich hier und weiß nicht, wo ich hin soll und habe ihre Handy-Nummer nicht, sie hat kein Handy, hat sie gesagt, und gelacht, dass ihre weißen Zähne geblitzt und mich geblendet haben, vielleicht waren es auch ihre Augen, aber vielleicht ist auch das nur ein Teil des Spiels, denke ich und ärgere mich weiter, obwohl ich an ihre Zähne denken muss, das ärgert mich noch mehr und ich blicke auf die Imbissbude ein paar Meter weiter, daneben ist ein Zeitschriftenständer und obendrauf ein Bild von einer Frau, die Werbung macht für Zahnpasta.

 

3.

Ostkreuz, genau so hat sie es gesagt, und ich sagte, ich werde pünktlich sein, was lächerlich ist, wenn man gar nicht weiß, wo man hin soll, und blicke auf die Uhr, schon wieder, und bin immer noch pünktlich, noch ein bisschen, aber nicht mehr lange, denn die Zeit geht weiter und ich werde immer unpünktlicher, je öfter ich auf die Uhr schaue und mit jedem neuen Zug, der einfährt und dann wieder weg, und ärgere mich immer noch, wir hätten uns ja auch im Hauptbahnhof treffen können, denke ich, oder am Zoo oder Ostbahnhof, am besten Hauptbahnhof, da zieht es nicht und man kann sich die Zeit vertreiben, solange es nicht stürmt zumindest, denke ich, dann kann man einen Riegel auf den Kopf bekommen, das muss ja nicht sein, obwohl, denke ich dann, es käme natürlich drauf an, und ich stelle mir ein Schokoladenriegel regnendes Bahnhofsdach vor und denke kurz, das ist vielleicht keine schlechte Todesart, von Kalorien erschlagen werden, besser als von einer Eisbombe zerfetzt zum Beispiel, aber das ist albern, ich schicke den Gedanken weg, mag keine Wortspiele spielen jetzt, mir wird schon übel mitgespielt, ich beharre auf diesem Standpunkt und merke, wie ich unbeweglich werde, hier zieht’s, ärgere ich mich, das auch noch, und ich beginne, auf der Stelle zu treten.

 

4.

Rostkreuz, denke ich und schaue den Bahnsteig entlang und dann hoch, und stelle mir das alles aus der Vogelperspektive vor, über den Haufen geworfene Gleise, ein gordischer Verkehrsknoten, auf die schiefe Bahn geraten der Gute, kein Kreuz eigentlich, eher ein Kraken, amputiert und langweilig allerdings, und doch, ein Kreuz ist es schon, mit dem Treppen Steigen nämlich, keine Aufzüge und Rolltreppen hier, hier muss man noch selber laufen um von A nach B zu kommen, noch eher von A nach E, denn B gibt es hier nicht mehr, aber auch A soll abgeschafft werden, stand irgendwo, und jetzt stehe ich hier und warte und sehe sie nicht, nur Menschen und dann Zäune, Gitter, Absperrungen, hier wird gearbeitet, soll renoviert werden oder umgebaut, Pflaster bloß auf offener Wunde, 'Sie kommen zu spät, Herr Doktor', denke ich, 'notschlachten sollte man oder amputieren, so geht es doch nicht weiter', und muss doch weitergehen, weiterfahren eher, aber es soll ja alles besser werden, habe ich gelesen, dann wird alles neu und schön, hoffe ich, endlich, und dann werden bestimmt wieder Einige betrübt sein, die immer betrübt sind, wenn sich was ändert, weil das Besondere verloren gegangen sein wird, denken sie, weil sie immer Schäbigkeit mit Charme verwechseln im Blick zurück, weshalb früher ja immer alles besser gewesen sein soll, hüben wie drüben, da gab’s noch Jutebeutel und Sozialismus und Gemeinschaftsgefühl, bis zur Wiedervereinigung jedenfalls, dann soll es verschwunden sein und ich frage mich, wohin und wie, vielleicht stand’s ja im Einigungsvertrag, drittes Kapitel Vers 6: Gemeinschaftsgefühl wird abgeschafft oder so, vielleicht war’s auch die Globalisierung, die soll ja auch viel auf dem Kerbholz haben, ich blicke zur Imbissbude neben dem Zahnpastawerbebild und dem Mann mit dem dicken Schnauzbart, der da Brötchen verkauft und Ayran, und frage mich, warum eigentlich, und was die Leute noch früher gesagt haben, als es noch mehr Gemeinschaftssinn gab, dafür aber noch gar keinen Bahnhof, was natürlich auch sein Gutes hätte, denn dann müsste ich hier nicht stehen und warten, und dann fällt mir ein, dass der Gemeinschaftssinn vielleicht doch erst später erfunden wurde.

 

5.

Ostkreuz, sehe ich, ist voller Menschen, was mich erstaunt, denn hier will man doch nicht hin, sondern weg, ich jedenfalls, es zieht noch mehr und ich stelle mich hinter eine Säule und sehe, dass der Imbissbudenmann eine Zahnlücke hat, aber noch kann ich nicht, nicht ohne sie jedenfalls, aber sie ist nicht da, nur andere, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen, es quietscht, ein Zug fährt ein, die Türen öffnen sich und da ist wieder ein Schwall, eine Menschentraube, vom Stock gefallen weil sie zu schwer geworden ist, und schon zerstreut, verschwunden im Erdreich, ein guter Vergleich, denke ich, da düngen sie und wachsen wieder nach, denn irgendwo müssen sie ja herkommen, die ganzen Menschen, es werden nicht weniger, nur sie ist nicht dabei, denke ich, was für ein blödes Spiel, und langsam kriege ich Geduldsfadenkatarrh und ärgere mich, ich mag es nicht, wenn niemand mir sagt, wohin ich soll, dann stehe ich nur rum, aber das darf man nicht laut sagen, dass man sich gerne sagen lässt, wo man hin soll, sonst kommt noch so ein Unausgelasteter vorbei in schicken Klamotten, so ein Zeitgeist-Designer, und pappt einem einen Generation-Irgendwas-Sticker auf die eh schon volle Stirn, wahrscheinlich Generation-Wartesaal, vermute ich, ich warte hier und kann nicht anders, wie denn auch, und vor allem wohin, wenn keiner kommt, das kommt davon, wenn man nicht auf eine Ortsbeschreibung besteht, denn wenn ich mich hier weg bewege, kommt sie bestimmt und ich bin nicht da, jedenfalls nicht da wo ich sein will, hier nämlich, mit ihr, vielleicht wäre ein Verlierer-Sticker der richtige, denn ich glaube, ich verliere das Spiel und kenne noch nicht mal seine Regeln, dabei möchte ich doch nur, dass sie kommt und dann schnell weg von diesem Bahnhof, Spiel zu Ende, Game Over, gewonnen.

 

6.

Ostkreuz, wundere ich mich, was für ein Name für so einen Ort, und ich sehe Kreuzritter vor mir, die russische Steppe und dramatische Szenen in Schwarz-Weiß, zwei Menschen, er im Trenchcoat und mit Hut und sie mit blonden Haaren und leidverhangenem Blick, 'Wo willst du jetzt hin?', fragt sie, und er: 'Mit dem ersten Zug nach Süden', was mir gut gefällt, nach Süden, denn das ist weit weg und verspricht Wärme, Sonnenuntergang und ein neues Leben, anders als, sagen wir mal, 'Mit dem IC um 09.35 nach Ankara, mit Umsteigen in München und Wien', was nach Reisezahnbürste klingt, nach Wechselkurs und Nachsendeauftrag, aber für den Schalterbeamten wäre das natürlich besser, konkreter, denn was soll er denn sagen, der Schalterbeamte, wenn jemand nach Süden möchte, 'Ob’s Schönefeld sein soll, Dresden oder Neapel gar, das müsst’ man schon wissen, bitte schön, gnä’ Herr, und nichts für ungut', würde er sagen oder schnauzen, trotz Trenchcoat und tränender Frau, wir sind ja in Berlin, denke ich und gucke rüber zu dem Imbissstand von dem Mann mit dem Schnauzbart und der Zahnlücke, der eine fleckige karierte Schürze trägt und gerade einen Schnorrer verjagt, allerdings sehe ich keine Fahrkartenschalter, nur Automaten, und denke, so ein Glück vielleicht, denn wer will schon seine Biographie in Stücke reißen, während ein Schalterbeamter zuschaut und schnauzt.

 

7.

Ostkreuz, fürchte ich mich, hier wird sie doch nicht Schluss machen, das kann sie doch nicht, denke ich, wir haben uns doch eben erst kennen gelernt, vor ein paar Tagen, sie hat mich angeblitzt mit ihrem Lachen und ich habe mich verliebt, ein bisschen jedenfalls, und dann denke ich, sie will sich nicht von mir trennen, wir sind ja noch gar nicht zusammen, nicht richtig jedenfalls, heute ist doch unsere erste Verabredung, und schließlich, man trennt sich nicht an S-Bahnhöfen, das wäre stillos, wie Trennung per SMS oder auf einer Autobahntankstellentoilette, dafür braucht es einen Hauptbahnhof oder Flughafen, auch eine Schiffsanlegestelle meinetwegen, wo der Wind die Haare rauft und die Stimmen fort trägt, das hat Charakter und ist schriftlich, mit Brief und Siegel sozusagen, und ich könnte ja gar nicht wirklich nach Süden, vom Ostkreuz, nur bis nach Schönefeld, wo allerdings ein Flughafen wartet, oder mit der Ringbahn zum Westkreuz, das wäre lustig, denke ich, da könnte ich noch mal ganz von vorne anfangen und käme wieder hier an, am Ostkreuz, und da fällt mir ein, per SMS geht ja gar nicht, und ich bin sehr erleichtert, denn sie hat ja gar kein Handy.

 

8.

Ostkreuz, hoffe ich, ist hoffentlich gleich zu Ende, das Ostkreuzspiel, und ich frage mich, warum spielt sie mit mir, das Pfeifen und Rattern eines Zuges füllt meinen Kopf und meine Gedanken, nur kurz, dann ist wieder Platz für mich, wenn ich nur die Regeln kennen würde, könnte ich mitspielen und gewinnen, denn natürlich will ich gewinnen, dafür spielt man ja schließlich, das ist ja der Sinn eines Spiels, sie lässt mich warten, ich weiß nicht ob sie kommt, ich kann nur hoffen und gucke auf die Uhr, ich bin zu spät, schon längst, und dann denke ich, vielleicht aber auch sie, das ist nur eine Frage des Standpunktes, des Standortes, ich kenne aber ihren Standpunkt nicht und frage mich, ob sie meinen kennt, und wie wir zueinander finden sollen, und dann denke ich wieder an ihre weißen Zähne, an ihr blitzendes Lachen, und genau da scheint plötzlich die Sonne auf meinen Kopf, es zieht nicht mehr, ich freue mich über die Sonne und denke, auf sie freue ich mich auch, auch wenn ich nicht weiß, ob sie wirklich kommt, was aber vielleicht nichts macht, beginne ich zu denken, denn noch kann ich sie finden und jetzt schon anfangen, mich darauf zu freuen, was ich vielleicht nicht könnte, wenn ich schon alles wüsste, dann könnte ich nur noch voraussehen und die Freude ist schon verbraucht, bevor es losgeht und sowieso wäre sie dann viel zu spät, und plötzlich bin ich aufgeregt, weil sie vielleicht irgendwo da drin ist und mich sucht, wahrscheinlich, und dann denke ich, was soll’s…

 

9.

…mache ich halt den ersten Zug und gehe einfach los, suche sie, lasse mich zu ihr treiben, die Treppen rauf und runter, an Zäunen vorbei und an Menschen, und beginne, das Spiel zu verstehen, das Ostkreuz-Spiel, es hat keine Regeln, aber es hat einen Namen, Leben heißt es, man muss einfach nur anfangen, und da steht sie plötzlich vor mir, sie lacht, ich bin geblendet vom Weiß ihrer Zähne, vom Glück, mit ihrem Glück küsst sie mich auf den Mund und fragt, 'Wohin sollen wir fahren?' 'Nach Norden', sage ich, aber eigentlich ist es mir egal, wir können auch hier bleiben, einen Kaffee trinken drüben an dem Imbissstand von dem Mann mit dem Schnauzbart und der fleckigen Schürze und der Zahnlücke neben dem Zahnpasta-Werbeplakat, auf dem eine Frau steht und lächelt, ich bin ja schon da und das Spiel hat gerade erst angefangen, hier am Ostkreuz.

Ilse Treue - Nächtliche Gedankenspiele

 

Ilse Treue
Nächtliche Gedankenspiele

 

Es geht auf Mitternacht zu. Ich bin müde, kann aber nicht schlafen. In meinem Kopf kreisen ärgerliche Gedanken. Am Vormittag hatten mich dringende Besorgungen zur S-Bahn geführt, zum Bahnhof Ostkreuz, der besonders uns Älteren gegenwärtig ein Gräuel ist. Bedingt durch den Umbau stand ich vor dem verschlossenen Eingang am Markgrafendamm. Kein Schild wies den Weg. Es regnete. Nur durch eine große Lücke im Zaun gelangte ich auf das Bahngelände. Der direkte Zugang zum Ringbahnsteig war versperrt, ein Umweg unvermeidlich. Also Treppe rauf, Treppe runter, den Bahnsteig E entlang, wieder Treppe rauf, endlich war ich am Ziel und meine Füße pitschnass. Kein guter Geist hatte mir den neuen Eingang gezeigt, den es gab, den ich aber nicht entdeckt hatte, wie sich später herausstellen sollte.

Ist es nach diesem Ärgernis verwunderlich, dass meine Gedanken noch einmal zum Ostkreuz zurückkehren? Lange verweilen sie bei dem unangenehmen Ereignis nicht. Sie ziehen seltsame Wege. Wundersames soll zuweilen an diesem Ort geschehen. Aus mehreren Ostkreuz-Anthologien erfuhr ich darüber. Ein sprechendes Hündchen, ein Zeitung lesender Fuchs, Gleismännlein und Ostkreuzmännlein kommen mir in den Sinn. Meine Gedanken beginnen zu spielen. Was mag aus ihnen geworden sein? Durch die Bauarbeiten fühlten sie sich alle vertrieben. Ich möchte sie treffen und mir von ihnen erzählen lassen. Aber vielleicht sind sie längst davon gezogen und keiner weiß, wohin? Ob mein Freund, der gute Bahngeist im Wasserturm etwas von ihnen erfahren hat? Meine Gedanken spielen lebhafter. Man müsste ihn anrufen. Anfangs verschlafen, dann aber mit wachsendem Interesse hört er zu. "Kein Problem, Großmutter", sagt er. "In wenigen Minuten habe ich sie beisammen. Noch eins, verzeih mir, dass ich dir heute Vormittag nicht helfen konnte. Ich zeigte gerade mehreren Kindern den richtigen Weg. Wir sind zu wenig gute Bahngeister. Tut mir Leid." "Schon gut", erwidere ich.

Noch ehe ich mich wundern kann, bin ich im obersten Stübchen des Wasserturms. Da sehe ich sie alle um einen großen, runden Tisch versammelt: das Hündchen, den Fuchs und die Männlein. Fragend blicken sie auf meinen Freund, den Bahngeist. "Hier ist eine gute Bekannte von mir", stellt er mich vor, "eine Großmutter, die von euch gelesen hat und Anteil an eurem Schicksal nimmt. Erzählt ihr, was euch bewegt".

Der Fuchs macht den Anfang. Er, der gern wissen will, was in der Welt passiert, sucht noch immer nach einem Platz, wo er in Ruhe die Zeitung lesen kann. Seit die Böschung an dem alten Bahnsteig abgeholzt ist, streicht er ruhelos umher. Weder in der Rummelsburger Bucht, noch im Treptower Park konnte er sesshaft werden. Die dortigen Füchse duldeten ihn nicht in ihren Revieren. Seinen Menschenfreund, mit dem er alle Neuigkeiten bereden konnte, hat er aus den Augen verloren. Eben noch lebhaft, schaut er jetzt traurig in die Runde. Tröstend kraule ich sein Fell.

Nun nimmt das Gleismännlein das Wort. All die Jahre hat es zuverlässig die Gleise, Signalanlagen und Bahnsteige überwacht. Mit dem alten Bahnhof ist es verwachsen. An die moderne Bauweise aus Glas, Beton und Stahl will es sich nicht gewöhnen. Noch hat es sich keine neue Bleibe gesucht. Doch die Zeit drängt.

Nach dem Gleismännlein meldet sich das Ostkreuzmännlein. Die Worte kommen ihm schwer von den Lippen. Zögernd erzählt es von sich und seiner Familie. "Wir waren einmal die guten Geister der Gründerzeit. Alle großen Bahnhöfe begleiteten wir vom ersten Spatenstich an. Die Menschen achteten uns, weil wir ihre Arbeit schützten. Aus Dank schützten sie unseren Lebensraum. An bewachsenen Hängen, im bemoosten Schotterbett neben den Gleisen, in hölzernen Baracken fanden wir ausreichend Unterschlupf. Jetzt wird ein Bahnhof nach dem anderen saniert und es wird nicht mit Glas, Beton und Stahl gespart. Mit dem Ostkreuz wird es nicht anders werden. Die Dämme sind bereits kahl. Ich musste mir sagen lassen, unsere Zeit sei abgelaufen. Das trifft mich hart. Brauchen uns die Menschen nicht mehr? Über 100 Jahre haben wir ihnen treu gedient. Nun schieben sie uns einfach beiseite."

Tief gekränkt endigt das Ostkreuzmännlein. Bedrückt schweigen die anderen. Einen Ausweg sehen sie nur im Fortziehen. Keines will mehr am Ostkreuz bleiben. Einiges von dem, was ich zu hören bekam, war mir aus den Büchern bekannt. Doch wie ich sie jetzt so hoffnungslos vor mir sehe, zieht sich mir das Herz zusammen. Was soll ich ihnen raten?

Da meldet sich das Hündchen, das wieder einmal auf Reisen und erst kürzlich zum Turm zurückgekehrt war. "Ich kann nicht glauben, dass ihr hier überflüssig seid. Im Gegenteil, jetzt werdet ihr erst recht gebraucht. Ich bin auf einigen Bahnhöfen umher geschlichen, habe den Leuten bei der Arbeit zugesehen. Auch am Hauptbahnhof war ich. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was da manchmal los war. Aus großer Höhe stürzte dort ein Stahlträger herab. Wäre das passiert, wenn eines aus eurer Familie die Baustelle bewacht hätte? Bestimmt nicht. Könnte es nicht eine ehrenvolle Aufgabe für euch sein, die Arbeiten an unserem Bahnhof wachsam zu begleiten?"

Eine lange Rede hat das Hündchen gehalten. Der Turm brummt zufrieden. Er ist mächtig stolz auf seinen kleinen Freund. Nach einer Pause meint eines der Männlein: "Schau an, da gibt es Menschen, die über uns schreiben. Das hätte ich ihnen gar nicht zugetraut." Das andere ergänzt: "Es scheint doch welche zu geben, die unsereinen verstehen." Sie möchten ja für die Menschen da sein. Doch wo sollen sie leben? Nirgendwo bleibt ein Unterschlupf.

"Nun ja", mischt sich der Turm ein. "Leicht habt ihr es nicht. Ich könnte euch zur Not mein altes Mauerwerk anbieten. Darin findet ihr gewiss ein Plätzchen." Das gibt ein eifriges Für und Wider. Dass ihre Zeit abgelaufen sei, möchten sie nicht auf sich sitzen lassen. Den Menschen gegenüber bleiben sie aber skeptisch. Es sind zu wenige, die mit der Natur schonend umgehen, auf die sie, die Bahngnome, angewiesen sind. Sie tun mir leid, die kleinen Männer. Ob sie nicht wenigstens versuchen wollen, den Turm als Obdach anzunehmen, frage ich sie. Wegziehen könnten sie immer noch. "Ich bräuchte jede Menge Helfer", meldet sich der Bahngeist, der sie alle gerufen hatte. Das Wirkungsfeld der Gnome ist aber die Technik. Sie sind nun einmal spezialisiert auf Gleise, Signalanlagen und Brücken. Menschen gefahrlos zu den Zügen zu geleiten, würden sie gern den Bahngeistern überlassen. "Aber die Technik bleibt euch doch", bemerkt einlenkend der Bahngeist. "Lernt, einen Computer zu bedienen und ihr seid gerettet. Habt keine Angst davor. Wenn ihr wollt, richte ich für euch einen Schnupperkurs ein. Danach fällt euch die Entscheidung leichter. Arbeit wird es für euch immer geben." Interessiert schauen die Männlein auf den Bahngeist. Erneut gibt es ein eifriges Für und Wider. Einig wird man sich heute nicht. "Lasst uns heimgehen zu unseren Familien und alles in Ruhe überdenken", bittet das Ostkreuzmännlein. "Heute habe ich in dem Gleismännlein einen Mitstreiter gefunden. Das stimmt mich zuversichtlich. Vielleicht fällt uns eine Lösung ein, die uns am Ostkreuz weiterleben lässt."

Fuchs und Hündchen wurden Freunde und wollen künftig gemeinsam Zeitung lesen. Der Wasserturm wiederholt sein Angebot, ihnen Unterschlupf zu gewähren. Dann lädt er alle Anwesenden zu einem erneuten Treffen ein, vielleicht im Frühjahr. Sie stimmen zu. In der Zwischenzeit will der Bahngeist Kontakt zu ihnen halten. Mich, die Großmutter, die zeit ihres Lebens am Ostkreuz wohnt, nehmen sie als Ehrengast in ihrer Mitte auf.

Langsamer spielen meine Gedanken, werden träge, fließen ineinander. Die wundersamen Gestalten verschwinden. Nur der Bahngeist begleitet mich nach Haus. Oder ist es der Fuchs? Der Fuchs … die Zeitung … Männlein huschen. Zufrieden brummt der Wasserturm.

Britta Koth - Metropoly

 

Britta Koth
Metropoly

 

Steine, Steigen, Stufen, Schritte,
Tauben, Trassen, Treppen ,Tritte
eingestiegen, ausgestiegen
freu Dich an den schnellen Zügen
Ziehen, Zögern und Begehren
Greifen, Hoffen und Betören
TunnelTaumelTramStation
MassenMorgenMarathon
diese Straße da ist Dein
setze Deinen nächsten Stein
dieses hohe Häusermeer
zwischen Nah- und Fernverkehr
Dir gehört es – nimm Dein Glück
Zahlen, Zeichen, Zug, Geschick
Zufall führt Dich als Begleiter
neben Fatum fahrig weiter
rausche die Chausseen entlang
vorwärts, setze auf die Bank
breche in das Spielfeld ein
Stadtgeflüster, Pflasterstein
Gassen, Straßen und Alleen
zügig, Setzen, Aufstehn, Gehn
Alex, Ostkreuz, umgestiegen
windschief über Gleise fliegen
alles hier kann Deines sein
Abflussrohr und Lampenschein
Blumenbuden, blinde Fenster
Holz und MaschendrahtGespenster
Treptow, Ehre, Liebe, Spree
Hundescheiße, Badesee
Stadtluft kann Dein Atem werden
alles hier kann Dir gehören
lauf, besitz, besetze, spiele
wirf, entwerfe Deine Ziele
friss die Stadt, trink ihren Dunst
kau die Rohkost ihrer Kunst
verweil nicht, weil es Schönheit ist
die auf müden Treppen sitzt
überhol den Augenblick
oder geh auf Start zurück.

Spielt keine Rolle

 

Britta Koth
Spielt keine Rolle

 

Montag früh – wir sehen uns
blass im hellen Ostkreuzdunst
heiße, nasse Atemwolken
werden ins Abteil gemolken
Taschentücher, blätterweise
fliegen schneeweiß über Gleise.
Du schüttelst dich, die Tropfen fliegen
und gähnst verträumt in vollen Zügen.
Dienstag wieder, es ist kalt
die Schienen hart, die Treppen alt
nur du bist blühend unbekannt
ein  Raureif-Prinz im Frostgewand
und atmest zwischen Massenluft
reinen, frischen Märchenduft.
Am Mittwoch sehe ich dich wieder
gleich am Bahnsteig gegenüber
Türenlippen schließen sich
schnappen und verschlucken dich
noch ein Blick, du schaust dich um
aus dem Bahn-Aquarium.
Donnerstag – ich suche dich
gleisauf-gleisab, und seh dich nicht
ich warte auf die stille Strenge
die dich abhebt vom Gedränge
der Tag, die Nacht noch in den Knochen
ist an- und auch schon abgebrochen
das Spielerische ist verschwunden
es braucht nur ein paar Sekunden
einmal kurz nicht hingesehn
lässt es mich im Nebel stehn
den man 'ErnstdesLebens' nennt
und als Spielverderber kennt.
Freitag früh – die Luft ist klar
das Spiel ist plötzlich wieder da
einfach so beim Brötchen Kaufen
kommt es rasch zurückgelaufen.
Du bist nicht hier? Mir ist es gleich
du residierst im Märchenreich
wir treffen uns auf Traumgelände –
jetzt ist erstmal Wochenende.

Peter Grünwald - Kalle und der Kabbalist

 

Peter Grünwald
Kalle und der Kabbalist

 

Manche meiner Tage beginnen noch im Schlaf, mit einem Traum, der, wenn er dramaturgisch gelungen ist, als eine Art Faustischer "Prolog im Himmel" — oder so wie heute "Prolog in der Unterwelt" — gelten könnte. Im Text des Tages ist er dann wie eine pompös ausgeschmückte Initiale, danach geht es nüchtern und prosaisch weiter.

Der Traum ging diesmal so: Ich befinde mich im obersten Stock eines monströsen düsteren Gebäudes mit einer völlig verrückten Geometrie, alles ist überdimensional und irgendwie nicht von dieser Welt. Schließlich treffe ich einen Mann, der wie ich durch die Hallen und Gänge irrt. Ich sage ihm, wir sollten uns jetzt wohl der Dame des Hauses vorstellen, das gehört sich so, sie wohnt im Stockwerk darunter. Um zu einer Art Treppenhaus zu gelangen, müsste man allerdings einen sehr breiten, im Boden klaffenden Spalt überwinden. Ich sehe, dass der Abgrund mit einem Sprung schwerlich zu überbrücken ist. Dennoch halte ich meinen Begleiter nicht zurück, der einen Anlauf nimmt, springt, sein Ziel verfehlt und in dem schwarzen Loch verschwindet. Alles völlig lautlos, ich bin entsetzt, zugleich wundere ich mich auch darüber, dass er sich anscheinend so gar keine Mühe gegeben hat. Ein müder Anlauf, ein lascher Sprung, weg war er. Ein bisschen froh bin ich auch, dass ich ihm den Vortritt gelassen habe, als Test. Denn ich habe nicht die Absicht, so einen Sprung zu wagen – es war ja auch nur so eine Idee…

Ich werde wach und es ist halb zehn. Immer noch meinen Traum im Kopf wird mir der krasse Gegensatz zwischen dem, woher ich gerade komme und dem, wo ich gerade bin, bewusst. Das war eine weite Reise. Zum Glück glaube ich nicht daran, dass Träume etwas bedeuten oder dass sie eine Art Botschaft an mich enthielten. Und was ein Freudianer — oder gar eine Freudianerin! — dazu sagen würden, möchte ich mir lieber nicht vorstellen.

Etwas an dem anderen Menschen, meinem Traumpartner, war seltsam. Er war irgendwie wie ich. Vielleicht war ich das sogar und das bedeutete dann, dass ich mir bei meiner eigenen Selbstmördertour zugesehen hätte. Genug davon!

Ich schlurfe ins Bad, schlurfe in die Küche. Der erste Schluck Kaffee und die Lektüre des Zettels, den meine Freundin mir auf den Küchentisch gelegt hat, bringen mich vollends in meine wirkliche Wirklichkeit zurück. Meine Freundin Inga, die wie stets schon weit vor mir den Tag begonnen hat, versäumt es niemals, mir eine Liebesbotschaft zu hinterlassen. Ich sammle all ihre Zettel in einer besonderen Schublade, es sind schon Hunderte, lauter kurze Sätze der Zuneigung, überschwängliche, besorgte, sogar frivole, immer sehr poesievolle. Ihr heutiger Satz zum Tage enthält noch ein Postskriptum: "Es ist gutes Wetter zum Zeichnen!" Ja, das ist richtig, nach sehr viel Grau hat dieser Mai sich endlich dazu bereit gefunden, so zu sein, wie die Poeten ihm seit Jahrhunderten andichten.

Meine Freundin Inga befürchtet ständig, ich käme nicht genug "unter die Leute". Weshalb ihr so viel daran liegt, kann sie nicht sagen; als wäre Unter-die-Leute-Kommen ein Wert an sich, eine Art Garantie für Seelenfrieden und Psychohygiene. Vielleicht hat sie Recht. Inga hat meistens Recht.

 

Gehen wir zeichnen! Vor ein paar Wochen habe ich eine Gewohnheit aus alten Tagen neu belebt: Ich gehe zum Ostkreuz, suche mir einen Platz, wo ich relativ ungestört bin, und zeichne. Eigentlich sind es eher Skizzen, Kritzeleien. Früher, als ich in Schöneweide meinen Arbeitsplatz hatte und auf dem Ostkreuz sehr viel Zeit mit dem Warten auf den nächsten Zug verbringen musste, hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, einen Stift und ein kleines Skizzenbuch aus der Tasche zu ziehen und S-Bahn-Szenen festzuhalten. So habe ich mir, wartend, das Ostkreuz erzeichnet. Ich kannte jeden rostigen Brückenpfeiler, jede geborstene Gehwegplatte, aus deren Fugen wildes Grün wucherte, alles. Das Zeichnen zwingt zu genauem, längerem Hinsehen, auf diese Weise ist mir sogar dieser nicht sehr ansehnliche Platz — an dem normalerweise alles sagt: Mach, dass du weg kommst! — vertraut und sogar lieb geworden, besonders im Sommer, wenn das üppige wilde Grün die Hässlichkeit dieses Ortes barmherzig milderte. Und wenn man lange genug zuhörte, gruppierten sich die Geräusche sogar zu einem Muster, einer Struktur, sie wurden Musik. Die Ostkreuzmelodie ging so: Räderrattern, Schuhe auf Asphalt, Vogelstimmen, Räderrattern, Schuhe, Vogelgezwitscher usw. Mit dem Vogelgezwitscher ist es lange vorbei. Laute, raumgreifende, sich wichtig machende Baumaschinen haben sie verjagt. Die Ostkreuz-Musik geht jetzt anders.

 

2

Am Ausgang Sonntagstraße, genau auf der Grenze zwischen dem öffentlichen Raum und dem Grundstück der Bahn, hat Kalle seinen Stammplatz. Kalle ist Straßenmusiker. Wenn er spielt, dann sind das alte Dylansongs, alte Bluesnummern oder er improvisiert spanisch Anmutendes auf der Gitarre. Heute spielt er nicht, heute liest er, Leser ist sein zweiter Beruf. Unsere erste Begegnung, das war vor ein paar Wochen, war etwas unglücklich verlaufen: Der Mensch, den ich später Kalle nennen sollte, stellt sich mir in den Weg und verlangt sechzig Cent, die, so fügt er erklärend hinzu, fehlten ihm noch zu einem Becher Kaffee. Er hat das in einem völlig sachlichen, überhaupt nicht heischenden, beinah hochfahrenden Ton gesagt, so als wären wir Geschäftspartner und er hart im Verhandeln. Ich bin darüber so verblüfft, dass ich ihm ohne Weiteres einen Euro in die Hand drücke. Und was macht dieser Mensch? Er wühlt doch tatsächlich in den Taschen, um mir mein "Wechselgeld" zurück zu geben! Abermals verblüfft, sage ich ihm er solle das lassen. "Stimmt so!" Ein kurzer missbilligender Blick von Kalle, dann zieht er gekränkt von dannen. Später habe ich es bereut. Kalle hatte Recht, gekränkt zu sein. Er hatte mich zu einem Spielchen eingeladen und ich habe nicht bis zu Ende mitgespielt. Ich war ein Spielverderber.

"Wenn du nicht spielst, verdienst du nichts", rufe ich ihm zu. Er lächelt und schaut wieder in sein Buch. Ich weiß, warum er lächelt. Jemand hat mir einmal verraten, dass Kalles Einnahmen erheblich größer sind, wenn er nicht spielt. Dabei spielt Kalle nicht schlechter als jeder andere Straßenmusikant auch. Aber der Anblick eines völlig in seine Lektüre versunkenen, stilvoll zerlumpten Eremiten auf dem Gehsteig scheint die Leute noch mehr zu rühren als sein Musizieren. Es ist die Diogenes-Nummer, und auf die ist sogar Alexander der Große hereingefallen.

Seit unserer ersten Begegnung grüßen wir einander. Und wir werden einander auf immer grüßen müssen, bis einer von uns für immer verschwindet.

 

3

Es ist gar nicht so leicht, am Ostkreuz einen ruhigen Platz zum Zeichnen zu finden. Ich habe herausgefunden, dass es letztlich die Plätze mit dem größten Gewimmel sind, an denen man am ungestörtesten ist. Im Auge des Hurrikans, sozusagen. So sitze ich meistens oben auf dem Ringbahnsteig. Zudem kann ich hier oben, je nachdem wie meine Zeichnerlaune ist, den Blick auf Naheliegendes oder sehr Entlegenes richten.

Und gerade heute trifft das ein, was ich immer gefürchtet habe und was früher oder später unvermeidlich ist: Da kommt er, in diesem Fall ist es ein älterer Mann, der zunächst um mich herum schleicht, dann immer engere Kreise zieht, mir schließlich mit schon nicht mehr verhohlener Neugier über die Schulter blickt, um sich dann von der Seite in meine Nähe zu schieben. Kurz: der Alptraum des Zeichners. Gleich wird er dich anquatschen, denke ich mir. Und da tut er es schon:

"Ein Glück, dass das Wetter jetzt einigermaßen ist. Das Wetter ist wichtig für mich, neuerdings. Ich bin nämlich gerade zu Hause rausgeflogen. Und zwar achtkantig!"

Achtkantig rausgeflogen also. Er betont das achtkantig so, als wäre das eine besondere, besonders grausame Form des Rausfliegens. Ich versuche unwillkürlich, mir einen achtkantigen geometrischen Körper vorzustellen. Was wäre das? Eine Pyramide? Eine Pyramide. Ja, das ist wirklich lustig, der Typ als fliegende Pyramide.

"Nun, das ist ja nicht schön." Ein blöder Satz. Aber seiner ist auch nicht viel besser: "Wem sagen Sie das?"

"Gleich wird er fragen, was ich da zeichne und wozu das gut sein soll", denke ich mir und mir wird dazu nichts Originelles einfallen, fürchte ich. Aber der alte Mann tut nichts dergleichen, sondern beginnt mit etwas ganz anderem:

"Sind sie schon mal mit der Ringbahn gefahren?"

"Wie bitte?"

"Ich meine die volle Runde, in beiden Richtungen."

"Nein, bin ich noch nicht. Ich wüsste auch nicht, wozu…"

"Nun sollte man annehmen, dass eine volle Ringbahnrunde in Uhrzeigerrichtung ebenso lang dauert wie eine Fahrt gegen die Uhrzeigerrichtung. Sollte man doch, oder?"

Ich merke, dass der Mensch auf eine Debatte aus ist. Ich tue ihm den Gefallen und sage: "Nicht unbedingt. Die Rechtsherumbahn ist im Vorteil, sie fährt quasi auf der Innenbahn. Sie kennen das aus einem Stadion. Man könnte also einräumen, dass die Rechtsherumbahn schneller eine Runde vollendet als die Linksherumbahn." Was, zum Geier, rede ich da! Und wie herablassend!

Aber der Mann ist überhaupt nicht beleidigt, lächelt verschmitzt vor sich hin und zappelt vor Aufregung. Offensichtlich hat er mich jetzt genau dort, wo er mich haben wollte:

"Nicht schlecht, so als These. Aber genau das Gegenteil ist der Fall!"

"Eine Abkürzung vielleicht? Irgendwo?"

Er sieht mich spöttisch an. Ich sehe schon, er ist nicht der Typ, dem an einfachen Erklärungen etwas liegt.

"Es gibt einen Weg, das heraus zu finden", sage ich, schon etwas ungeduldig, "eine Stoppuhr, ein Fahrplan oder noch einfacher: eine S-Bahn-Karte, Zettel und Stift, eine Liste der Bahnhöfe, die Zeiten dahinter notiert, fertig. Das müsste doch zu machen sein."

"Ich hab's ja versucht, habe mir die Nummern der ersten Waggons aufgeschrieben und gewartet, dass sie wieder auftauchen. Sie kamen immer dann zurück, wenn ich gar nicht mehr oder noch nicht mit ihnen rechnete. Oder gar nicht. Vielleicht war ich zwischendurch abgelenkt, weiß der Teufel. Jedenfalls habe ich keine brauchbaren Daten bekommen. Wäre das nicht etwas für Sie. Sie sind doch öfter hier, wie ich bemerkt habe. Zu zweit könnten wir es heraus bekommen. Wie wär's damit, so als Projekt? Interessiert?"

"Tut mir leid. Ich habe hier andere Projekte." Ich wedle mit dem Skizzenbuch.

Er nickt, als habe er es geahnt und als sei er es gewohnt, abgewiesen zu werden. Eine Weile sitzt er versunken da. Ich überlege, ob es höflich genug wäre, wenn ich jetzt mit dem Zeichnen weitermachte. Doch plötzlich kommt wieder Bewegung in meinen seltsamen Banknachbarn.

»Wissen Sie, was auch noch interessant ist? Dass eine Ringbahnrunde, jedenfalls laut Fahrplan, exakt so lange dauert wie die Dritte Sinfonie von Beethoven.«

Großer Gott, was hat er denn nun schon wieder! Allmählich reicht es mir. Ich wollte hier doch nur zeichnen! Aber damit wird wohl heute nichts mehr. Nur, um dem Alten auch die Laune zu verderben, wende ich ein: »Kommt aber sehr drauf an, wer am Pult steht«.

»Ich meine natürlich nicht irgendeine, sondern die Interpretation der Dritten: Konwitschny, Gewandhausorchester, 1963.«

»Klingt alt.«

»Ja, alt und unübertroffen, wie so manches Alte.«

Er erhebt sich, steht noch eine Weile blicklos da und sagt dann: »Machen Sie das mal. Sie werden es nicht bereuen.«

Wo habe ich erst kürzlich darüber gelesen, wie sehr — und mehr als wir ahnen! — die öffentliche Meinung von durchgeknallten Rentnern geprägt wird?

 

4

Inzwischen ist Sommer. Die Baumaschinen am Ostkreuz sind immer zudringlicher geworden, so richtig gemütlich ist es dort nicht mehr. Manchmal denke ich noch an den Alten, den Ringbahn-Exegetiker, den Fahrplan-Kabbalisten, den achtkantig Rausgeflogenen. Ich hoffe, es geht ihm gut. Zwei, drei weitere Skizzenbücher habe ich seitdem vollgekritzelt und Ingas Liebesbotschaftenkollektion ist in eine andere, größere Schublade verlegt worden. Ich stelle mir vor, wie die Leute, die dereinst in fernerer Zukunft meinen Nachlass ordnen, etwas verwirrt vor dem Schrank mit den Skizzenbüchern und der überquellenden Liebeszettel-Schublade stehen und mich, je nachdem welcher Zeitgeist dann gerade waltet, welche Denk- und Urteilsmoden gerade angesagt sind, entweder für einen armen Irren oder einen, der zu leben verstand, halten werden.

Aber die Eroica-Runde habe ich schon einmal gemacht. In beiden Richtungen. Die Rechtsherum-Ringbahn-Eroica gefällt mir mehr, die Gegend passt jeweils besser zur Musik. Am Ende des ersten Satzes ist man am Innsbrucker Platz, passend zum Marcia funèbre des zweiten Satzes die eher tristen Gegenden im Westen, am Westhafen setzt das Scherzo ein, Allegro molto geht es dann von der Prenzlauer Allee weiter und pünktlich zum Schlussakkord ist man wieder am Ostkreuz angekommen.

Inka Engmann - Fortsetzung folgt?

 

Inka Engmann
Fortsetzung folgt?

 

Manchmal ist es schon wie verhext. Da sitze ich sonntags am Ostkreuz, warte auf die S-Bahn, ahne nichts Böses — und plötzlich kommt dieser Mann angeschlendert und bleibt genau vor mir stehen. Er ist sehr groß und dünn und guckt mich an. Solche Augen habe ich noch nie gesehen! Sie schießen in meinen Kopf und rollen wie ein Kugelblitz durch mich hindurch. Ich senke meinen Blick. "Hau ab, geh weiter!", denke ich voller Zorn. Doch er bleibt stehen. "Aufgrund einer Weichenstörung verzögert sich der Zug nach Erkner um etwa zehn Minuten!", verkündet eine Lautsprecherstimme.

"Auch das noch!", platze ich heraus.

"Du wartest nicht gern", sagt der Mann.

"Genau, hab Besseres zu tun!" rotze ich ihn an. Er verzieht keine Miene, schießt mir nur wieder mit seinen Augen ins Gesicht. "Machen wir ein Spiel", sagt er und setzt sich neben mich. Rumpelnd kämpfen Neugier und Zorn in meinem Inneren. Klar, dass die Neugier siegt, auch wenn mich das gleich wieder zornig macht. "Was für’n Spiel, willste mir ’nen Zaubertrick vorführen?", sage ich höhnisch. Er starrt jetzt geradeaus. "Du wartest auf die S-Bahn", sagt er. Ich gucke ihn an. Was will der? Er starrt weiter geradeaus.

"Du hast es eilig", sagt er.

"Hm ja… nee, eigentlich nicht. Kann mir nur was Interessanteres vorstellen, als hier zu sitzen."

"Dir ist dieser Ort zuwider", sagt er.

"Naja…"

"Die S-Bahn fährt gleich ein", sagt er. "Du hast es nicht eilig, aber dieser Ort hier ist dir zuwider."

"Was soll…"

"Du willst einsteigen. Da tritt dir ein fremder Mensch entgegen und bittet dich darum, hier zu bleiben auf ein Spiel."

"Du hast ja ’ne Macke", sage ich und stehe auf. Zum Glück fährt die Bahn jetzt ein. Ich steige ein ohne mich umzusehen, lasse mich auf einen Sitz fallen, kann es aber dann doch nicht lassen, aus dem Fenster zu gucken. Er steht direkt vor mir, sein Blick ist traurig, er sticht mich. Dann fährt die S-Bahn los.

Ich atme auf. Ist schon echt manchmal wie verhext, was man so alles an Durchgeknallten trifft in Berlin! Na, nicht mehr dran denken. Bin ja gleich in der Wuhlheide und dann ab ins Schwimmbad — auf jeden Fall ein besseres Sonntagsvergnügen, als mit einem Verrückten am Ostkreuz zu sitzen.

Abends liege ich im Bett und versuche zu schlafen. Aber es geht nicht — kaum schließe ich die Augen, sehe ich den Mann vom Ostkreuz, seine Augen erschießen mich. Ich zwinge mich, an etwas anderes zu denken. Aber es geht nicht — sein Gesicht schiebt sich immer wieder davor. Ich wälze mich rhythmisch hin und her: Geh weg! Geh weg! Irgendwann muss ich dann doch erschöpft eingeschlafen sein.

 

So geht das nicht weiter, jetzt kann ich schon seit drei Tagen nicht mehr einschlafen, ohne dass sein Gesicht mich heimsucht und seine Augen auf mich schießen. Hat er in mein Herz geschossen in den wenigen Minuten?

Ich stehe auf und ziehe mich an. Ich schreibe etwas auf einen Zettel. Dann marschiere ich mitten in der Nacht zum Ostkreuz. Zum Glück sind um diese Zeit kaum Menschen auf dem Bahnsteig, keiner beobachtet mich, als ich den Zettel anklebe. Auf dem Heimweg kann ich schon gar nicht mehr glauben, was ich eben getan habe — so was machen doch nur Vierzehnjährige! Aber als ich wieder im Bett liege, überkommt mich so was wie Hoffnung. Und dann schlafe ich ein.

 

Es ist wieder Sonntag, und ich sitze wieder auf einer Bank am Ostkreuz. Aber ich warte nicht auf die S-Bahn. Ich habe nichts Besseres zu tun, als hier zu sitzen und zu warten.

Ich schiele auf den Zettel, der unweit von mir klebt. Den Text kann ich von hier aus nicht lesen, aber ich kenne ihn natürlich auswendig: "Würde das Spiel gern fortsetzen! Sonntag, 10 Uhr auf der Bank am Ostkreuz!"

Jetzt ist es 10 Uhr 15. Nichts passiert. Aber vielleicht passiert ja doch noch was. Mir bleibt jedenfalls nichts anderes übrig, als zu warten.

Annette Ludwig - Happy Hour

 

Annette Ludwig
Happy Hour

 

Wenn man durch die In-Clubs von Berlin zieht, möchte man eigentlich nur Spaß, ein bisschen tanzen und vor allem die Happy Hour genießen, bei der man zwei Drinks für einen Preis bekommt. Allein dafür lohnt sich schon das Kommen. Man erscheint gegen 20.30 Uhr, drängelt sich an die Bar, um bis 21 Uhr das Projekt erledigt zu haben, denn dann ist die Happy Hour vorbei und es gelten wieder die gängigen Preise. Dafür hat man sich mit den notwendigen Getränken eingedeckt, die normalerweise für den ganzen Abend reichen. Dieser ist ohnehin selten lang. Wie üblich bei den After-Work-Partys kommt man früh und geht rechtzeitig, denn am nächsten Tag muss wieder gearbeitet werden. Dennoch hat man das gute Gefühl, 'Aus' gewesen zu sein. Dann kann man, mit einer großen Tafel an Getränken vor sich, beginnen, die anwesende Menge zu betrachten, die man gewöhnlich relativ schnell als uninteressant abtut und nicht der Mühe wert, auch nur ein Gespräch zu investieren, wo man doch viel gemütlicher die Zeit schweigend mit seinem Glas verbringen könnte.

Es sei denn, es wird Englisch gesprochen. Wenn auch in erst ziemlich unverständlichem Dialekt, aber immerhin Englisch, was bedeutet, dass sich der Abend für ein gepflegtes Gespräch eignet und sich eventuell eine freundschaftliche Beziehung weiter entwickeln lässt, bei der man sogar die Fremdsprache aufpeppen kann.

 

Sie redet mit einem der Gruppe, die Verständigung gestaltet sich schwierig und wird langsam langweilig und sie beginnt die Konzentration zu verlieren und fahrig um sich zu blicken. Da bemerkt sie, dass der Freund ihres Gesprächspartners sie anstarrt. Sie spürt seinen Blick im Rücken und von der Seite. Groß, blond und blauäugig mit fast kahl rasiertem Kopf, als blonde Frau so gar nicht ihr Typ, aber der bohrende Blick ist faszinierend. An den wird sie sich später immer wieder erinnern. Sie macht einen Schritt auf ihn zu und spricht ihn selber an. Und will nicht mehr gehen. Und auch er nicht. Sie trennt sich nur kurz, um zur Toilette zu entschwinden und sagt zu ihm auf Englisch: "Betrüg mich nicht". Er sieht sie verwundert an, lacht dann über das ganze Gesicht und antwortet: "Das werd ich nicht."

 

Er schreibt ihr gleich am nächsten Tag aufs Handy, dann ruft er sie aus England an und hinterlässt eine Nachricht auf dem Antwortbeantworter. Sie ist beeindruckt von seiner männlichen Stimme und denkt an seinen faszinierten Blick. Sie treffen sich eine Woche später zum Essen, eines der Dates, bei dem man feuchte Hände bekommt, weil das letzte schon so lange her ist, weil etwas Spannendes in der Luft liegt, mit einem Briten bei einem übergroßen Salat in einer Bar in Mitte zu sitzen, beobachtet von einer riesigen griechischen Statue im Vordergrund.

 

Sie ziehen durch die Bars im Friedrichshain, trinken Wodka und die Nächte werden länger als die Tage. Sie bringt ihn zum Bahnhof Ostkreuz, um ihn am nächsten Tag dort wieder abzuholen. Sie reden über Gott und die Welt und die Gespräche werden immer länger und intensiver. Sie gestehen sich ihre Schwächen und Verletzlichkeiten, erkennen Übereinstimmungen und sie fängt an, ihn mit dem Blick eines Gleichgesinnten zu betrachten.

Er beginnt, bei ihr ein und aus zu gehen, sitzt auf ihrem Sofa immer auf dem gleichen Platz, wird zum Teil des Möbels.

Sie essen immer in denselben Restaurants, treffen sich in den gewohnten Bars und sitzen dort auf denselben Plätzen, so dass das Personal sie bereits wiedererkennt. Ganz Berlin wird zu einer Spielwiese, auf der sie ständig unterwegs sind.

 

Die Wochenenden gehören seinen Kindern zu Hause, aber auch dann bricht der Kontakt nicht ab. Sie respektiert seinen Familiensinn, nicht nur weil sie eigene Verpflichtungen hat, sondern weil sie es nicht ertragen könnte, wenn er versuchen würde, alles Sichere aufzugeben, um ein Risiko einzugehen, das einzugehen auch sie nicht bereit gewesen wäre.

 

Dann kommt der Tag, an dem er sagt, dass er zurück auf seine Insel geht, in sein altes Leben und zu seiner alten Arbeit. Sie sitzen beide stumm in der Bar und können sich kaum ansehen, um die Trauer zu verbergen. Zu lange haben sie das unbeschwerte Leben genossen, ohne wirklich einen Gedanken daran zu verschwenden, dass diese sorglose, gewohnte Selbstverständlichkeit irgendwann zu Ende sein könnte und es vorbei sei mit der Zeit, bei der ein kurzer Anruf genügt hätte, um sich schnell und unkompliziert zu verabreden, das der eine Teil des Sofas nun leer bleiben würde.

Sie beschließt, ihn bis zu seiner Abreise nicht mehr zu sehen, um es beiden leichter zu machen, auch wenn sie selbst nicht so richtig daran glaubt, dass dies so einfach funktionieren könnte.

 

An seinem letzten Arbeitstag geht sie in die Bibliothek. Sie gibt gelesene Bücher ab und stöbert durch die Regale um sich abzulenken, findet aber nichts. Sie kann sich sowieso nicht konzentrieren, also entschließt sie sich zu gehen. Am Ausgang findet sie einen Tisch mit aussortierten Büchern und Schallplatten, die man für eine Spende mitnehmen kann. Sie bleibt gedankenversunken stehen und sieht sich die Bücher an. Alle stehen in Reih und Glied, nur eins liegt wie zufällig daneben. Sie nimmt es in die Hand und kann kaum ihren Augen trauen. Sie hat das Gefühl, dass es nur für sie hier abgelegt wurde, so unverkennbar, dass es nicht übersehen werden konnte, als Zeichen und als Erinnerung. Verwirrt lässt sie es in die Tasche gleiten und läuft eilig hinaus. Im Auto beginnt sie zu blättern, kann aber vor Unruhe kaum lesen und fährt nach Hause. Sie parkt den Wagen in der kleinen Straße, in der sie wohnt und überlegt, ob sie das Buch mit nach oben nehmen sollte, doch dann beschließt sie, es lieber auf dem Beifahrersitz zu lassen, da sie es in der Wohnung nicht ertragen könnte. Sie schließt das Auto ab und geht zur Haustür und beginnt, aufwendig nach dem Schlüssel zu suchen. Da kommt ihr ein eigenartiger Gedanke. Sie kehrt noch einmal zum Wagen zurück, nimmt das Buch vom Beifahrersitz und legt es vor die Windschutzscheibe.

 

Am nächsten Morgen läuft sie unruhig zum Auto. Es ist sehr früh und noch nicht richtig hell. Eigentlich möchte sie nur schnell etwas zum Frühstück kaufen. Sie setzt sich in den Wagen und startet den Motor, als sie auf der linken Autoscheibe undeutlich, aber doch erkennbar, Buchstaben bemerkt. Sie öffnet noch einmal die Tür, um durch das Licht im Innenraum besser sehen zu können und sieht nun ganz klar einen Abschiedsgruß mit dem Finger in den Fensterstaub gemalt – mit ihrem Namen. Todtraurig und gleichzeitig erleichtert schließt sie die Tür, so dass es wieder dunkel wird in der Kabine und sieht nach vorn an die Windschutzscheibe zum einzig hellen Fleck, dem weißen Buchband von Mary Wesley mit dem Titel in englischer Sprache "Part of the furniture" — "Ein Teil des Möbels".

Rudolf Reinsch - Das Ost-Kreuzspiel

Rudolf Reinsch
Das Ost-Kreuzspiel

 

Das Ost-Kreuzspiel beruht auf der Legende
vom alten Ostkreuz als Paradestück,
dem irgendwann, zu irgendeiner Wende,
verloren ging sein statisch festes Glück.

Es ist das Kreuz ein Knotenpunkt im Osten.
Die Gleise schlängeln kreuzend sich im Bett.
Die Schienen glänzen matt, die Brücken rosten
und jeder Zug verkündet sein Sonett.

Und er fährt klagend polternd mit den Gästen
den Ring herum und durch die Citywelt,
damit er mit dem and'ren Kreuz im Westen
von Kreuz zu Kreuz die Stadt zusammenhält.

Und wenn ein Fahrgast mitten im Kutschieren
das alte Ostkreuz intensiv beäugt,
dann könnte er erkennen und auch spüren,
wie mühsam ihn der Knotenpunkt verzweigt.

Zum Beispiel, wenn die Treppen ihn verführen,
so dass er auf dem falschen Bahnsteig steht
und er dann merkt, dass stetes Galoppieren
rein orthopädisch übers Kreuz ihm geht.

Er keucht zurück mit äußerst derben Flüchen
und er entscheidet trotzdem voller Wut,
er wird dem Ostkreuz nicht zu Kreuze kriechen,
weil das der Sache keinen Abbruch tut.

Drum kreuz und quer die Treppen rauf und runter,
damit man ja nicht Zeit und Weg vergisst.
Den richt’gen Zug erwischen, das macht munter,
weil falscher Anschluss kreuzgefährlich ist.

Kreuzsapperlot, so kann das doch nicht laufen,
nur immer Karo Sieben, nie Kreuz As,
nie einen Trumpf, es ist zum Haare raufen.
Das Kreuzen auf dem Bahnhof ist kein Spaß.

Dem Ost–Kreuzbuben mit dem Mikrofone
sagt er, ich lass mich hier auf nichts mehr ein.
Ich schlag mich durch, mit S-Bahn oder ohne,
ihr könnt mir mal kreuzweise … dienlich sein.

Ich kreuz mit euch auch keinesfalls die Klingen:
wem soll es nützen, wenn ihr nicht mehr seid?
Dann kann ja nur noch weniger gelingen.
Nein, Klingen kreuzen wäre nicht gescheit.

Wenn schon im Stellwerk alle Hebel klemmen,
dann braucht es Leute, die ihr Werk verstehn,
die sich mit breitem Kreuz dagegenstemmen
und garantiern, dass sich die Räder drehn.

Die Zeit, da sich die Lobeshymnen stauten,
ist für den Bahnhof längst Vergangenheit
und mit dem Kreuzgang religiöser Bauten
gabs eine Konkurrenz zu keiner Zeit.

Ein Gläubiger könnte gedanklich wagen,
das ganze Ostkreuz als den ärgsten Feind
mit angestautem Frust ans Kreuz zu schlagen,
dann wäre es ihm Heiligtum und Freund.

Es ist ein Kreuz mit diesen alten Sachen,
wenn die Mission nicht mehr so recht gelingt.
Am liebsten würde man drei Kreuze machen,
doch besser ist es, alles wird verjüngt.

Wird erst gebaut, reibt jeder sich die Hände,
denn manchmal nimmt das zügig seinen Lauf
und baut man an der Knotenpunkt-Legende,
dann kreuzt wohl bald ein neues Ostkreuz auf.

Franziska Dreke - Mozart für Osterglocken

Franziska Dreke
Mozart für Osterglocken

 

Liebe Lisa,

heute Mittag habe ich mich in den Finger geschnitten. Ich stand einfach nur da und beobachtete, wie das Blut aus dem Schnitt hervorquoll und langsam auf die grüne Tischplatte tropfte und dort einen tiefroten Fleck bildete.

Komplementärkontrast.

Es sah aus wie Kunst.

Miro vielleicht.

Kurz habe ich dann auch daran gedacht, wie der Blutfleck wohl aussehen mochte, wenn ich das Messer einfach über die Innenseite meiner Arme ziehen würde, aber dann habe ich den Lappen geholt und den Tisch abgewischt.

Noch drei Stunden, dann muss ich zur Arbeit. Die Zeit hinterlässt eine langsame Schneckenschleimspur. Draußen scheint die Sonne. Hier drinnen nicht. Ich gehe zwar nicht raus, aber ich habe die Fenster aufgemacht, damit auch die Bücher den Frühling riechen.

 

Liebe Lisa,

das ist die letzte Seite. Ich meine das natürlich nicht so, wie es klingt. Mein Briefpapier ist alle, also kann ich dir heute nur diese eine Seite schicken. Ich war heute morgen im Schreibwarenladen – gleich ganz früh, als noch nicht so viele Leute unterwegs waren – aber sie hatten das blaue Briefpapier nicht und ich wollte kein anderes kaufen, denn ich weiß doch, wie gern du dieses blaue hier magst.

Auf der Arbeit hat mich heute wieder dieser Alte angesprochen. Du weißt schon, der mit den Krähenklauenfingern. Ich weiß seinen Namen nicht, aber er ist meistens unten im Büro. Ich muss dort vorbei, wenn ich die Putzmittel hole. Er meinte, ich sähe blass aus, ob ich denn krank wäre. Ich habe ihm nicht geantwortet. Glücklicherweise redete danach niemand mehr mit mir. Diese Spätschichten haben eben auch ihre Vorteile, wenn alle nur nach Hause wollen zu ihren Familien, die schon am Tisch sitzen und mit dem Besteck klappern. Bei mir sitzt keiner und das Besteck verhält sich meistens ruhig.

 

Liebe Lisa,

ich habe darüber nachgedacht, warum ich Putzen so mag. Es ist sauberer danach, das ist wohl der Hauptgrund. Ich finde es nicht im Geringsten frustrierend, dass ich eine S-Bahn putze und sie am nächsten Abend wieder genauso schmutzig ist wie am Tag zuvor. Es ist jedes Mal eine kleine Befreiung, ein bisschen weniger Trübes auf dieser Welt. Es beruhigt, den ganzen Schmutz von Leuten zu beseitigen, wenn man dafür nicht mit ihnen reden muss. S-Bahnen reinigen muss ein grauenvoller Beruf sein, habe ich mal jemanden sagen hören. Ich finde, es ist einer der schönsten, die es gibt.

Da saß sie wieder.

Über dem Ostkreuz ging die Sonne unter und der rote Himmel spiegelte sich in den Scheiben der wegfahrenden S-Bahn. Er lehnte sich mit den Ellbogen auf die Brüstung seines Balkons und starrte angestrengt durch den Feldstecher. Das schwindende Tageslicht war nicht mehr stark genug und er konnte durch das Glas kaum noch etwas erkennen. Das Mädchen saß wieder auf derselben Bank ganz hinten auf dem Bahnsteig, dort, wo niemand anderes sich hinsetzte. Sie trug ihr halblanges Haar offen, soviel konnte er noch erkennen, und hatte die Arme um die Knie ihrer angewinkelten Beine geschlungen. Er hätte den Feldstecher nicht gebraucht, auch so konnte er sich das blasse Gesicht hinter dem Vorhang aus hellbraunem Haar vorstellen und ihre schwarzen Augen, deren ängstlicher Blick ihn oft gestreift hatte, wenn sie im Treppenhaus an ihm vorübergehuscht war – unscheinbar und fast lautlos wie ein kleiner Schatten, so dass man sie fast nicht bemerkte. Auffällig war sie wirklich nicht, eher von der Sorte Mensch, die man sah und wohl sofort wieder vergaß, ein schneller Gedanke, der in dem Moment, in dem er gedacht wurde, schon wieder Vergangenheit war.

Sie war nicht besonders hübsch, eher zu dünn, und ihre Blässe ließ sie fast ein wenig krank aussehen. Ihre schmale Gestalt war nun auch mit bloßem Auge nur noch als dunkler Schatten auszumachen und seufzend legte er den Feldstecher weg.

Wie lange ging das jetzt schon so? Sie hatte doch ihr eigenes Leben, wie er auch, sie ging zur Arbeit, offensichtlich, was war an ihr schon besonderes, außer, dass sie da jeden Abend auf dem Bahnsteig saß? Vielleicht war sie verrückt? Normal war das sicher nicht, es gab jedenfalls schönere Orte als der heruntergekommene Bahnsteig vom Ostkreuz.

"Was macht sie da nur jeden Abend, hmmh, warum sitzt sie da wohl?", fragte er die Osterglocken, deren kleine fransige Schattenrisse in ihrem Kübel am anderen Ende des Geländers gegen den dämmerroten Himmel abstachen.

"Seid ihr schon müde?" Gähnende Zustimmung.

"Ich weiß, nicht so viel reden, ich bringe euch noch ein wenig Mozart hinaus. Für die Nachtruhe." Er drehte den CD-Player auf die niedrigste Stufe, damit die Nachbarn sich nicht wieder beschwerten. Und während das letzte Rot hinter dem Wasserturm verblasste und sich die Frühlingsdunkelheit mit der aufsteigenden Musik vermischte, küsste Papageno leise lachend die Osterglocken, die schon lange vorher eingeschlafen waren.

 

Liebe Lisa,

ich habe mir wieder einmal geschworen, niemals Absatzschuhe zu tragen. Sie machen bösartige Geräusche. Sonntage sind die schönsten Tage. Da gibt es weniger Frauen in Kostümen auf dem Bahnhof und auch weniger Absatzschuhe, die mit ihrem Klacken die Klänge der Dämmerung in scharfzackige Streifen schneiden. Bahnen sind viel lauter, könnte man denken, aber die Bahnen gehören doch zum Bahnhof dazu. Die Dämmerung am Ostkreuz schmeckt nach Stille, trotz der Bahnen, man kann förmlich spüren, wie sie sich herabsenkt und flüsternd in die Köpfe der Leute eindringt um ihnen zu sagen, dass sie nach Hause gehen sollen, um die Nacht nicht zu stören. Dann wird es ruhig am Bahnhof und endlich sitze auf meiner Bank, nur noch ich und keine anderen Leute mehr, die mich dazu bringen, nach Hause zu fliehen. Das Ostkreuz im Dunkeln ist fast so schön wie meine Wohnung und fast so einsam.

Als ich heute nach Hause kam, habe ich wieder den seltsamen Typen von oben getroffen. Ich habe keine Ahnung, was er macht. Arbeitet er? Ist er Student? Ich weiß auch nicht, warum er immer barfuß läuft. Er hat so einen merkwürdigen Blick, als wollte er alles aus einem heraussaugen. Das sind die Schlimmsten! Ich bin schnell an ihm vorbei gerannt und habe die Tür von innen abgeschlossen und noch einen Stapel Bücher davor gestellt. Da sind seine Blicke dann außen an der Tür zerschellt. Er sollte aufpassen mit seinen Füßen – wegen der Scherben…

 

Liebe Lisa,

heute hatte ich frei. Der Baum vor dem Fenster hat schon kleine Knospen, bald wird er ganz von weißen Blüten bedeckt sein. Wenn sie fallen, sieht es aus, als würde es schneien. Es tut fast weh, weil es so schön ist, da würdest du mir Recht geben.

Wenn der Baum dann Blätter hat, kann man den Bahnhof nicht mehr sehen. Vielleicht sollte ich mich besser daran gewöhnen, jetzt wo bald die Kräne kommen. Ob Kräne schlimmer sind als Absatzschuhe? Ich werde es herausfinden müssen. Aber wenigstens reden sie nicht. Der Typ von oben dafür um so mehr. Ich glaube, der spinnt. Er wohnt allein, aber als ich heute am offenen Fenster stand, konnte ich ihn deutlich auf dem Balkon reden hören und er war nicht am Telefon. Ich glaube, der redet mit seinen Pflanzen. Das ist doch verrückt, oder? Er hat mich dann gesehen und so komisch zu mir herübergestarrt. Ich habe einfach die Vorhänge zugezogen.

 

Als er den Topf los ließ, schaute er mit schmerzverzerrtem Gesicht auf seine Handflächen hinunter, auf denen tiefe rote Rillen zu sehen waren. Vorwurfsvoll blickte er die riesige Yucca an, die die Blätter gierig der neu gewonnenen Balkonfreiheit entgegenstreckte. "Du wirst immer größer. Nächstes Jahr schaffe ich es nicht mehr, dich hier rauszuschleppen. Ich müsste dich eigentlich absägen, das weißt du, oder?" Die Blätter erschlafften ganz plötzlich. Die Agave, die nahe am Balkongeländer stand, richtete feindselig ihre Stachelarme auf.

"Ich habe gesagt eigentlich - nun mal keine Panik hier!"

Seufzend schaute er an sich hinunter. Seine nackten Füße und der Balkon waren voller Blumenerde und er drehte sich um, um hineinzugehen und einen Besen zu holen. Im selben Moment sah er das Mädchen. Es stand am Fenster im nächst tieferen Stockwerk im angrenzenden Häusergiebel und blickte schräg zu ihm hinauf. Für einen Moment begegneten sich ihre Blicke. Dann war sie weg und hatte die Vorhänge zugezogen.

 

Lisa,

draußen regnet es. Ich hatte heute die Morgenschicht und es gab nicht so viel zu tun. Die Bahnen waren erstaunlich sauber - aber schließlich ist Mittwoch und nicht Samstag!

Es ist so dunkel hier drinnen. Ich kann nicht zu meiner Bank bei dem Wetter, aber ich habe den Tisch ganz nah ans Fenster geschoben, um den Bahnhof zu sehen. Noch ist der Baum nicht aufgeblüht, aber heute sieht er auch ganz anders aus, wie hinter einem Vorhang aus Wasser – so weit weg. Ich müsste etwas essen, aber im Kühlschrank ist nichts mehr. Der Gedanke, jetzt einkaufen zu gehen, hat etwas Bedrohliches. Ich stelle mir die vielen Leute in nasser Kleidung vor – Leute in nasser Kleidung sind noch schlimmer als andere. Wenn es überhaupt Leute sein müssen, wären mir Leute ohne Kleidung am liebsten, die wirken weniger Angst einflößend. Allerdings gibt es davon nicht so viele.

Durch den Fußboden hindurch kann ich den Fernseher von Frau Matuschke von unten hören. Selbst so gedämpft und aus einem Gerät machen mir die Stimmen der Leute Angst. Sie klingen hoch und schrill und sofort habe ich das Gefühl, meine Tür abschließen zu müssen, obwohl ich doch weiß, dass niemand herein kann. Hier drinnen bin ich doch sicher, hier gibt es nur mich… und die Bücher und die sind nicht gefährlich, denn sie lassen die Leute, die in ihnen sind, nicht zu mir hinaus.

Nein, ich weine nicht, was denkst du denn? Die Regentropfen sind durch das offene Fenster hineingekommen und auf das Papier gefallen. Dunkelblau auf hellem Blau. - Chagall?

Ich suche mir einen Tropfen aus, einen von den vielen, die an der Scheibe hinunter rinnen, und beobachte, wie er immer schneller fließt und an Größe zunimmt, bis er, endlich am Rahmen angekommen, zerplatzt.

Aus den Augenwinkeln sehe ich eine Bewegung. Es ist der Typ von oben. Stell dir vor, er steht auf seinem Balkon und schaut durch ein Fernglas zu mir herüber. Ist das zu glauben! Er beobachtet mich! Ich will aufspringen und die Vorhänge schließen , doch ich kann mich nicht bewegen, ich bin wie gelähmt, wie am Stuhl festgebunden durch die runden Gläser, die auf mich hinabstarren.

Ich starre zurück. Ich kann gar nicht anders. Da dreht er sich um und ist verschwunden. Kurz darauf kommt er zurück – diesmal mit einer grünen Gießkanne und beginnt damit, langsam und systematisch seine Pflanzen zu gießen, während der Regen ihm an Gesicht und Armen hinunterläuft.

 

Im Bad zog er sich das nasse T-Shirt über den Kopf. Seine nackten Füße hatten hinter ihm feuchte, sandige Spuren auf den Dielen hinterlassen. Der Regen machte ihm eigentlich nichts aus. Die anderen Pflanzen starrten sehnsüchtig hinaus. Die Yucca auf dem Balkon streckte gierig ihre Blätter aus und sog die triefende Luft ein. Sie konnte nie genug bekommen. Aber er goss sie gerne, auch bei Regen. Die anderen waren alle genügsamer, trotz trockener Heizungsluft. Vorsichtig pflückte er ein gelbes Blatt von der Kannenpflanze über dem Spiegel. Sie schwang behutsam hin und her. "Du siehst einsam aus", sagte er zu ihr, "ich sollte dich zu den anderen hängen".

Das Mädchen hatte auch einsam ausgesehen da an ihrem Schreibtisch. Was sie wohl schrieb? Ein Buch? Einen Brief? Schon oft hatte er sie so schreiben sehen. Sie sah nicht aus, als hätte sie viele Freunde, an die sie schreiben könnte. Sie sah eigentlich nicht aus, als hätte sie überhaupt welche. Aber vielleicht wohnten die alle weit weg.

 

Liebe Lisa,

ich muss mich beeilen, wenn ich den Brief heute noch aufgeben will. Bald kommt der Briefträger und wenn ich nicht schneller schreibe, werde ich den Brief heute nicht mehr an dich schicken können. Gestern Abend habe ich aus dem Fenster geschaut. Irgendjemand hat Musik gespielt, aber nicht so eine schrille, sondern eine schöne, ganz weiche. Sie hat mich an die Baumblüten erinnert und ihre Zartheit, wenn man sie sich auf den Finger legt. Wie ein Hauch sind sie, ganz leicht, genau wie die Töne dieser Musik.

Das Schreiben tut mir gut. Mein Körper fließt. Beim Lesen fließt es auch, aber mehr in mir herum, aber beim Schreiben fließt es aus mir heraus, so wie etwas, das herausgewaschen wird, herausgespült, gereinigt…. Es ist wie ein Spiel, dieses Schreiben. Ja, manchmal denke ich, es ist nur ein wirres Spiel, aber du bist dann da und das tröstet, und wenn ich mich daran erinnere, dann ist dieser komische Gedanke an das Spiel auch schon wieder fort.

 

Als er das Mädchen wieder sah, kam er gerade die Treppe hinunter. Das Linoleum der Treppenstufen fühlte sich immer noch kühl an hier im Hausflur, aber bald würde die Sonne kräftig genug sein, um auch das Treppenhaus zu wärmen. Sie kam aus ihrer Wohnungstür und ihre Haare verdeckten wie immer ihr Gesicht. Sie trug eine weite Strandhose und ein abgewetztes Shirt und dicke Wollsocken an den Füßen. In der Hand hielt sie einen blauen Briefumschlag. Als sie ihn sah, machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand hinter ihrer Wohnungstür, die mit einem leisen Klacken ins Schloss fiel. Er dachte an ihre Wollsocken, weil seine nackten Füße plötzlich froren.

 

Liebe Lisa,

der Typ von oben, der mit den Blumen, ist zu nah herangekommen. Ich muss den Brief von gestern heute mitschicken, weil ich ihn gestern auf der Treppe getroffen habe, als ich den fertigen Umschlag einwerfen wollte. Ich bin sofort zurück in die Wohnung gerannt und habe mich bis heute eingeschlossen.

Sein Blick hat mich erschreckt und ganz nackt gemacht und seitdem fühle ich mich plötzlich gefangen. Nicht nur in meiner Wohnung, auch in mir. Die anderen um mich herum sind so weit weg, das ist beängstigend, aber wenn sie näher kommen, ist es noch beängstigender. Verstehst du, was ich meine, oder denkst du, ich bin verrückt? Als ich mich heute auf der Arbeit in der S-Bahn-Scheibe gesehen habe, kam ich mir selbst fremd vor. Ich wollte laut schreien, aber es kam kein Ton heraus.

Ich muss etwas tun, was glaubst du? So kann es nicht weitergehen!!!

Sogar die Frau, die die Putzlappen ausgibt, kommt mir jetzt bedrohlich vor. Sie hat aus Versehen meine Hand berührt, als sie meinen Eimer genommen hat und hat es gar nicht bemerkt, aber ich habe es gespürt und an einen großem Schwamm denken müssen, der sich mit Wasser voll saugt und dabei dick und unförmig wird bis er keine Nässe mehr aufnehmen kann und das Wasser wieder beginnt, aus ihm herauszulaufen. Ich habe mich hinter meine Wohnungstür gewünscht und in Gedanken viele Bücherstapel dahinter aufgetürmt.

Ich konnte nicht einmal zum Ostkreuz hinübergehen und dort sitzen. Die Stille dort ist jetzt ohrenbetäubend.

 

Als sie an diesem Tag hinunter zum Briefkasten ging, fand sie darin wie immer einen Brief. Ihre schwarzen Augen schauten durch den Vorhang ihrer Haare auf dem Umschlag, der dort in der Ecke ihres Briefkastens lehnte.

Alles um sie herum schien zu einem dicken Nebel zu erstarren. Die Geräusche traten überdeutlich hervor, das Kreischen der alten Briefkastentür, das ihr noch in den Ohren widerhallte, ihr zäher Atem und das Blut, das laut in ihr rauschte.

Eine Fliege kroch langsam an der Wand über den Briefkästen entlang, die in einer Reihe hingen und deren alte grüne Farbe langsam abblätterte. Ihr Briefkastenschlüssel steckte ein wenig schief in seinem Schloss und das Namensschild war schon ziemlich verblasst. Es schien ihr eine Ewigkeit her zu sein, dass sie ihren Namen darauf geschrieben hatte:

LISA GROSSE.

Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen.

Nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, nahm sie den Briefumschlag mit zitternden Fingern aus dem Kasten. Sie schloss die Briefkastentür und zog den Schlüssel ab. Behutsam, als wäre er etwas sehr Zerbrechliches, trug sie den Brief vor sich her in ihre Wohnung. Der Nebel wurde langsam lichter und sie konnte die Kühle der Linoleumstufen durch ihre Wollsocken spüren.

Briefe waren nicht gefährlich.

Sie atmete tief durch.

Und dieser hier war gelb und roch nach Osterglocken.

Guido Woller - Spiel der Veränderung

Guido Woller
Spiel der Veränderung

 

Männer mit Helmen und leuchtenden Westen
werkeln stets träge, dennoch mit bestem
Gewissen an des Bahnhofs neuem Gesicht,
welches dem Alten, gezeichnet von Zeit,
in jeglicher Weise nur wenig entspricht.

Kräftige Bagger stemmen Steine und Sand,
glühende Funken tanzen heiß und galant
durch die tönende, rauchende, nasskalte Luft
und fügen zusammen die stählerne Kluft.

Seit achtzehn-zweiundachtzig verkörpert dieser weise Ort
das wechselhafte Großstadtleben
und atmet weiter fort.

Obwohl man über hundert Jahre
einen Umbau schon begehrte,
sich dieser resistente Platz
mit rost’gen Muskeln wehrte.

Wo gestern noch Passanten liefen
in größter Eile auf und ab,
da wähnt man heut’ Gerüste sprießen,
wie Unkraut auf dem frischen Grab.

Das Gewicht unzähl’ger Füße
Milliarden mögen's sein,
trug dieses alte Bauwerk
aus Stahl und Holz und Stein.

Tag für Tag und Stund’ um Stund’
stirbt ein Stückchen alter Zeit.
Die neue aber geboren wird
und erinnerungsleer gen Himmel steigt.

Wie schnell man sich gewöhnt
an den Anblick einer neuen Haut,
der Kern jedoch bleibt durch Erinnerung
einem Jeden stets vertraut.

Das Spiel des Umbaus dieser Zeit
ist unaufhaltsam, aber bleibt
Bestandteil einer großen Stadt,
die sich immer wieder neu erschafft.

Carsten Schulze - X-Spiel

Carsten Schulze
X-Spiel

 

Sommer

Silvio war noch mal weg gewesen. Am Meer, in den Bergen, im Wind. Juni, Juli, die Monate waren lang und intensiv, irgendwann war sein Geld aufgebraucht. Einmal noch reisen, dann war sowieso Schluss mit lustig. Während des Frühstücks ließ er seine Gedanken treiben.

Im Radio hatten sie die neuesten Nachrichten über den Handelskonflikt mit Russland gebracht. Der anschließende Kommentar beschrieb ein Horrorszenario, das mit dreimonatiger Karenzzeit zum Ausbruch kommen würde. Pünktlich zur Heizperiode würden die letzten Reserven verbraucht sein. China und Russland hatten sich mit dem arabischen Kalifat verbündet, Afrika versank in Anarchie. Amerika betete kollektiv, waffenstarrend.

Die sozialistischen Staaten im Süden nahmen keine Flüchtlinge auf. Der Rest, emsige findige Selbstversorger im subtropischen Klima.

Ach, der Golfstrom. Wie erklärte man das seinen Kindern?

 

Winter

Das Leben ist ein Spiel. Jetzt ein Alptraum, Spiel auf Leben und Tod, unvorstellbar neu.

Silvio lugt durch den Spalt im Vorhang. Die Straße ist voller Menschen, die sich eindecken für den Winter, Schnäppchen und Gelegenheiten in den Ekauf-Rollis der jetzt geschlossenen Einkaufsparadiese. Der Verkehr fließt gemächlich, Schritttempo. Er sieht Kevin im Hauseingang gegenüber, quatscht mit einer Gruppe Araber. Die kommen aus Neukölln ans Ostkreuz, 'wegen die Spiel', verstehst du? Es ist lauter Zeug in der Stadt, Brennholz, Werkzeug, notwendige Dinge des täglichen Bedarfs, Klopapier, warme Klamotten sind der Renner gerade, Waffen, auch Drogen und Alkohol. Den Rest gibt’s in den Servicepoints der Bezirksverwaltungen, mal mehr, mal weniger. Es reicht, um den Kessel nicht überkochen zu lassen. Man gewöhnt sich. Die Straße gehört den Radfahrern und fahrenden Händlern. Silvio schnappt seine Jacke, schultert das Bike, hastet die zwei Treppen raus auf die Straße. Im Slalom kurvt er Markgrafendamm runter Richtung Ostkreuz, mitten durch die Handelnden und Harrenden auf dem Schwarzmarkt, der sich weiträumig um den Bahnhof etabliert hat. Dann ist freie Bahn auf der leergefegten Straße Richtung Osten. Malik wartet am Treff, eine alte Lagerhalle am Spreeufer, die vom letzten Bauboom verschont geblieben ist. Alte und zukünftige Ruinen, das liegt jetzt nah beisammen, die neuen Claims sind noch nicht abgesteckt. Es herrscht große Unordnung an der Peripherie. Pa hatte erzählt, wie sie 1990 die Fabriken verlassen hatten. Kurz darauf war vieles verschleudert, geplündert und zerstört worden. Ganze Fabriken wurden abgeräumt, Maschinen, Werkzeug, Lagerbestände landeten auf den Schwarzmärkten der Republik. Made in GDR, ein Eldorado für Bastler und Checker. Pa hatte das nicht ganz verkraftet. Irgendwie war ihm die Arbeit abhanden gekommen. Pünktlich zur Rente hatte er sich tot gesoffen, sein Beitrag zum Aufschwung. Zum Glück war er nicht zu Hause gestorben.

Jetzt ist es ein Katz-und-Maus-Spiel. Cat & Mouse Jam. Man verbarrikadiert sich in den Wohnungen, auf der Straße herrscht Unsicherheit. Das geht von kontrollierten Märkten bis No-go-Areas. Soldaten kommen hier nicht raus, die sind in Mitte und im Westen konzentriert. Polizei, das ist eben das Spiel. Die wissen gar nicht, wo sie zuerst hinfahren sollen. Wenn man Krawall macht, haben andere freie Bahn, das wird abgesprochen. Intelligent Clash Crowd ICC, Arabs for Underground AfU oder CRIME WAVE BERLIN , Mot 'W' Message on the Wall mit ihren O² bots und Brushkits. Checks aus herumliegenden Zweigen, Boots in den Bäumen, um Grenzen zu markieren, manuelles Internet der Straße.

Malik lungert mit einem Joint im Liegestuhl, Decke bis zum Kinn, Blick aufs Wasser.

Die Wand haben sie rausgehauen, freier Blick aufs Elend. Ist geil, der Raum locker 40 mal 15 Meter, 7 Meter hoch im First und die Wand haben sie rausgehauen in die Spree, bis auf die Pfeiler. Am Rand steht rauchend eine Feuertonne. Das Weed ist vom Ufer, eine alte Kolonie am ehemaligen Fähranlieger, wo sie das Zeug kiloweise geerntet haben. Es wird immer noch ganz gut dafür geleistet, klar den Umständen entsprechend, aber es ist krass, was feines Gras den Leuten wert ist. Malik grinst breit und Silvio weiß gleich, dass es nicht am Kiff liegt.

"Charlie starts at Midnight in Nachtgarderobe." Silvio klatscht ab. Charlie hat die Arabs im Boot und alles ist gut. Haluks Gang ist tough. Die klatschen auch die Cops, wenn’s aufs Messer geht.

"Ey Steve, wo liegt der Schampus von der REAL-Session?" Silvio kramt in der Kammer, wo das Zeug lagert. "Kalt gestellt, Alter, auf’m Dach!" Steves Kopf grinst in der Dachluke über der Leiter, einen fetten Joint in der Schnauze. Alle grinsen, als sie im kalten Wind auf dem First stehen. Es schneit leicht. Die Spree kriecht stockfinster in ihrem Bett gen Mitte.

Die Stadt liegt in nahender Dunkelheit. Sie stehen Arm in Arm. Brothers in arms, in beiderlei Hinsicht. Silvio fühlt sich geborgen, glücklich einen winzigen Moment lang, gemeinsam hier über der Stadt, enthoben aller Ängste. Als Räuber leben und fair dabei bleiben, menschlich. Elend ist elend genug, ein Tabu. Wer Arme ausraubt, hat keine Ehre. Das ist seine feste Überzeugung. Sie ficken die Schweine, reiche Bonzen, skrupellose Geschäftemacher, Abzockertypen. Silvio grinst. Das ist in der Gruppe Konsens. Sie hatten viel über Ehre diskutiert, auch mit Haluks Leuten bei den Treffs.

Es gibt einen Kodex, archaisch anmutend vielleicht, aber wirksam. Es wird eh archaisch gerade da draußen. Sie spielen das Ostkreuzspiel heut' Nacht. Intelligent Clash Crowd meets Arabs for Underground.

 

Silvio prescht den Spreeweg lang, Plänterwald. Der Wind verfängt sich eisig in seinen Augen, die unter der Thermomaske frei liegen. Adlergestell ist menschenleer. Höhe Ex-Maxe-Bahr biegt er links ab die Wilhelminenhof hoch. Am Ende liegt ein Kajak am Ufer. Eine Stunde paddeln in ein gänzliches Schwarz, nur der Himmel hebt sich ab gegen schwarze Blöcke und Wälder am Ufer. Silvio legt an. Der E-Zaun ist zwei Meter hoch, oben Stacheldraht. Placeboeffekt, ein Instrument ohne Wirkung, wenn der Strom ausfällt. Silvio spürt den Bolzenschneider in der rechten Seitentasche seiner Hose, kleines Modell und effizient. Zwölf Schnitte und er ist drin. Für die Wache ein kurzer Griff, wie er ihn auf dem Schulhof gelernt hat. Das ist eine Weile her, aber oft geübt. Silvios Krähenruf hallt durch die Nacht. Er hört Steves Antwort. Sie hatten so gelacht, als Steve anfing, völlig breit eine Elster zu imitieren. Bestimmt 'ne Stunde warfen sie sich in der großen Halle Tierlaute um die Ohren. Es klang wie Urwald und Zoo zusammen. Jeder ist ein Tierstimmchen in der Nacht, wenn sie auf Schicht sind. Sie haben Zeit, den Laden abzuräumen, Charlie hat alles ausgecheckt. Der Typ, den sie ausknipsen, ist kein kleines Licht, es gibt fette Ladung. Feines Zeug für den Markt, Koks, Gras, Waffen und Munition. Waffen sind der Renner in der neuen Zeit. Gewalt hat Konjunktur, Intelligenz der Skrupellosigkeit. Das Boot liegt schon längsseits, die Pumpe schnurrt, Treibstoff ist flüssiges Gold, man zahlt Höchstpreise. 5 Tonnen bunkern im Keller. Einen Kilometer weiter ist die Hölle los. Silvio kann die Salven hören, die der Ostwind herüber trägt. Haluk räumt auf. Um die Villa herrscht Grabesstille. Im Salon wird die Bar abgeräumt, der Typ liegt ausgeblutet im Sessel, sein verblüffter Blick starr. Nach einer Stunde ist alles gelaufen. Silvio paddelt zum Versteck, Hamad und Omar warten am Ufer. Schweigend laden sie aus, bringen das Zeug ins Versteck. Dann geht's zurück zum Treff. Ein paar Tage wird nichts passieren. Bis sich alles beruhigt hat.

Andere werden das Spiel fortsetzen. Die Chronik wird nicht mehr fortgeschrieben. Geschichte steht still. Es gibt keine Medien, keine Meldungen mehr, keine Analysen, keine Untersuchungen, keine Strukturen. Anarchie bedeutet auch das Verschwinden von Strukturen. Es gibt Gerüchte, verselbständigte Geschichten, die von Mund zu Mund sich fort entwickeln, Stille Post. Die früheren Wahrheiten waren Wahrheiten von Institutionen und viele glaubten daran. Was hatte man auch für eine Wahl?

Das Gerücht ist das Medium der neuen Zeit. Legenden überformen Geschehenes und schaffen eigene Realitäten. Ängste werden echt, die Angst vor Gehörtem, das nicht verifizierbar ist, weil jeder eine andere Geschichte erzählt und Erfahrungen nicht teilbar, nicht mitteilbar sind.

Silvio fährt zu Hannah. Es dämmert auf dem Weg überm Ostkreuz. Hannah wohnt schon allein. Sie ist raus bei der Mutter und bewohnt ein Zimmer am Bahnhof in Lichtenberg, ein Krähennest im letzten Seitenflügel der Straße. Hannah ist schwarzhaarig und tough, ein wildes Wesen mit ausgeprägtem Sinn für verrückte Sachen seit 17 Jahren.

Die Zeit ist reif für Verrücktheiten, die geraden Wege sind verloren gegangen im Chaos der Krise. Auch für die Mainstreamer, die starr sind vor Angst, in der Schule hocken mit den anderen Flaschen und der Lehrerin. Kein Job in Aussicht, weil es keine Berufe mehr gibt in einer zerbrochenen Wirtschaft. Ein filigranes Gefüge aus tausenden Ausübungen für Mindestlöhne und Leistungsentgelt hat sich in einem Strudel stürzender Aktienkurse aufgelöst. Ein paar haben es schon lange prophezeit, der Rest hält die Fresse, weil Fernsehen nicht mehr geht ohne Satelliten-Empfang. Und welcher Quotenheini reißt schon das Maul auf ohne Publikum? Wer kann, sucht das Weite, verschanzt sich mit seinem Auf-Seite-Gebrachten hinter hohen Zäunen und Wachschutz. Es gibt noch nette Ecken, Protected Areas mit Badesteg und Yachthaus.

Silvio poltert die Treppe hoch. Hannah ist nackt unter der Decke. Silvio riecht nach Frost und Gewalt. Er hat Wodka dabei. Sie fallen übereinander her wie Raubtiere.

Den Morgen verschlafen sie, Zeit ist irrelevant. Sie liegen unter der Decke, reiben ihre Körper aneinander, gierig. Der Himmel ist frostblau im Schimmer der Eisblumen am Fenster, kleine Kosmen, die sich auflösen in Rinnsale. Alles ist vergänglich jetzt, sie leben von einem Tag zum nächsten. Silvio fährt nach Hause, die Mutter ist krank, schleppt sich durch die Wohnung, kämpft gegen die Lethargie. Sie weiß, dass sie stirbt, wenn sie aufgibt, aber sie hat kein Ziel mehr. Der Sohn wird leben, er ist stark. Sie will kein Ballast mehr sein. Silvio kocht Tee, wickelt seine Mutter in Decken. Er sitzt bei ihr, hält ihre Hand, stundenlang, schweigend.

Sie schläft die meiste Zeit, glücklich, ihn zu spüren, wenn sie aufwacht, glücklich, wieder einzuschlafen ohne allein zu sein. Hannah bringt Brot und Käse, ein paar Äpfel. Eine Familie, das Letzte, was Bedeutung hat. Geborgenheit spüren bei dem, der so lange Geborgenheit fand bei ihr. Sie spürt keine Trauer, keine Verzweiflung. Ihr Kampf geht dem Ende zu.

Ein paar Tage noch, ein paar Wochen. Keine Worte. Es gibt nichts zu reden.

Silvio und Hannah fahren rüber nach Neukölln. Treffpunkt ist eine Brache am Ende des Kiehlufers, verlorener Ort zwischen den Ghettos der Asozialen. Verwahrloste Lauben einer verwilderten Gartenkolonie. Schornsteine rauchen. Malik, Kevin, Charlie, Lennox, Haluk und ein paar aus seiner Gang reiben sich die Hände am Feuer, Pupillen wie Nadelspitzen, Gejohle, Geprahle, Wodka. Die beiden stehen schweigend dabei, rauchen, keine Fragen.

Später ziehen sie Bilanz. Silvio ist teilnahmslos, fühlt sich leer, ausgelaugt, wünscht sich fort in ein sprachloses Nichts. Hannah hält seine Hand. Ohne Hannah wird er untergehen, sich fortsprengen in ein anderes Universum.

 

Silvio wird die Stadt verlassen. Er wird mit Hannah gehen. Anne und Olli haben ein paar Zimmer in ihrer Scheune eingerichtet, ein verstecktes Fleckchen zwischen verstreuten Hügeln, ein Garten, Hühner und Ziegen, der Hund Knuff, Ken und Barbie, die unzertrennlichen Schweine, ein völlig verrückter Ofen in einer noch verrückteren Küche, überall riecht es nach Überraschung. Zwei Verrückte der vorletzten Generation, Bastler und Improvisateure. Anne war seine Betreuerin im Jugendcamp, als sie ihn wegen Raub und schwerer Körperverletzung zu zwei Jahren verdonnert hatten. Nach und nach hatte er Zutrauen gefasst zu dieser resoluten Frau, die auch mal hinlangte, wenn gar nichts mehr ging. Sie hatte ihn gedemütigt und wieder aufgerichtet, so viele Male. Am Ende war er Wachs unter ihren Händen, eine Aura von Kraft und Willensstärke umgab sie. Jeder Widerstand, den er ihr entgegen gesetzt hatte, prallte ab in seine Richtung. Heftig!

Und trotzdem brachte sie ihm Respekt entgegen. Glaube und Zweifel, Wut und Scham, Widerstand und Demut. Es ist ein Spiel, sagt sie. Ein großes, ernstes, unverständliches Spiel, dessen Regeln man ergründen muss. Du stehst einfach zwischen zwei Polen, um dich ist alles voller Energie, die deinen Willen entfacht. Aber was tust du, was leitet dich? Benenne es!

Leg dich hin, leg dich schon hin! Schließ die Augen, stell dir was Schönes vor, ein Mädchen! So mit langen Haaren, du weißt schon, dann lacht sie ihn an, vielleicht spöttisch, vielleicht im Scherz, er weiß es nicht, weiß nie, ob sie seine Gedanken liest. Und du gefällst ihr! Vielleicht willst du ihr eine Freude bereiten. Ihr zeigen, was für ein toller Kerl du bist. Bleib einfach liegen und stell dir was Schönes vor! Dann zeigst du es mir.

Silvio hatte den halben Tag auf der Wiese im Garten gelegen, unter seinem Lieblingsbaum. Den anderen halben lief er rauchend übers Gelände und wich ihrem Lächeln aus.

 

Er kann nicht in der Stadt bleiben. Es ist wegen Ma. Das alte Spiel ist in vollem Gang, aber die Allianzen sind brüchig, das spürt er. Es gibt keine festen Regeln. Liebe ist das Höchste, das du gewinnen kannst, aber es macht dich verwundbar. Charlie ist lapidar in solchen Dingen. Vertrauen gegen Verletzbarkeit. Anne schaut zu. Sie lächelt nur selten. Sie wird die Beute akzeptieren, die er mitbringt. Sein Anteil, den er in Nützliches umsetzen wird. Alles, was dem Leben dient, sagt sie, ist nützlich. Es ist mir egal, wie viel es in deiner Währung kostet, in Blut, Verblödung oder Ausflucht. Du kennst die Bedingungen für Liebe und Respekt.

Hamad zum Beispiel muss man nicht lieben. Aber Respekt haben muss man, weil Hamad alles besorgt, was man mit Waffen, Drogen und Heizöl bezahlen kann. Er arbeitet die Liste ab, die Silvio von Olli hat, frei Haus für schlappe zehn Prozent. So sind die Spielregeln.

Ma wird gesund werden unter Annes Händen. Er hofft es.

Aber die Jungs..., er wird die Gruppe spalten. Kevin wird mitziehen, wegen Olli, Malik auch. Charlie wird lächeln. Wie Anne, leicht spöttisch. Aber er kennt Charlie. Wer Charlie kämpfen sieht, kennt ihn. Auch vor ihm haben sie Respekt, aber junge Hunde folgen ihrem Instinkt. Kampf ist permanenter Untergang. Charlie wird lächelnd untergehen. Die Chancen stehen gut, dass sein Wunsch sich erfüllt.

 

Frühling

Wochen später, an einem sonnigen Tag im Spätmärz treffen sie Charlie am Russischen Ehrenmal. Die beiden Männer wirken verloren zwischen den roten Granitrampen, unter den knienden Rotarmisten. Lange stehen sie nebeneinander. Silvio erzählt von Ma. Wie sie im Garten sitzt unterm Nussbaum, mit geschlossenen Augen, aber hellwach lauschend, horchend, den noch kalten Wind in den Haaren. Die vielen Düfte, Schweinegrunzen, Gebell, Annes Stimme aus der Werkstatt, Formationen von Zugvögeln in ihren Gedanken. Es gibt viel zu tun auf dem Hof. Ein Weilchen wird sie noch bleiben.

Charlie nickt. Beharren und Sehnsucht, Stolz und heimlicher Traum. Sie umarmen sich. Dann geht Charlie. Wie John Wayne, mit klirrendem Gürtel, cool wie immer.

Das Paar bleibt zurück, steht vorm Gräberfeld, Hand in Hand.

Hannah: "Ein perfekter Landeplatz für Aliens. Sagen wir mal in 50 Jahren. Dann bist du 75."

"Sie werden uns mitnehmen und wir werden unsterblich. Und bis dahin? Niemand wird hier mehr den Rasen mähen, die Hecken schneiden, die Steine richten. Was sich durchsetzt, wird wachsen. Pioniere der Fortentwicklung, Flechten, Moose, Gräser, Kräuter, Sträucher…, Birken. Die beiden Pappelreihen vor der knienden russischen Mutter werden in wildem Durcheinander, von Stürmen gebrochen, den Weg versperren, den sie einst säumten. Und überschattet wird alles von mächtigen Platanen, deren weit ausladende Äste von oben aussehen wie Nester. Aber über alldem wird der Sieger, ihr Sohn, erhobenen Hauptes sein eigenes Kind tragend, die Stadt überschauen."

Holger Hermann - Der Klassenbeste

 

Holger Hermann
Der Klassenbeste

 

Herbst, ein ruhiger Sonntagmorgen, die Luft kühl und voll mit dem würzigen Geruch nach Vergänglichkeit, nach modernden Blättern und nassen Straßen.

Aus einer Wohnung kurz vor dem Bahnhof Ostkreuz erklingt: "Als ich fort ging" von der Gruppe Karussell. Da ich es nicht eilig habe, bleibe ich stehen und höre zu. Regentropfen fallen sanft auf mein Gesicht und kriechen durch die Kleidung auf meine Haut. Bei Regen sind weniger Menschen auf den Straßen unterwegs, was für mich das Gehen einfacher macht.

Ich bin fast blind. Amtlich sehbehindert, wie 1,25 Millionen Menschen in Deutschland. Die Tage bleiben für mich dunkel, höchstens Umrisse kann ich erahnen. Um nicht unnötig aufzufallen, benutzte ich keinen Blindenstock.

Mühsam bewege ich mich im Strom der Fußgänger als ein unliebsames Hindernis mit. Autofahrer hupen oft, weil ich nicht schnell genug die Fahrbahn überquere. Gehwegpollern, Bordsteinkanten oder den in meinen Erinnerungen ewig grauen Pfützen versuche ich meist vergebens auszuweichen. Auf dem Bahnhof warte ich dann unschlüssig, ob ich mich nicht verhört habe und wirklich in den richtigen Zug einsteige. Vor allem versuche ich aber, die Stimmung auf dem Bahnsteig und im Zug einzufangen. Denn nicht selten ist solch eine Reise mit Gefahren und Demütigungen verbunden. Habe ich den Tag überstanden, bin ich glücklich, auch ohne fremde Hilfe einmal aus meiner Wohnung raus gekommen zu sein.

Blind sein in einer Stadt wie Berlin ist ein einziger Kampf. Immer mehr Jugendliche und Erwachsene machen sich einen Spaß daraus Blinde zu betrügen, grundlos zu beleidigen oder Schlimmeres, sobald sie uns erkennen. Ist Ihnen schon mal als Nochsehender aufgefallen, dass in Berlin kaum noch Blinde unterwegs sind?

Obgleich dieser Ängste, reise ich Jahr für Jahr, trotzig zu Torstens Grab. Denn aus Verzweiflung wächst das Hoffen.

Ich weiß, meine Bewegungen beim Laufen sind abgehackt und unschön anzusehen. Mein Aussehen ist wenig gepflegt und die Zusammenstellung meiner Kleidung ist wohl ziemlich grell. In den Geschäften dreht mir das Verkaufspersonal, trotz meiner Nachfragen, häufig mit größter Liebenswürdigkeit die buntesten Sachen an.

Dabei kann jeder blind werden. Bei mir war es kein spektakulärer Unfall, sondern Venenthrombose im linken Auge. Dabei kommt es zu einem Schlaganfall im Auge und Blut sickert in das Auge ein. Trotz mehrer Operationen griff sie schnell auch auf das rechte Auge über und nun muss ich mit dem Verlust lernen zu leben.

Ich habe Berlin langsam mehr und mehr in kakaofarbenen Licht, durchzogen mit Milchschaum, verschwinden sehen. Das lag nicht etwa daran, dass alles so angemalt wurde, sondern weil mein Augenlicht einfach im Blut ertrank. Am schlimmsten ist die ständige Angst davor, dass auch der kümmerliche Rest meiner Sehkraft eines Morgens verschwunden ist.

Ab meiner Wohnungstür bis zum Grab habe ich den Weg auswendig gelernt. Es ist jedes Mal ein befriedigendes Glücksgefühl für mich, die Buchstaben auf dem kalten Stein mit den Fingern zu erfühlen und nach einem Jahr wieder zu erkennen. Seit meiner Erblindung weiß ich, Trost ist so vergänglich wie Glück.

Torstens Grab befindet sich auf dem Friedhof in der Germanenstraße in Pankow. Es ist mit neuen Blumen bepflanzt, wie ich erst roch und dann befühlte. Das Grab ist seit Jahren gut gepflegt. Der Friedhof war kürzlich geschlossen worden, wir mir eine alte Frau später von der großen Infotafel vorlas. Alte Gräber hätten aber noch 30 Jahre Bestandsschutz. Die kleine Holzbank, auf der ich zum Abschluss meines Besuchs immer gesessen hatte, war schon verschwunden. Dort hatte ich immer dem Wind und den Erinnerungen der alten Frauen gelauscht und Kraft für die Heimfahrt gesammelt.

War ich alleine, so kehrten die gleichen unbeantworteten Fragen zurück: War Torsten wirklich so gestorben, wie sie es uns damals erzählten? Dachte der Todesschütze noch an Torstens Tod? Hat er nach der Wende die Welt gesehen? Sich verliebt, Kinder gezeugt, Karriere gemacht? Führt er heute ein glückliches Leben?

Es war Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die letzten Jahre der DDR, da saß ich während meiner Berufsausbildung neben Torsten. Jeden Morgen trafen wir uns auf der gleichen Bank am oberen Bahnsteig des Bahnhofs Ostkreuz und fuhren nach Pankow. Die Klasse hatte eine heute wohl nicht mehr mögliche soziale Mischung. Neben Arbeiterkindern gab es auch Kinder von Diplomaten oder Betriebsdirektoren, die schon alle charakterlichen und familiären Voraussetzungen für eine spätere Karriere hatten. Leonard war so einer. In der Klasse gab er den rotzigen Punker im Tote-Hosen-Outfit. Gegenüber Lehrern war er nicht Rebell, sondern zuckersüßes Diplomatenkind. Zu Hause bei sich mutierte er zum Spießer, der Häkeldeckchen unters Trinkglas schob. Bei Besuch sperrte er hektisch das mit Westsachen vollgestopfte Wohnzimmer ab. Nachmittags verwandelte er sich dann zu einer Kopie des Popstars George Michael und stolzierte stundenlang in strahlend weißen Sachen, als leicht exotischer Anblick, zum Tennisplatz.

Torsten dagegen war unser unangefochtener Klassenbester. Er lernte ein halbes Jahr früher als wir anderen aus und ging sofort freiwillig zum Wehrdienst. Im Sommer kam er sichtbar stolz in Ausgehuniform zur feierlichen Verabschiedung der Klasse. Na ja, es gab wohl auch von der Armee Geld, wenn man zu Hochzeiten oder anderen festlichen Veranstaltungen in Uniform ging. Im Herbst stand die Klasse dann sichtlich unbeholfen vor seinem Grab. Torsten soll bei einer Wachdienstübernahme in einer Kaserne in Sachsen erschossen worden sein. Geschah es durch Unachtsamkeit oder sinnloser Spielerei in einer tödlich langweiligen Nacht? Was man bei dem hundertmal eingeübten Ablauf eines Wachwechsels von Waffe entladen, sichern und dann die Waffe vorzeigen falsch machen kann, ist mir bis heute ein Rätsel!

Denke ich an Torsten, höre ich zuerst sein ansteckendes Lachen. Dann sehe ich einen fröhlichen, schlanken Achtzehnjährigen mit lockigen Haaren und stets aufmerksamen Augen. Diese sahen vorsichtig hinter einer Brille die Welt an. Seine Bewegungen waren, nicht nur wenn er seine Brille putzte, von chirurgischer Präzision. Er war der einzige, bei dem ich ins Grübeln kam, ob sein offen geäußerter politischer Idealismus aufgesetzt war, um Karriere zu machen, oder wirklich innerer Überzeugung entsprach. Zur jährlichen Erster-Mai-Demonstration war Torsten derjenige aus der Klasse, der die Fahne selig bis zur Erschöpfung trug.

Mit unglaublicher Leichtigkeit erzielte er durch seine blitzschnelle Intelligenz sowohl im sprachlichen wie im mathematischen Bereich außergewöhnliche Leistungen. Dazu konnte er gut reden, aber was dann selten ist, auch gut zuhören. Er war hilfsbereit, unterstützte andere nicht nur durch schulische Hilfestellung, sondern baute sie auch nach Rückschlägen auf. Wegen dieser positiven Ausstrahlung war er in der Klasse beliebt und viele suchten eine Freundschaft zu ihm aufzubauen.

Und er war Teil eines uralten Spiels, welches so in jeder Schulklasse zu jeder Zeit abläuft. Leonard, der sich gerne aufspielte, sah in Torsten vor allem den intellektuellen Aushang für seine Clique. Torsten lächelte meist spöttisch mit einem Schuss Schüchternheit zu Leonards Prahlereien über angebliche Schlägereien oder dass dieser nach dem Unterricht schon wieder auf seine Freundin rauf wollte. Darauf angesprochen, meinte Torsten, man müsse ihn nur in die richtigen Bahnen lenken, und erlag trotz all seiner Klugheit der Faszination des Chamäleons Leonard.

Damals belustigte mich das alles mehr, als das es mich wirklich beschäftigte.  

 

Die Sonne war während der Rückfahrt hervorgekommen, wie ich auf meinem Gesicht spürte, als ich nin Erinnerungen versunken, mich kurz auf dem Nachfolger unserer alten Bank auf dem Bahnhof Ostkreuz niederließ. Während ich mein Gesicht den Sonnenstrahlen entgegenhielt, wehte wie immer ein kühler Wind mit diesem typischen kohlehaltigen rußigen Geruch, vermischt mit dem Lärm und den Abgasen der Kynaststraße. Etwas störte mich. Wahrscheinlich wurde ich nur wie so oft angestarrt. Als ich dann Schritte näher kommen hörte, richtete ich mich ein wenig auf, sah aber erstmal nicht mal die üblichen kümmerlichen Umrisse, weil ich direkt in die Sonne sehen musste. Es war die Stimme eines Mannes, die mich fragte, ob er sich zu mir setzen könne, was ich auf einen S-Bahnhof als leicht komisch empfand. Der Fremde suchte das Gespräch und fragte: "War es nicht ein schöner Tag zum Besuch eines Friedhofes?" Überrascht bejate ich. Fieberhaft analysierte ich dabei die Stimme des anderen. Sentimental gestimmt dachte ich, dass könnte die Stimme von Torsten sein. War ich schon so verwirrt? Vor einer Stunde hatte ich doch noch vor seinem Grab gestanden. Der Fremde sagte freundlich: "Ich habe Sie vorhin auf dem Friedhof in Pankow gesehen. Sie sehen wohl nicht mehr so gut", sagte er mitfühlend und doch gleichzeitig kühl, beinahe lauernd. Für einen Moment dachte ich ängstlich, dies ist die Stimme eines Typs, der mich bis hierher verfolgt hat, überfallen will und zuvor ganz sicher gehen will, dass ich ihn später nicht identifizieren kann. Wegen des frühen Sonntagvormittags waren auf dem Bahnhof kaum andere Reisende zu hören, was mich noch unsicherer machte. Deshalb erwiderte ich: "Ich kann schlecht sehen, aber das Wesentliche erkenne ich." Das Lächeln in seiner Stimme darauf konnte ich förmlich hören, als er meinte: "Das ist ja das Wichtigste im Leben."

"Das Grab, das Sie besucht haben, kenne ich auch", waren seine nächsten Worte, die sich mir für immer einbrennen sollten.

"Eine zugegeben sonderbare Frage. Würden Sie es glauben, dass Torsten noch lebt?"

"Was?", sagte ich empört, "er liegt in Pankow begraben!"

"Ja, dort ist ein Grab", sagte er bestimmt, "aber angenommen, sein Tod beim Wachwechsel war nur eine Erfindung. Wieso fehlt sein Name auf der Ehrentafel der Kaserne, der im Dienst verstorbenen Soldaten? In Wirklichkeit wurde Torsten so etwas wie ein Spion, ging in den damaligen Westen und lebt, unter neuer Identität, bis heute".

Der Fremde wusste also von dem Unfall beim Wachwechsel? Meine Erinnerungen an die Beerdigung waren doch eindeutig. Torstens weinende Schwester am Grab, daneben vier bleiche kindliche Soldaten, der schmerzerfüllte Blick seiner Mutter, der letztendlich doch nur fragte: "Warum mein Kind?"

Für mich war das alles unglaubhaft. "Wer sind Sie?", waren meine Worte, als ich ihm, einer fixen Idee folgend, unbeholfen ins Gesicht griff, um seine Konturen zu ertasten. Ohne Erfolg. Wenn ich gehofft hatte, Torstens Gesicht zu erfühlen, so gelang mir das nicht. Das einzige, was ich an dem Gesicht des Unbekannten fühlte, es befand sich kein Gramm überflüssiges Fett zuviel darauf und war doch jugendlich glatt und wie geschminkt. Könnte es jemand anderes aus der früheren Klasse sein? Leonard hätte sicher seinen diabolischen Spaß an dieser Szene, aber die Stimme und die Gesichtskonturen passten nicht zu ihm.

Diese Stimme hier war reine selbstbewusste Oberfläche. Sie modellierte ihre Wörter freundlich und ruhig, fast elegant, ohne jede Betroffenheit, vielleicht mit einem Hauch von abtrainiertem sächsischen Dialekt.

Der Fremde ließ die Prozedur, nach einem kurzen Zeitraum der Unsicherheit vor der körperlichen Berührung, still über sich ergehen. "Was wollen Sie?", fragte ich ratlos und senkte meine Hände wieder. In meiner aufkommenden Verzweiflung passierte es, erregt sagte ich: "Sie sind der Todesschütze!" Unendliche Stille, eine Hand drückte leicht meinen Arm.

"Ich war ein Freund von Torsten, wie Sie", war sein kurzer Kommentar. "Menschen existieren so lange wie sich jemand an sie erinnert".

"Es ist schön, dass Sie Torsten nicht vergessen haben", waren seine Worte, als er aufstand und sich schnell entfernte.

"Wieso erzählen Sie so etwas?", rief ich ihm hinterher. Mein Körper wollte aufspringen, rutschte aber nur von der Bank. Mein Verstand wusste, es ist zwecklos für mich ihm zu folgen. Er ließ mich zurück mit all meinen Fragen nach dem Warum und Wieso. Hatte ich etwa mein halbes Leben mit einer Legende verbracht?

Wahrscheinlich wollte sich doch nur irgendjemand einen makaberen Scherz mit mir machen. Tödliche Unfälle bei der Armee blieben zu allen Zeiten meist ungeklärte Vorkommnisse und sind doch häufig erklärbar.

 

Ein paar Wochen später hörte ich, am geöffneten Fenster stehend, gespannt einer TV-Show zu, bei der sich Leute tränenreich wieder miteinander versöhnten. Dabei erkannte ich plötzlich die Stimme vom Ostkreuz wieder. Sie war nur ein Tick emotionaler. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie diesen kleinen sächsischen Einschlag, der mich dann ganz sicher werden ließ.

Es war die Stimme des Moderators der Show.

Ein leichter Regen wischte mir meine Tränen vom Gesicht. Im gleichen Augenblick konnte ich wieder etwas besser sehen.

Als nächstes werde ich mich mit der Geschichte als Kandidat für die Show bewerben. Wie wird der Moderator reagieren?

Hans Joachim Kleinschmidt - Die Liebe ist ein seltsames Spiel!

Hans Joachim Kleinschmidt
Die Liebe ist ein seltsames Spiel!

 

Das Glück und auch der Zufall diktieren den Verlauf des Spiels.
In den Spielcasinos tummeln sich die Menschen
in der Hoffnung, den großen Coup zu landen!
Die Croupiers näseln emotionslos die sich wiederholenden Worte:
Mesdames et Messieurs — faites vos Jeux — machen Sie Ihr Spiel!

 

Heute, vor fünfzig Jahren, Bahnhof Biesdorf, der S-Bahnzug Richtung Friedrichstraße hält. Ich steige in das Abteil des letzten Wagens ein und bekomme einen Sitzplatz auf der Bank im Türbereich. Sofort krame ich aus meiner Aktentasche den "Schwejk" hervor, um mich von den kuriosen Abenteuern des braven Soldaten erheitern zu lassen. Etwas später reiße ich mich von der Lektüre los, schaue zum Fenster hinaus, oh, wir fahren schon in den Bahnhof Ostkreuz ein. Die Tür wird von außen geöffnet, es steigt eine Gruppe von drei Fahrgästen ein. Bei der dritten als letzte einsteigenden Person handelt es sich um ein junges Mädchen. Ich habe das Empfinden, als wäre sie von hellem Licht umflutet. Eine natürliche, ungeschminkte Schönheit. Sie befindet sich zweifellos in einem Gespräch mit den sie begleitenden Personen, welches sie nun mit einem fröhlichen Lachen fortführt.

Ich starre sie, ihren Liebreiz bewundernd, noch immer an. Als würde sie meine auf sie gerichteten Augen spüren, lässt sie ihrerseits den Blick in die Runde gehen und schaut dabei auch in meine Augen. Ohne zu blinzeln sieht sie mich an.

Der Zug ruckt an und ich senke meine Augen um die Lektüre fortzusetzen. Ich lese zwar die Zeilen, denke aber unentwegt nur an das Mädchen. Wie mag sie heißen, wohin fährt sie und wo wohnt sie? Vor allem was ermöglicht mir, ihre persönliche Bekanntschaft zu machen. Sofort fallen die mir anhaftenden Komplexe über mich her. Ich bin bereits zweiundzwanzig Jahre alt, sie erst siebzehn oder achtzehn Jahre alt. Ich befinde mich nach einer sechsjährigen schweren Erkrankung mit einer Querschnittslähmung in der Rekonvaleszenzphase. Zurzeit bin ich gerade dabei, als Schreibkraft beruflich wieder Fuß zu fassen. Mein Körper ist mit diversen Operationsnarben gezeichnet, die allerdings im bekleideten Zustand unsichtbar bleiben. Sie dagegen jung, schön und gesund, jedenfalls äußerlich betrachtet. Habe ich eine Chance, das Recht mich ihr zu nähern? Während des Jonglierens dieser Gedanken muss ich, wenn ich mich unbeobachtet fühle, zwangsweise zu ihr hinschauen.

Bahnhof Friedrichstraße, sie und ihre Bekannten steigen aus. Ich muss ebenfalls aussteigen, verliere sie aber in dem Gedränge aus den Augen.

Ihr Blick in meine Augen und ihr liebes Gesicht begleiten mich in der Erinnerung den ganzen Tag. Die folgende Nacht vergeht zum Glück traumlos. Deshalb glaube ich am nächsten Morgen dank meiner Komplexe schon etwas Abstand gewonnen zu haben.

Der Spieler in mir lässt mich trotzdem das gleiche Abteil benutzen. Dann Bahnhof Ostkreuz, die Tür öffnet sich und das Prozedere vom Tag zuvor wiederholt sich. Ich bin wie von grellem Sonnenlicht geblendet. Die Augen des fröhlichen Mädchens wandern zunächst über die Gesichter der sitzenden Fahrgäste und schauen dann wieder in meine Augen. Wie gestern hält sie meinem Blick stand. Meine Gedanken beginnen sofort mit dem Spiel des Für und Wider.

So vergingen die nächsten Tage und Wochen: Himmelhoch jauchzend, wenn ich sie sehe. Zu Tode betrübt, wenn ich mit meinen Gedanken allein bin.

Heute ist Freitag, der letzte Tag des Zeitarbeitsvertrages. Ich hatte während der gesamten Zeit keine Gelegenheit mich ihr zu nähern, sie anzusprechen ohne sie zu kompromittieren. Allerdings auch noch keine gute Idee dazu. Ein trauriges Wochenende steht mir bevor, denn ich werde ja am Montag nicht mit der S-Bahn über Ostkreuz nach Friedrichstraße fahren!

 

Die Spieler und Glücksritter leben nach dem Motto: Corriger la fortune – Korrigiere das Glück!

Nun wurde ich in dieser, meiner Herzensangelegenheit auch ein wenig zum Spieler. Ich benutze am Montagmorgen bereits zehn Minuten früher die S-Bahn bis Ostkreuz. Dort postiere ich mich in der Nähe der Treppe zur Ringbahn. Jetzt hoffe ich, sie wird ohne Begleitung erscheinen. Tatsächlich, für mich schwebt sie regelrecht die Treppe hinunter. Mein Herz klopft zum Zerspringen. Ich gehe auf sie zu und wünsche ihr einen guten Morgen. Außerdem entschuldige ich mich sofort für meine überfallartige Ansprache auf dem Bahnhof. Dann frage ich sie, ob ich heute ihr Begleiter sein darf, aber zu diesem Zweck gern einen anderen S-Bahnwagen benutzen würde. Ohne ihre Antwort abzuwarten setze ich mich in Bewegung. Sie läuft neben mir her und mir fällt auf, dass sie noch kein einziges Wort gesprochen hat. Ich frage sie, ob sie über meinen plötzlichen Annäherungsversuch böse ist? Nun ließ sie ihr fröhliches Lachen erklingen und konterte: »Sie haben mich ja bis jetzt noch nicht zu Wort kommen lassen. Aber meine Antwort ist nein«, ich bin erschrocken, sie beendet den Satz dann aber so: »nein ich bin nicht böse und Sie dürfen mich begleiten«. Jetzt konnten wir die Fahrt und den Weg zu ihrer Arbeitsstelle ungestört zum Plaudern nutzen. Als sie erfährt, dass ich nicht zum Dienst muss, sondern nur ihretwegen aufgestanden und noch eine S-Bahn früher gefahren bin, höre ich wieder ihr Lachen. Aber sie scheint doch ein wenig beeindruckt ob der Ernsthaftigkeit meiner Absicht. Ich habe ihr Alter richtig eingeschätzt, sie ist siebzehn Jahre alt und befindet sich in der Ausbildung. Sie gehört einem Schwimmverein an und geht wöchentlich zweimal zum Training. Ihr Heim ist die elterliche Wohnung in Ostkreuz. Die Eltern besitzen außerdem ein Wochenendgrundstück. Oh weh, Ausbildung, Schwimmtraining und Garten, das sieht nach stark eingeschränkter Freizeit aus. Denn ich gehe trotz meines "hohen Alters" zur Volkshochschule. Montags zur Musiklehre und am Mittwoch zum Klarinettenunterricht. Ich werde darauf getrimmt, im Laiensinfonieorchester Pankow mitzuwirken. Dann würde der Freitag für Orchesterproben gebucht sein. Ihre Trainingstage sind Dienstag und Freitag. Da bleibt nur der Donnerstag als einziger unbesetzter Wochentag. An den Wochenendtagen muss sie die Einsätze zu Schwimmwettkämpfen oder zur Gartenarbeit, ich dagegen zu Konzerten einplanen. Das sind leider keine rosigen Zukunftsaussichten!

Nein, ich bin kein notorischer Pessimist. Ich habe in den zurückliegenden Jahren meinen Optimismus wie einen Schatz gehütet. Das war die größte Hilfe aus meiner gesundheitlichen Misere herauszukommen.

An den folgenden Tagen erwarte ich sie vor ihrer Arbeitsstelle, um die für den Heimweg benötigte knappe Stunde zum Schwätzchen zu nutzen.

Wir sprechen über Gott und die Welt. Die weltlichen Themen lassen eine Vielzahl von Übereinstimmungen zwischen uns erkennen. Zum Beispiel klassische Musik, gute Literatur und Interesse für Sport und Reisen. Zum Thema Gott und die Kirche driften unsere Ansichten doch auseinander. Sie ist streng katholisch erzogen und aufgewachsen. Ich dagegen evangelisch und mit meinen kirchlichen Seelsorgern auf dem Kriegsfuß, hatten sie mich doch während meiner langjährigen Krankheit im Stich gelassen. Aber auch ohne kirchlichen Beistand erlangte ich nach einer bereits siebzehn Monate andauernden Querschnittslähmung die Gebrauchsfähigkeit meiner Füße und Beine zurück. Über das Kapitel "Beichte" ihres Glaubens, haben wir erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Sie ist darüber etwas traurig, ich sage ihr deshalb, dass ich einem Menschen zuliebe sogar die Konfession wechseln würde.

Sie erzählt mir nun, dass ihre Eltern und sie am folgenden Sonnabend zum Herbstfest des Siedlerverbandes in die Dynamosporthalle Weißensee gehen werden.

Dann reicht sie mir zum Abschied die Hand. Ich greife ihre Hand, ziehe sie daran etwas näher zu mir heran und küsse sie auf den Mund. Es ist ein kurzer Kuss, mit geschlossenen Lippen. Dennoch steht sie stocksteif, verwirrt und erschrocken da, nach Worten suchend. Dann spricht sie, aber es klingt eher traurig als zornig: "Ich kann und will mir solche Zärtlichkeiten gegen meine Keuschheit nicht leisten! Ich bin noch nicht bereit und außerdem zu jung dazu!" Die Alternative ist, unsere noch so frische Freundschaft aufzuheben oder bis zu einem späteren Zeitpunkt zu unterbrechen! Ich bin über ihre Reaktion schockiert und hoffe, sie überdenkt alles noch einmal.

Am Sonnabend werfe ich mich in meinen "besten Zwirn" und fahre etwas später als zum offiziellen Einlass zur Sporthalle. Ich spekuliere darauf, dass einige der Gäste der Einladung nicht Folge leisten werden. Dann stehen für mich die Chancen bestens, hineingelassen zu werden. Gut gepokert, ich bekomme noch eine Eintrittskarte.

Nun schlendere ich durch den Saal und entdecke eine einsame, an einem Tisch sitzende Dame. Auf dem Parkett bewegt sich meine "Angebetete" mit einem Herrn, der ihr Vater sein kann. Nun leiste ich mir noch einen Rundgang durch den Saal, um mich dann in der Nähe ihres Tisches aufzuhalten. Wie auf Kommando ertönt die Stimme des Kapellmeisters, um eine Walzerserie anzukündigen. Ich begebe mich sofort zu dem Tisch, frage die Eltern höflich um Erlaubnis mit ihrer Tochter tanzen zu dürfen und fordere sie auf. Sie steht schon auf, bevor ihre Eltern ihre Zustimmung geben. Der erste Tanz ist ein Englishwaltz. Ich bin Walzerspezialist und es bedarf nur weniger Schritte, dann tanzen wir als haben wir nie etwas anderes getan. Es folgen zwei Wiener Walzer. Sie tanzt sportlich, leicht wie eine Feder.

"Frollein, könn' Se linksrum tanzen?" Jawohl auch das kann sie perfekt. Wir ernten am Tisch vorbeitanzend, ein wohlwollendes Lächeln ihre Mutter.

Als ich sie dann zum Tisch geleite, frage ich sie zaghaft, ob unsere Trennung tatsächlich beschlossen ist? Sie nickt und sagt: "Obwohl es mir jetzt noch schwerer fällt, ist es wohl das Beste so!" Ich schlucke mühsam, bedanke mich bei ihr und ihren Eltern für den Tanz und gehe an die Bar, um den bitteren Geschmack herunter zu spülen. Fünfzehn Minuten später haben sie und ihre Eltern die Halle schon verlassen.

Ich stehe mit meinen traurigen Gedanken allein auf weiter Flur !

 

Rien ne vas plus — Nichts geht mehr.

Die Würfel sind gefallen, die Karten sind verteilt, die Kugel senkt sich ins Noir – Zero

Gewinn — oder Verlust?!

Ich habe mein Spiel leider verloren!

Christa Block - Frühstück allein

 

Christa Block
Frühstück allein

 

Wie immer saßen die beiden in ihrer Fensterecke beim Frühstück. So lange sie zurückdenken konnte, war ein gemeinsames Frühstück für sie wichtig gewesen. Schon ihre Mutter sagte immer, ohne etwas zu Essen am Morgen geht mir niemand aus dem Haus. Und so hatte sie es auch in ihrer Ehe gehalten. Besonders freute sie sich, wenn ihr Mann, der immer etwas früher als sie aufstand, sie mit frischen Brötchen vom Bäcker überraschte und der Kaffeeduft schon durch die Wohnung zog, wenn sie aus dem Bad kam.

Zum morgendlichen Beisammensein gehörte auch das Lesen der Zeitung und oft genug las der eine dem anderen etwas vor. Gemeinsam ärgerten sie sich über die Politik und amüsierten sich über Klatsch und Tratsch.

Heute früh schien etwas anders zu sein. Die Zeitung lag noch ungelesen neben seinem Gedeck und sein Appetit schien ihn auch verlassen zu haben. Er knabberte noch immer an der ersten Brötchenhälfte herum.

"Was hast du, bist du krank?", fragte sie besorgt. Er schüttelte den Kopf, wurde aber auch nicht gesprächiger. "Du hast doch was, ich merke das", bohrte sie noch einmal und das half. "Ja, ich muss dir was erzählen."

Und so erfuhr sie, dass er vor ein paar Tagen einen ehemaligen Kollegen getroffen hatte, dem es nach einem Unfall nicht sehr gut ging. Darum hatte er versprochen, jeden Morgen zu ihm zu fahren und ihm beim Aufstehen und seinen Reha-Übungen zu helfen. Er wollte auch einkaufen gehen und etwas zum Mittag bereiten. "Ich will schon morgen da hin und du musst dann eben allein frühstücken, tut mir ja leid, aber ich habe es versprochen."

Sie wusste, dass ihr Mann hilfsbereit war, aber von diesem ehemaligen Kollegen hatte sie noch nie gehört. Frühstück ohne ihren Mann, wie sollte das denn funktionieren. Nicht, dass sie auf frische Brötchen wartete, aber so allein hier am Fenster zu sitzen, konnte sie sich nicht vorstellen. Ihr ging so einiges durch den Kopf, doch ändern konnte sie ja nichts mehr; er hatte es versprochen. Aber sie fragte wenigstens noch, ob er nicht erst nach dem Frühstück gehen könnte. Nein, das wäre zu spät, meinte er kurz und bündig.

 

Und so saß sie dann am nächsten Morgen und an weiteren Tagen allein beim Frühstück und hörte sich am Mittagstisch die Erlebnisse ihres Mannes an. Mehrmals hatte sie nach der Straße gefragt, in der der Mann wohnte, hatte sich auch als weitere Hilfe angeboten, doch ausgerechnet da bekam sie von ihrem Mann ausweichende Antworten oder er lenkte sofort ab. Das machte sie stutzig.

Sie waren über vierzig Jahre verheiratet und nie hatte jemand ein Geheimnis vor dem anderen gehabt, aber jetzt war sie misstrauisch geworden. Irgendetwas stimmte da nicht.

 

Eines Morgens, sie war ebenfalls früh wach geworden und schon fertig angezogen, als ihr Mann losging, kam sie auf die Idee, ihm nachzugehen. Auf der Treppe kicherte sie ein wenig bei dem Gedanken, ihn zu verfolgen. Als sie aus der Haustür kam, sah sie ihn schon an der nächsten Ecke in Richtung S-Bahn laufen. Nun aber schnell hinterher und nach einem schnellen Treppauf, sie war so richtig außer Atem gekommen, schaffte sie gerade noch die S-Bahn, in die ihr Mann eingestiegen war.

Er stand an der Tür und sie hatte ihn gut im Blick. Nach drei Stationen stieg er am Bahnhof Ostkreuz aus und sie war froh, dass es auf diesen alten Bahnsteigen mit den vielen Treppen Möglichkeiten gab, ungesehen hinter ihm herzulaufen.

Doch dann war er nur noch allein vor ihr und plötzlich drehte er sich um und sie konnte gerade noch in einen Hauseingang huschen. Als sie vorsichtig um die Ecke schaute, war von ihrem Mann keine Spur mehr. Sie blickte den Markgrafendamm entlang, nichts, keine Menschenseele und auch in der Persiusstraße entdeckte sie ihn nicht. Also war er wohl in einem der Häuser verschwunden, bevor sie aus dem Hauseingang wieder herauskam.

Sie kam sich plötzlich verlassen und verloren vor. Da lief sie, neugierig oder misstrauisch geworden, heimlich ihrem Mann hinterher. Was hatte sie denn zu entdecken gehofft? Dass er gar nicht zu seinem Kollegen ging, sondern zu einer Frau? Nein, an so etwas hatte sie nie gedacht. Da war sie sich ganz sicher! Aber was für ein Spiel trieb er? Warum wollte er ihr nicht klipp und klar sagen, wo er sich in den Vormittagsstunden aufhielt? Langsam machte sie sich auf den Heimweg. Nein, sie würde ihm nichts von ihrer sinnlosen Verfolgung erzählen, auch nichts mehr fragen, was seinen täglichen Hilfseinsatz betraf.

 

Inzwischen waren zwei Wochen vergangen und so wie er gestern sagte, müsse er noch ein paar Tage dranhängen. "Du siehst aber ziemlich kaputt aus, dir tut auch dein Rücken wieder mehr weh als sonst. Vielleicht brauchst du hinterher auch eine Reha-Kur, um dich wieder zu erholen." Er beruhigte sie und meinte, dass es eben etwas anderes sei, als jeden Tag zu Hause zu sitzen und nur ab und zu mal einen kleinen Bummel zu machen. Aber nun dauere es ja nicht mehr so lange, war seine abschließende Bemerkung.

Erneut war ihr Misstrauen geweckt worden und sie lief ihm wieder hinterher. Treppauf, rein in die S-Bahn, Treppen am Bahnhof Ostkreuz hinauf und hinunter und immer ihren Mann im Blick.

Und da sah sie auch, wie er am Markgrafendamm in einem Haus verschwand und noch bevor sie dicht davor war, kam er wieder heraus. Nicht allein, sondern in Begleitung einer Frau und beide stiegen in ein Auto, das vor dem Haus parkte. Wie vom Donner gerührt stand sie da. Also doch eine Frau! Und wie jung die war! Als sie direkt an dem Haus war, musste sie sich vor Schwäche anlehnen. Sie stützte sich auf den Tisch, der vor dem Schaufenster eines Lebensmittel- und Gemüseladens stand und konnte ihre Gedanken kaum ordnen. Neben ihr ging die Jalousie hoch und ein älterer Mann trat durch die Ladentür. "Brauchen Sie Hilfe? Sie sehen nicht gut aus; kommen Sie herein und setzen Sie sich einen Moment." Obwohl auch er scheinbar Probleme mit dem Laufen hatte, wollte er sie stützen und zur Tür führen.

Doch das wollte sie nicht. Er konnte ihr nicht helfen. Ihr Körper war in Ordnung, nur ihre Seele war kaputt. Sie bedankte sich kurz und ging mit schleppenden Schritten Richtung S-Bahn.

 

Warum spielte er mit ihr? Was heißt spielen, er betrog sie! Sie ließ ihre vierzig Ehejahre an sich vorüberziehen; was war falsch an ihrem Zusammenleben? Was hatte dazu geführt, dass sich ihr Mann eine andere Frau suchte und warum war er nicht so ehrlich, mit ihr darüber zu sprechen! Nein, dieses Spiel war vorbei. Mit mir nicht, sagte sie sich. Heute Mittag wird reiner Tisch gemacht.

Tief atmete sie durch, als sie hörte, wie er die Wohnungstür aufschloss. Kerzengrade stand sie in der Stubentür, um ihn gebührend zu empfangen. Sie hatte sich vorgenommen, gleich mit ihrer Anklage loszulegen, bevor er auch nur ein Wort sagen konnte. Doch dann war sie erst einmal sprachlos. Er hatte einen riesigen Strauß roter Rosen in der Hand. Ja, sprachlos war sie, aber in ihrem Kopf sprudelten die Gedanken nur so durcheinander. Er hatte also mitbekommen, dass sie sein Spiel aufdecken wollte, und nun kam er mit Rosen!

Ehe sie sich besonnen hatte, drückte er ihr die Blumen in die Hand und dazu einen großen Umschlag. "Du hast doch bald Deinen Siebzigsten. Und ich wollte dir etwas ganz Besonderes schenken, etwas, was du dir schon lange wünschst. Eine Kreuzschifffahrt. Und weil ja mein Taschengeld dafür nicht ausreicht, bin ich drei Wochen arbeiten gegangen und nun können wir eine schöne Reise machen. Was sagst du dazu?"

Sie sagte nichts, sie schämte sich. Wie konnte sie nach so vielen Jahren glücklicher Ehe nur plötzlich auf den Gedanken kommen, er hätte sich von ihr abgewandt. Und dann saßen sie beim Mittagessen und er erzählte, dass er in dem Gemüseladen, in dem sie sich beinahe zur Erholung hingesetzt hätte, ausgeholfen hatte, mit der Tochter Gemüse vom Großmarkt geholt und den alten Kollegen unterstützt hatte.

 

Zwei Monate später saßen die beiden bei einem Glas Sekt in der Bar auf dem Kreuzfahrtschiff und feierten den siebzigsten Geburtstag der Frau. Nun konnte sie doch nicht anders und erzählte ihrem Mann, dass sie sein Spiel, das er am Bahnhof Ostkreuz trieb, unbedingt durchschauen wollte und dass ihr das völlig missglückt war.

Roman Kieß - Spiel’s noch mal

Roman Kieß
Spiel’s noch mal

 

"Hey Kieß, du alte Rübennase." Erschrocken schaute ich hoch. Meine Verblüffung wich aber schnell der Freude. "Mensch, Schneider altes Haus. Du hier? In Berlin?"

Welch ein Zufall. Er legte mir seine große Pranke auf die Schulter.

"Du hast dich überhaupt nicht verändert seit damals", staunte ich.

 

Martin ist mein bester Freund. Wir kennen uns, seit ich denken kann. Schon als Dreikäsehochs, als wir noch laufen lernten. Aber wie kam er ausgerechnet hierher, nach Berlin, ans Ostkreuz? Mitten auf den Bahnsteig?

Martin ist alles andere als ein Anhänger des öffentlichen Nahverkehrs und wird es nie werden. Er hat von Haus aus eine Abneigung gegen alle Fahrzeuge, die er nicht selbst steuern darf. Wenn man wie wir auf dem Dorf aufgewachsen ist, gewöhnt man sich schnell daran, sich selbst um seine Fortbewegung zu kümmern. Tretauto, Tretroller, Fahrrad, Mofa, Moped, Motorrad, Auto und Traktor gehörten alle in unser Fahrzeugrepertoire. Da wollte man nicht auf das einzige öffentliche Verkehrsmittel zurückgreifen, den spärlich verkehrenden Postbus. Zudem hatte Martin seinen Traumberuf ergriffen: Er war Trucker geworden, Fernfahrer.

Aber das Wort Trucker verband für ihn das eher nüchterne LKW-Fahren mit dieser amerikanischen Mischung aus Countrymusik, Fernweh und Landstraßenromantik.

 

"Also wirklich Schneider, wir haben uns ja Ewigkeiten nicht mehr gesehen."

"Stimmt", meinte Schneider in seiner gewohnt lakonischen Art. Ich setzte an, noch etwas zu sagen, doch unvermittelt vermochte ich mich nicht mehr daran zu erinnern. Da war doch noch etwas. Obwohl es mir auf der Zunge lag, entzog sich mir der Gedanke als ich ihn aussprechen wollte.

 

"Komm, setz dich zu mir", forderte ich ihn auf. Eine S-Bahn ratterte rein, die Türen öffneten sich und spien eine eilende, drängende Menschenmasse aus, die sich aber innerhalb weniger Minuten zerstreute.

Seine ruhige, gelassene Art bildete einen starken Kontrast zu dieser Hetze.

Martin setzte sich.

"Was machst du hier?", fragte ich noch mal. "Ach, ich hatte eine Ladung für Berlin", brummelte er. "Ja und mit dem dicken Brummi kannst du abends nicht mal eben einen Stadtbummel einlegen", stellte ich fest. Dabei hätte ich es Martin zugetraut, einen solchen Stunt zu bringen, denn er war ein begnadeter Fahrer.

"Mensch Alter, mir fiel vorhin etwas ein, was ich dich unbedingt fragen wollte, doch ich komm ums Verrecken nicht drauf." "Keine Sorge", meinte er, "wenn es wichtig ist, kommt es wieder". Dieser Spruch hätte auch von meiner Mutter kommen können. Auf dem Dorf, dachte ich so bei mir, nähern sich die Generationen wohl schneller aneinander an als hier in der Großstadt.

"Du musst unbedingt Michaela kennen lernen", ich zückte mein Portemonnaie und war froh, dass ich letzte Woche ein Foto meiner Frau eingesteckt hatte. Ich zog das Bildchen heraus und zeigte es ihm. Martin hielt das Passfoto ins Licht und mit einem lang gezogenen "Hmmmmh" und dem Hochziehen seiner linken Augenbraue drückte er wohlwollenden Beifall zu meiner Wahl aus.

"Hast du Zeit?", bohrte ich nach. Schnell verwarf ich meine Pläne. Für Martin ließ ich gern alles stehen und liegen. Nach einem Jahr in Berlin hatte ich noch keinen wirklichen Freund gefunden. Einige Bekanntschaften, aber das würde noch Jahre dauern, wieder eine solche Freundschaft aufzubauen. Erst recht in unserem Alter, ich bin letztes Jahr 40 geworden.

Schneider nickte nur. Er nahm seinen Zigarettenstummel aus dem Mundwinkel, ließ einen letzten, prüfenden Blick darüber gleiten und schnippte ihn dann lässig Richtung Gleisbett.

 

"Weißt du noch? Damals in deinem Partykeller. Der Abend, an dem Angie so breit war?" Er musste grinsen und meinte: "Nicht nur Angie…" Ich fand Angela damals toll. Die kleine Italienerin war ein Temperamentsbolzen, wild, rotzfrech und bildhübsch. Martin stand über solch "kleinen Mädchen". Sie war zwei Jahre jünger als wir, deshalb belächelte er mich. An jenem Abend hatte ich ihr sogar einen Kuss abgerungen. Aber im wahrsten Sinne des Wortes. In dieser Nacht pennte ich ausnahmsweise bei ihm. Dabei hätte ich die vierhundert Meter locker nach Hause wanken können. Nussbaum, unser Dorf, ist nicht sonderlich groß.

 

Martins Schlafzimmer lag im Souterrain des elterlichen Hauses, neben unserem Partykeller. Er schlief grundsätzlich bei völlig geschlossenen Rollläden. Die einzige Lichtquelle waren die leuchtend roten, eckigen Ziffern seines Radioweckers und dessen pulsierender, klötzchenförmiger Doppelpunkt. Es war dermaßen Nacht in dem Zimmer, dass ich den Spruch "Es ist so dunkel, dass man die Hand vor Augen nicht sehen kann." erstmals verstand. Ich habe es ausprobiert. Meine Hand war nur wenige Millimeter vor meiner Nasenspitze. Sogar ihre Wärme war im Gesicht zu spüren, doch es gelang mir selbst nach mehreren Minuten nicht, sie zu sehen. Nicht einmal Umrisse. Einfach zappenduster.

 

In Erinnerungen versunken saß ich neben ihm und starrte in die Ferne. Langsam fokussierte sich mein Blick und ich sah den Fernsehturm im roten Abendlicht glühen. Doch Martin würdigte dieses Schauspiel mit keinem Blick. Sein Gesicht drückte Gleichmut aus. In der ihm ungewohnten Großstadt ist er trotz allem ganz er selbst. Mutig und furchtlos. Nie hatte ich ihn ängstlich erlebt. Mit seinen 1,90 Meter und seinem Tartarenbart wirkt er aber auch ziemlich martialisch. Hinter dieser eindrucksvollen Fassade lässt sich ein gutes Herz unschwer verbergen.

 

Schneider war mit Leib und Seele Heavy-Metal-Fan. Ein Rocker wie er im Buche steht. Unzählige Stunden unseres Lebens haben wir in seinem Zimmer zugebracht und irgendeiner der zahllosen Hardrock-Bands gelauscht. Er hatte sie unermüdlich auf seiner Stereoanlage rauf und runter gespielt. Langspielplatten von AC/DC, Motörhead, Molly Hatchet und wie sie alle hießen. Oft spielte er Luftgitarre dazu und vermochte sich so richtig reinzusteigern. Dann forderte er mich auf, mit einzusteigen. Ab und an, nach langer Gestikuliererei, ließ ich mich dann doch herab, meine Luftgitarre mit ihm anzustimmen.

Nie habe ich verstanden, wie er daneben diesen Trucker-Country-und-Western-Schmus hören konnte. Absolut krasse Gegensätze. Mir gefiel beides nicht besonders. Aber wenn man es lange genug hörte, fand man doch an dem einen oder anderen Hardrock-Stück Gefallen. Wir spielten Luftgitarre zu "Hells Bells" von AC/DC oder "Smoke on the water" von Deep Purple. Und Martin hielt den Takt, indem er während des imitierten Gitarrenspiels ein charakteristisch gezischtes "Tschuff, Tschuff" intonierte und dabei mit jedem "Tschuff" den Kopf nach vorne stieß.

 

"Weißt du, woran ich gerade denke?", fragte ich ihn. "Klaro", seine Augen leuchteten. Wie konnte er das wissen?

Und wieder grübelte ich nach, da war etwas nicht zu Greifendes, das ich ihm aber unbedingt mitteilen musste. Was war es nur?

Mit einer lässigen Bewegung seines Unterarms stieß er mich an die Schulter. "Auf geht’s, Kieß, los komm, 'Hells Bells'…" Martin forderte mich mit einer Kopfbewegung auf. Plötzlich war er auf die Bank gesprungen, kniff sein Gesicht vor Konzentration zusammen und hielt eine imaginäre Gitarre in seinen Händen.

Peinlich berührt schaute ich mich um, ob die Leute auf dem Bahnsteig uns beobachteten.

"Auf, Kieß, sei kein Angsthase", feuerte er mich an.

 

Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass ich Martin ein einziges Mal in seinem Leben ängstlich gesehen hatte. Es war eine Woche vor seinem 21. Geburtstag. Ich war nicht wenig verwundert, als er mich bei meinen Eltern aufsuchte. Denn sonst hatten wir uns immer auf dem Kirchplatz oder bei ihm getroffen. Er wirkte verunsichert und erzählte mir, dass er einen Unfall hatte. Er war nachts auf der Autobahn mit seinem LKW auf einen langsam fahrenden polnischen Kleinwagen aufgefahren. Die Leute waren mit leichten Verletzungen davongekommen, doch es hätte schlimm ausgehen können. Martin berichtete von wiederholten Schwierigkeiten, die er in der Nacht hatte. War es der Sekundenschlaf oder etwa Nachtblindheit? Erst vor wenigen Wochen hatte er zu einer Spedition mit Nachtfahrten gewechselt.

Mir war damals nicht klar geworden, wie verstört er war und ich versuchte ihn zu beruhigen, ging aber nicht wirklich auf sein Problem ein. Meine Gedanken waren ganz woanders, hatte ich doch erst seit wenigen Tagen meine erste feste Freundin. Scheinbar beruhigt zog er wieder ab.

 

Seinem Beispiel folgend, hüpfte ich auf die Bank, stimmte prüfend die Luftgitarre und fing an, heftig in die nicht vorhandenen Saiten zu greifen.

"Seht euch den Spinner an", rief eine ältere Frau. "Unmöglich diese jungen Leute", keifte die Alte, "stellt sich mit seinen schmutzigen Schuhen auf die Bank, wo andere Leute sitzen wollen". Typisch. An Martin traut sich keiner ran, aber ich geriet immer schnell ins Fadenkreuz.

Keines Blickes würdigte ich sie, als Schneider und ich in tiefster Inbrunst noch mal "Hells Bells" gemeinsam zum Besten gaben.

Mit großartigem Armschwung ließ ich den letzten Akkord verklingen, während Schneider mit geschlossenen Augen noch ein kleines Solo zum guten Schluss einflocht. Dann war es geschafft. Von der Bank hüpfend, setzte ich mich erschöpft nieder. "Komm, Alter, pflanz dich wieder hin." Grinsend schaute ich zu ihm auf.

"Ich muss jetzt gehen", sagte er ohne Vorankündigung und verschwand. Verdutzt schaute ich ihm nach und versuchte noch, ihn am Ärmel zu erwischen, doch urplötzlich war er weg, meinem Gesichtsfeld entschwunden. Verwirrt sank ich zurück.

Da fiel mir ein, was ich ihn die ganze Zeit fragen wollte. Ich wurde unruhig, musste unbedingt Gewissheit haben. Schnell kramte ich mein Handy aus der Tasche und schaute auf das Datum. Es war der 9. Oktober. Drei Tage nach Schneiders Geburtstag. Und die Jahreszahl, ich rechnete kurz zurück. Da wurde mir mit einem Mal klar, was mich die ganze Zeit beschäftigt hatte.

Genau heute vor 20 Jahren war Martin gestorben, drei Tage nach seinem 21. Geburtstag. Er hatte nachts auf der Autobahn erneut einen Unfall, eine Kollision mit einem anderen LKW. Sein Beifahrer, der im Führerhaus in der Koje schlief, blieb wie durch ein Wunder unverletzt. Martin erlag am nächsten Tag seinen schweren Verwundungen.

 

Mein einziger Trost: Er war sozusagen in den Stiefeln gestorben, wie er es sich als echter Trucker immer gewünscht hatte.

Am liebsten wäre ich noch mal auf die Bank gesprungen und hätte die Luftgitarre mit aller Macht in kleinste Stücke gehauen vor Wut. Doch ohne ihn hat das Spiel seinen Reiz verloren, würde ich mich einfach nur lächerlich fühlen…

Barbara Skop - Das klügste weibliche Wesen

 

Barbara Skop
Das klügste weibliche Wesen

 

Ich bin reich.
Ich habe sie gehört.
Ich habe sie gespürt.
Ich habe sie gelebt.

Ich habe sie getroffen,
die uns unser ganzes Leben lang
glauben macht,
dass es
die unbegreifliche Liebe
gibt-
dass es das Größte ist.

Ich habe sie gehört,
wie sie sich ins Fäustchen lacht.
Die Liebe-
Ein schöner Trick.

Ich bin reich.
Ich habe sie getroffen.
Ich habe sie gespürt.
Ich habe mit ihr gelebt.

Sie macht mich heiter.
Sie spielt mit uns.

Es geht ums Überleben!

 

Mit freundlichen Grüßen
Die Natur

Nancy Schumann - Sprachlos

Nancy Schumann
Sprachlos

 

Es ist jeden Morgen das gleiche Spiel… Ich habe Zeit bis zum Ostkreuz - zehn Stationen, dann ist die Chance vertan.

Ich darf die Bahn nicht verpassen. Früher war mir jede Minute heilig, die ich länger im Bett liegen konnte. Doch seit drei Monaten, genau genommen, seit dem 7. Januar 2008, stehe ich beim ersten Weckerklingeln auf. Manchmal bin ich nun sogar kurz vom dem schrillen Läuten wach. Unglaublich, wie das eigene Unterbewusstsein, selbst einen 36jährigen Mann wie mich noch überraschen kann! Meine Mutter würde es nicht glauben, würde ich es ihr erzählen. Hatte sie doch meine gesamte Schulzeit damit gekämpft, mich rechtzeitig aus dem Bett gescheucht zu bekommen, damit ich den Schulbus erwische. Erst hatte sie mich sanft gebeten, dann fordernd und zum Schluss lauthals aus der Küche gerufen, wenn sie bemerkte, dass ich ,nachdem ich nach mehrmaligen Aufforderungen nur im Bad gewesen war statt mich anzuziehen, doch noch mal zwischen den wohligen Kissen verschwunden war. Ihr gellendes "Siiiimooooon!" klingt mir noch heute in den Ohren und bringt mich zum Schmunzeln. Und nun …, beim ersten Hauch, dass der Wecker seinen Dienst starten will, schalte ich ihn ab, schwinge mich aus dem Bett, lege meine Armbanduhr um, laufe ins Bad, schaue auf die Uhr, beeile mich, streife mir das am Vorabend bereitgelegte und bereits gebügelte Hemd über, schaue auf die Uhr, stelle die Kaffeemaschine an …Tatsächlich habe ich, ich der Kaffeeliebhaber, sogar schon mit dem Gedanken gespielt, den Kaffee bereits am Vorabend zu mahlen und die Maschine quasi startklar zu machen, so dass ich morgens nur noch den Knopf drücken müsste. Aber es ist nicht das gleiche. Neben dem "Simon"-Ruf meiner Mutter und dem Trubel meiner Geschwister würde mir in der stummen Wohnung auch noch der morgendliche, köstliche Kaffeeduft fehlen. Dieser sanfte Geruch, der sich bereits ankündigt, wenn man das Cellophan der Tüte öffnet und der sich verbreitet, während das kleine Mahlwerk die Kaffeebohnen zerreibt. Ich ziehe den Duft tief ein, stelle die Maschine an, schaue auf die Uhr, laufe ins Schlafzimmer zurück, schlüpfe in meinen Anzug. Jetzt vergewissere ich mich noch einmal wie spät es ist, springe die Treppen im Hausflur herab und ziehe die Zeitung aus dem Briefkasten. Exakt zwanzig Minuten habe ich nun, um den herrlich heißen Kaffee zu schlürfen, ein Toast mit Marmelade zu verspeisen und die Neuigkeiten des Tages aufzusaugen. Früher habe ich die Zeitung in der S-Bahn gelesen. Seit drei Monaten ist dies undenkbar geworden. Genau genommen seit sechzig Fahrten, seit sechzig Arbeitstagen. Keiner der Artikel kann mich so fesseln, dass ich die Zeit am Frühstückstisch vergesse, die Küchenuhr behalte ich jederzeit im Auge. Um 6 Uhr 50 schnappe ich mir meine schwarze Ledertasche und marschiere aus dem Haus. Zehn Minuten später bin ich am Westkreuz. Meist so früh, dass ich die Sieben-Uhr-Bahn noch erreiche. Ich lasse sie passieren.

Ich muss die Bahn um 7 Uhr 5 nehmen. In den zweiten Wagen steige ich ein. Immer. Immer, seit dem 7. Januar 2008. Zwei Minuten sind es nun noch und jetzt weicht die Vorfreude, die mich jeden Morgen übermannt, ein wenig der Furcht. Die Bahn hält, "Charlottenburg". Ich spähe hinaus von meinem Stehplatz am Fenster. Wird sie da sein? Bisher war sie es immer. Jeden Morgen, seit sechzig Arbeitstagen. Hilflos schaue ich mich um. Zwischen den Menschen an der Haltestelle kann ich sie nicht entdecken. Vielleicht ist sie krank? Oder sie hat Urlaub? Meine Augen irren über die Wartenden. Ich fühle, dass der Haltegriff sich schon etwas feucht in meiner Hand anfühlt. Die Tür öffnet sich. Doch, da ist sie. Der große Mann dort in dem braunen Mantel muss sie wohl verdeckt haben. Ich atme auf. Ihre dunkelblaue Lodenjacke, ihr brauner, karierter Schal, die dunkelblonden Locken … Wie vertraut ist mir der Anblick. Die Hände hat sie tief in den Taschen vergraben. Ob sie fröstelt? Nun kommt sie herein. Ihr Blick schweift mich. Zufällig? Dann setzt sie sich auf den freien Platz schräg gegenüber von meinem Stehplatz. Ich höre mein Herz pochen. "Guten Morgen!", möchte ich sagen, doch ich bleibe stumm. Meine Kehle ist ganz trocken. Längst ist die Bahn wieder angefahren. Nun sind es nur noch sieben Stationen, stelle ich fest, wir sind bereits am Hauptbahnhof. Was für schöne geschwungene Lippen. Heimlich beobachte ich sie. Ein Buch liegt auf ihrem Schoß. Was liest sie wohl? Einen Krimi, eine Liebesgeschichte, ein Fachbuch? Nein, sie blättert die Seiten nicht um. Träumt sie? Wovon träumst du? Ein Seufzer entweicht meinen Lippen. Mein Blick schweift aus dem Fenster. Hackescher Markt - nur noch drei Stationen. Hat sie mich gerade angeschaut? Wie ein Blitz durchzuckt es mich, als sich unsere Blicke queren. Sie schaut weg. Schaut sie schnell weg, wie jemand der sich vom Beobachtungsobjekt ertappt fühlt? Einbildung, Einbildung, Simon, fange ich meine Gedanken wieder ein. Sprich sie an, frag sie was! Es stehen so viele Menschen um uns herum. Was soll ich sie fragen, die vertraute Fremde?

Viel zu schnell ist der Moment da. Rasend schnell, wie jeden Morgen. Sie steckt ihr Buch in den kleinen hellbraunen Rucksack und erhebt sich. Nun kommt sie auf die Tür zu. Ostkreuz, ganz nah ist es nun schon. Hier wird sie aussteigen, wie jeden Tag. Ob sie hier irgendwo arbeitet? Oder steigt sie um? Ich könnte ihr nachgehen. Aber dann? Was soll sie denken? Vielleicht würde sie mit mir einen Kaffee in der Sonntagstraße trinken gehen. Einfach so.

Die Tür öffnet sich. Ein letzter Blick auf ihre dunkelblonden Locken, bevor sie zwischen den Menschen auf Gleis 5 verschwindet. Bald bin ich nun auch in Friedrichsfelde und werde wie jeden Morgen in den Bus umsteigen und anschließend die letzten Schritte zum Amt für Statistik zu Fuß machen. Vielleicht frag ich sie morgen, vielleicht morgen…

Mirka schaute sich auf dem Gleis 5 noch einmal um, als sich die Tür der S7 hinter ihr schloss. "Auf Wiedersehen", murmelte sie leise, mehr in Gedanken. Hatte er ihr nachgeschaut? Chance vertan. Jeden Morgen hier am Ostkreuz war es vorbei. Vor drei Monaten war er ihr das erste Mal aufgefallen. Manchmal glaubte sie, er schaue sie an. Sie seufzte. Vielleicht morgen, dachte sie und zog ihre blaue Lodenjacke fester um sich, vielleicht spreche ich ihn morgen an.

Thomas Rehaag - Mama Christine

Thomas Rehaag
Mama Christine

 

"Was ziehst'n schon wieder für 'ne Flappe?" Christine hangelte die Beine übereinander und zog hektisch an der Zigarette.

"Mensch, du weißt ja, dass, wenn ich mit jemanden über zwei Wochen die Pritsche teile…" Warter schüttelte verunsichert den Kopf.

"Wasserbett!", fiel sie ihm ins Wort.

"Na, dann eben Wasserbett… Jedenfalls komm ich mir da immer vor, als ob ich solchen Glückstreffer nicht verdient hätte."

"Aha", raunte sie ihm grimassierend zu und ließ ihren rechten Highheel einige Male sacht auf die Bastmatte schlappen.

Sie hockten auf ihrem Balkon in der 14. Etage beim Kaffee und die Sonne ging langsam hinter der rechten Kante des Hochhauses in Deckung und das Heizkraftwerk gegenüber schälte sich schwarz grau konturiert in den Himmel und hier oben waren es noch immer an die dreißig Grad im Schatten und sie trug wieder ihre akkurat sitzenden Nylons, ihr hoch gerutschtes weißes Röckchen sowie eines ihrer russischen Marken-T-Shirts.

"Aha", äffte er sie spaßig grinsend nach, schob sich einen Happen ihres selbst gebackenen Käsekuchens in den Mund und warf einen Blick auf ihr ungeschminktes sommersprossiges Gesicht mit der süßen Stupsnase, den meergrünen Katzenaugen, den aufgeworfenen rosaroten Lippen und der herzförmigen Wangenpartie.

"Und wie kann ich dir helfen?", fragte sie munter zu ihm rüber funkelnd.

"Schau dir diese Ostkreuz-Anthologien mit meinen Geschichten an. 'ne Art eigener Selbsthilfegruppe", antwortete er schulterzuckend, half sich den restlichen Kuchenstreifen ein, langte nach ihren Zigaretten und steckte sich eine an.

"Mensch, kapier mal, du Hirni, sonst lese ich nichts weiter als Kreuzworträtsel und Comics", echauffierte sie sich rauhalsig, "und deine Geschichten waren das erste Ernsthafte, das ich mir seit 'ner Ewigkeit zu Gemüte geführt habe. Kannste dich doch wohl noch dran erinnern, oder!?" Rasch schob sie ihr leeres Geschirr beiseite.

"Hm." Ab und zu kreuzte den Block ein Düsenjet im Landeanflug. Jetzt wieder.  

"Vor dir kannte ich dieses Ostkreuz nur vom Hörensagen." Ihn im Auge behaltend schnipste sie die Kippe über die Balkonmauer und fuhr sich einige Male, das Haupt nach hinten schaukelnd, durch den rothaarigen Struppi. "'tschuldige. Die erste und die dritte fand ich ziemlich abgehoben, die zweite gefiel einigermaßen und die vierte war krass pervers. Aber dich liebe ich. Obwohl mir noch immer mein impertinent destruktiver Ex aufstößt. Anarchobruder und so. Jetzt hat sich der Drohn 'ne schmucke Jurastudentin an Land gezogen, die als Putze die Knete ranschafft. Na ja, Schwamm drüber."

"Ich hab nicht vor, dir jemals weh zu tun…" Betroffen den Blick senkend griff er seine Tasse und schlürfte den Kaffee aus.

"Aber wenn sich das noch steigert, dein 'Nicht mit dir im Reinen sein', wird auch dir mal die Hand ausrutschen."

"Dann zieh mir eine rein so doll du kannst." Er stellte die Tasse ab, ließ sich in den polnischen Korbsessel sinken, schlug die Beine übereinander, nickte ihr bedächtig zu und zog gedankenverloren an der Zigarette.

"Werde drauf zurückkommen…"

"Ich bitte drum… Wahrscheinlich hab ich die Dinger geschrieben, weil ich dich noch nicht hatte."

"Und jemand anderen!?", erkundigte sie sich, ruckartig die Beine ineinander verfädelnd.

"Auch nicht. Weil ich dich noch nicht hatte, habe ich mir die Geschichten aus dem Hirn geleiert. Und jetzt, wo ich dich habe, fehlt mir der Stoff für so'n neuen Erguss. Im Grunde genommen ist die Schreiberei auch nur so'n privates Spielchen, um die Leutchen einzuseifen. Ist überhaupt alles 'n Riesenspektakel. So was wie 'Der Leser' ist mir einfach zu blutleer: Entweder findet so 'ne Schreibe ihre Fanökumene oder sie ist für die Katz."

"Noch 'n Tässchen Kaffee?" Sie langte nach der Kanne und zeigte sie ihm vor.

"Ja, gerne."

Als gestandener Zeitarbeiter jobbte er gerade in einer Stuttgarter Bioklitsche. Im Tiefkühllager. Nachts. Eigentlich wohnte er in Prenzlauer Berg, östlich der Danziger.

Auf seiner Festplatte befanden sich bis jetzt zwei seiner Romane und an dem dritten und umfangreichsten klickerte er seit Mai vorigen Jahres.

Zusammengerasselt waren sie an seinem zweiten Urlaubstag vor knapp zweieinhalb Wochen auf einem der oberen Ostkreuzer Bahnsteige: Sie hatte ihren BMW XS gerade in der Werkstatt stehen und wollte zum Zug Richtung Spandau und er zum Zug Richtung Greifswalder Straße.

Schwups hatte er ihren "Kaffee to go" über seinem nagelneuen grünschwarzen Polyesterjackett. Sie lässig musternd schoss ihm all seine Wut ins Gesicht: Mies gespielt.

"Komm schon, ich spendier dir 'ne Reinigung", krächzte sie schnöde, trat auf Tuchfühlung an ihn heran und ihre herbe Mimik blühte etwas auf unter seinem wie abgeschlagen starrenden Blick. Er schätzte sie auf Anfang dreißig und im Gegensatz zu ihren trivialen Geschlechtsgenossinnen schien sie Courage und Charme zu besitzen. Sich souverän in den Hüften wiegend strich sie ihm mit der linken Hand über den Fleck. Und er spürte sofort, dass sie ihren Part bedeutend besser beherrschte als seine Wenigkeit mit all ihren labil neurasthenischen Möchtegernidentitäten. Ihre Züge fuhren ein. Sehr gedämpft und entfernt und unreal. "Soll wohl 'n gespielter Witz werden", meinte er trocken. Zu spät für den Betrieb ringsum. Magie und Intimität wickelten sie in ihren Bann wie zwei Einsamkeiten unter Zellophan. "Der Schwapp schaut sowieso schon peinlich genug aus und ehe wir 'ne chemische Reinigung gefunden haben, ist er eh eingetrocknet." "Mensch, Junge, unser bedeppertes Rumgestehe hier ist selbst so 'n Witz. Bei dir hat 's doch gefunkt bis über beide Ohren. Da kenne ich mich aus." Sie nuckelte ihre Kaffeelache aus und zupfte sich ihre Klamotten zurecht: lila Latexjäckchen, gelbes T-Shirt, weißer Minirock, Nylons sowie knallrote Stöckelschuhe. Nichts als Details. Darin verpackt ihre gedrungene Figur, bestehend aus den noch zu lüftendem Details. "Musste 'unbedingt' noch 'irgendwo hin' oder darf ich dich einladen zu mir auf 'n Kaffee?" Sie sah ihm groß in die Augen und drückte aufs "Knöpfele". "Und wo?" "Draußen in Spandau, Nähe Paulsternstraße". Verschmitzt lächelnd federte sie zur Seite und stopfte den Becher in den Müllbehälter. "Soll auch nicht so 'ne Verarsche werden, versprech ich dir." "Geht in Ordnung…" Er sah ihr in die Augen und schnipste mit den Fingern. "Christine." Sie hakte sich bei ihm unter und sie zuckelten die Treppe zum Bahnsteig runter. "Warter."

"Was überlegst'n?" Sie gab einen Schuss Milch und ein Stück Zucker in seinen Kaffee.

"Ach, wie wir uns kennen gelernt haben. Sehr mutig von dir, dass du mir, als wir aus deiner Koje geschwabbelt sind, sofort klargemacht hast, was Phase ist."

"Oha", raunte sie sonor, streifte sich die Highheels ab, hievte ihre Beine über die Tischecke und kreuzte sie übereinander.

"Denn Vorstellungen mache ich mir immer nur über mich selbst und über die Stimmen im Radio. Zu jeder Stimme rätsele ich mir das passende Gesicht zurecht."

"Damit du ja keine Enttäuschungen erlebst, hm?" Sich leicht zur Seite neigend, angelte sie sich eine Zigarette und steckte sie an.

"Ach, davon hatte ich nun wirklich schon mehr als genug. Bei Kerlen versuche ich drauf zu kommen, was sie arbeiten, aber Frauen nehme ich so wie sie sind."

"Aber als ich dir gebeichtet hab, dass ich auf eigene Rechnung anschaffen fahr, warste doch 'n bisschen baff, oder?" Tief inhalierend räkelte sie die Zehen gegeneinander und blinzelte ihm abgefahren zu.

"Ja, schon…" Er zwinkerte freundlich zu ihr rüber, rührte durch, fädelte den Zeigefinger durch den Griff und trank.

"In so einem schicken Geländewagen fährt sich’s eben bequemer als in so 'nem miefigen Proletenschieber. Sorry…"

"Immer feste. Bin ich gewohnt. Außerdem haste dir da an der Avusraststätte 'n mächtigen Standortvorteil gesichert. Aber jetzt mal im Ernst: Ist absolut keine Witznummer, dein Leben, oder?" Rasch schlürfte er den Kaffee hinter und schob die Tasse neben die Kanne.

"Jedenfalls flutscht 's besser als in irgend 'nem Büro oder an irgend 'nem Fließband zu vermodern", meinte sie harsch.

"Eben alles gleich beschissen. Sorry."

"Eben…"

"Um noch mal auf meine Geschichten zurückzukommen… Also ich hätte auch nichts dagegen, wenn du mir 'n bisschen was vorspieltest in puncto Verschrobenheit und lockeres Mundwerk… Oh, Mist…" Er langte nach der Zigarettenschachtel, angelte sich eine raus und haute sie an.

"Nach tausenden von Schwänzen hab ich’s mir redlich verdient, he!?", feixte sie, die Kippe in den Ascher schnipsend.

"Nee, gebe ich dir alles gratis. Dagegen sind meine 'literarischen' Ergüsse die reinste Luxusnummer."

"Oh, danke. Trotzdem…" Ihm offenherzig zulächelnd, schwang sie die Beine hoch und stemmte die Füße gegen die Tischkante. "Na ja, nun mime mir mal nicht den harten aber herzlichen Softi…" Sie warf das Haupt zurück und schüttelte ihr Haar durch. "Wer so 'ne Storys schreibt, muss 'ne Menge weggesteckt haben. Ohne Quatsch." Mitleidig lächelnd flunkerte sie zu ihm rüber.

"Ja, sicher…" Er riskierte einen Blick unter ihr Röckchen. Den Slip hatte sie weggelassen. Extra für ihn. "Denn wer glücklich ist, hat nichts zu erzählen, wie es so schön heißt…" Sich losreißend dachte er an Aktentaschen, Bagger, Panzer… Kurz die Schlote ins Visier nehmend, quälte er den Kippen heiß und klinkte ihn in den Ascher. "Und ferner bringt ihm sein Spielchen noch einiges an Zinsen ein: Illusionen." Agil zwischen ihren Schenkeln durchlangend angelte sie sich die Zigarettenschachtel, klopfte sie gegen ihr Knie und fischte sich eine raus. Und ehe sie sich’s versah, gab er ihr Feuer.

"Hmmm danke… Versuche zu kapieren… Aber dich liebe ich wirklich, und du?" Sich mit den Ellenbogen auf die Knie stützend, blickte sie ihn lauernd an.

"Na, ich auch, man. Wie oft willst'n das noch hören? Und seit wir zusammen sind, hab ich meine erste Schreibblockade…"

"Na, is' doch schon 'n Fortschritt", krächzte sie müde und ludelte ihm versonnen studierend an der Kippe. "Hhmm, was war noch mal mit deinem Geschichten?", fragte sie ihn nach einem Weilchen.

"Die erste mit diesem hundertzwanzig Kilo Trauerkloß zum Beispiel…"

"Moment mal." Er nickte ihr kurz zu. "'n Gläschen Sekt?"

"Okay."

Die Beine beiseite schwenkend, stand sie auf und ging den Sekt holen. "Bin gleich wieder da." Derweilen räumte er das Geschirr zusammen.

Flugs stellte sie eine Schale voll Salzmandeln auf den Tisch, das Fässchen mit den gezuckerten Ananaswürfeln sowie die Kelche und schwirrte wieder von dannen, eine Schleppe Mandelduft hinterlassend.

"Bin ganz Ohr." Sich vor ihn hin positionierend, dröselte sie das Korkendrähtchen auf.

"Immer mit der Ruhe… Also, auf diesen Fettkloß bin ich nur gekommen, weil ich so 'ne spindeldürre 'Motz'-Verkäuferin so interessant fand. Und an ihren langen hübschen schwarzen Haaren konnte ich mich einfach nicht satt sehen. Der Fettkloß bin ich, 'n Ende älter und Maria natürlich auch. Haben ja nicht viel geredet, die beiden, einfach göttlich. Das ewige Rumgelabere raubt mir allmählich die Substanz." Der Korken schoss aus der Flasche, prallte vom darüber liegenden Balkon ab und landete zwischen seinen Schenkeln. Sie wieherte los und schleckte fix den heraus quellenden Schaum ab.

"Na warte", rief er lachend, schnappte sich den Korken und zielte zwischen ihre Brüste: Volltreffer. Mit hochrotem Gesicht kickte sie den Korken weg und gab, durchzuckt von unterdrückten Lachkrämpfen, ein wenig Ananas in die Kelche. Er fand’s toll, dass sie es so einfach wegsteckte. Sie ackerte eben als Nutte und stellte nichts vor. Sie fing an einzuschenken. Danach hockte sie sich mit hintergeschlagenen Grätschen in ihren Sessel und naschte von den Mandeln.

"Ab morgen lasse ich jeden Tag zwei Kilo Erdnüsse springen", meinte sie kichernd. Schmunzelnd stießen sie an und pichelten sich zu. "Spaß beiseite. Komm, erzähl weiter…" Sie stellten die Kelche ab.

"Die zweite Geschichte…", hob er an.

"Die von den beiden Losern mit ihren Pizzas und ihrem Pfeffi", fiel sie ihm hicksend ins Wort, "Balder und Schulzi". Er ballerte mit seinem linken Zeigefinger auf sie.

"Bingo! Also…"

"Dauernd dieser Mistzeigefinger! Ich hasse das! Zieh dir lieber mal die Hose hoch!", zischte sie aufgebracht. Er brachte seinen Pyjamagummi ins Lot. "Na also!"

"Und nun rate mal, wer mir von beiden am meisten ähnelte?"

"Nehme an Balder. War ja selbst so 'n verkrachter Schreiberling. Aber diesen Schulzi haste noch etwas besser getroffen, finde ich", meinte sie schnöde.

"Bin eben erst kurz vor dem Abstieg… Und Kai, dieser desertierende Engel, hat 'ne verblüffende Ähnlichkeit mit der Tochter meiner ehemaligen Vermieterin. Aus Mainz, glaub ich. War 'ne Senkrechtstarterlesbe, die mir dauernd schöne Augen gemacht hat. — Also, beim Schreiben schlüpfe ich in die Figuren und stelle mir vor, was in ihren Schädeln so vorgeht, wenn und wie sie in diesem Falle reagieren würden, und denk mir die passenden Dialoge aus. Aber im Grunde genommen bin ich’s selbst und auch wieder nicht." Er griff den Kelch, schluckte den Sekt hinter, trippelte sich die Ananas in den Schlund und ließ den Kelch über den Tisch schlittern. Sie knabberten von den Salzmandeln.

"Und Englein schweben nun mal in den Wolken, stimmt’s?", schnurrte sie lasziv, schlängelte ein Bein nach dem anderen um seine Schenkel und musterte ihn keck.

"Na, vor allem, sie haben kein Geschlecht, diese Glückspilze. – Und alles, was ich sonst noch so in mir finde ist 'n Sack voll Unfiguren, die mir durch den Schädelkasten spuken, und ständig glaube ich, eines Tages drehe ich durch und gehe das Papier von den Straßen sammeln." Er stand auf und beugte sich zu ihr rüber. Langsam legte sie den Kopf zurück und er gab ihr einen Kuss auf den Mund. Ihre Lippen weit öffnend, sog sie seine Zunge ein, schlappte sie einige Momentchen lang ab und drängelte sie wieder raus.

"Genug jetzt." Sie leckte sich die Lippen, als ob sie frisch geschminkt wären. "Und pass auf, dass du die Gläser nicht runter reißt."

"Schon gut." Die Schöße seiner Pyjamajacke festhaltend, setzte er sich wieder hin.

"Und weil de keine Traute hattest sie zu vernaschen, haste diese Geschichte geschrieben, stimmt’s?", meinte sie, langte nach dem Kelch und pichelte schlückchenweise ihren Sekt aus.

"Weiß ich was…? Wer kennt sich schon…? Aber ich schätze nicht. Is' ja verboten…"

"Na, Gott sei Dank aber auch, dass wir zusammengerasselt sind." Sie hangelte die Grätschen übereinander und schleckte die Ananas aus ihrem Kelch. "Reich mir mal bitte dein Glas rüber, damit ich uns nachschenken kann."

"Bitte schön."

"Und der Kauderwelsch mit der Warterei, da bleibt ja nur noch der Typ auf der Brücke übrig, oder?" Welk lächelnd zwinkerte sie ihm zu, gab die Ananas in die Kelche und schenkte behutsam nach.

"Hmmm…" Sie im Profil begutachtend grabschte er sich die Zigarettenpackung, zottelte sich eine raus und zündete sie an. "Die beiden waren aber eher 'n Produkt meiner geheimsten Wünsche."

"Da." Sie schob ihm den Kelch rüber. "Das einzige, was ich davon halbwegs kapiert habe, ist diese Sado-Maso-Masche. – Sag mal, ich hab dich doch nicht etwa entjungfert?!", prustete sie, sich die Hand vor den Mund haltend, los.

"In einem gewissen Sinne ja", antwortete er naseweis, griff zum Glas und kippte einen großen Schluck hinter. Sie griff sich ihres ebenfalls und sah ihn aufmerksam an. "Die anderen paar Dämchen, die bis jetzt den Mut aufbrachten sich mit mir einzulassen, waren mir schlichtweg zu unkultiviert."

"Oh, man, bei diesem Bullshit ist’s ja kein Wunder, dass de so ’n gequirlten Wichs produzierst. Eigentlich ist’s ja kein Spiel, sondern 'ne Qual, hmmm?" Mehrere Schlückchen pichelnd, zwinkerte sie ihm kokett zu.

"Hast Recht. Wahrscheinlich hab ich da in puncto Vorstellung 'n bisschen hochgestapelt. – Wer die Schreibe mag, muss sie ja nicht unbedingt verstehen, und die Spielregeln betreffs der Bedingungen, unter denen sie sich’s reinziehen, werde ich, Gottlob, nie mitkriegen." Er zwinkerte ihr abgekartet zu, pichelte den Rest hinter und schüttelte sich die Ananas hinter die Kiemen.

"Na, Gott sei Dank, geht das in der Koje mit uns in Echtzeit über die Bühne. An so 'ner 'Ejakulation' ist nun mal nicht zu rütteln. Ich hingegen kann dir da 'ne Menge goldiger Arien vorjaulen."

"Ist eben nicht dein einziger Standortvorteil, da neben der Avus. Auf alle Fälle kommt mit dir 'ne Freude auf wie schon lange nicht mehr…" Gedankenverloren stellte er das Glas beiseite. "Ach so?", schnurrte sie, sich, den Kelch in der Hand, gegen die Lehne rekelnd, wobei sie breit gähnend ein Bein nach dem anderen herumschwenkte und sie vorsichtig unter dem Tisch ausfahrend übereinander geschlagen auf dem Korb zwischen seinen Schenkeln parkte. Die Sonne hatte jetzt vollends die Kurve gekriegt, an den Schloten des Heizkraftwerks würden bald die Warnleuchten angehen und in den Werkhallen links daneben die Neonlichter. "Wieso klingt dir wohl zu geschwollen?", fragte er, das Heizkraftwerk straight im Auge behaltend. Ihre sich aalenden Zehen streiften ihm nämlich gerade zart über den Schritt. "Für jemanden, der 'ne Puppe pimpert, schon", meinte sie langgezogen. "Das perfekte Spielzeug. Endlich bestimmte ich mal die Spielregeln", rutschte es ihm raus. Die sektgetränkte Ananas stieg ihm allmählich in den Kopf und ihre Zehen da unten waren auch nicht ganz ohne. Weil sie sich abwartend verhielt, versuchte er sich aus dem Affekt zu reden. "Menschenskinders! Christine, diese Horrorstory schrieb ich kurz vor Weihnachten. Wie immer hockte ich alleine in der Bude und hatte 'n mächtigen Frust auf alles. Obwohl mir diese Festivität, seit meine Mutter mit 43 'n Herzschlag gekriegt hat, gelinde gesprochen am Arsch vorbei geht." Stattdessen schaukelte er sich immer weiter hoch. "Kannst mich ruhig angucken, wenn du mit mir redest", meinte sie pikiert, ihre Zehen fuhren fort, seinen Penis zu piesacken und er hörte wie sie ihren Kelch auf den Tisch haute.   Zwischen den Schloten erschien eine Rotte Militärhubschrauber und schepperte in Formation auf den Block zu. Sinnlos sich in die Köpfe der Piloten hinein zu versetzen. Ihre Zehen brachten es besser. Erst als die Maschinen in die Landeschneise einschwenkten, wandte er ihr langsam den Kopf zu und fuhr fort zu reden. Die Arme vor den Brüsten verschränkt lächelte sie ihn spitzbübisch zu. "Das ganze verlogene Gehabe, dazu dieses penetrante Harmoniegedusel…" Tief einatmend langte er nach der Flasche und schwappte geräuschvoll ausatmend den restlichen Sekt in die Kelche. "Und schon seit ’ner Ewigkeit nichts mehr im Bett, wie?", stichelte sie Brauen runzelnd. "Genau – so", antwortete er brüsk, stellte die Flasche beiseite und reichte ihr den Kelch rüber. "Prost." "Prost." Sie schlürften ein Schlückchen ab und sahen sich ein Weilchen in die Augen und knabberten von den Mandeln. "Das ist ja nicht nur die Pointe mit dem Coloradoklon, übrigens 'ne tolle Spitze, diese Bärchen find ich grusliger als die Puppe, sondern auch so was von misogyn… Also da wurdest du mir so richtig unheimlich", meinte sie ruhig und sah ihm, ein mäkliges Gesicht ziehend, ein Weilchen groß an. "Na, Gott sei Dank aber auch, dass wir zusammengerasselt sind", meinte er schließlich, mehr verlegen als amüsiert und ließ ein ausgebüchstes Grinsen stehen. Nebenbei beugte er sich halb über den Tisch, hob seinen Kelch und rieb ihn sacht an ihrem. "Und meinst du im Ernst, so lange wir zusammen bleiben, gehen dir diese 'Unfiguren' etwas weniger auf den Sender und vor allem du leierst dir nicht noch ’n grässlicheren Apparat aus dem Hirn als diese Monsterbarbie?", erkundigte sie sich skeptisch, ließ die Gläser klingen, nahm die Beine runter, beugte sich zu ihm rüber und zwinkerte ihm drollig dreinblickend zu. Ihre Pfützen ausschlürfend musterten sie sich mit schäkerndem Blicken und zuckelten ab und zu ihre Knie gegeneinander. "Na, ich bin nicht Doktor Allwissend", erwiderte er schließlich. "Wir müssten die Geschichten einfach mal auf die Bühne bringen."  "Und ich übernehme den Engel, den Lederknaben, diese Maria sowie die Puppe, oder?", hauchte sie, den leeren Kelch zwischen den Fingern kippelnd und eins ihrer Knie zwischen seine Schenkel drängelnd. "Na, nun setz dich nicht gleich in die Nesseln. Ist irgendwie nicht korrekt. Am besten wir würfeln drum", betete er rasch herunter. "Menschenskinder, du bist fertiger mit dem Globus als ich dachte. Wegen meiner. Vielleicht wird’s ja 'ne ziemlich drollige Angelegenheit", raunte sie aufgeplustert. "Donner Schock aber auch. Wer sich mit dir langweilt, hat kein Fünkchen Humor", rang er sich erstaunt ab. Stirn runzelnd linste sie auf die Uhr und meinte: "Also knapp über 'ne Stunde haben wir noch. Dann muss ich aber los." Zugleich schwangen sie ihre Kelche neben das Geschirr. Schelmisch grinsend knuffte sie ihn in die Backe und erhob sich. "Lust, noch 'n bisschen mit nach hinten zu kommen?" fragte sie so lala. "Blöde Frage. Die ganze Zeit schon", erwiderte er forsch, stand auf und trat vor sie hin. "Und vergiss mir, während ich auf Strecke bin, ja nicht die Bude auf tipptopp zu bringen." "Mach ich."

Ihn kurz am Hosengummi zupfend drehte sie sich um und hintereinander hertrabend schlappten sie Richtung Schlafzimmer. Fortwährend auf ihre Beine sowie ihren niedlichen Hintern starrend, versuchte er sich einigermaßen ihrer Schrittfolge anzupassen. Über ihrem rechten Hacken kroch eine kleine Laufmasche und als sie über die Schlafzimmerschwelle traten, marschierten sie im Gleichschritt.

Josef Ludwig - Erinnerung

Josef Ludwig
Erinnerung

 

Von selbst stehe aufrecht -
Nicht aufrecht gehalten
Marc Aurel, Selbstbetrachtungen

 

Wenige Jahre nach dem Krieg kam ich aufs Neue nach Berlin. Ein unbekanntes Sehnen hatte mich erfasst — ich musste die Heimat Ostkreuz wieder sehen.

Mit erwartungsvollem Bangen suchte ich nach jenem Haus, das mir einst Hort der Kindheit war. Ich wollte seine Reste sehen und nochmals nah der Stelle sein, an dem ich von der Mutter kam. Doch Heiligkeit und Liebreiz waren ihr verloren und keine Ehrfurcht hielt mich länger fest. Allein die Trümmer ließen mich erschauern und machten mir die Augen feucht.

Als Kind war ich einst leichthin weggegangen, vom Schicksal nur leicht angerührt, wie einem Abenteuer zu. Nun aber fielen auf den eignen Schmerz noch Gram und Leid der toten Eltern nieder. Ich konnte die Last nicht mehr ertragen und musste seinen Anblick fliehen. Einen stummen Gruß nur schickte ich ihm zu, wie man das alten Freunden tut, die der Worte länger nicht bedürfen.

Durch mein "Zuhause" lief ich wie im Schlaf, die Gedanken fern der Wirklichkeit. Die Spree lag noch immer träge in ihrem Bett und Bahnhof Ostkreuz lärmte wie einst in alten Tagen. Der Kiez mit seinen Wunden zog mich an und beschwerte doch stark die Seele.

Die meisten meiner Freunde fand ich nicht mehr. Sie waren verzogen, gestorben, verschollen, vom Kriege verschlungen.

Ich versuchte auch wieder zur Schule zu gehen, immer entlang der alten Allee. Damals waren die Bäume noch klein, mit einem Pfahl an der Seite. Jetzt aber waren sie groß und kräftig ein jeder für sich, ich aber brauchte nun schon eine Stütze. Wieder begann ich zu trödeln, wie ich das einmal mit Freunden getan. Es gab doch auch wieder so vieles zu sehen, rechts und links meiner Straße.

Auch das Haus der Freundin bestand nicht mehr, es war zu einer Ruine geworden, trostlos gespenstisch anzusehen. Wo wir einst saßen, lag geborstener Stein, bemoost und mit Strauchwerk bestanden. Doch zwischen den Stümpfen blühten, traurig zu sehen, zwei rote glühende Rosen.

Ich war nicht allein. Ein Mädchen saß unter wildem Bewuchs, schön, so ganz meine Liebe. Ich meinte, Irina wäre nun wieder bei mir, wie einmal in glücklicher Jugend. Ein altes Lied klang nah meinem Ohr, lange hatte ich's nicht vernommen: "Oh Maienzeit, oh Liebestraum…" — Ich war verwirrt. Es drängte mich, das Trugbild anzusprechen, doch tat ich’s nicht, um meinen Wahn, den Zauber zu bewahren.

Spätabends suchte ich den Friedhof auf, meiner Verwandten in Stille zu gedenken. Mich traf eine wunderbar klare, sternfunkelnde Nacht. Helligkeit lag über den Hügeln und das Mondlicht glänzte vielfach in den Steinen. Die Luft war samten, lauschig gar, getränkt von berauschendem Frühlingsduft und geheiligt durch nächtlichen Frieden. Langsam ging ich durch die Reihen und fand doch nichts vom Grabe mehr, nur noch erahnen ließ sich seine Stelle.

Eine tiefe Stimme tönte dumpf zu mir, fröstelnd lauschte ich nach ihr: "Endlich kommst du mich besuchen, gar lange warst du nicht bei mir." Es war Großvater, ich erkannte den vertrauten Ton.

Ich wollte antworten, doch stotternd nur gelang mein Gruß.

"Warum", kam es recht herb zurück, "hast du dein Heim verlassen, das deine Eltern mühevoll erschufen. Weshalb nur blieben einzig Scherben?"

"Verzeiht", so ich, erschrocken durch die Strenge, "ich musste fort, ganz gegen meinen Willen".

"Gott sei dir gnädig, was hast du Böses nur getan. Hat es dir hier an Brot gefehlt, hast du gespielt, dem Trunk dich hingegeben, mit leichtem Volk dein Gut vertan…?"

Mit verzweifelt-sorgenvollem Drängen stürmten die Fragen auf mich ein. "Ach", suchte Antwort ich zu geben, "wie soll ich's Euch nur sagen…" — und schwieg, wie auch Unglaubliches erklären.

Großvaters Stimme bebte voll Besorgnis, sie mischte sich in den Glockenschlag, der just die Mittemacht verhieß: "Nichts reimt sich mir zusammen; so ist wohl Schreckliches geschehen!"

Fiebergeschüttelt durchwachte ich die Nacht: Vater und Mutter hatten sich mir abgewendet, gemeinsam riefen sie mir zu:" Du hast dein Heimatrecht verloren, nie wieder wollen wir dich sehen!" Ich hoffte auf Irina. Doch ihre Augen blickten kalt an mir vorbei, sie schien mich nicht zu kennen. Eisig durchzog es mir Seele und Herz: Sie ist dir verloren — in Ewigkeit. Wie willst du leben, wie ohne sie sterben? Schon sah ich mich vor dem Jüngsten Gericht und hörte das Urteil des Herrn: "Du hast die Seligkeit vertan, fort, ins Nichts!"

Des Morgens suchte ich die Kirche auf, für meine Ohnmacht Trost zu finden: Der Organist probte. Er hatte wohl einen glücklichen Tag, denn seine Musik klang fern aller Schwere und leicht und spielend umschlang sie mich — ein Memento mori war es, doch ganz ohne Drohung und Strenge. Wie die Töne heiter und freundlich drang es zu mir, dem Lichte gleich, das die hohen bunten Fenster leuchten ließ und warm in das Gotteshaus fiel. Es war schön hier — ich war eben zu Hause. Und eigentlich wollte ich bleiben - auf dem Acker hinter der Kirche.

Während des Krieges war das auch der Ort, wo sich die Mutter im Gebete niederwarf, um meine Wiederkehr zu erflehen. Jeder Abschied erdrückte sie mit neuem Leid und stets suchte sie mich festzuhalten, trotz meines Widerstandes.

Bald war sie nicht mehr und schrecklich schmerzte mich mein Verhalten. Keinen Brief konnte ich ihr länger schreiben, selbst den flüchtigen Gruß nicht übersenden. Bedrückt verließ ich den traurigen Platz, den Kopf gesenkt und das Herz verwundet: Mutter und Heimstatt verflossen in eins - kaum konnte ich all das erfassen.

***

Zutiefst erschüttert war ich zurückgekehrt, die nur schlecht vernarbten Wunden waren wieder aufgebrochen und hatten alte Schmerzen neu entfacht. Das Heute schien mir völlig nichtig und an ein Morgen mochte ich nicht denken. Des Nachts hörte ich überlaute Stimmen, ganz so, als stammten sie von mir: "Begrabt ihn, rasch, wozu auch soll er sonst wohl taugen!"

Sommer und Herbst gingen freudlos an mir vorüber und ähnlich ließ sich der Winter an: Es schneite, reine zartweiße Flocken, groß wie Wattebäusche. Ganz sachte fielen sie hernieder, immer langsamer. Fürchteten auch sie diese Erde, wollten sie gar zum Himmel zurück?

Der Ruf der Wildgänse riss mich aus Gleichmut und Kälte. Im letzten Schein des Abendrots zogen die großen Vögel kraftvoll ihre Bahn, ein Keil nach dem anderen. Einig in sich, strebten sie ihrem Ziele entgegen, mutig und diszipliniert, wachsam dabei, für den Feind unerreichbar. Lange blickte ich staunend empor, durch Schönheit gebrannt und wiedererweckt für das Dasein.

Mehr und mehr nahm ich meine Umwelt wieder wahr. Etwa die verwilderte Katzenmutti, die mit Stolz ihren Nachwuchs ausführte. Sieben wollige Tierchen folgten ihr im Gänsemarsch, alle mit verwegen erhobenem Schwänzchen.

Ich fasste wieder festen Tritt. Als wäre neues Leben über mich gekommen, straffte ich Körper und Geist, ich machte den Rücken gerade und hob die Augen vom Boden, den Blick auf nahe Ziele zu richten - und in Gedanken ein Stückchen darüber hinaus.

Katharina Triebe - Die Chance

Katharina Triebe
Die Chance

 

Trübsinnig starrte Hüffner in sein leeres Bierglas. Der Auftrag vom Chef lag ihm schwer im Magen. Gleich früh hatte der ihn zu sich ins Büro gebeten. "Manfred", hatte er gesagt, "wir als Werbeagentur sollten alles tun, um diesen Auftrag zu bekommen, von ihm wird abhängen, ob unsere Werbeagentur eine Zukunft hat." Bei dem 'Auftrag' handelte es sich darum, den Umbau des Bahnhofs Ostkreuz zu promoten. Eine riesige Werbekampagne sollte bei den Bewohnern des Kietzes rund um das Ostkreuz für Verständnis sorgen, wenn die Bauarbeiten zu Lärm, Schmutz, Zugverspätungen und Umwegen führen würden. Ausgerechnet Hüffner sollte umgehend Vorschläge ausarbeiten, wie die Werbekampagne aussehen könnte. Den ganzen Tag lang hatte er überlegt, leider war ihm nicht viel eingefallen. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen und landete nach Feierabend schließlich in seiner Stammkneipe, der Sportlerklause am Rudolfplatz. Klaus-Dieter, sein Kumpel, gesellte sich zu ihm. "Ober, noch zwei Kurze!", rief er und wandte sich an Hüffner: "Alles in Ordnung bei dir, Manfred?" Hüffner erzählte ihm sein Leid. Klaus-Dieter war ein guter Zuhörer. "Mensch, Manfred, komm, das ist deine große Chance. Wenn ich nicht das Problem mit meiner Arthritis hätte, ich würde mitmachen." Das wäre doch eine große Herausforderung, den Bau des Ostkreuzes durch gezielte Werbung vorzubereiten, zu begleiten und gleichzeitig bei den Leuten damit um Verständnis zu werben. Sie steckten die Köpfe zusammen, bekritzelten Bierdeckel mit Skizzen und Notizen. Todmüde verließ Hüffner gegen Mitternacht schließlich die Sportlerklause und ging heim. Als er am Bahnhof Ostkreuz den Eingang Markgrafendamm durchquerte, sah er links plötzlich eine Ratte sitzen, die vergnügt an einem Wurstzipfel knabberte. Bestens gelaunt nickte er ihr zu: "Wohl bekomm’s!" Sie blinzelte verschwörerisch. Wenige Minuten später schloss er seine Wohnungstür auf und ging ins Bett. Punkt sechs Uhr morgens sprang er wieder auf, duschte kalt und setzte sich an den Computer. Um neun Uhr eilte er ins Büro, in der Hand sein fertiges Konzept und steuerte damit sofort auf den Chef zu. Tolle Ideen hatte er zu Papier gebracht. Eine Wochenzeitung sollte den Umbau mit topaktuellen Informationen für Bahnreisende, Umsteiger und S-Bahnliebhaber begleiten, Leser sollten Fotos einschicken können, wie sie den Umbau miterlebten, Bilder aus Archiven sollten veröffentlicht werden, sogar ein Ostkreuzworträtsel würde es geben und rasende Reporter, die Bauarbeiter und Passanten auf dem Bahnhof nach ihrer Meinung fragten. Eine Tafel der besten Arbeiter wollte er aufstellen lassen, mehrsprachige Infostände für interessierte Fahrgäste, ja, sogar Briefmarkeneditionen vom Ostkreuz hatte er als Vorschlag in sein Konzept aufgenommen. Mit wachsender Begeisterung las der Chef das Papier, schlug dabei immer wieder enthusiastisch mit der Faust auf den Schreibtisch. "Grandios, Hüffner, einfach grandios. In Ihnen schlummert ja ein Vulkan. Das ist der Wahnsinn, damit schaffen wir es, damit kommen wir ganz groß raus. Sie sind Spitze!" Hüffner lachte geschmeichelt und nahm eine von den Zigarren, die der Chef ihm reichte. Echte Havanna, das kam nicht alle Tage vor. "Und jetzt ran an die Arbeit, Sie haben meine volle Unterstützung!" Mit diesen Worten und einem kräftigen Schulterklopfen wurde er wenig später hinausgeschickt.

Von nun an ging es mit Hüffners Karriere steil nach oben. Neben seiner Arbeit als rechte Hand des Chefs wurde er auch als ständiges Mitglied in die Baukommission aufgenommen, ehrenamtlich natürlich. In der Berliner Woche erschienen regelmäßig Interviews mit ihm, auf dem Bahnhof wurde er häufig von unbekannten Leuten gegrüßt, in der nächsten Talkshow mit Anne Will war er fest eingeplant, ja, es ging sogar das Gerücht um, das Ostkreuz solle nach der Fertigstellung womöglich in 'Hüffnerkreuz' umbenannt werden. O Mann, als Hüffner davon hörte, schwindelte ihn. Überhaupt war ihm in letzter Zeit öfter mal schwindlig, neulich musste er sich ganz plötzlich sogar an einem Schuttcontainer auf dem Bahnhof festhalten und mühsam nach Luft schnappen. Es war aber auch ein hektisches Leben. Da konnte selbst einem stabilen Mittfünfziger mal der Atem stocken. Von früh bis abends Besprechungen, Vor-Ort-Begehungen, Termine in Architekturbüros, das wöchentliche Jour fixe, die Management-Meetings, Workshops und Postdurchsicht mit der Sekretärin (ja, Hüffner besaß jetzt eine eigene Sekretärin). Und ständig klingelte das Handy. Sein Privatleben hatte er fast auf Null heruntergefahren. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal etwas mit der Familie unternommen hatte. Neulich traf er seinen Sohn morgens in der Küche und bekam einen ordentlichen Schrecken — Gott, was war der Bengel groß geworden!

Beim letzten Round-Table-Meeting hatte Hüffner seinen Clou präsentiert – das Ostkreuzspiel. Dabei sollte jeder, der sich an einer Umfrage rund um den Bahnhof Ostkreuz beteiligte, automatisch an einer Tombola teilnehmen. Als Hauptpreis winkte eine Jahresumweltkarte der BVG. Die Aktion forderte von der Werbeagentur Höchstleistungen. Plakate wurden entworfen und aufwändig gedruckt, überall in Friedrichshain angebracht, Autos mit Lautsprechern riefen die Bewohner zur Teilnahme auf. "Eure Meinung für Euren Bahnhof." Tatsächlich hatte sich das Organisationsteam in Absprache mit der Baukommission verpflichtet, die Bürgermeinung beim Bahnhofsbau zu berücksichtigen. Endlich kam der Tag heran. 30. November 2010. Viele, viele kamen, um ihre Meinung auf einem Stimmzettel zu notieren und in die Tombola zu werfen – und womöglich den Hauptpreis zu gewinnen. Hüffner fühlte sich wie im siebenten Himmel. Heute war sein Tag. Er schüttelte Hände, stand Rede und Antwort, begrüßte leutselig Freunde und Bekannte und schaute frohlockend zu, wie sich die Urne mit den Stimmzetteln füllte. Längst vergessene Kumpel aus der Sportlerklause schoben sich grüßend an ihm vorbei. Spätabends endete die Veranstaltung. Die Auswertung der Tombola sollte am nächsten Tag erfolgen. Nun doch etwas müde machte sich Hüffner auf den Heimweg. Just, als er den Durchgang am Markgrafendamm durchquerte, sah er wieder die Ratte. Sie hatte die linke Hinterpfote in Gips, ein Stück Bauschutt hatte ihr den Knochen gebrochen. Mühsam humpelte sie umher. Als sie Hüffner erblickte, blieb sie kurz stehen, stutzte, warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, drehte sich weg.

Am nächsten Morgen stand Hüffner lange vor dem Spiegel, begutachtete mit Kennerblick den Knoten an seinem Schlips und strich stolz über den neuen Anzug. Man trug jetzt Armani. Immerhin sollte er heute anlässlich der Auswertung der Tombola eine kleine Rede halten. Der Oberbürgermeister würde anwesend sein und ebenfalls mit einer feierlichen Ansprache aufwarten. Hüffners Herz klopfte aufgeregt. Anerkennend nickte er seinem Spiegelbild noch einmal zu und verließ die Wohnung. In der Agentur angekommen, winkte ihn die Sekretärin gleich zum Chef ins Büro. Doch der bot diesmal keine Zigarre an, im Gegenteil, wütend blickte er ihm entgegen und Hüffner bekam einen gehörigen Schreck. Was war passiert? Hatte der Oberbürgermeister etwa abgesagt? "Hüffner, Sie haben uns was Schönes eingebrockt mit Ihrem Ostkreuzspiel, die Umfrage wird unser Ruin!" "Was, wieso?" "Wissen Sie, was Ihre blöde Tombola ergeben hat? Die Bürger haben sich mehrheitlich für die Erhaltung der Rauch-Erlaubnis auf dem Bahnhof ausgesprochen. Damit wird das Ostkreuz in Zukunft der einzige Raucherbahnhof in Berlin, ja womöglich im ganzen Land sein! Das haben wir Ihrer großmäuligen Versprechung zu verdanken, unbedingt Bürgernähe und Mitbestimmungsrecht beweisen zu wollen!" Hüffner schnappte nach Luft. Das war ja unglaublich. Da hatte er sich nun so angestrengt, den Bahnhof Ostkreuz bürgernah zu promoten, bei den Einwohnern um Verständnis für die Bauarbeiten zu appellieren – und nun das – das Ostkreuz als Raucherbahnhof. Doch zurück konnte man jetzt nicht mehr.

Das Tombolaergebnis rief leidenschaftliche Diskussionen hervor, einige reagierten empört, andere lachten schadenfroh oder jubelten zustimmend. Der Oberbürgermeister sagte kurzfristig seine Teilnahme bei der Festveranstaltung ab. Doch auch ohne ihn wurde der Bahnhof Ostkreuz als 'Raucherbahnhof' eingeweiht.

Für Hüffner war der große Traum vom Werbekönig ausgeträumt, er wurde auf unbefristete Zeit beurlaubt. Plötzlich hatte er wieder viel Zeit für seine Familie und - was das Gute war - er bekam neuerdings wieder viel besser Luft beim Laufen. Das konnte natürlich auch daran liegen, dass er mit dem Rauchen aufgehört hatte.