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Kultur- und Nachbarschaftszentrum

Buch 2003

 

Zu diesem Buch

 

Vom Juli bis Oktober 2003 lief der literarische Wettbewerb "Ostkreuz 2020".  Dabei ging es um künstlerische Visionen und Ideen zum künftigen Leben in den Wohngebieten rings um diesen bedeutenden Verkehrsknotenpunkt Berlins mit seiner wechselvollen Geschichte. Diese Aktion stellte gewissermaßen eine Fortsetzung des vorjährigen Schreibwettbewerbs "Ostkreuz, zweimal täglich" dar, aus der 2002 eine Anthologie gleichen Namens entstanden war. Hier waren die meisten Beiträge mehr auf die Vergangenheit oder die Gegenwart orientiert. Mit "Ostkreuz 2020" sollten nun Geschichten inspiriert werden, die sich mit der Zukunft befassten. Würde das gelingen? Eine offene Frage, nicht zuletzt für die Initiatoren des Wettbewerbs.

Die vorliegende Anthologie beantwortet diese Frage. Sie enthält alle eingesandten Beiträge zu diesem Wettbewerb, nicht so viele wie im vorangegangenen Wettbewerb, aber immerhin eine beachtliche Zahl. Zugelassen waren alle Genres, aber das Thema inspirierte doch eher zu einer narrativen, literarischen Annäherung. Viel mehr Bedingungen, als dass die Länge der Arbeiten fünf Seiten nicht übersteigen und sie bisher  unveröffentlicht sein sollten, waren nicht gestellt worden. Die Einsender selbst sollten bestimmen, was es mit "Ostkreuz 2020" auf sich hat.

Organisator dieses Wettbewerbs war das Nachbarschaftszentrum RuDi in Kooperation mit dem Online-Magazin Kultstral. Das Projekt wurde unterstützt und gefördert durch das Förderprogramm der Europäischen Union, URBAN II. Eine Jury, deren Vorsitz vom früheren Bürgermeister des Bezirkes Friedrichshain, Helios Mendiburu, übernommen wurde, wählte die besten Beiträge aus, prämierte sie und stellte die Preisträger in einem feierlichen Rahmen der Öffentlichkeit vor. Auf die Zusammenstellung dieser Anthologie hatte die Preisvergabe keinen Einfluss. Sie folgte der Logik der Buchpublikation.

Über das Taschenbuch hinaus werden alle Beiträge im Online-Stadtteilmagazin Kultstral (www.kultstral.de) erscheinen und so einen noch größeren Kreis von Lesern finden.

Abschließend sei allen Dank gesagt, die am Wettbewerb und am Zustandekommen der Anthologie beteiligt waren. Das schließt auch diejenigen ein, die die Förderung  dieses Projektes durch die Europäische Union und das Land Berlin ermöglicht haben.

 

Berlin, im Dezember 2003

Buch 2003

 

Zu diesem Buch

 

Vom Juli bis Oktober 2003 lief der literarische Wettbewerb "Ostkreuz 2020".  Dabei ging es um künstlerische Visionen und Ideen zum künftigen Leben in den Wohngebieten rings um diesen bedeutenden Verkehrsknotenpunkt Berlins mit seiner wechselvollen Geschichte. Diese Aktion stellte gewissermaßen eine Fortsetzung des vorjährigen Schreibwettbewerbs "Ostkreuz, zweimal täglich" dar, aus der 2002 eine Anthologie gleichen Namens entstanden war. Hier waren die meisten Beiträge mehr auf die Vergangenheit oder die Gegenwart orientiert. Mit "Ostkreuz 2020" sollten nun Geschichten inspiriert werden, die sich mit der Zukunft befassten. Würde das gelingen? Eine offene Frage, nicht zuletzt für die Initiatoren des Wettbewerbs.

Die vorliegende Anthologie beantwortet diese Frage. Sie enthält alle eingesandten Beiträge zu diesem Wettbewerb, nicht so viele wie im vorangegangenen Wettbewerb, aber immerhin eine beachtliche Zahl. Zugelassen waren alle Genres, aber das Thema inspirierte doch eher zu einer narrativen, literarischen Annäherung. Viel mehr Bedingungen, als dass die Länge der Arbeiten fünf Seiten nicht übersteigen und sie bisher  unveröffentlicht sein sollten, waren nicht gestellt worden. Die Einsender selbst sollten bestimmen, was es mit "Ostkreuz 2020" auf sich hat.

Organisator dieses Wettbewerbs war das Nachbarschaftszentrum RuDi in Kooperation mit dem Online-Magazin Kultstral. Das Projekt wurde unterstützt und gefördert durch das Förderprogramm der Europäischen Union, URBAN II. Eine Jury, deren Vorsitz vom früheren Bürgermeister des Bezirkes Friedrichshain, Helios Mendiburu, übernommen wurde, wählte die besten Beiträge aus, prämierte sie und stellte die Preisträger in einem feierlichen Rahmen der Öffentlichkeit vor. Auf die Zusammenstellung dieser Anthologie hatte die Preisvergabe keinen Einfluss. Sie folgte der Logik der Buchpublikation.

Über das Taschenbuch hinaus werden alle Beiträge im Online-Stadtteilmagazin Kultstral (www.kultstral.de) erscheinen und so einen noch größeren Kreis von Lesern finden.

Abschließend sei allen Dank gesagt, die am Wettbewerb und am Zustandekommen der Anthologie beteiligt waren. Das schließt auch diejenigen ein, die die Förderung  dieses Projektes durch die Europäische Union und das Land Berlin ermöglicht haben.

 

Berlin, im Dezember 2003

Carsten Schulze - Sommertagtraum

 

Karsten Schulze
Sommertagtraum

 

Tomczek  betrachtete sein Gesicht im Monitor. Es war alt geworden, das Nichtstun, das Zunichtsnutzesein hatten es verzehrt. Keine Schicksalsschläge oder existenziellen Bedrohungen — die unaufhörliche Langeweile, die immer gleichen Gespräche, der genormte Alltag, die sinnlosen Beschäftigungen hatten ihm über die Jahre ihre Narben ins Gesicht gefräst.

Sein verlorener Blick streifte hier und da Wartende, Vorsichhineilende, die ihrem nächsten Ziel hinterher jagten. Ein paar Retrogestalten schienen sich zu einer Performance der Moden der letzten Jahrzehnte versammelt zu haben. Die fünfte Sixties-, die sechste Hippie-, die — er wusste nicht wievielte — Punkwelle, Neo-Neoattitüden, bodenlose Leere, die T-Kom-Stimme verkündete die Ankunft der nächsten S-Bahn. Wie eine Feder glitt der silberne Zug in die Halle. Das lückenlos scheinende Fensterband untermalte ein orangefarbener Streifen, der holografische Bilder der aktuellen Net-Views übertrug. Naher Osten, Afrika, die Ekel erregenden Debatten der Rechtsbeharrer und Wohlstandsbewahrer — es würde niemals enden. Das gnadenlose Hoch der letzten Tage schien den Zug bis kurz vor den Siedepunkt erhitzt zu haben, die Bilder flimmerten wie in irisierende Luft gehüllt, ein leises metallisches Knistern ging von ihnen aus. Bilder von überall auf Reisen, als glaubten sie, man könne nicht genug kriegen von all dem, was einen im Grunde nichts anging. Unhörbar glitten die Schleusen auf und entließen in einem kühlen Luftschwall einen Strom von Fahrgästen. Er spürte, wie dieses Fließen Besitz von ihm ergriff, seinen Körper, seine Gedanken durchspülte, alles hinwegspülte in ein weit verzweigtes Delta der Gleichgültigkeit. Die Dinge kamen, glitten vorüber, während er sie betrachtete, verschwanden sie, um neue Dinge nach sich zu ziehen. Am Fenster sitzend betrachtete er die aus dieser Perspektive grotesk verzerrten Bilder der Orangeline, die sich in einen Schweif verwandelte, als der Zug kräftig beschleunigend den Bahnhof verließ. Ihm gegenüber saß ein knutschendes Pärchen. Den linken Arm des Jungen zierten zwei Kom-Tattoos. Es gab ein monatliches Taschengeld für diese Art der Werbung, das bei Jugendlichen sehr beliebt war. Man konnte im Wunderland seine Haut zu Markte tragen. Hatte man das Geld nicht mehr nötig, wurden sie kosten- und makellos entfernt. Mit zunehmendem Alter wurden sie zum Stigma. Ostkreuz verließ er den Zug. Hinter der Ausgangsschleuse verharrte er. Das OK-Center dominierte die Szene mit seiner Glasfront, die sich aus geometrischen Formen zusammensetzte, die er noch aus der Schule kannte. Fast glaubte er die einzelnen Gebäudeteile stöhnen zu hören unter dem Schmerz, den sie sich gegenseitig zuzufügen schienen. In der Weise, wie sich Zylinder, Kegelstumpf, Pyramide und Kubus gegenseitig durchdrangen, Eklektizismus der Neomoderne. Öde gähnte die riesenhafte Fläche aus genormten Betonwerksteinen in ihrer monotonen Müdigkeit, unterbrochen nur von geradlinigen und schwingenden Bändern, die die Konsequenz des kühnen Entwurfs ein wenig schwächten. Wie willkürlich geordnet stand eine Ansammlung öffentlicher Stadtmöbel im sengenden Mittagslicht, Bänke ohne die Spuren des Messers, Mülleimer ohne Graffiti, T-Kom-Zellen mit intakten Scheiben, deren Glanz kein eingeritztes Muster trübte. Kein Zeichen von Unordnung oder Vandalismus unter den Augen der Ü-Cams. Mit emsigen, greifzangenbewehrten Händen lauerten die S-Amt-Kolonnen gierig auf achtlos fortgeworfene Fastfoodreste. Die vereinzelten Bäume würden nicht alt und knorrig werden. Wenig tiefer würden ihre Wurzeln auf Beton stoßen, Decke des Tunnels, der sechsspurig den Platz unterquerte. Er musste pinkeln. Das Wall-Klo aus Marmor und modernster Technik kostete zwei € Eintritt und weit und breit kein toter Winkel. Alles lebendig! Die Akteure in diesem Ensemble — hier ein Berliner, aber das war nicht weiter wichtig - wirkten auf ihn ein wenig wie die 3D-Animationen der Architekten, in denen sich Fußgängermodelle in Modellräumen bewegten, um neue Erkenntnisse über Verlauf und Verhalten von Konsumentenströmen zu erlangen, die der Optimierung von Center-Strukturen dienen konnten. Innovation und Nachhaltigkeit brandmarkten den öffentlichen Raum in einer Weise, die so manchen sensiblen Zeitgenossen zum Exodus in ländliche, gänzlich aufgegebene Gegenden getrieben hatte. Durch die Glasfront des Centers spiegelten sich im Glanz des täglich polierten Fußbodens, den man aus allen Steinbrüchen der Welt hierher gekarrt hatte, die Leuchtreklamen der allgegenwärtigen, immer gleichen EH-Ketten, die sich über die Jahre metastasenartig verbreitet hatten. Ein Krebs, der nicht tötete, sondern am Leben erhielt - mehr nicht. Vor ihm drehte sich die vierflügelige Tür der Drehschleuse mit anmutiger, dem bunten Treiben spottender Langsamkeit. Der schwülwarme, viertelkreisförmige Raum sog ihn mit schlüpfriger Leichtigkeit auf, um ihn jenseits der Schwelle wieder auszuspeien. Kindliche Eindrücke an überheizte Kaufhallen wurden in ihm wach, Zeiten unschuldiger Neugier, unschuldiger Gedanken. Die säuselnde Klangkulisse erinnerte ihn an Theater. Die Bühne war mit Statisten reichlich bevölkert. Einkaufstüten schleppendes, Wagen schiebendes Volk, die lichte Rotunde abschreitend, neue Hose, Schuhe, Hemd, Wurst, Käse, feine Backwaren, Tiefkühlfertigkost, Burger-Softdrink-Familymenue, Tiefgarage, Eigenheim, Stein auf Stein, Hecke, Grill und Gartenzaun, yeah yippieh yeah, heute, morgen, vorwärts immer, nimmer...wohin? Tomczek wusste nicht, wusste nichts.

Er setzte sich auf eine Bank vor der marmorgefassten Pflanzinsel unter der gläsernen Kuppel.

Licht! Er schloss die Augen, lehnte den Kopf zurück. Sonne - hinter geschlossenen Lidern, Gräser im Wind, mächtige Pappeln, Espengeflüster, wabernde Schlingarme im kühlen, klaren Wasser der Spree - das war draußen - 300 Meter neben der Schnellstraße - eine Illusion.

Er war ein Illusionist in der Geisterbahn seiner Träume geworden. Sie waren zum Scheitern verurteilt, er. Die Welt war zu groß für ihn, unvorstellbar groß, keine kleinen Lösungen für eine kleine Welt. Er fühlte sich hilflos, einsam - dekadenter Schmerz der Seele. Kaum jemand ahnte, was kommen würde... einer grub einen Findling frei, drehte ihn, schuf dem Bach ein neues Bett, das teilte sich vorm Findling, vereinte sich dann, fließen, davonfließen......

"Ist Ihnen nicht gut?" Der freundlich lächelnde Mann trug Barett und Vollbart. Über seiner Stirn prangte das Wort ARGUS. Tomczek parierte die Frage mit einem ungläubigen "Wovon in aller Welt reden Sie?" und führte die Hände des Wachmanns an seine Wangen. "Sie haben so warme Hände, geht es Ihnen gut?" Der Wachmann sah sich unsicher um. "Schauen Sie nicht weg, schämen Sie sich?" Der Wachmann richtete seinen Blick wieder auf ihn. "Kennen Sie einen Ort zum Sterben?" Mit offensichtlich aufrichtiger Anteilnahme setzte er sich neben Tomczek. Seine Hände lagen jetzt in Tomczeks Schoß, der lehnte seinen Kopf an die uniformierte Schulter und begann behaglich ein altes Kinderlied zu summen.

Der Wachmann schaute ihn verwundert an. "Ich verstehe nicht." Tomczek versank in einem Traum, ein dunkler Tunnel, Sterne am Mauergewölbe, ein Schatten kroch aus der Ferne auf ihn zu, leiser Gesang einer unendlich schönen Melodie...

"Nicki, Nicki!" Ein halsstarriger, nikotingelber Pudel rutschte, hilflos die Pfoten gegen den glatt polierten Boden gestemmt, hinter einer kreischenden, uralten, gebeugten Dame her.

"Nicki, jetzt komm, Niiicki!" Der Wachmann brüllte plötzlich los. "Ich krieg dich, du Aas, warte!" Dann stürmte er los, stolperte beinah über die Schnappleine, die Nicki mit seinem Frauchen verband, und hechtete auf den Eingang von REAL zu. "Bleib steh'n, du Sau!" quietschte der Wachmann, schon wieder Fahrt wegnehmend, um nicht über den pechschwarzen, verwegen gelockten Mischling hinwegzufallen, der ängstlich - eine Tüte zwischen den Zähnen - nicht wusste, wo er lang rennen sollte. Dann startete der kecke kleine Hund und nahm, indem er sich unter den  Pranken des Wachmanns wegduckte, Reißaus in Richtung der schmalen Glaspforte, die neben der Drehtür offen stand. "Mistsau, verrecke!" Der Wachmann versuchte sich, wild mit den Armen rudernd, zu fangen, schrappte mit dem Barett haarscharf an der Kante der Brottheke vorbei, murmelte ein verkniffenes "'tschuldigen Sie, gnädiger Herr!", streifte die Einkaufstüte des so Angesprochenen und fiel schließlich doch auf alle Viere, fast in die Arme eines kleinen Mädchens, das sich ängstlich hinter seiner Mutter zu verstecken suchte. Wild fluchend rappelte er sich auf und wendete in Richtung Ausgang, um das Objekt seiner Begierde gerade noch schwanzwedelnd auf den Vorplatz entschwinden zu sehen. "Kanaille!" Japsend ließ er sich neben Tomczek auf die Bank plumpsen. "So geht das schon seit Wochen." keuchte er. "Spaziert einfach hier rein, wuselt durch die Gänge, durchstöbert die Mülleimer, bettelt an der Wursttheke, die stecken ihm auch noch was zu, damit er bestimmt wiederkommt. Er springt die Kinder an, klaut ihnen Eis und Süßigkeiten aus den Fingern, die Leute finden 's auch noch lustig und dann, ab durch die Mitte."

Tomczek musste grinsen, obwohl ihm traurig zu Mute war. Von der Großbildleinwand über dem Eingang leierte ein üppiges blondiertes Promohuhn die aktuellen Sonderangebote herunter. Von allen Seiten vereinigten sich Schnäppchen offerierende Stimmen zu einer misstönenden Kakophonie schier unglaublicher Unterbietungen. Draußen staute sich die samstägliche Kombikolonne vor der Tiefgarageneinfahrt. Neben der Rolltreppe verschwand eine nicht abreißende Schlange prall gefüllter Einkaufswagen nebst ihrer Fahrer hinab in den Keller. Der Strom der Zeit war zu einem unappetitlichen Warenstrom verkommen. Aus der Kassenhalle gaben die vollautomatisierten Scanschleusen ihr zwitscherndes Konzert. Ein Großteil der Kassiererinnen hatte sich seit kurzem in Bürgergeldempfängerinnen verwandelt, die nichtsnützig vor dem Fernseher lungerten, um ihre überschüssige Freizeit mit dem Anschauen zahlloser Tagesquizshows totzuschlagen. Eine Automatengesellschaft, die keine Handlanger mehr brauchte — Segen der Technik. Nach und nach hatte sich die stupide Arbeit an die Ränder einer weltumspannenden Freihandelszone verlagert, die man auch nur aus dem Fernsehen kannte, emsige, dunkelhäutige Massen, die überzeugt worden waren, dass nur das Dienen ins Paradies führte. Die Massen hierzulande hatten ein ganz neues Problem, das hieß Freizeitbewältigung. Die Auswüchse dieser anderweitig geltungsbedürftigen Masse schleuste man durch eine hocheffektive Eventmaschinerie, die jedem seine öffentliche Zurschaustellung auf mittlerweile mehr als hundert Fernsehkanälen ermöglichte. Ein ganzes Land war zum Superstar geworden, alle feierten jeden, es war wunderbar.

Tomczek erhob sich schwerfällig. Er drückte dem Wachmann die Hände, wünschte ihm gutes Gelingen bei seiner nervenaufreibenden Jagd nach Mr. Black und wandte sich der Drehschleuse zu. Dann stand er wieder im prallen Sonnenlicht, der Wärmeschock machte ihn schwindelig. Halb blind stolperte er die lang gestreckte Warenschleuse entlang, die dreispurig in den nicht öffentlichen Bereich der Anlage führte. Er verdrückte sich zum Pinkeln in die Büsche. Vor ihm war ein Loch in den meterhohen Stabgitterzaun geschnitten, das ein kleiner Ranunkelstrauch fast vollständig verdeckte. Auf dem Rücken liegend zwängte er sich durch die kleine Lücke und stand am Ende einer kopfsteingepflasterten Straße, die von Beifuß und Goldruten überwuchert war, die in voller Blüte standen. Über einen uralten rostigen Drahtzaun nickten die schweren Traubendolden einer verwilderten Holunderhecke. Auf dem Schild an der kleinen Gartenpforte stand in kaum noch lesbaren altertümlichen Buchstaben KGA Reichsbahn II. Mit seinem ganzen Gewicht musste Tomczek sich dagegen stemmen, bis sie sich einen Spalt breit öffnete, so dass er sich hindurch schlängeln konnte. Vor ihm lag ein schmaler Pfad, der sich in einem bunt blühenden Gewirr verschiedener Stauden verlor, die emsige Laubenpieper vor Jahren hier sich selbst überlassen haben mussten. Der Geruch gärender Äpfel lag verführerisch in der schwülen Luft. Es gab weit und breit keine Zeichen menschlicher Anwesenheit, eine Stille harmonischer Natur umgab ihn. Summen, Zwitschern, Zirpen, Rascheln, flüsterndes Laub, sanft streichender Wind und das ferne Grollen der Autobahn, das durch Luftschächte nach oben drang. Verwilderte Gärten, zerfallende Lauben mit eingestürzten Dächern, der Boden übersät mit Unrat, verkohlten Holzresten, Brombeeren, die sich durch die zerschlagenen Fenster wanden, vermodernde Zäune, die von Hopfen und Knöterich vollkommen überwuchert waren. Er entdeckte Mr. Black, der genüsslich seine Beute zerfetzte und ihn mit einer Mischung aus Neugier und Argwohn zu beobachten schien. Bleierne Müdigkeit übermannte ihn. Er stolperte weiter und erreichte eine mannshohe Mauer, die den Garten von der dahinter liegenden Brache trennte. Auch dort ein ähnliches Bild, Trümmer einer vergangenen Zeit, leere Fensterhöhlen, die an Krieg erinnerten, morbider Charme einer längst verklärten Epoche. Tomczek folgte der Mauer und erreichte schließlich die Böschung des Bahndamms. Auf allen Vieren krabbelte er weiter, die Brombeeren kratzten ihm Hände und Arme blutig, aber er spürte den Schmerz nicht mehr. Er spürte nichts mehr. Das gleichgültige Fließen, das ihm mit der Zeit so vertraut geworden war, hatte jetzt völlig von ihm Besitz ergriffen. Mit letzter Kraft erreichte er das Ende der Böschung. Verschwommen glänzten vor ihm die endlosen Doppelbänder der S-Bahngleise. Unbeholfen entledigte er sich seiner Jacke, legte sie zusammengeknüllt hinter dem äußeren Gleis auf die Betonschwelle und bettete seinen Kopf in den weichen Stoff. Eine Weile starrte er in den wolkenlosen Himmel. Dann schlief er ein ... ein Traum: ich lege die Elektroden an, kühles Gel an den Schläfen, lege den Hebel um, Dunkelheit, ein Gitternetz feiner Linien erstreckt sich auf stahlblauem Grund bis zum Horizont. Eine Stimme zittert durch den Raum, von unendlich weit her. Sie klingt wie fremdartiger Singsang. Ich fühle mich leicht, als sei ich körperlos, nur ein immaterieller Gedanke ohne Herkunft, ohne Bestimmung. Dann beginnt die Luft zu zittern, der Gedanke wird unklar, immer weniger fassbar, verschwindet. Schließlich sehe ich,  wie er Form annimmt, sich in eine durchsichtige Blase verwandelt, letztes Glied einer Kette, die durch meinen Kopf zieht und mich traumlos zurücklässt.

Ralv Ogel - Jogging um halb zehn

 

Ralv Ogel
Jogging um halb zehn

 

Kühle Frische. Ruhe. Gezwitscher. Morgenrot überm Ostkreuz. Wind zischelt an Mauern, Kanten, Pfählen entlang. Feuchter Asphalt, von Gräsern, Trieben und Strünken aufgerissen. Auf dem sich allerdings noch ganz gut laufen lässt, mit stabilen, gut gedämpften Laufschuhen. Die hier machen's nicht mehr lange. Wird bald Frühling werden. Stirnband kann ich einpacken. Aber noch eilt mir mein Atem wolkig voraus. Wenn sie noch nicht da ist, lauf ich schon mal Richtung Ufer, dreh dann um und ihr entgegen. Vom Rumstehen hol ich mir sicher was. Seit die Lauffreunde die Ruinen abgesichert haben, kann man hier wieder gut langlaufen – vorausgesetzt, der alte Expo-Weg am Ufer wird freigehalten. Die Büsche sind ja das Geringste. Der Vermieterverein sprengt immer noch regelmäßig die letzten Reste an Wohnungsbestand weg. Früher hätte man das wohl unter Terrorismus verbucht. Na, hier wohnt ja auch keiner mehr, soll auch keiner wohnen. Und dann ist prompt wieder der Pfad zugeschüttet. Kümmert die ja nicht. Heute keine Überraschungen, scheint's.

Letztens war in der Pizzeria noch der Ofen zu sehen. Hat auch irgendjemand zerschlagen.  Wer kommt denn hier noch her außer uns Läufern? Die Zivilisation ist fünf Kilometer weg. "Der bewohnte Teil Berlins hat sich im Laufe der Jahre 2015 bis 2020 etwa auf die Größe Bonns eingependelt." Wann stand das in der Zeitung – diesen oder letzten Monat? Der Betonstumpf da war mal 'n Kindergarten. Glaub ich. Um den ist nicht schade. Hinten um die Silos soll man eher 'nen Bogen machen. Aber die Straße ist ja breit genug. Heinz ist letztens mal wieder bis Friedrichshagen runter. Schon so 'ne Sache. Wenn er da umkippt, ist Schluss, da gibt's ja nun kein gar nix mehr. Aber das ist ja das Schöne am Laufen: Allein mit dir und deinen Beinen. Rollt heute wieder wie von selbst. Ich glaub, ich dreh hier um, hier wird der Wildwuchs zu dicht, weiß man nie. Die Wölfe sollen schon ganz in die Nähe gekommen sein. Ach, bisschen überängstlich, oder? Wer sagt denn, dass die einen anfallen. Naja, erst mal zurück. Bestimmt kommt mir Martina dann schon entgegen. Dahinten, das ist sie doch schon, oder? Grüne Jacke, weinrote Hose. Bestimmt. Irgendwo Kameras? Leute, die ich nicht kenne? Bullen können überall sein. Entwickelst 'ne richtige Paranoia über die Jahre. – "Hallo, schön, dich zu sehen." – "Schön, dass du da bist. Bin 'n bisschen vorgelaufen um mir nix wegzuholen." – "Ist die Luft rein? Hast du jemand geseh'n?" – "Nichts bemerkt." – "Ich auch nicht. Hat länger gedauert, weil wir keine zehn Fahrgäste zusammen gekriegt haben und die S-Bahn deshalb nicht losfuhr. Anscheinend hat sich jemand erst angemeldet und ist dann krank geworden oder so. Aber dann kam zum Glück spontan noch jemand." – "Die müssen ja auch mal fahren. Wie oft fährt sie pro Tag? Dreimal?" – "Bei Bedarf auch öfter. Bin froh, dass sie überhaupt noch laufen. Letztens blieb eine auf offener Strecke liegen. Zwischen Treptower Park und Sonnenallee. Mitten in 'ner Müllhalde." – "Ich mach mir jeden Tag mehr Sorgen, was ist, wenn sie uns erwischen." – "Die kürzen mich unters Existenzminimum. Hast du die Geschichte mitgekriegt von dem ehemaligen Tierwärter im Zoo? Kam letztens im Radio." – "Zum Radio hören komm ich fast nie. Zwischen eins und drei mach ich meistens mein Mittagsschläfchen." – "Mal sehen, ob ich's zusammenkriege. Also: Der betreute damals im Zoo die Seehunde. Und als der Zoo zumachte, hat er's nicht übers Herz gebracht, die Tiere einzuschläfern und zwei mit nach Hause genommen. Die Hälfte seiner Rente ging fürs Tierfutter drauf. Lebte nur für seine Seehunde. So weit, so gut. Aber da gab's dann seine Nachbarin. Allein stehend. Die hatte sich in ihn verknallt und 'ne ziemlich dumme Idee." – "Hat sich an ihn rangeschmissen." – "Nicht nur das. Man munkelt, sie hätte ihn und sich selbst angezeigt." – "Wegen Partnerschaftsverschweigung? Aber es gab doch gar keine." – "Vor Gericht genügt der Anschein. Und für den hat sie gesorgt." – "Wie kann man nur so blöd sein." – "Sie hat gedacht, er müsste jede Menge Kohle kriegen, auf jeden Fall mehr als sie. Und wenn dann ihre Partnerschaft gerichtlich festgestellt wird, wird ja ihre Rente, die geringere, gekürzt, und er wird sie aus Anstand bei sich aufnehmen und für sie sorgen müssen." – "Und?" – "Seine Rente war geringer als ihre. Sie war Chefsekretärin früher. In der Privatwirtschaft. Da haste ja schon fürs Kopieren mehr gekriegt als so 'n Tierpfleger im öffentlichen Dienst." – "Also hat sie für ihn sorgen müssen." – "Ja, das hat sie sich auch so ausgemalt. Aber er hat total auf Ablehnung geschaltet. Wollte sie nicht mehr sehen und zusehen, dass das alles rückgängig gemacht wird." – "Wenn die dich einmal am Kragen haben." – "Eben. Aber sie hat irgendwann resigniert. Und dann haben sie sich geeinigt, dass sie eine amtliche Trennung erreichen wollen. Auseinander ziehen, sich nicht mehr sehen." – "Und wie konnte er überleben? Hat sie ihn weiter bezahlt?" – "Wollte er nicht. Hat ihr nicht mal ihr Konto gegeben. Briefe zurückgeschickt." – "Dann hat er also mit viel weniger Kohle auskommen müssen." – "Etwas mehr als die Hälfte." – "Und die Tiere?" – "Die hat er durchgefüttert. Nur er selbst kam zu kurz. Hat ja auch keiner mehr nach ihm gesehen, nachdem die Nachbarin weggezogen war." – "Mein Gott." – "Letzte Woche hat 'n Renten-Beamter seine Leiche gefunden. Kam wegen 'ner amtlichen Prüfung, ob die Partnerschaft noch Bestand hat. Hatte sie beantragt. Eingegangen wie 'ne Primel. Verhungert." – "Wie alt war er?" – "Noch 'ne Ecke jünger als wir. Fünfundsiebzig. Die Seehunde hat man übrigens nicht gefunden. Müssen irgendwo in freier Wildbahn unterwegs sein." – "Die Rummelsburger Bucht wär da ja fast ideal, oder? Vielleicht watschelt uns ja noch einer übern Weg." – "Ja, das wär lustig." – "Oder lieber nicht. Vielleicht bringen sie ja Unglück." – "Verschrei's nicht. Im übrigen wär's für uns nicht ganz so schlimm, oder? Würdest du mir die Tür weisen?" – "Kommt drauf an. Wie kränkelnd bist du denn?" – "Mein letzter Arztbesuch war vor zehn Jahren." – "Doch nur, weil's zu teuer ist." – "Nein, ich bin kerngesund! Kommt vom Laufen. Und von dir." – "Na, dann." Das größte Wagnis, dem sich ein Rentner heutzutage aussetzen kann, ist wahrscheinlich ein amtlich nicht genehmigter Kuss in der Öffentlichkeit. Aber man gönnt sich ja sonst nichts. Und hier am Ostkreuz schau'n einem eh nur wilde Tiere zu. Die kennen das.

Thoralf Kullig - Der Feldhase

 

Thoralf Kullig
Der Feldhase

 

Er verstand sie nicht. Kein einziges Wort. Georg lümmelte sich in einem abgeschabten Sessel unbestimmten Alters inmitten des heruntergekommenen Clubraumes und versuchte seit fast einer Stunde vergebens diesem seltsamen Mädchen zu folgen, welches in flammenden Worten auf ihn einredete. Auf ihn und seine Mitstreiter. Er schaute zweifelnd in die Runde. Dort saß sie – die ruhmreiche Bürgerinitiative "Keine Autobahn Durch Den Kiez, Stoppt  Die  Baukonzerne"  (KADDKSDBK) bzw. deren trauriger Rest:

Ulrike, die prinzipiell alles ablehnte, was irgendwie nach Kommerz roch und sogar ihre beiden Hunde "Trotzki" und "Che" streng vegan ernährte; Rob Ying, genannt "YingYang", weil er vor zwölf Jahren mit seiner Familie aus China hierher flüchtete, und  Günni, der sowieso nicht wusste, wohin mit sich und nur an Vormittagen zwischen Aufstehen und Frühstück annähernd alkoholfrei war.  Vermutlich hatte er deshalb nichts dagegen, diese  siebzehnjährige Amazone anzuschleppen, die ihnen mit allen Mitteln einzureden versuchte, den mittlerweile aussichtslosen Kampf gegen "das Imperium" fortzusetzen.

Während "Ichwohneschließlichauchhier"-Katrin redete und redete, überlegte Georg, wann die Dinge eigentlich begonnen hatten, schief zu laufen. Vielleicht schon im Jahre 2007, vor inzwischen acht Jahren, als der Architektur-Wettbewerb Ostkreuz 2020 ausgeschrieben wurde und Anwohner und Medien lieber Wolkenkratzerprojekte oder Metrorapidstrecken diskutierten, anstatt den drohenden, von der Industrie massiv geförderten, Plan einer sechsspurigen Autobahn mitten durch den Kiez zu bekämpfen? Oder begannen die Probleme drei Jahre später, als sich der "Highway to Ostkreuz"  durchsetzte und unzählige Anwohner und Basisgruppen das Vorhaben in Grund und Boden verdammten, statt es grundsätzlich zu akzeptieren, aber im Detail bedeutende Zugeständnisse auszuhandeln?  Er  wusste es nicht. Ja, im Jahre 2010 waren sie eine Macht gewesen. Allein Georgs Bürgerinitiative KADDKSDBK, die er zusammen mit Günni und Rob bei einem "kritischen Besäufnis" in der Sonntagstraße gegründet hatte, zählte annähernd 50 Mitglieder aller Couleur inklusive  500 Alternativvorschläge für ein überdachtes Wolkenkuckucksheim namens Ostkreuz. Vielleicht begann damals der Niedergang. Sie führten gemeinsam Prozesse, klagten gegen anstehende Enteignungen, absehbare Lärmbelästigungen und Abgase, Kostenexplosionen, stellten Befangenheitsanträge und störten Lokaltermine, nur um später festzustellen,  dass sämtliche Aktionen von Politik und beteiligter Industrie vorausgesehen und fest eingeplant waren. Nützliche Idioten konnte man immer gebrauchen!  Und negative Werbung ist besser als gar keine.

Die letzte Niederlage für die arg geschrumpften Protestierer lag genau drei Monate  zurück; ein endgültiges Urteil stand in 14 Tagen an. Georg schüttelte den Kopf. Es war hoffnungslos. Und nun schleppte Günni auch noch dieses Mädchen, diesen Jeanne-d´Arc-Verschnitt, an! Siebzehn Jahr, blondes Haar. Angeblich Mitglied des Europäischen Jugendparlaments. Toll. Persönlich bekannt mit Dauerkanzler Schröder, der es auch 2018 "noch mal wissen" wollte. Super. Als ob das irgendjemanden interessieren würde! Titel gab es hier schließlich genug. Georg zum Beispiel hatte gleich drei davon: Arbeitsloser, Alpha-Single und  Anführer einer Verliererversammlung, die sich Bürgerinitiative titulierte. Von jener fühlte er sich nun ebenso intensiv wie ratlos angestarrt. Natürlich war seine Grundsatzentscheidung gefragt. Vielleicht sollte er zuvor den 50:50 Joker ziehen oder jemanden anrufen... ??

Georg erhob sich würdevoll mit einem Räuspern, die Schultern strafften sich unter der Verantwortung — gleichsam gegen diese siebzehnjährige Neunmalkluge gerichtet – da fiel ihm selbige schon ins nicht ergriffene Wort. Katrin schlug vor, in den kommenden vierzehn Tagen eine komplett neue Strategie zu starten. Ihre Idee: Da die Bebauungsschneise bereits seit zwei Jahren in beträchtlichem Umfang enteignet und geräumt würde, hätten sich sicher an vielen  Stellen frei wuchernde Biotope gebildet, in denen man durchaus die eine oder andere geschützte Lebensform entdecken könne. Mit Fotos und entsprechendem Auftritt von Robin Wood oder dem NABU e. V. wäre bei Gericht ein Aufschub herauszuholen. Das sei wichtig, weil bei einer nochmaligen Verzögerung das Industriekonsortium platzen würde und somit eine Neuausschreibung in Frage käme. Jetzt fiel sogar Günni die Bierflasche aus dem Gesicht. "Meinst Du, das könnte ähnlich laufen wie beim Flughafen, der nun pünktlich im Jahre 2021 auf dem Ex-Bombodrom-Gelände bei Wittstock gebaut werden soll?"  krächzte er. "Sofern es keine Altlasten gibt ...??"  ergänzte Ulrike wiehernd. Plötzlich fingen alle an, durcheinander zu reden. Am lautesten brüllte Rob, der sich besonders engagierte, weil er — aus einer Region stammend, in der chinesische Bürokraten ohne Rücksicht auf die Interessen von Millionen Anwohnern den gigantischen Drei-Schluchten-Staudamm bauten – frühzeitig gelernt hatte, sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren. Georg starrte Katrin staunend an - er war ehrlich beeindruckt. Wie sie doch mit ihren Ideen die Stimmung gehoben hatte! Obendrein war sie nicht nur klug, sondern – wie konnte er das bisher übersehen? – verdammt hübsch.

Später erinnerte er sich nur noch unscharf an den weiteren Verlauf der Debatte, "Nenn-mich-nicht-Ulli"–Ulrike hatte Kamera und Fernglas besorgt, und Georg und Katrin bildeten das erste Erkundungsteam. Er wollte einfach sehen, ob sie recht hatte. Er wünschte es sich um seinet-, aber auch um ihretwillen. Denn ein bisschen – soviel gestand er sich ein – bewunderte er sie. Sie gingen die Sonntagstraße hinunter und passierten den neu gestalteten  S- und Fernbahnhof Ostkreuz. Georg betrachtete das futuristische Eingangsportal mit der überdimensionalen elektronischen Anzeigentafel, der größten in ganz Berlin.  Hier konnte man schon von weitem Abfahrtzeiten und Aussehen der Züge studieren.  Außerdem informierten kurze Multimedia-Clips über aktuelle Kauf- und Entertainmentangebote innerhalb der riesigen „Bahnhof-Ostkreuz-Arena“. Katrin blieb stehen und betrachtete den Ort. Sie erzählte Georg, dass sie oft hierher kam, denn es war nicht einer von den vielen 08/15 Glas- und Shoppingpalästen, wie es sie in Berlin zu Dutzenden gab. Es sei ihr ein wenig peinlich —  besonders wenn sie an ihr alternatives Image dachte – aber die steinernen, fast klassizistischen Fassaden in Verbindung mit der geschickten Neon-Beleuchtung hätten für sie, besonders in den Abendstunden, etwas zugleich Beruhigendes wie Magisches. Georg war überrascht, solche Gefühlsregungen hätte er nicht bei ihr vermutet und es nahm ihn noch mehr für sie ein.

Er ging an Katrins Seite weiter in die Lenbachstraße und fühlte sich mit einem Mal großartig. Seit Ewigkeiten hatte ihn kein Mädchen mehr so durcheinander gebracht! Beinahe fünf Monate war es nun her, seit ihn seine letzte Freundin fluchtartig in Richtung Hamburg – natürlich via Autobahn! – verlassen hatte, als sie von seinen Zukunftsplänen als Retter der Menschheit vor weltweiter Betonierung erfuhr. Ob Katrin noch solo war? Er traute sich nicht zu fragen; vielleicht sah sie ihn dann wieder mit diesem leicht spöttischen Blick an, von dem er sich hinter seiner überlegenen Fassade komplett durchschaut fühlte. Außerdem war sie erst siebzehn. Vielleicht hielt sie ihn mit seinen stolzen 25 schon für einen alten Knacker. Unwillkürlich zog er den Bauch ein und streckte die Brust raus.

Ein kurzes "sch, sch" von ihr unterbrach seine Gedanken. Sie standen einige Meter vor einem verfallenen Abrisshaus direkt an der Matkowskystraße. Hier sollte die Autobahn entlang führen. "Ich glaube, dort sind Fledermäuse", flüsterte sie. Er blickte durch sein Fernglas — genau wie die Kamera eines der neueren Modelle, mit denen man auch nachts gestochen scharf sehen und filmen konnte. Tatsächlich, sie hatte recht. Er beobachtete verblüfft das muntere Treiben. Das schien eine ganze Kolonie zu sein. "Vielleicht sollten wir gleich beim NABU e. V. anrufen." meinte sie. "Wenn hier schon Fledermäuse in dieser hohen Zahl ungestört nisten können, finden die Naturprofis sicher noch mehr. Vielleicht sogar den Feldhasen, der  steht auf der Roten Liste der geschützten Tiere."  "Also ich würde lieber noch einige Tage auf eigene Faust nach  Feldhasen suchen." brach es spontan aus Georg heraus. "Und zwar gemeinsam mit dir!  Natürlich nur wenn du magst ... ?" Sieh an, jetzt meinte er, auf ihren Wangen einen Hauch von Röte wahrgenommen zu haben. So cool war sie also doch nicht! Aber auch seine Ohren fühlten sich plötzlich unerträglich heiß an. Glücklicherweise konnte man in der Dämmerung nicht mehr so gut sehen. Frech kommt weiter, dachte er und legte nach:  "Ich habe mich schon seit der fünften Klasse im Bio-Unterricht intensiv für das Fortpflanzungsverhalten von Feldhasen und Karnickeln interessiert – wie wäre es mit einer kostenlosen Führung morgen oder übermorgen?" "Und das Gerichtsverfahren?" antwortete sie mit leiser Stimme. "Wichtigere Dinge haben Vorrang", entgegnete er leichthin und der Blick, den beide daraufhin wechselten, schien eine Ewigkeit zu dauern...

Ramona Bhandal - Ostkreuz

 

Ramona Bhandal
Ostkreuz

 

Es ist ein Kreuz - mitten im Osten
Zwischen gestern und heute – in’s Morgen hinaus
Verbindet stählern mit Ringbahn und "Posten"
Fern- und Heimweh – tagein – tagaus

"Rostkreuz" – schnaufen Eckenbrücken
überdacht im Säulenwald
Baudenkmalerisch entzücken
Klinkernbögen, hundertalt

Cornelius – Wasserturm – Du lichter
an Stralau – Rummelsburger Bucht
bist Wahrzeichen und kennst Geschichten
nach denen man noch heute sucht...

Von Seenpracht – sagenumwoben
vom "Nixenkai" und Fischzugsfest
Liebesinsel, Segelbooten
einst Fischerdorf – jetzt Ausflugsnest

Am "Paul und Paula" – Ufer stehen
an der Insel, stiefelgleich
maritime Winde wehen
wie im schönsten Urlaubsreich

Breite Stege – helle Bauten –
Cafe’s, Gärten, Stück um Stück
wo man einst Handwerksleute schaute
und der Kaufleut’ Lebensglück...

Lichtenberg – an Deinen Pfaden
am geschützten Biotop
gingen Waisenkinder baden
in der Zeit der Kriegesnot

Heut steh ich träumend auf der Brücke
der Fernsehturm – zum Greifen nah
es ist ein Katzensprung bis Mitte
und Zukunft weht mir durch das Haar

Ostbahnhof und Friedrichstraße
Metropole schreit nach Welt
Panoramabahn mit Klasse
Ostkreuz – Ring – die Weichen stellt

Noch kurz im Bauerhof zu Gaste
"gebrettert" – lang am Waldessaum
Wuhlheide – am Kinderpalaste
Ostkreuz – Erkner – Freizeitraum

Treptower, Twins – und schon am Hafen
— der Park  säumt blumig’ Wanderweg
zum "Zenner" Volksfeststimmung erhaschen
oder verliebt zum Schwanensteg

So geh ich heim – durch Deinen Kiez
ein Spiegel – wandelbar wie Du
vieles verschwand, entstand mit Witz
und Kompromissen – schnell gesucht...

Ist Heim geworden, Friedrichshain
Nur eine Brücke weit von Dir
Projekte, Zirkel und Vereine
Leisten gute Arbeit hier

Im "Rudiladen" – Kiezzentrale
sinnt man ernst um Dein Geschick
mitgestalten – allemale
Zukunft ist ein Meisterstück

"Rostkreuz", Du machst so viel Geschichte(n)
Berlinern bist Du vieles wert
Dein Antlitz wieder aufzurichten
auf das man "neue Linien" fährt

Bald werden Brücken fest im Glanze
neuer Gastlichkeit erstrahlen
Empfangsgebäude, noch im Schlafe
Ost – Kreuzer gar wohl verwahren...

Starke Linien durch die Zeiten
auf allen Wegen – wünsch’ ich Dir
um die Zukunft zu beschreiten
starte durch, nicht unsaniert...

Thomas Rehaag - Kreuz 2020

 

Thomas Rehaag
Kreuz 2020

 

Wenn er vor zwanzig Jahren von Zweifeln geplagt wurde, wuchs heute seine Welt in die Eindeutigkeit. — Jetzt war er einverstanden.

Ivan wuchtete seine 120 Kilo die Treppe hinunter. Der Abend lockte ihn aus seiner Wohnung auf der Halbinsel Stralau. Und das Kreuz.

Die Häuser hatten inzwischen einen weißen Anstrich erhalten, der unten blau abgesetzt war. Auf den Dächern befanden sich viereckige Lichtinstallationen, nachts bunt leuchtend. Einige blinkten in Intervallen.

Ivans Wohnung glich einem eklektischen Trödelladen. Er war nicht in der Lage, sich von den liebgewordenen Dingen zu trennen. Alte Lampen, seine Lieblingspuppe, alte Bücher, Gläser in den unterschiedlichsten Formen und Farben, Häkeldeckchen — sehr alt, zuletzt ein brauner Teddybär. Bevor er einschlief, überwucherten seine Erinnerungen jede Nacht den modernen Schnitt der Wohnung. Sehnte er sich nach der Höhle?

Ivan trat vor die Tür. Schon fiel sie geräuschlos ins Schloss. Ängstlich vergewisserte er sich mittels eines Griffs in seine rechte Manteltasche seines Schlüssels. Beruhigt ging er seine gewohnte Richtung. Aus den Wohnungen fiel ein lebhaftes Grau. Die Straßen könnten Rehen zur Partnersuche dienen: Ruhe. Ivan stand am Wasser. Er wendete seinen Kopf zu den Häusern, versenkte seine Augen in das Lichterspiel da oben. Der Rummel der Kindheit erschien vor seinen müden Augen. Schnell wendete er sich dem Wasser zu und schüttelte kräftig seinen Kopf. Wurde er sentimental? Na und!

Die Häuser gegenüber ähnelten denen seines Ufers. Nur fehlten die Lichter auf den Dächern. Stattdessen, Ivan zur Freude, schmückten sich die Fassaden mit grün-blauen Kuben — das Licht nahm kein Ende. Selbst das Wasser wurde herabgesetzt zu einem Spiegel. Ivan ging nach links. Die Bucht beherbergte Bootshäuser. Sie bestanden zum großen Teil aus Glas. Innen sah er vereinzelt Bewohner an Tischen oder vor dem Fernseher sitzen. Sie wurden durch schwarze Vorhänge zerteilt. Ivan bewegte sich wie eine Dampflokomotive schnaufend vorwärts. Er holte aus der Manteltasche eine Tüte Erdnüsse und riss sie gierig mit den Zähnen auf. Er steckte sich zwei Hände voll in den Mund und versenkte die Tüte wieder in die Tasche. Die Bucht machte einen Bogen. Früher lag hier die "Käthe". Ivan vermisste das Gebell der vier alten Hunde. War der Besitzer gestorben? Oder war dieser eingefleischte Eremit ins Irrenhaus gekommen? Ivan überkam eine Trauer. Die Hunde fraßen gerne abgepacktes Fertighühnchen. Die Knochen blieben nie übrig. Ivan sah auf das Wasser. Hier hatten die Hausboote eine Lücke gelassen. Ivan rückte sich seine starke Brille zurecht. Er schaute zum Himmel. Er wurde von einem rot-weißen Schleier überzogen. Hinter Ivan lag das Kreuz. Er sah auf das Wasser. Es sammelte sich in ihm, aber er konnte nicht singen, sonst sänge er es heraus. Er bewegte langsam die Lippen. Ein Gedicht:

Der Eremit muss jetzt wohl in der Kälte sein.
Badet ihn ein Wasser? Badet ihn ein Wahn?

Meine Augen streicheln das glänzende Wasser,
der Spiegel der Lichter der Stadt, ratlos ist,
zu dem der Zweifel kommt. Und die Hunde des Neids.
Über mir verhüllt der Himmel seine blaue Farbe,
der Schleier des Kreuzes ist ein ratlos Schimmern.

Nach Mitternacht wälze ich mich durch meinen Traum,
und das Kreuz liegt hinter mir und der Himmel zeigt
sein wahres Blau.

Badet ihn ein Wasser? Badet ihn ein Wahn?

Meine Tränen laufen von mir weg, mein Körper ist ein
schweres Fleisch, das von der Trauer angefallen wird,
durch die Lücke kommt kein morsches Boot zurück.

Überkommt mich eine Furcht? Was nähert sich von vorn?

Ich hab mit meinem Bruder nie die Worte gewechselt,
unsere Blicke hingen im Vorbeigehen aneinander,
auch die Hunde trollten sich in die Ecken des Rosts.

Nun ist es zu spät für eine Bekanntschaft, durch die
Lücke dringt das Licht des Mondes und das Gebell und
das Gesicht, Bruder, fällt in den Fluss.

Ivan wischte sich die Tränen mit der rechten Hand vom Gesicht und ging weiter. Die Tüte Erdnüsse hatte sich geleert. Er ging zum Gelände des alten Glaswerks. Hier erinnert nichts mehr an die alten Zeiten. Die Dunkelheit umhüllte eine weite Wiese, die von geraden Kieswegen durchmessen wurde. Ein Hundeauslaufgebiet. Auf den Wegen standen Behälter für den Hundekot. Eigentlich sollte hier ein Abenteuerspielplatz entstehen, aber die Kinder spielten nicht mehr in der Öffentlichkeit. Die Computer fraßen Menschen. Ivan bekam Hunger. Er sah auf seine Taschenuhr. Er öffnete seinen Mund ein wenig. Keiner konnte jedoch seinen etwas ratlosen Gesichtsausdruck sehen, fast so wie ein Provinzler, der vor einem Fahrkartenautomaten in der Stadt steht. Vielleicht war er noch ein Provinzler! Ein übrig Gebliebener.

Ivan beschloss zum Bahnhof Ostkreuz zu gehen. Dort gab es McDonalds. Ivan lief das Wasser im Mund zusammen. Er beschleunigte seinen Schritt. Wieder griff er in seine Taschen. Auch seine Hosentaschen krempelte er um. Zwanzig Euro! Der Abend war gerettet! Die Straße stieg leicht an. Ivan schnaufte. Vor ihm wuchs der Bahnhof aus der Straße. Er war durchsichtig wie die gläserne Fabrik in Dresden. Ivan blendete das blau-weiße Neonlicht der Bahnsteige. Hier sparten sie wirklich an nichts. Ivan setzte seine Sonnenbrille auf. Würde er fliegen können, sähe er sich alles auch von oben an. Oben erstreckten sich hellrote Lichtschlangen über dem Bahnhofsglas. Was gäbe das für ein Bild? Der Autoverkehr nahm zu. Früher musste er auf die Autos Rücksicht nehmen. Gefahren lauerten auf ihn. Vorbei! Sie hatten einen Fußgängertunnel bauen lassen. Fahrstühle befanden sich an den Seiten des Eingangs. Sollte Ivan sie benutzen? Seine rechte Hand wanderte zum Rufknopf. Jäh zog er sie wieder zurück. Er bewegte sich die Treppe hinab. Leute mit Reisetaschen begegneten ihm, in den freien Händen Zeitungen oder Hot Dogs. Kinder hatten Eis in beiden Händen. Ivan erreichte den Eingang des Bahnhofs. Automatisch öffnete sich die Tür. Ivan betrat zögernd die Bahnhofshalle. Das Übliche: Verschiedene Läden, ein Spätkauf, in der Mitte vier Kübel mit Palmen, darum Marmorbänke. Ivan musste noch eine Treppe bezwingen und stand vor der McDonalds-Filiale. Diesmal musste er die Türflügel selber aufstoßen. Er ließ sich von der lächelnden Bedienung zwei Whopper einpacken, traditionell. Natürlich gingen sie mit der Zeit! Es gab auch vegane Varianten. Aber Ivan aß gerne Rindfleisch. Er verstaute die Packungen in einem Plastebeutel, der reklameneutral war. Ivan nahm die Sonnenbrille ab und schenkte der jungen Bedienung ein Lächeln. Doch sie wandte ihm nur noch ihr linkes Ohr zu. Der nächste Kunde trat heran. Ivan zuckte mit den Schultern. Er kam sich wie ein alter Lustmolch vor: Der Mund lächelte, aber die Augen blieben traurig in ihren Betten. Er straffte sein Gesicht und setzte die Sonnenbrille auf. Schnell verließ er den Ort seiner Niederlage. Die Halle erschallte von den Stimmen des Zugservice. Zwischendurch sanfte Musik. Private Sicherheitsdienste durchschritten gemächlich die Halle. Kein Penner weit und breit. Ivan atmete tief durch. Ihn störte die Nähe übel riechender Körper. Die Halle hatte sich geleert. Besser so! Ivan hatte alle anonyme Nähe nicht gerne. Seit den Babyjahren war er überwiegend sich selbst überlassen. Wieder versuchte er mit den Schultern zu zucken. Es gelang ihm nicht. Zuggeräusche. Ivan hatte die Möglichkeit, seinen Ort ohne Anstrengung zu wechseln. Er ließ sie Möglichkeit bleiben. Ivan verließ den Bahnhof. Er musste sich eine Bank suchen. Sein Mund sonderte Speichelfäden ab. Er wusste, dass sich die Sonntagstraße nur unbedeutend geändert hatte. Kein altes Haus war übrig geblieben. Er nahm widerwillig die Richtung. Egal! Der Abend musste vergehen!

Die Gegend um diese Straße bildete einen dunkleren Kontrast zum Bahnhof. Ivan tauchte in sie ein. Die Fassaden der Häuser waren rechts rot und links grün. Da öffnete sich auch ein kleiner Park. Ihn beleuchteten Gaslampen. Der Lärm der vielen Cafés und Kneipen drang zu Ivan. Ivan setzte sich auf die Bank und wickelte einen Whopper aus. Er genoss die Weiche zwischen seinen Zähnen und schloss die Augen. Eine Krähe schrie. Ivan erschrak. Der Vogel saß vor seinen Füßen. Ivan warf ihm ein Stück Fleisch zu. Die Krähe krächzte. Dann schlug sie den Schnabel in das Fleisch. Den zweiten Whopper hob sich Ivan für später auf. Junge Leute näherten sich lärmend. Er erhob sich. Hatte man draußen nirgends seine Ruhe! Er sah in die Sonntagstraße. Nur noch wenige Imbisse. Kein Döner mehr. Man war zur Hausmannskost zurückgekehrt. Ivan hätte sich hier auch Blutwurst mit Sauerkraut und Kartoffeln genehmigen können. Er war satt! Es gab ein Kellerkino für wenige Personen. Alte Filme liebte Ivan. Er blieb vor dem Kino stehen und studierte die Vorschau. Er erkannte die Schrift schwer. Kein Wunder. Er hatte vergessen, die Sonnenbrille abzunehmen. Er wechselte die Brillen. Leute hatten ihn schon ängstlich angesehen. Heute zeigten sie einen Film mit den Marx Brothers. Der Platz um ihn wurde voller. Junge Leute und Leute in den mittleren Jahren. Sie strahlten vor Lebendigkeit. Ivan begann sich unwohl zu fühlen. Gelächter. Sie sahen nach viel Geld aus. Alle Laternen in der Straße waren intakt, im Gegensatz zu früher. Das passte zusammen. Ivan ging zu seiner Insel. Er dachte an die Krähe. Er nickte weise. Wo war ihr Schwarm? Er ging nochmals zu der Bank. Aus den Bäumen krächzte es. Ivan brach die zweite Whopperpackung auf und legte ein großes Stück Brötchen mit Fleisch vor die Bank. Dann verschlang er den restlichen Whopper und ging ohne sich umzusehen. Warum hatte er dies getan? Aus Trotz? Er machte einen großen Bogen um den Bahnhof. Sein Licht ließ ihn nicht los. Sicher ging er seinen Weg. Hoffentlich begegnete ihm keiner. Er wollte nicht noch eine gute Tat vollbringen. Es reichte. Er betrat die Hundewiese. Der Vollmond schien. Einzelne Hunde bellten und die Frauchen und Herrchen rauchten und wedelten mit den Leinen. Er gehörte nicht zu ihnen, aber durch sie lebte er. Er war auf ihnen gewachsen. Er lachte laut los. "Bin ich ein Monstrum oder eine Sumpfblüte?" Er hob seinen Kopf. "Antwortet mir!" Nur die Hunde bellten zu den Schreien ihrer Halter. Ivan schlug sich mit beiden Fäusten gegen die Stirn. Er stieß mit dem Bauch gegen Eisen. Er schrie auf. Er stand am Wasser. Die Boote lachten ihn mit ihrem Gelichter an. Er wendete sich ab. Er brauchte zum Schluss einen richtigen Ausblick. Links sah er sein Haus. Er hatte auf einmal viel Zeit. Er ging über die Wiese zu der großen Spreebrücke. Wieder ein schwerer Anstieg und er stand hoch über dem Wasser. Ivan japste nach Luft. Er öffnete alle Knöpfe seines Mantels. Seine Ellenbogen lagen auf dem kalten Brückengeländer. Hier war das Wasser eine schwarze Grube. Nur an den Rändern lagen einzelne Lampen auf der Oberfläche. Der Hafen war mit Ausflugsschiffen angefüllt. Weit vorne sah Ivan das rot beleuchtete Riesenrad des Themenparks. Seine Drehung machte ihn schwindeln. Er senkte seinen Kopf und sah auf das Wasser. Ruhe. Eine Hand legte sich auf seine rechte Schulter. Ivan erschrak diesmal nicht. Er hatte sie erwartet. Er richtete sich auf. Maria stand neben ihm.

"Maria!"

"Wie geht es dir, Ivan?"

"Maria! Du musst lange durch die Kälte gelaufen sein."

Ivan streichelte ihre alte schwarze Lederjacke, danach ihr langes, volles dunkles Haar.

"Es war ein langer Weg bis ich dich hier fand."

"Ich will nicht fragen, was wir hier machen", sagte Ivan. "Ich will nicht ratlos sein, Maria."

"Dann lass uns das Wasser betrachten."

Beide legen die Arme um ihre Schultern. Es hat "sich einiges verändert". Maria schweigt.

"Woher kommst du?"

Maria bleibt stumm.

"Ich frage wie ein Narr, weil ich meine Angst besiegen will."

Ivan schaut Maria von der Seite an. Sie dreht sich halb zu ihm. Ihre Augen treffen sich. Durch Ivan geht die Erleichterung wie eine Messerschneide. Maria wendet den Blick in das Wasser. "Ich gehe jetzt, Ivan."

Maria geht langsam von der Brücke. Während sie geht, blickt sie Ivan in die Augen. Sie hat dabei ein starres Gesicht. Ivan streckt beide Arme nach ihr aus. Er umarmt die Luft. Maria verschwindet lächelnd. Ivan wird kalt. Er knöpft seinen Mantel zu. Die Dinge würden noch eindeutiger werden. Er wurde alt. Er ging von der Brücke, ohne Hoffnung, Maria einmal wieder zu sehen. Er verfolgte sie. Sie blieb verschwunden. Jetzt hatten die Zeiger seiner Uhr die Mitternachtsstunde erreicht. Ivan ging an den Schiffen im Hafen vorbei. Hier öffnete die Nacht ihren Mantel. Nur wenige Laternen brannten. Ivan hatte keine Angst. Der Wind verstärkte sich. Ivan senkte seinen Kopf. Sollte er ihm das Gesicht peitschen! Er hob ihm den Kopf entgegen. Er setzte sich auf eine halbzerfallene Bank in der Nähe des Ufers und rollte sich in seinen Mantel. Bis hierhin reichte das Licht des Kreuzes nicht. Er sah die Sterne. Er dachte an Maria. Sein Herz verkrampfte sich. Er holte tief Luft. Maria! Er vermisste sie. Er liebte sie nur in der Abwesenheit.

Der Wind legte sich. Ivan wird hier sitzen bleiben. Sein Hunger war mit Maria verschwunden. Die Nacht schloss seinen Abend. Müde sah er zum Riesenrad. Das Licht war erloschen. Ivan summte vor sich hin. Langsam kam die Angst zurück. Er hörte auf zu summen. Er blieb voller Töne. Legte sich da eine Hand auf seine Schulter? Ivan sah sich um. Nichts! Gab es für ihn noch einen Morgen? Keine Antwort. Ivan sandte ein letztes Gedicht in den Fluss. Er nannte es Kreuz 2020:

Kreuz 2020

Maria ist durch die kühlen Landschaften gegangen
in das Kreuz des Nordens.

Ihre Rast bei mir war weniger als ein Kuss.
Nur die Augen versuchten mich zu streicheln
über das stille Wasser hinweg; erstarrtes Gesicht
des Mitleids in der ersten Hälfte der Nacht.

Meine Fragen waren die Rückkehr des Zweifels,
gegossen aus einem Meer der Angst — ich suchte
die Ruhe in der Antwort Marias, ich Narr, konnte
doch die Eindeutigkeit nur in mir liegen.

Ihr Blick in meinem ahnte schon den Abschied
und der Narr verschwand mit ihr in der Dunkelheit.

— Hier rauscht ein stilles Fließen und die Sterne
fallen in den Fluss. Ihr Licht, das täuscht.

Nicht dieser Kuss ist ihr Licht und meine Augen
wollen das eine Dunkel finden in den Zwischenräumen,
da weint der Harlekin und geht.

Nur das Wasser hält mir seinen Spiegel hin und bleibt.

Maria ging in die kühlen Lande, zum Kreuz des Nordens,
in die Kälte des Pols.

Gehe ich nach Ost? Gehe ich nach West? Gehe ich nach Nord?
Gehe ich nach Süd?

Gleich bleibt sich alles in mir und ich nehme die eine
Liebe in mein schweres Fleisch, so taub wie der Stein,
geißel mich zu Viereckkanten,
wissend mein Scheitern.

Ilse Treue - Blicke aus einem Haus, das erst gebaut wird

 

Ilse Treue
Blicke aus einem Haus, das erst gebaut wird

 

In der sechsten Etage eines Neubaublockes sitze ich auf meinem Balkon und schaue auf den Lenbachplatz. Mit Sträuchern und blühenden Blumen sowie einem Springbrunnen und einer Märchenfigur am Brunnenrand ist er geschmackvoll gestaltet. Die geschwungenen, schmalen Wege fügen sich harmonisch in die Anlage ein. Unter Schatten spendenden Bäumen findet der Spaziergänger auf Parkbänken Platz zum Ausruhen. Es ist die Zeit des Berufsverkehrs. In kurzen Abständen passieren die S-Bahnzüge den Bahnhof Ostkreuz, der seit seinem Umbau nicht wieder zu erkennen ist. Das umständliche Wechseln von einer Fahrtrichtung zur anderen und das beschwerliche Treppauf–Treppab gehören der Vergangenheit an. Jetzt sind die Bahnsteige übersichtlich angeordnet und bequem mit dem Aufzug oder über Rolltreppen zu erreichen.

Dort, wo einst die Max-Kreuziger-Oberschule stand, erhebt sich ein nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen erbautes Forschungsinstitut. Es gibt 300 Menschen Lohn und Brot. Die zahlreichen kleinen und mittleren Unternehmen konnten sich, wie überall in der Stadt, wirtschaftlich stabilisieren und ebenfalls neue Arbeitsplätze schaffen. Und so bewegen sich Ströme von Menschen aus den Betrieben über den Bahnhof Ostkreuz heimwärts. Einige steigen um oder verlassen den Bahnhof. Andere streben ihm entgegen. Es ist ein quirliges Hin und Her, das ich täglich zur Feierabendzeit von meinem Balkon aus beobachte.

Es wohnt sich gut am Lenbachplatz. Von hier bis zur Modersohnbrücke stehen beiderseits der Revaler Straße neu erbaute Häuserblöcke mit großzügig angelegten grünen Höfen, in denen die Kinder gefahrlos spielen können. Kleine Cafés, Bistros und Kneipen laden zum Verweilen ein. In wenigen Minuten ist die Schule an der Modersohnbrücke zu erreichen. Nach der kürzlich erfolgten Modernisierung wurde der alte Baumbestand des Schulhofes durch frisches Grün ergänzt. In der Seumestraße begeht die gut besuchte Kinderbibliothek ihr 20jähriges Bestehen. Unweit davon verläuft die kurze Helmerdingstraße, die, wenn sie reden könnte, von einer bewegten Geschichte erzählen würde. Zuletzt war sie eine Brache, bevor hier ein großes Gesundheitszentrum entstand, das weit über die Bezirksgrenzen hinaus genutzt wird.

Die ursprünglich geplante Stadtautobahn wurde nicht gebaut. Dafür wurden die Gelder in den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs investiert. Straßenbahnen und Busse fahren zur Freude der Fahrgäste in dichten Abständen, was einer Hauptstadt gut zu Gesicht steht. Durch die überall angelegten Radfahrwege steigen vor allem viele jüngere Leute aufs Fahrrad um.

Während meine Gedanken spazieren gehen, schaue ich vom Balkon in die Runde. Von hier oben habe ich einen phantastischen Ausblick, der in westlicher Richtung bis weit über den Fernsehturm hinaus geht. Blicke ich nach Osten, so erkenne ich bei klarem Wetter den Müggelturm. Im Süden verläuft hinter den S-Bahngleisen und dem Stralauer Kiez das blaue Band der Spree, auf der Fracht- und Fahrgastschiffe ruhig ihre Bahnen ziehen. Fast am Horizont im Südwesten erblicke ich manchmal den Kreuzberg. Am schönsten ist es abends, wenn der Tageslärm abebbt und die Stadt im Lichterglanz erstrahlt, wenn sich der Himmel über mir wölbt und wenn mir die Sterne zublinzeln. Entrückt glaube ich, im Märchenland zu sein.

Eine plötzlich quietschende Straßenbahn holt mich abrupt in die Wirklichkeit zurück. Nein, wir sind noch lange nicht im Jahr 2020 angekommen, wir schreiben erst das Jahr 2003. Das Ostkreuz ist noch ein Rostkreuz mit vielen Treppen. Ich wohne auch nicht in der sechsten Etage eines Neubaublockes, sondern in meiner Parterrewohnung ohne Balkon, von der aus ich immer nur kleine Ausschnitte des Himmels sehen kann. Aus dem weit geöffneten Fenster schauend, warf ich unverbesserlicher Optimist einen sehnsuchtsvollen Blick in eine ungewisse Zukunft. Man wird doch mal träumen dürfen.

Thorsten Schmidt-Kapfenburg - Berlin — Bahnhof Ostkreuz 2020

 

Thorsten Schmidt-Kapfenburg
Berlin — Bahnhof Ostkreuz 2020

 

Der Himmel über Berlin war eine graue diffuse Masse, als er an diesem Novembernachmittag 2020 gegen 17.30 Uhr am Bahnhof Ostkreuz ankam.

Das störte ihn jedoch in keiner Weise, sah er darin doch eher eine willkommene Übereinstimmung und Korrespondenz mit seinem inneren Zustand. Die Meteorologie hatte heute nur wenige Stunden dazu gebraucht, den Himmel so diffus werden zu lassen, wie er jetzt war. Für ihn hingegen waren an die zwanzig Jahre vonnöten gewesen, bis sein Leben diesen Zustand des Diffusen erreicht hatte, welcher sich nun in ganz natürlicher Eintracht mit den klimatischen Verhältnissen dieser Stadt zu verhalten schien.

Dennoch erschien ihm Berlin immer noch ein wenig trostloser, immer noch ein wenig abweisender als andere Städte im November, und derer hatte er wahrlich einige gesehen, seit er vor neunzehn Jahren Berlin verlassen hatte, um seine Laufbahn im Rest der Welt fortzusetzen. Damals, im Jahr 2001 (er erinnerte sich, dass es ebenfalls Ende November gewesen war) war er von hier aus aufgebrochen, um eine Kapellmeisterposition an der Oper in Zürich anzutreten. Dort jedoch war er nicht lange geblieben.

Die kulturpolitischen Querelen, deretwegen er aus Berlin geflüchtet war, hatten in kürzester Zeit auch Zürich eingeholt, welches bis dahin als kulturell krisensicher gegolten hatte. Er hatte sich damals zu fühlen begonnen, als flöhe er vor einem wilden, blutrünstigen Tier, das ihn unaufhörlich verfolgte, nicht nur in seinen Träumen, sondern ganz real und das ihm sein Leben mit fortschreitender Zeit unerträglich machte. Anfangs nur in ideeller Hinsicht, später zunehmend existenziell. Er war ein sehr sensibler Mensch, reaktionär und konservativ im besten Sinne des Wortes. Das gestand er sich ein. Im Sinne nämlich von: das Gute, Altbewährte erhalten zu wollen, und er glaubte an seine Kunst und daran, dass sie die Kraft habe, Menschen zu verändern und Umstände zu verbessern, wenn sie nur aufrichtig war. Die Politik hingegen schien daran weniger zu glauben und die hiesige Kulturpolitik offensichtlich schon gar nicht. Da regierte ausschließlich das Geld - und davon war angeblich immer weniger vorhanden gewesen. Sagte man... Seine Flucht vor jenem Tier, das er den »Rotstift der Kulturpolitik« nannte, hetzte ihn nach kurzer Zeit von Zürich nach Stuttgart, weiter nach München und über Mailand und Wien nach London. Zuletzt sogar für drei Jahre nach New York. Jetzt, neunzehn Jahre später, war er wieder dorthin zurückgekehrt, von wo aus er Ende November 2001 aufgebrochen war.

Er erinnerte sich daran, wie er sich während seiner Zeit in Berlin in den morbiden Charme des Bahnhofs Ostkreuz verliebt hatte, und er empfand diesen Ausdruck ganz und gar nicht als zu hochgegriffen. Es hatte ihn an den Charme einer verwelkten Schönheit erinnert, von der er überzeugt war, dass sie viel Wissenswertes mitzuteilen gehabt hätte, hätte man sie nur eindringlich genug nach ihren Geschichten befragt. Er hatte sich damals lebhaft vorstellen können, tage- und nächtelang den Geschichten und Erlebnissen dieser morbiden Schönen zu lauschen, sich ihren Worten hinzugeben, um in ihnen zu versinken... der vielfältigen Geschichte des Ostkreuzes. Was er aber heute hier zu Gesicht bekam, hatte mit der verlebten Schönheit von einst wahrlich nur noch sehr wenig gemeinsam.

"Die Alte hat sich ganz schön aufgemotzt..." kam es ihm in den Sinn, "... wie eine Hure, die den Weg aus der Gosse herausgefunden hatte. Und die sich nun an den Hals irgendeines vermögenden Freiers gehängt hatte, der ihr ein Leben in Prunk und maßlosem Luxus ermöglichte."

Er nahm sich Zeit, alles um ihn herum eingehend zu betrachten. "Es war Geld da!" staunte er. "Es war immer vorhanden gewesen!! Es steckte nur immer in den anderen Töpfen ... H!" So setzte er, durchaus beeindruckt, seine Gedanken fort. Er war heute, an einem tristen Novembernachmittag 2020 gegen 17.30 Uhr hier am Bahnhof Ostkreuz angekommen, um seine langjährige Flucht vor jenem Tier, das ihm im Laufe der Zeit dichter und dichter auf die Fersen gerückt war, nun endgültig zu beenden. Es hatte ihn beinahe eingeholt und ihm war, als könnte er bereits seinen heißen, fauligen Atem im Nacken spüren.

"Es war Geld vorhanden gewesen..." sinnierte er wieder. Dieser Gedanke ließ ihn nicht los. Die Stadt Berlin war ganz offensichtlich nie so wenig flüssig gewesen, wie sie seit jeher zu sein vorgegeben hatte. Das ließ sich nicht leugnen angesichts dessen, was sich ihm hier präsentierte. Selbst an einem so trostlosen Nachmittag im November ließ sich dies nicht verhehlen. Die Fortbewegung mit den öffentlichen Schienenfahrzeugen der BVG, das Bahn Fahren, das Umsteigen, das von A nach B Gelangen, war hier scheinbar nur Nebensache geworden. Eine Randerscheinung sozusagen. Zwar war dies hier unbestreitbar ein Umsteigebahnhof geblieben - und was für einer! - und doch schien es ihm, als befände er sich in einem multifunktionalen Erlebniszentrum. Kein Vergleich zu dem, was ihm schon vor zwanzig Jahren aufgefallen war, als er noch ein Auto und seinen Führerschein besessen hatte und ihn auf bundesdeutschen Tankstellen jedes Mal beim Tanken das Gefühl beschlichen hatte, dass der Verkauf von Kraftstoff nicht unbedingt vorrangig gewesen war. Tankstellen (es gab davon nur noch sehr wenige, da die meisten Fahrzeuge inzwischen mit Solarspeicherenergie angetrieben wurden) waren schon damals zu besseren Supermärkten mutiert, in denen man neben allem Erdenklichen eben auch Kraftstoff erwerben konnte. Selten jedoch leider im Angebot oder gar zum Schnäppchenpreis. Ein unmerkliches Lächeln huschte über sein Gesicht; es war ein sehr seltener Gast in seinen Zügen geworden.

Berlin - Bahnhof Ostkreuz: ein multifunktionales Erlebniszentrum. Der Ausdruck gefiel ihm. Hier gab es kaum etwas, was es nicht gab. Versorgungs- und Einkaufstechnisch war hier an alles gedacht worden. Aber das war es nicht, was ihn vor allem faszinierte, damit hatte er ohnehin gerechnet. (Waren doch die Bahnhöfe Friedrichstraße und Alexanderplatz schon seit langem derart ausgestattet und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, wann sich dieser Luxus auf die weiteren Bahnhöfe in Richtung Osten würde ausgedehnt haben, die diesbezüglich jene im Westteil der Stadt längst in den Schatten gestellt hatten.)

Er erinnerte sich daran, wie er vor vielen Jahren einmal über die drei- bis vierstöckigen Autobahnkreuze mitten in Shanghai gestaunt hatte. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was er hier an Futuristischem vor sich sah. Eine gigantische Pyramide aus Glas, Stahl und Marmor (Oder war es nur marmorierter Beton? Das ließ sich nicht eindeutig ausmachen...) erhob sich über den gesamten Bahnhof, unter der die Züge nahezu lautlos und in vier Etagen dahin glitten. Dabei war ihm von Anfang an diese ungewöhnliche Stille aufgefallen und hatte ihn äußerst angenehm berührt. Keine unnötige Musik, die aus verborgenen Lautsprechern quoll; die notwendigen Ansagen erfolgten äußerst gedämpft, aber dennoch verständlich oder wurden zuweilen auf dem größten der acht gigantischen Monitore angezeigt, die in die Wände der Pyramide eingelassen worden waren. Selbst die ein- und abfahrenden Züge bewegten sich mit der Lautlosigkeit von Nattern in diesem Bahnhof. Er verbuchte dies als sehr positiv: Konnte er sich doch schon von jeher maßlos darüber echauffieren, dass sich das Thema Umweltverschmutzung niemals auf die akustische Verunreinigung der Welt bezog. Für eine achtlos weggeworfene Zigarettenkippe konnte man belangt werden. Wie viel häufiger jedoch wurde akustische Umweltverschmutzung toleriert, einfach als gegeben und unveränderlich hingenommen. All diese unnötigen aufdringlichen Klänge, die achtlos verursacht sich unaufgefordert den Weg in unser Innenohr bahnen.

Sein Gehör war in den vergangenen Jahren immer sensibler geworden, seine Nerven entsprechend schwächer und seine Toleranzgrenze diesbezüglich sogar fast gegen Null gesunken. Und nun hier diese unerwartete Stille - trotz des betriebsamen Lebens, das hier herrschte. Sollten die Menschen in der Hauptstadt wider Erwarten sensibler geworden sein? Schwer zu glauben...

Und doch: So ganz hundertprozentig perfekt war diese Stille nicht. Da drang noch etwas ganz Dezentes an sein Ohr, als schliche sich etwas kaum Wahrnehmbares, jedoch äußerst Wohltuendes durch seine Gehörgänge, um sein Unterbewusstsein zu umschmeicheln. Überall im Boden waren künstliche Rinnsale unter Glas eingelassen, die abwechselnd in unterschiedliche Farben getaucht wurden. Diese wurden gesäumt von unzähligen kleinen Sockeln, auf denen unzählige kleine Brunnen standen, die unaufhörlich, aber durch irgendetwas gedämpft, was er nicht herauszufinden imstande war, vor sich hinplätscherten.

Er erinnerte sich an jene Esoterikkreise, aus denen einst dieser Trend zu Zimmer-und Tischbrunnen entsprungen war. Er hatte sie immer als furchtbar kitschig empfunden, aber offenbar hatten sie ihren Siegeszug getan und übten ihre wohlige Wirkung nun nicht mehr nur in Arztpraxen und Anwaltskanzleien aus, sondern auch auf Massenverkehrsknotenpunkten wie diesem. "Verkehrte Welt", dachte er, "man lindert die Symptome, ohne das Übel an der Wurzel zu packen". Trotz dieser Einsicht konnte er sich der angenehm wohltuenden Wirkung dieser zahlreichen Miniaturfontänen nicht entziehen, und die Frage nach des Übels Wurzel kümmerte ihn eigentlich auch nicht mehr im Geringsten, seit er seinen Beschluss gefasst hatte und nun so kurz vor dessen Durchführung stand.

So stand er weiterhin sinnierend staunend und examinierte seine Umgebung mit taxierenden Blicken. Dabei schweifte sein Blick über ellenlange Fließbänder, die von Zeit zu Zeit in herkömmliche Rolltreppen übergingen (er selbst musste über ein solches Rollband hierher gelangt sein, hatte es wahrscheinlich nur nicht wahrgenommen, als er von der Majestät der alles überdachenden Pyramide gefesselt war). Auf diese Weise wurden die Passanten in die jeweiligen Etagen zu den Bahnsteigen befördert. Das Bild, das sich ihm hier bot, ließ ihn unweigerlich an die paradoxen Treppenräume des M. C. Escher denken. Überwältigend war diese Komposition aus Glas, Stahl und Marmor.

Inzwischen war es 18.14 Uhr geworden. Es wurde langsam Zeit für ihn. Er musste sich zwingen, seinen bewundernd schweifenden Blick wieder auf sich selbst zu richten - seinem Vorhaben entgegen. Er setzte sich in Gang, bewegte sich gemächlich zum Bahnsteig 4 und blieb an dessen äußersten Anfang stehen. Dort, wo die S3 Richtung Erkner, deren Lichter er bereits im schwachen Nebel erkennen konnte, noch ihre höchste Geschwindigkeit haben würde während sie einfuhr. 18.15 Uhr — jetzt befand er sich auf der Zielgeraden. Bald würde seine Flucht beendet sein. Lautlos näherten sich ihm die gleißenden Augen des Tieres, dem er sich in den Rachen werfen würde.

In dem Augenblick als der Zug einfuhr, wurde ihm klar, dass er einige Schritte zurück in die Richtung gehen musste, aus der er gekommen war, um in den letzten Wagen einsteigen zu können.

Und noch etwas war ihm in diesem Moment bewusst geworden: er hatte das Tier besiegt. Es hatte nun keine Macht mehr über ihn. Und die marode Schöne von einst war tot. Das genügt! Sie hätte ihm nichts mehr von Belang erzählen können. Der Wagen war voll - Feierabendverkehr. Deshalb blieb er direkt an einer der Türen stehen und mit Abfahrt des Zuges ließ er sowohl das Tier als auch sein diffuses Leben hinter sich.

"Man muss weiterkämpfen, weiterkämpfen bis zum Umfallen, auch wenn die ganze Welt den Arsch offen hat... oder grad deswegen!" Er erinnerte sich gut an jene Worte aus seiner Jugendzeit. Konstantin Wecker war kein Berliner gewesen und sie waren gut 40 Jahre alt... und dennoch so wahr wie nie zuvor. Jedenfalls für ihn. Jedenfalls jetzt!

Die S3 setzte ihre Fahrt in Richtung Erkner fort. Er fuhr nach Hause - in sein neues Leben, während erste Regentropfen auf die Pyramide fielen und das Licht in seine Spektralfarben brachen.

Inka Engmann - Haupthafen Ostkreuz

 

Inka Engmann
Haupthafen Ostkreuz

 

Nach langem, langem Schlaf erwachte die Spree und blickte auf die Zeit. "2020 schon? Ich wollte doch 2000 schon aufstehen!" murmelte sie. Sie dehnte und reckte sich, richtete sich auf und betrachtete ihren Körper.

"Nanu, ich bin ja ganz braun vor Dreck! Und die Fische sind auch alle weg!" rief sie empört und sprang aus ihrem Bett, das heißt, sie blieb noch darin stehen und bildete eine Wassersäule bis in den Himmel. Verwundert schaute sie über Berlin. Die alten Häuserreihen fand sie freundlich und gemütlich, aber dazwischen erhoben sich kalte, sterile Türme aus Glas und Beton, die konnte sie gar nicht leiden. Noch weniger gefielen ihr die zahllosen grauen Asphaltbänder, welche die ganze Stadt durchzogen und mit vielen kleinen Stinkerwespen überfüllt waren. Sie wurde immer wütender und beschloss die ganze Stadt zu überfluten. Doch da gewahrte sie den alten roten Wasserturm am Ostkreuz und hielt inne.

"Dich kenne ich, von dir habe ich geträumt!" sagte sie

"Endlich mal wieder was los hier!", freute sich der Turm, "ich sterbe seit zehn Jahren an Langeweile!"

"Warum, du kannst doch über ganz Friedrichshain gucken!" sprach die Spree.

"Das kenne ich doch in- und auswendig!" seufzte der Turm. "Vor 10 Jahren war es noch lustig hier, da gab es noch das Ostkreuz, wo jeden Tag viele, viele bunte Menschen in die S-Bahnen ein- und aus- und umgestiegen sind. Aber die BVG hat die Fahrkartenpreise dermaßen überteuert, dass irgendwann kein Mensch mehr S-Bahn fahren wollte, und so wurde der gesamte Verkehr im Jahr 2010 eingestellt. Jetzt verfällt hier alles und mir ist langweilig."

"Ja, die Leute fahren nur noch mit diesen kleinen Stinkerwespen herum und verpesten die ganze Stadt!" schimpfte die Spree. "Deswegen überflute ich jetzt alles, nur dich lasse ich stehen!"

"Ich habe aber noch Freunde hier!" rief der Turm. "Die gemütlichen Altbauten erzählen so viele Geschichten, ich will nicht, dass sie sterben!"

"Hmmm ..." machte die Spree. Und nun beratschlagte sie mit dem alten Wasserturm, was sie tun könnten, und ihnen kam eine grandiose Idee. Die Spree grub sich ein neues Bett durch die zahllosen grauen Asphaltbänder, welche die Stadt durchzogen und spülte die Stinkerwespen hinfort.

Daraufhin wurde die Stadt viel freundlicher und stank nicht mehr so sehr. Die Leute fuhren nur noch mit Tretbooten herum und das Wasser wurde von Jahr zu Jahr sauberer, sogar die Fische kehrten zurück. Das Ostkreuz bauten die Berliner zum Haupthafen um und der alte Wasserturm bekam ein großes Licht auf den Kopf und wurde Leuchtturm. Er hatte nie wieder Langeweile.

André Klein - Die Drehscheibe des Ostens

 

André Klein
Die Drehscheibe des Ostens

 

Erstes Kapitel

Randolf zog den Schlüssel und schaute in den blauen Morgenhimmel. Der herbstliche Wind pfiff durch seinen grauhaarigen Lorbeerkranz und ließ ihn an den kahlen Stellen fühlen, dass der Winter nicht mehr all zu fern sei.

"Guten Morgen, Herr Möcht!"

Als Randolf seinen Blick vom Himmel löste, war der freundliche Nachbar schon wieder weitergezogen.

Randolf schaute auf die Uhr.

Es war Viertel vor fünf.

Er konnte sich Zeit lassen, da er in der Neuen Bahnhofsstraße wohnte und von dort aus war es nur ein Katzensprung zum Ostkreuz.

Randolf wechselte an einer Ampel auf die andere Straßenseite über.

Der klirrende Himmel und ein feiner Hauch von Frost in der Luft erinnerten ihn an den Tag, an dem er zum ersten Mal diesen Weg gegangen war.

Es schien so lang her, vielleicht waren es zehn oder gar zwanzig Jahre.

Damals war nicht viel los in der kopfsteingepflasterten Neuen Bahnhofsstraße. Es war recht ruhig und trotz der damals noch in weiten Abständen vorbeirauschenden S-Bahnen konnte man ab und zu sogar einen Vogel hören.

Aber seit die kleine Grünfläche neben Randolfs Haus einem Parkplatz gewichen war, herrschte auf der Neuen Bahnhofstr. ein ewiges Durcheinander von Motorrollern und Autos, solange die S-Bahnen rollten.

Und das taten sie nun auch unter der Woche rund um die Uhr.

Es war das beliebteste Gesprächsthema unter den Nachbarn.

Immer wieder rieben sie sich an den unwiderruflichen Fahrplanerweiterungen auf, während Randolf bloß zuhörte oder ihnen riet, in eine andere Straße zu ziehen.

Randolf war die Zuggeräusche gewöhnt.

Es gab kaum einen Tag außer sonntags, an dem er nicht in seinem Zeitungsladen auf Steig D stand und den rastlosen Passagieren Lesestoff verkaufte.

Als Randolf durch den backsteinernen Bogen unter den Gleisen hindurch spazierte, erinnerte er sich an die Plakate, auf denen hier vor ungefähr einem Jahrzehnt die Totalsanierung des "Ostkreuz: Drehscheibe des Ostens" angekündigt wurde.

Während der Bauarbeiten wurde ein Bahnsteig nach dem anderen gesperrt und so kam es, dass auch Randolf Möcht zum ersten Mal für mehrere Monate am Stück seinen Zeitungsladen nicht mehr betrat.

Seiner Meinung nach war die Entschädigung, die er bekam, mehr als genug.

Andere Ladenbesitzer jedoch, wie der Obstverkäufer oder der Kartoffelfritteur, schlossen sich zusammen und planten noch während der Bauarbeiten Streiks für die Zeit nach der großen Neueröffnung.

Einige von ihnen sah Randolf nie wieder. Ihre Läden blieben, aber die Gesichter wechselten.

Randolf bewegte sich durch das leere Wartehäuschen hindurch und stoppte. Er überlegte, welchen Weg er nehmen würde.

Es war bloß gedankliche Routine und doch zugleich eine Art Ritual.

Randolf nahm an einem Tag nie denselben Weg zweimal.

Da sein Zeitungsladen in der Mitte von Steig D stand, blieben ihm zwei entfernungsgleiche Möglichkeiten.

Würde er die Treppenstufen der Überführung erklimmen, um zu seinem Laden zu kommen, oder an den immer bunten Neonschildern der Fastfoodallee vorbei über die Rolltreppe auf Gleis F gelangen, wo die Ringbahnen fuhren und immer noch wie vor zwanzig Jahren saisongerechte Kompositionen von Osterhasen oder Vogelscheuchen hinter Bauzaun auf Betrachter warteten.

An diesem Morgen fiel Randolfs Wahl auf die Überführung mit ihren riesigen Panoramafenstern und den drei zerbrechlich wirkenden Glaskuppeln, um die sich jeweils wie eine Krone elliptische Stahlformen schwangen und mit Glas überspannt wie riesige Libellenflügel in der kühlen Morgensonne glitzerten.

Randolf stützte sich mit einer Hand auf dem Stahlgeländer ab und stieg hinauf.

Es war die gleiche alte Betontreppe, die er schon seit zwanzig Jahren mit Füßen trat, bis auf die gelben Markierungsstreifen, an deren Stelle seit der großen Sanierung nun orange Lichtpunkte vorbeischnellten und den Fahrgast freundlich blinkend vor einem Tritt ins Leere warnten.

Oben angekommen hielt Randolf inne.

Er schaute durch ein großes Fenster und sah die S3 Richtung Erkner an dem grimmigen Pickelhaubenturm vorbeirauschen, der jedoch der gängigen Meinung nach durch seine bunt werbende Plakatierung viel von seinem rohen Charme einbüßte.

Aber Randolf sah den streng blickenden, namenlosen Wasserturm immer noch als stummen Zeitzeugen und Schutzpatron des alten Bahnhofs.

Ebenso wenig wie die unzähligen Plakate für Internetprovider und Slipeinlagen auf dem schiefergedeckten Dach seines Heims, störten ihn die Reihen von Flachbildschirmen, welche an den Wänden der Überführung mal für vegetarische Ernährung, mal gegen globale Misswirtschaft warben. Randolf wusste, dass die meisten Werbeplätze an wohltätige Vereine oder konkurrenzlose Unternehmen verschenkt wurden, damit - solange keine zahlenden Kunden die Flächen mieteten - wenigstens irgendetwas flimmerte. "Helfen Sie den Kindern im Kongo mit nur einem Euro", "Werbung macht Marken stark"

Jede halbe Stunde lief sogar eine dreiminütige Zusammenfassung der Nachrichten.

Randolf kannte die meisten Informationen zwar immer schon aus den Zeitungen und blieb nur selten vor den Schirmen stehen, aber als vor fünf Jahren der Eiffelturm live übertragen wurde, wie zuerst eine kleine Explosion an einem der vier Füße das skelettartige Gebäude erzittern ließ und dann die gesamte Konstruktion berstend ineinander krachte, war Randolf bei weitem nicht der Einzige, der mit offenem Mund innehielt.

 

Zweites Kapitel

Kim & Aya

Hinter den verkratzten Fenstern zogen die Lichter der Stadt vorbei.

Kim Stuckbein schaute auf die Laufschrift:

"Nächste Bahnhöfe: Ostkreuz, Treptower Park, Sonnenallee."

In der Hand hielt er sein Mobiltelefon und las noch einmal die SMS von Aya.

Sie hatte ihn eingeladen zu einer richtigen Szeneparty in Ostberlin, in einen Club, dessen Name sie ihm nicht mitgeteilt hatte. Treffpunkt Ostkreuz hieß es bloß.

Kim gähnte.

Er hatte Ayas Nachricht bekommen, als er nach stundenlanger Lektüre in Mexlers Einführung in die Kulturwissenschaft das schwere Buch endlich beiseite gelegt hatte, um ins Bett zu gehen.

Und nun saß er hier in der S 41 auf dem Weg zu einer Party in Ostberlin und opferte seinen Schlaf für dieses Mädchen, das er kaum kannte und doch nicht nah genug kennen lernen konnte.

Kim hatte Aya de Mismo das erste Mal in einem Seminar für Südostasienwissenschaften an der Humboldt-Universität gesehen.

Einmal hatte er sogar mit ihr und ein paar anderen einen Vortrag zu interkultureller Differenz vorbereitet und es war ihm dabei gelungen, eine seiner dreifarbigen Art-déco-Visitenkarten wie zufällig auf dem Tisch liegen zu lassen.

"Ist das deine?"

In Ayas Hand flatterte die Karte.

"Oh ja, das ist ja wirklich meine. Behalt sie doch einfach. Dann können wir uns vor Semesterende noch mal treffen und alles wiederholen."

Aber dann, noch vor der großen Abschlussprüfung war sie plötzlich verschwunden und alles, was ihm blieb, war die Erinnerung.

Aya. Aya de Mismo. Allein ihr Name duftete schon nach sonnigeren Breitengraden, über welchen das ganze Jahr lang ein milder Frühlingswind wehte, fern von grauen Häuserblocks in gefrorenen Planquadraten.

Ihre schwarzen, sauber verfilzten Zöpfe, die sie mit einem Batik-Band zusammenhielt, ihre langwimprigen Kastanienaugen und diese sprießenden Lippen, die cremigen Boten ihres unermüdlichen Lächelns.

Und sie, Aya de Mismo hatte ihm eine SMS geschickt.

Befriedigt steckte er sein Telefon in die Innentasche seines Mantels und starrte mit steigender Erwartung auf die Laufschrift, als ihm plötzlich der unangenehme Gedanke kam, dass er möglicherweise nicht der alleinige Empfänger Ayas Nachricht war.

Vielleicht hatte sie ihn bloß aus Versehen auf eine Rundschreibenliste gesetzt, die an all ihre Freunde ging.

Aber Kim Stuckbein war bereits auf dem Weg und für spitzfindige Unwahrscheinlichkeiten war es einfach zu spät.

Es mochte vielleicht sein, dass ihre Güte nicht für ihn allein bestimmt war, aber sie hatte sich bei der Gruppenarbeit immerhin direkt neben ihm gesetzt.

Und wie sie ihn damals angelächelt hatte, sprach mehr als tausend Worte.

Die Bahn kam kreischend zum Stillstand, die Türen öffneten sich und Kim trat auf den Bahnsteig.

Er erinnerte sich nur dunkel daran, hier schon einmal ausgestiegen zu sein.

Von der Anhöhe des Bahnsteigs schaute Kim herab auf bestimmt ein Dutzend Gleise.

Darüber schwebte eine Überführung, auf deren Dach sich drei geflügelte Glaskuppeln wölbten, unter denen sich die Wege der Passagiere in farblosem Neonlicht kreuzten.

AUSGANG. AYA.

Kim sah eine Treppe und stieg instinktiv hinunter.

Obwohl es tiefste Nacht war, herrschte ein emsiger Betrieb auf dem Bahnhof.

Auf einem Flachbildschirm blinkte in Orange: Steig D

Kim lief an einem Zeitungsladen vorbei, streifte einen Minisupermarkt und zog den Dunst von frischgegrillten Currywürsten durch seine Nasenflügel als er plötzlich, am Ende des Bahnsteigs angelangt, vor einer Treppe stand.

Er war schon acht Minuten im Verzug.

Wer konnte wissen, wie lange Aya noch auf ihn warten würde.

Müde und voll banger Vorfreude stapfte er die Stufen hinauf.

Als er das höchste Niveau erreicht hatte, befand er sich in einem geraden Gang.

Es musste die kuppelbesetzte Überführung sein, die er schon bei seiner Ankunft entdeckt hatte.

Riesige Fenster eröffneten ihm einen weiten Blick über die gesamte Gleisanlage.

Aber wo war der Ausgang?

Zwischen zwei Fenstern hing ein schlieriger Bildschirm, auf dem ein weißes I rotierte.

Kim trat heran und berührte den Schirm mit seinem Finger, als das I einer Reihe von Knöpfen wich.

"Sanierungsgeschichte", "Investoren", "Fahrscheine", "Gesamt­über­sicht"…JA!

Das musste es sein.

Kim schlug mit der flachen Hand auf den apfelgroßen Knopf.

Es knackte, eine plätschende Klaviermusik kroch aus dem Nichts und eine affektlose Frauenstimme sprach:

"Seit dem Jahre 2003 konnte der tägliche Passagiertransfer des Bahnhofs Ostkreuz um mehr als die Hälfte gesteigert werden."

Auf dem Schirm erschien ein altes Foto.

"Ein entscheidender Faktor des großen Erfolgs liegt unbestreitbar in der lang geplanten Totalsanierung, deren Konzept schon vor mehr als zehn Jahren bereitstand."

Kim berührte abermals den Schirm, auf dem jedoch nun einzelne Bilder von Kränen und muskelbepackten Bauarbeitern unbeirrt vorbeifuhren.

Ungeduldig rieb er seine Stirn.

"Die Tatsache, dass der Bahnhof unter Denkmalschutz stand, hat die Umsetzung der Sanierungspläne lange Zeit blockiert. Erst nach langjährigen Diskussionen konnten sich die Behörden im Jahre 2014 darauf einigen, Effizienz und Vergangenheit in einem neuen, denkmalschonenden Konzept zu vereinbaren.

Dies ist der Grund dafür, dass trotz der großen Veränderungen bestimmte Teile des Ostkreuz, wie die Backsteinbögen oder die Bahnsteigstützen im Jugendstil auf Steig E auch heute noch vollständig erhalten sind. Im Gegensatz zur komplett umgestalteten Überführung, welche damals im Stil der neuen Sachlichk…"

"Jetzt zeig mir endlich die verdammte Übersicht!"

Seine Stimme klang, als ackere ein rostiger Pflug durch steif gefrorene Erde.

So oft Kim es mit einem Computer zu tun hatte, gab es Probleme.

Er stützte sich mit beiden Händen auf dem Monitor ab und sah nun eine Aufnahme von Kränen und Baggern, die im Zeitraffer hektisch hin und her sprangen, während die Sonne in jedem Augenblick aufs Neue einen rasanten Bogen über den Horizont zog, als ihn plötzlich eine Hand bei der Schulter packte.

Kim fuhr zusammen und drehte sich um.

Vor ihm stand ein dicklicher Mann mit einem Schnauzer, an dessen haarlosen Mundwinkeln sich ein der Jahreszeit unangemessenes Lächeln vermuten ließ.

"Locker bleiben, mein Junge. Die Infobox kannst du vergessen!"

Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn, lachte laut und fragte dann:

"Kann ich dir vielleicht helfen? Ich bin hier quasi zu Haus."

Kim kratzte sich am Hals.

"Äähm ja. Wo is’n hier der Ausgang… bitte?"

Der Alte lachte, hob seine Hand, zeigte erst nach links und dann in die entgegengesetzte Richtung.

Kim folgte der haarigen Pranke mit seinen Augen, schaute nach links, schaute nach rechts und runzelte die Stirn.

"Ja. Du hast richtig geraten. Es gibt hier nicht nur einen, sondern zwei Ausgänge."

"Und was ist, wenn ich nicht genau weiß, wohin ich will?"

Sichtlich befriedigt nickte der Alte.

"Jaa, das ist so 'ne Sache. Nimm doch einfach den Erstbesten."

Wenigstens blieb der größte Teil seines höhnischen Grinsens unter dem Schnauzer verborgen.

Kim gähnte, bedankte sich, kehrte dem Alten den Rücken zu und lief geradeaus.

Wo konnte Aya wohl auf ihn warten?

Wie ein Spion in dringlicher Mission ließ er seinen Blick durch die Überführung schießen.

"Hey du!"

Kim drehte sich um.

Vor ihm stand Aya. Stand Aya. Einfach so.

Und lächelte.

Er hatte sie treffen wollen, und nun traf sie auf ihn.

 "Aaa…Ayaa…Ha..Hallo."

Er war nicht darauf vorbereitet.

"Jetzt komm schon. Steven und Anna warten schon beim Ausgang."

Kim versteckte seine Hände in den Manteltaschen.

"Ich hoffe, ihr habt nicht lang warten müss…"

"Schon okay. Jetzt hab ich dich ja gefunden."

Seine Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht.

Er war immer noch wie geblendet, von ihrem vergebenden Lächeln.

"Ich hab den Ausgang nicht gefunden", gestand er.

Aya zwinkerte und fasste seinen Arm.

"Früher hab ich mich hier auch immer verirrt. Schau, da geht's lang."

Kim folgte ihr.

"Du, Aya. Sag mal…"

Sie drehte sich um und fuhr ihm grinsend dazwischen.

"Du willst bestimmt wissen, warum ich auf einmal mich nicht mehr in der Uni hab blicken lassen."

Kim nickte verwundert.

"Es ist 'ne längere Geschichte. Das muss ich dir alles später erzählen, aber fürs erste reicht, wenn ich dir sage, dass ich Stress mit meinem Freund hatte."

Kim hatte nie geahnt, dass sie einen Freund haben könnte.

Wie blind war er gewesen.

"Aber das ist jetzt alles vorbei." Sie lächelte.

Kim atmete auf.

Als wäre nichts gewesen, fragte sie dann plötzlich in einem vertraulicheren Ton:

"Warst du eigentlich schon mal im Ministerium für Entspannung?"

Kim schüttelte den Kopf.

"Vor 'nem Jahr hatten die ganz schön Probleme mit der Polizei, aber seit die jetzt den Wintergarten und die Blues-Lounge neu eröffnet haben, ist es dort ruhiger geworden. Ist direkt neben dem alten X-Garten, weißt schon, dieser uralte Kindergarten mit den kniehohen Waschbecken und dem Outdoor-Dance-Floor im Sandkasten. Das Twosides kennst du aber sicher, da wo früher der Low-Budget-Wellblech-Hangar stand. Die haben das Grundstück komplett umgegraben."

Sie sprach so schnell, dass sich die Silben überschlugen.

Auch wenn Kim nur Augen für ihre Lippen hatte und sein Ohr bloß der betörenden Melodie lauschte, so erzählte sie weiter von der schnelllebigen Bar- und Nachtclubwelt, als wäre sie selbst hinter der Theke groß geworden.

Plötzlich verstummte Aya und lachte.

"Okay, ich bin abgeschweift, ich geb's zu. Also warst du nun schon mal im MFE, oder nicht?"

Kim wiederholte die Silben.

"Emm Eff Eee"

Aya lachte.

"Ja, Mensch! Das Ministerium für Entspannung. Naja, du scheinst es jedenfalls nicht zu kennen."

Kim schaute nach oben und sah den Mond in der Glaskuppel mehrfach gespiegelt.

"Wo gehst du denn sonst hin, am Wochende?"

Kim lebte erst seit einem halben Jahr in Berlin, in der Nähe vom Hackeschen Markt.

Seine seltenen, aber stets fatalen Trinkausflüge hatten ihn nie weiter als in den Kneipenradius der näheren Umgebung geführt.

Dennoch antwortete er ihr weltmännisch:

"Ach, weißt du. Mal da hin, mal dort hin. Je nach Lust und Laune."

Aya wandte ihm plötzlich ihr Gesicht zu und ließ ihre Filzlocken eine Kurve fliegen.

"Mal ganz ehrlich. Als ich dich das erste Mal gesehen hab, dachte ich, du machst dir nicht viel aus Party, sondern bist mehr so 'n Bücherwurm."

Kim lächelte unter Anstregung zurück.

 

Drittes Kapitel

"So, da ist auch schon die Treppe!"

Aya wies in die Richtung eines animierten Plakats, auf dem ein stilisierter Baum vor gelbem Untergrund glitzernde Münzen regnete.

In grellen Lettern stand geschrieben:

"Geld fällt nie."

 Der Rest der Aufschrift war von einem länglichen Schatten verdeckt.

Als Kim näher kam, entdeckte er, dass der Schatten ein Mann war.

Er trug einen schwarzen Schlapphut, einen langen schwarzen Mantel und hielt vor seinen gefalteten Händen eine Hochglanzzeitung, auf der in stahlblauen Buchstaben prangte:

"Erwachet!"

Er starrte sie an.

Kim blickte zu Aya und wusste, dass es ihr, ebenso wie ihm, auffiel.

Sie liefen Schritt für Schritt weiter, als plötzlich ein allgegenwärtiger Knall ihre Trommelfelle zum Erzittern brachte, gefolgt von einem dumpfen, langsam fallenden Ton.

Als das Geräusch seinen tiefsten Punkt erreicht hatte, fand sich Kim in absoluter Dunkelheit wieder.

Eine schrille Stimme drang in sein Ohr.

"Ein Zeichen! Ein Zeichen! So wurde es uns offenbart, dass an diesem Tage Abend- und Morgenland das letzte Mal gegeneinander in den Krieg ziehen werden. Chaos komme und verzehre uns!"

Im Schreck des ersten Moments drehte er sich um und rannte wieder hinein in die Überführung, in der kein einziges Plakat mehr leuchtete, keine einzige Neonröhre glimmte.

Vor Kims innerem Auge schossen die Bilder des berstenden Eifelturms, der irakischen Gottesmobs und des jüngsten Attentats auf den kalifornischen Minister wild durcheinander.

Kim erinnerte sich nur unfreiwillig an die Nachrichten der letzten Tage:

"Und wie es ein aktuelles Video prophezeit, sind weitere Anschläge geplant auf weitaus essentiellere Strukturen in Frankreich, Deutschland und auf alle anderen Freunde Amerikas."

Kim konnte seine Hand nicht vor Augen sehen.

War er etwa schon tot?

Doch um sich herum hörte er Schritte und roch den warmen Atem der anderen Passagiere.

Hilflos wandte er seinen Kopf in der Dunkelheit umher.

"Ayaa?"

Keine Antwort. Es herrschte totale Stille.

Nicht einmal die S-Bahnen schienen mehr zu fahren.

Im undurchdringlichen Dunkel flackerten hier und da einige Feuerzeugflammen und Mobiltelefonbeleuchtungen auf und schwankten vorsichtig hin und her.

In der Überführung hing eine Wolke von praller Angst, die kurz vor der Schwelle zur Panik stand.

Kim wusste ebenso wie alle anderen, dass es nur noch einen Tropfen brauchte, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.

Noch verhielt sich ein jeder sittsam und lief vorsichtig weiter.

Aber dennoch war es jedem Einzelnen bewusst, dass die überstürzte Handlung bloß einer impulsiven  Seele, ein unüberlegter Schritt, eine hysterische Reaktion eine plötzliche Kettenreaktion des tierischen Selbstrettungsinstinkts loslösen konnte, der noch den Menschlichsten unter ihnen dazu veranlassen würde, alle Rücksicht über Bord zu werfen, um sich mit Fäusten und Ellbogen den kürzesten Weg in die Freiheit, raus aus der Dunkelheit zu bahnen, koste es was es wolle.

 

Randolf hatte sich binnen kürzester Zeit an die Dunkelheit gewöhnt.

Er sah die Menschen langsam und beinahe ehrfürchtig in ihrer Vorsicht aneinander vorbeigehen, einige mit kleinen Lichtern in den Händen.

Keiner der Passagiere schien an sein Ziel zu denken, an sein Zuhause, an seine Pläne.

Randolf lächelte.

Sie alle waren vollkommen anwesend in der Dunkelheit der Überführung.

Niemand war in Gedanken schon zu Hause, noch bei der Arbeit.

Sie waren hier und es war dunkel, an der Schwelle des abgründig Ungewissen.

Denn niemand wusste, was der Grund für das Geschehene war, geschweige denn was als nächstes passieren würde und so verharrten sie alle gemeinsam im selben Moment.

 

Als plötzlich die großen Bildschirme zu flackern begannen und die Neonröhren sich eine nach der anderen erhellten, glaubte Randolf eine Zufriedenheit in den Gesichtern der Passagiere zu erkennen, die er bisher nur von Fotos der Amazonas-Indianer, Beduinenstämme oder anderen Urkulturen kannte.

Ein bescheidenes und zugleich stolzes Lächeln, welches von einem gemeinsam empfundenen, menschlichen Triumph über das Unausweichliche, über die rohe Natur, über den Tod hinaus strahlte.

Wie ein Krieger im Dschungel, den ein bloßer Zufall aus dem Würgegriff der Schlange befreit und ihn voll neu gewonnener Lebensfreude wieder auf die Jagd schickt, so schienen auch all die modernen Stadtmenschen für einen Augenblick ihre abertausenden Ziele und Sorgen im Angesicht des Endes vergessen zu haben.

Hier und da lagen sich junge Paare in den Armen.

Alles war in Ordnung, obwohl sich nichts entschieden hatte, bis auf die bloße Freude am Leben, welche sie in ihrer sicher geglaubten Existenz nicht in vollem Maß zu schätzen wussten und nun plötzlich unter all ihren Plänen und Zielen verschüttet wieder auffanden.

 

Aber wer konnte wissen, wie lange es dauern würde, bis sich die Erinnerung im Zuge der Gewohnheit wieder abschleifen werde?

Machen wir uns keine Sorgen.

Gott lässt sich immer seltener blicken, aber auf den Teufel können wir stets vertrauen.

Britta Nickol - Die Preisverleihung

 

Britta Nickol
Die Preisverleihung

 

"Ding donggg - du hast nur noch fünf Minuten bis zu deinem nächsten Termin!" Ann ignoriert die Ansage ihres Terminkalenders und versucht weiter die Autobahnausfahrt zum ICC zu erreichen. Der Verkehr ist so dicht, dass kaum eine Handbreit Platz zwischen den Autos bleibt. Sie kann nur noch 50 km/h fahren und die Luft wird immer dicker. Nur noch 300 m bis zur Ausfahrt. Wenn sie die erreicht, hat sie den Level geknackt. Aber nein, vor ihr. "Oh je, passt doch auf! — So ein Mist!" Ein Unfall. Diesen Level kann sie für heute vergessen. Sie steckt im Stau fest. "Ding donggg – Du hast nur noch vier Minuten bis zu deinem nächsten Termin!" Enttäuscht steigt Ann aus ihrem Playroom. "Diese Staus sind doch nur eine Erfindung der Spieldesigner" denkt die Zehnjährige ärgerlich und beobachtet, wie sich ihr Playroom minimiert.

"He, Ann bist du fertig?" "Ja, Dad, ich komme schon." Seit einer Stunde ist Ann fix und fertig angezogen. Heute will sie auf keinen Fall die Zeit verpassen. "Die kann sich wieder nicht loseisen von ihren historischen Spielen", lästert der siebenjährige Max, der immer ausspricht, was er gerade denkt. Er steht herausgeputzt im Lift und spielt mit der Lichtschranke, die die Tür offen hält. "Stimmt gar nicht." Ann legt hastig ihr Videocap an, klemmt sich im Flur ihre Jacke unter den Arm, zieht im Vorbeilaufen ihre Schuhe aus dem Regal und springt mit einem Satz aus der Wohnungstür in den Lift. "Ich bin ja schon da", keucht sie triumphierend, während sie die Schuhe neben Max auf den Boden fallen lässt. Max würdigt die Leistung seiner Schwester mit einem erstaunten Blick und ruft in die Wohnung "Daaaaad, wo bleibst du denn?"

Eric und Tamara, die Eltern von Ann und Max, sind schon den ganzen Tag auf Veranstaltungen anlässlich der EU-Preisverleihung unterwegs. Eric ist kurz nach Hause gekommen, um Ann und Max abzuholen. Die Kinder wollen unbedingt bei der Preisverleihung dabei sein. Ann ist fasziniert von dem Gedanken, die Ehrung ihrer Eltern für die Nachwelt festzuhalten. Max will dabei sein, weil seine Schwester auch mit darf. Der Festakt findet im Kulturzentrum Ostkreuz statt. Bis dort sind es nur ein paar Schritte über den S-Bahnhof. Von ihrem Küchenfenster aus kann die Familie den modernen Bau sehen. Er sieht aus wie ein dickes Huhn beim Brüten und wird deshalb liebevoll "fette Henne" genannt. Diese "Henne" hat jede Menge Vereine, Clubs und Boards unter ihren Fittichen.

Ann hat gerade ihre Schuhe angezogen als Eric grinsend zu ihnen in den Lift steigt:  "Ein alter Mann ist doch kein Transrapid." Ann mustert amüsiert ihren Dad. In seinem Galadress sieht er völlig anders aus als in seinen sonst üblichen Jeans. Er wirkt irgendwie straffer und ernster. Max starrt den dunkelblauen Anzug an. "Dad, musst du jetzt immer so rumlaufen?" "Nein Max, zum Glück nicht."

 

Heute wird der Bahnhof Ostkreuz offiziell von einer EU-Kommission zum schönsten Bahnhof Europas ernannt. Damit verbunden ist der EU-Förderpreis "Kunst im Alltag" für die Gestalter des Bahnhofs, die "free-colors". Eric, Tamara, Ben und Nina sind die First Members der "free-colors". Im Jahre 2004 hatten sie sich bei gemeinnütziger Arbeit kennen gelernt. Nina war mit 14 Jahren die Jüngste. Die anderen waren bereits 16 Jahre alt. Alle vier waren wegen Beschmierens und Zerkratzens von Publics verurteilt worden. Bei der gemeinsamen Arbeit fanden die Delinquenten schnell heraus, dass keiner Spaß an den Zerstörungen hatte, sondern sie sich alle nach Herausforderungen und Farben sehnten. Aus dieser gemeinsamen Sehnsucht heraus gründeten sie den Verein "free-colors". Sie hatten sich auf ihre Fahnen gesprüht, Leben in Berlins Bahnhöfe zu bringen. Und das haben sie auch. Gemeinsam entwarfen sie Bilder, suchten Farben, Leinwände, Förderer und Gleichgesinnte. Nach und nach wurde ein Bahnhof nach dem anderen in ein neues Kleid gesteckt. Ihre Freundschaft schlug oft Purzelbäume. Aber gerade dadurch wurde sie immer fester. Eric verliebte sich auf den ersten Blick in Tamara. Sie war jedoch nicht so schnell zu beeindrucken. Anderthalb Jahre versprühte er ununterbrochen Funken bis das Feuer auf sie übergriff.

Die Bahnhöfe Berlins gehören heute, im Jahr 2020, dank dieser jungen Leute und deren Sponsoren zu den bekanntesten der Welt. Viele Berlintouristen kommen nur um die Galerien zu sehen, die über die gesamte Stadt verteilt sind. Das Public-Netz Berlins steht seit 3 Jahren im "Guinness Buch der Rekorde" als größte Galerie der Welt.

Die Idee des Belebens hat viele andere Interessengruppen inspiriert. Es gibt Literaturzirkel, Theater-Groups und Musikbands, die ihre Programme in der Erlebnisringbahn und den Bahnhöfen präsentieren. Interessierte jeden Alters arbeiten Hand in Hand.

Max und sein Grandpa hauen gemeinsam bei den Traindrummers ordentlich auf die Pauke. Ann dagegen ist bei den Power-Findern. Die suchen nach neuen Energiequellen und deren sinnvolle Nutzung für die Öffentlichkeit. Die Stadt und die Publics haben viele Stromkosten gespart, besonders durch den Einsatz von Schall-Strom-Wandlern. Dabei werden hauchdünne magnetisierte Metallblättchen durch den Schall in Schwingungen versetzt. Ann hat bei den Power-Findern gelernt, wie aus den Schwingungen Strom entsteht.

Ann und Max fragen ihren Dad auf dem Weg zur Preisverleihung nach den Ereignissen des Vormittages. Eric erzählt von der Fahrt mit dem Galeriezug und dem Mittagessen mit den Politikern im Ostkreuz-Tempel. Obwohl das alles erst wenige Stunden her ist, kommen ihm seine Erinnerungen unwirklich vor.

Auf dem Platz vor der "fetten Henne" tummeln sich einige Schaulustige und Sicherheitspersonal. Max sieht seine Mutter, schlüpft unter der Absperrung hindurch und rennt auf sie zu „Mom, Mom!“ Ein Security-Mann lässt Eric und Ann passieren. Ann kam sich noch nie so wichtig vor. Tamara begrüßt ausgelassen ihre schmucken Kinder, zupft Erics Fliege zurecht und gibt ihm aufgekratzt einen Klaps auf den Po: "Zum Anbeißen!" Die Kinder lachen über die mütterliche Ausgelassenheit. Eric schmunzelt verlegen und wird rot.

In der Vorhalle zum Festsaal herrscht ein surrendes Treiben. Tamara und Eric gesellen sich zu ihren Mitpreisträgern Ben und Nina. Nina hat sehr fantasievolle Kostüme genäht für sich, ihre Eltern und ihre Freunde. Alle in ihrem Gefolge tragen Kleidung im Enterprisestil . Der schüchterne Ben dagegen ist heilfroh darüber, in seinem dezenten Sakko fast unsichtbar zu sein. Bens Sohn Tom, ebenfalls im Sternenflottenoutfit, kämpft sich zur gleichaltrigen Ann vor. Alle plappern erwartungsvoll durcheinander. Ann und Tom schalten fachsimpelnd ihre Videocaps ein und aus. Max hat Durst. Er quengelt und quengelt bis er einen Saft bekommt. Ann und Tom wollen nichts trinken. Sie sind viel zu aufgeregt.

Die Familien der First Members nehmen ihre Plätze in der ersten Reihe ein. Es wird getuschelt und gelacht bis das Licht im Saal verlischt. Ben räuspert sich, weil ihm die eingetretene Ruhe unheimlich ist. Die Musik beginnt leise zu spielen. Ann nimmt alles auf. Die Boygroup, die spielt, ist sehr angesagt. Dann reden einige sehr wichtige Leute und zur Erholung heizt erneut eine Band dem Saal ein.

Ben hat Schweißperlen auf der Stirn. Nina legt beruhigend ihre linke Hand auf seinen Arm und zupft mit der Rechten immer wieder an ihrem Kleid. Ann muss sich mehrmals mit einem Blick auf ihre feierlich strahlenden Eltern vergewissern, dass das alles auch wahr ist.

Max stößt gegen Anns Bein: "Ich muss mal!" "Was?" "Dad, Max muss mal." "Tamara, Max muss mal." Die Dringlichkeit des Bedürfnisses wird in hin- und her wandernden Fragen und Antworten diskutiert. "Gehst du oder soll ich mit ihm gehen?" "Meinst du wir schaffen das noch?" "Meinst du er findet es allein?"

"Und jetzt bitte ich die Gewinner des EU-Förder…" "Mom, ich muss jetzt." "Ann, kannst du nicht mit ihm gehen?" "… zu uns auf die Bühne." Der ganze Saal klatscht lautstark Beifall. Die vier Preisträger fassen sich bei den Händen und gehen gemeinsam auf die Bühne. Max steht hampelnd vor Ann: "Jetzt gleich!". Sie ist verzweifelt. Die rote Lampe der Fernsehkamera, die auf die erste Reihe gerichtet ist, leuchtet auf. Ann konzertiert sich auf das rote Licht. Jetzt immer schön cool bleiben, schließlich hat sie eine Woche lang ihr Fernsehlächeln geübt. Ihre Gesichtsmuskeln verkrampfen sich schmerzhaft. Plötzlich läuft Max los zur Bühne. "Oh, nein!" Mit einem Satz ist Ann bei ihm und zieht ihn von der Bühne weg in Richtung Ausgang.

Wütend wandert das Mädchen mit dem eingeschalteten Videocap vor der Herrentoilette auf und ab. Minute für Minute wird der menschenleere Vorraum für die Ewigkeit festgehalten, untermalt von Anns leidenschaftlichen Flüchen auf Saft und kleine Brüder. Max wird und wird nicht fertig. Ann öffnet ungeduldig die Tür einen Spalt: "Komm jetzt endlich." "Ich kriege das Wasser nicht an!" Ann versucht an die Lichtschranke des Waschbeckens heranzukommen. Aber auch sie ist zu klein. Von solchen kinderfeindlichen Hindernissen lassen sich die Kinder von EU-Preisträgern doch nicht abschrecken. Ann hebt Max hoch. Sie muss zweimal umgreifen bis Max endlich in Reichweite der Lichtschranke ist. Das Wasser schießt aus dem Hahn direkt auf Max’ Kopf. Nach schreckerfüllten Sekunden steht Max klitschnass und zitternd vor seiner fassungslos tropfenden Schwester. "Ich bin fertig. Wir können wieder reingehen."

Während Tamara und Nina die Kinder lachend trocken rubbeln, holt Eric schnell frische Sachen von zu Hause. Zur Eröffnung des anschließenden Galadiners sitzen alle gutgelaunt, wieder trocken und hungrig am Tisch. Ann und Tom diskutieren beim Essen begeistert, wie sich die Szenen der Wasserschlacht und der Preisverleihung am effektvollsten kombinieren lassen.

Barbara Blum - Ostkreuz 2020

 

Barbara Blum
Ostkreuz 2020

 

Es war im Sommer 2020, die Sonne schien warm, ein lauer Wind blies auf dem Markgrafendamm und bewegte sommerzart die Zweige und die grünen Buchenblättchen.

Unter der großen Buche am Ostkreuz standen Schwebe-Motte und Rucksack-Willi. Sie unterhielten sich angeregt über die neue Apartmentwohnung von Schwebe-Motte. Sie war eine von den unzähligen Wohnungen der 20 Etagen im Hochhaus am Ostkreuz.

Er war begeistert, seine Augen sprühten förmlich Blitze, wenn er von seinem Haushalt-Roboter RUMU (Rund Um die Uhr) berichtete, der der stille Diener seiner neuen Häuslichkeit war.

"Wenn das einer vor einem Jahr zu meinem 18. Geburtstag gesagt hätte, weißt du, hätte ich an den Kopf gezeigt und heute ist es Wirklichkeit. Das ist Klasse, nicht mehr mit meinem Bruder das Zimmer teilen zu müssen. Die Neue liegt in der l8. Etage, ich habe eine Aussicht, die kann ich nicht so einfach beschreiben. Da liegt so vieles von meinem Berlin drin, die Spree, die sich wie ein Band schlängelt, und das schmucke Ostkreuz mit Hochhäusern, der Magnet-Schwebebahn, der Passage und dem Menschengewimmel", presste Schwebe-Motte vor Aufregung geschüttelt hervor.

Er nahm sich kaum Zeit zum Luftholen, sein Adamsapfel hüpfte, seine roten kurzen Haare wippten und seine blauen Augen traten vor Anstrengung etwas hervor, als er weitersprudelte:

"Die Magnetschwebebahn ist auch von innen super. Eierschalenform die Sitze, Zeitungen und Getränke an der Seite, Behinderten-Rollstühle werden über Rampe hinein- und herausgehoben. Meine Oma sagt, das hätte sie nicht für möglich gehalten, dass aus dem grauen Ostkreuz ein Stadtteil mit vielen leuchtenden Farben würde.

Ich fahre schließlich täglich Magnet-Schwebebahn in Richtung Schönefeld. Mit ihren 300 Sachen rast sie fast im Kreis auch nach Erkner und Strausberg. Eine ruhige Schaukelpferdfahrt. Das ist immerhin die erste solche Bahn in Deutschland, die wie ein Blitz dahinschwebt.

Du bist wahrscheinlich noch gar nicht diese Strecken gefahren, du fliegst ja lieber täglich mit deinem Rucksackpropeller nach Berlin-Mitte in dein Geschäft. Stimmt es?"

Schwebe-Motte ließ immer noch nicht locker und sprudelte weiter: "Du kannst mich bald mal besuchen kommen. In vier Wochen habe ich bestimmt Ordnung in meiner Wohnung gemacht.

Auf meinem Balkon kannst du am besten den Rucksack­propeller landen, da fahre ich meine Landeklappe vor dem Gitter aus. Du brauchst dann nicht mit der Blitzgondel im Haus nach oben zu sausen."

Schwebe-Motte, als einer der ersten Mit-Fahrer in der Magnet-Schwebebahn, erhielt seinen Namen daher, ein Leichtgewicht übrigens auch, holte nun erst mal tief Luft. Er konnte es nicht ändern, auf einmal regte sich seine Dichter-Freude: Begeistert kam es aus ihm: "Am Ostkreuz, Bau-Feuerwerk entfacht, Magnet-Schwebebahn sich berühmt gemacht, zum neuen Ostkreuz schaut ganz Berlin, es platzt aus den Nähten und wächst weithin."

Als er einen liebevollen Blick in die 18. Etage seines Hochhauses warf, nutzte Rucksack-Willi die Gelegenheit. Der Funke der Begeisterung war auch auf ihn gefallen nach Schwebe-Mottes sprühenden Worten.

"O, Gott, du machst mich neugierig", endlich konnte er den Faden aufnehmen. Jetzt war er am Zuge, der Zwanzigjährige, der groß gewachsen und als Schuhverkäufer in einem Kaufhaus angestellt war. Sein Anzug saß korrekt, die dunklen Locken waren zu unzähligen Zöpfchen geflochten. Zerzaust vom Flug mit seinem Rucksack-Propeller standen sie nach allen Seiten. Sein Flugzeug stand klein und lässig neben ihm. Ein großer Rucksack, der einen Motor und aufklappbare Propeller enthielt. Ein kleiner Sitz für den Flieger, der sich entfalten konnte, war auch dabei. Für einen sicheren Flug sorgte ein elektronischer Aufpasser. Schließlich flog eine Vielzahl der kleinen Brummer in der Luft herum.

"Du sprachst von deinem Roboter RUMU", spann Rucksack-Willi den Faden fort. "Was kann er denn alles noch für dich machen? Natürlich werde ich deinem Freund die kalte Kralle schütteln. Vielleicht verliebe ich mich in deinen Haushälter, in einen, der nicht streitet und ohne Widerrede meine Wünsche erfüllt. Wo werden diese Getreuen denn erschaffen?"

Schwebe-Motte stand schon auf dem Sprung, er wollte sich bald verabschieden. Er hatte daran gedacht, dass er am Abend noch einiges erledigen wollte. Dazu gehörte ein Psycho-Video zum Vorbereiten auf eine schriftliche Zwischen-Arbeit an seiner Fachschule; dieses Video hatte die Eigenschaft, nach dem einmaligen Sehen und Hören den Inhalt dessen durch Wellen bleibend in sein Gehirn einzugraben. Ein kleines Wunder also. Der Besuch einer gebrechlichen Nachbarin stand ebenso auf seinem Programm. Mit dieser kleinen Aufgabe war übrigens die Zuweisung dieser großzügigen Wohnung im Hochhaus am Ostkreuz verbunden. Junge und Alte wohnten nebeneinander. Ein junger Mensch war am Tag eine angemessene Zeit für einen Alten da. Diese praktische und liebevolle Alten-Unterstützung war eine ganze Weile am Ostkreuz-Kiez schon Alltag geworden.

"Mein RUMU wurde hier am Ostkreuz geboren und bekommt täglich viele neue Brüder.  Ist doch Sahne." Erregt sprach Schwebe-Motto einen Reim, der offenbar aus ihm heraus musste:

RUMU, dieser Freund im Stillen erfüllt getreu fast jeden Willen, am Ostkreuz kam er auf die Welt, und tut nur das, was mir gefällt.

Am Umspannwerk ganz hier in der Nähe wurde eine neue Halle gebaut, in der die Haushalt-Roboter das Licht der Welt erblicken. Viele Leute arbeiten dort. Über diesen Um- und Ausbau erzähle ich dir später. Du musst mich bestimmt besuchen kommen, ich freue mich schon darauf. Ich erwarte dich. Jetzt muss ich wirklich gehen. Tschüs, tschüs. Hastig berührten sie die Finger zum Gruß und damit rannte Schwebe-Motte schon davon, um in die 18. Etage zu kommen.

Peter Goettler - ein bahnhof ist ein bahnhof und ein schiff.

 

Peter Goettler
ein bahnhof ist ein bahnhof und ein schiff

 

ich telefonierte eben nach essen, das liegt in nordrhein-westfalen, und lizzy las mir ein stück aus einem buch vor. ich kenne das buch, denn sie hatte mir bei ihrem besuch vor 3 tagen in berlin schon daraus vorgelesen. seit sie hier war, benutzt sie eine s-bahnkarte vom ostkreuz als lesezeichen.

ich muss nicht besonders betonen, dass ich in lizzy verliebt bin. falls doch, betrachte ich den willigen leser hier gern als alten baum und ritze ein 'peter liebt lizzy' in seine rinde.

jetzt denke ich an das vergangene wochenende, an die s-bahnkarte in ihrem buch und  das eingestempelte datum, das beweist, dass sie hier in meiner heimat war.

die sache mit meiner heimat  beginnt damit, dass ich jetzt im niemandsland wohne. umgeben von viel wasser und glasbläsereien aus vergangenen dädeähr-zeiten, die nun industriedenkmäler sind. gleichzeitig aber im schatten des hochhauses einer der größten versicherungen der welt. mainhattan ist ein dreck dagegen. vorne raus sehe ich hafenkräne der binnenschifferei, hinter meinem haus züchtet eine landwirtschaftliche berufsschule gänse und geranien, während ich nachts am ende der straßenschlucht die wagen der berliner s-bahn zuckeln sehe, aufgereiht wie weihnachtsgirlanden.

man könnte glauben, das alles sei von fellini für mich als kulisse zusammengetragen worden.

 

so wird es nicht immer bleiben. wenn es nach den planungen der verantwortlichen menschen geht, wird unsere gegend ein neues gesicht bekommen. spätestens dann soll es eine stadtautobahn mit einer ausfahrt 'stralau' geben. der s-bahnhof ostkreuz wird schnittig eingebunden und eine ähnliche gläserne ästhetik bemühen wie der lehrter bahnhof am kanzleramt.

auf altstralau stehen zwar noch die wohnungen leer, aber die makler legen bereits ein der zukunft entsprechendes selbstbewusstsein an den tag. am osthafen sollen neue bürotürme entstehen, wie generell in allen ecken ladenflächen und büroraum für dienstleistung aller couleur geplant sind. alle stralauer und friedrichshainer werden neue jobs bekommen und von attraktiven service- und shoppingoptionen umworben werden. jedenfalls diejenigen, die dann noch hier wohnen.

das ganze wirkt wie in dem comicheft 'asterix und die arverner', im dem sich die gesamte volkswirtschaft eines dorfes damit beschäftigt, sich gegenseitig weine und kohlen zu verkaufen.

es soll meinungen geben, deren wortführer zu einer extrem zynischen gattung mensch gehören müssen. sie unterstellen nämlich, bei den geplanten bürohochhäusern handele es sich doch eher um inverstorenarchitektur und krämerisches quadratmeteraddieren und weniger um ein architektonisches highlight und imposantes tor zum osthafen. zwar sehe ich gemäß den plänen auch keinen osthafen mehr, aber sowas surreales könnte doch selbst fellini nicht erfinden?

 

das ostkreuz ist deutschlands meistfrequentierter nahverkehrsbahnhof und es erfordert keinen fortschrittsfanatiker, um sich veränderungen hinsichtlich der übersichtlichkeit oder eines behindertengerechten zuganges zu wünschen. man sollte den umbau des ostkreuzes aber auch in einem erweiterten licht sehen, denn er ist flankiert von maßnahmen grundsätzlicher art, die eine verschiebung der bestehenden kultur bedeuten. der geneigte leser darf raten, welcher nutzung das reichsausbesserungswerk, zentral im friedrichshainer kiez gelegen, nach seiner sanierung gewidmet wird. weine und kohlen? ja, genau so ähnlich.

das "neue" ostkreuz liefert dazu den hintergrund und die nötige infrastruktur.

 

die menschen, die hierher zum arbeiten kommen dürfen, werden wenig zeit auf den weg verschwenden können. ihr transport sollte effektiv und zielgerichtet erfolgen und bestimmt essen sie kalorienarm. die tage der hafenkantine mit schnitzel, pommes und majo sind gezählt. im entkernten industriedenkmal an der spree  werden die mtvs einziehen und sich in der nachbarschaft zu den universals sonnen, die jetzt schon da sind.

apropos pommes und tellerrand. falls sich in meinem essay die worte dienstleistungszentrum und umstrukturierung zu sehr häufen sollten, liegt das nicht an mir, sondern an dem auf das elementarste beschränkte vokabular von utopischen menschen. ich erwähne das, um deutlich zu machen, dass wir hauptstädter nicht die einzigen sind, bei denen sich die verantwortlichen gedanken um die gestaltung der vergangenheit machen, und offensichtlich benutzen alle beteiligten ein zentrales wörterbuch!

in lizzys heimat beschäftigt man sich im zuge dessen mit der zukunft verwaister förderschächte oder kohlewäschereien und das handwerkszeug, mit dem hier und dort gehobelt wird, ähnelt sich frappant.

 

der terminus "entkerntes denkmal" erinnert mich oft an eine geschichte aus der antike, die "das schiff des theseus" heißt. theseus war ein krieger aus athen, der mit seinem schiff nach kreta segelte, um dort ein paar jungfrauen zu retten, die abhanden gekommen und als opfer für einen gewissen minotaurus gedacht waren. allen unkenrufen zum trotz gelang ihm das abenteuer und er brachte die mädels wieder heile nach hause. die athener verliehen ihrer freude mit einer alljährlichen prozession durch die stadt ausdruck, bei dem sie theseus' schiff vorneweg trugen. das machten sie über jahre und jahrzehnte so. allerdings mussten sie, um das schiff zu erhalten, im lauf der zeit vom mast bis zu den deckplanken alles erneuern. als selbst der letzte rostige nagel ersetzt war, stellte ein athener der etwas nachdenklicheren sorte die frage, ob es sich denn nun noch überhaupt um das schiff des theseus handele, wo doch alles so neu war, dass der große T das schiff so nie gesehen habe geschweige denn berührt? ich glaube, dass es damals noch lange diskussionen gab, aber den griechen stand noch zeit zur verfügung. in unseren tagen finden solche spaßbremsen nur noch wenig gehör.

was ich hier erzähle, ist nicht nur eine geschichte, sondern ein ansatz, der die frage stellt, bis zu welcher schwelle eine sache noch als der ursprüngliche gegenstand gelten kann.

 

die visionäre haben im moment weniger geld in den taschen, als sie sich je hätten vorstellen können. daher wird die realisierung ihrer vorhaben noch eine weile auf sich warten lassen, was einige stralauer mit genugtuung erfüllt. ich stehe dem allem offen gegenüber, denn letztendlich sind die menschen meist anders, als man auf grund ihrer berufe, ihres sozialen standes oder des einkommens unterstellt. hauptsache keiner von ihnen will meine wohnung, und die meiner nachbarn natürlich auch nicht.

apropos nachbarn, im büdchen, meinem nachtladen gegenüber, kaufte heute nacht ein junges pärchen ein. ich war auch da und bekam wie immer 3 bier, eine packung nil. aufmerksam wurde ich, weil sie sehr hübsch war und es offensichtlich selbst nicht wusste. er hatte sich in jugendlichem leichtsinn einen eigenartig gestutzten vollbart geleistet und ihr war das egal. die beiden verglichen vorsichtig die preise der rotweine. sie waren anfang 20, auf keinen fall wesentlich älter und redeten viel und sehr leise miteinander. es war ein inniges flüstern. die weltlichen diskussionen mit dem kassierer regelte sie, während ich schon am gehen war.

draußen auf der straße dachte ich darüber nach, ob sie wohl so leise und innig miteinander schlafen wie sie rotwein kaufen. dann sollte man es mit fug und recht "liebe machen" nennen. ich überlegte noch, ob das für ein ganzes leben reicht, aber es ist immerhin möglich.

auf jeden fall gehören die beiden genauso zu meiner heimat, wie der hundekot an den gehwegen. in der jeweils speziellen ausprägung kann beides nur hier auftreten. anderswo gibt es weniger nachtläden und wenn, dann sind die menschen nicht so, nennen wir es mal elementar, wie wir. hier, vor der kulisse der großen versicherung, kann man noch mit wenig geld leben, ohne sich wie ein vollidiot zu fühlen.

das erklärt natürlich nicht den hundekot, aber ich nehme an, dass es hier viele verlorene seelen gibt, die einen guten, meist großen schwarzen kumpel nötig haben. ich hoffe, niemand übersieht, dass ich kein hundehasser, sondern vielmehr ein romantiker bin.

der schlecker-markt in meiner heimat schließt um 19 uhr und spottet damit allen autoritären bemühungen mittels langer ladenschlusszeiten den konsum zu drosseln und die arbeitslosenzahlen anzukurbeln, oder umgekehrt, wie auch immer. wir sind eine anarchische gegend. mir sind die ladenschlusszeiten egal, denn ich brauche wenig shampoo und kein hundefutter.

ich weiss nicht, ob es sich bei der sache mit der heimat genauso verhält, wie mit dem glück. demnach ist das gefühl von glück gleich glück. ein gefühl von heimat ist gleich heimat? auch das klingt immerhin möglich.

 

wenn der aktuelle terminplan des umbaus eingehalten werden kann, wird das veränderte ostkreuz im jahr 2020 seit 6 jahren in betrieb sein. dann werden andere menschen schon hier leben und wenn es erstmal so ist, fragt man selten noch warum.

ich hoffe sehr, dass lizzy dann auch noch da ist und das schönste dabei wird sein, dass es ihr gleichgültig ist, wie der s-bahnhof aussieht, an dem sie ihre lesezeichen abstempelt.

berlin, im september 2003

Sabine Franzke - Ostkreuz – Rostkreuz

 

Sabine Franzke
Ostkreuz – Rostkreuz

 

Es ist Mitte Oktober. Der Wind bläst pfeifend gegen brennende Ohren. Das Hauptsegel der "Taifun" plustert sich auf. Das frisch angemalte Boot auf dem Rummelsburger See ächzt und schaukelt hin und her. Plötzlich reißt Jockel am Heck das Ruder heftig herum. Kay, Juli und die Drillinge Lou, Mercedes und Junaidi werden mit einem Schwall blaugrauen Wassers übergossen. Sie drängen sich dichter zusammen. Wenig später gehen sie an der Anlegestelle Kynaststraße barfuß in Slips und karierten Kamelhaardecken an Land. Gemeinsam machen sie das Boot im Hafen des Sport- und Segelparks fest. Danach geht Juli zu ihrem bunt besprühten Spind. Sie zieht eine trockene Mikrofaserhose mit Kapuzenpullover heraus und wirft sich eine matrosenfarbene Jacke über. Fünf Minuten später trinkt sie mit den anderen heiße Schokolade aus Keramikpötten im "Roststrand". Das Café stammt noch aus den Zeiten als Ostkreuz Rostkreuz geschimpft wurde und gehört zum Park. Die Keramiksachen werden im Oasenkreuz in der Sonntagstraße von Wohnungslosen und anderen Lebenskünstlern angefertigt und im Café nebst Proviant verkauft.

Juli sieht rüber zum Schnittlauchturm, kurz Schnitti genannt. Weithin leuchtend ähnelt er einem gigantischen Schnittlauchbündel. "Als Steppke hatte ich vor dem Ostkreuz Angst. Dachte, in dem grauen Turm lebt einer, der die Treppen und Schienen mit einem bösen Zauber verhext." Jetzt ist der Turm restauriert. Seit dem anhaltenden Babyboom von 2005 und gelockerten Adoptivgesetzen mit Elternschein dient er als Zwergenturm. Der See und die Gärten vor dem Turm bieten Spielparadiese. Die hellen Turmräume auf drei Etagen sind mit bunten Matratzen und Wänden ausgestattet. Die Kynaststraße ist nun teils Kinderskater- teils Straßenbahnstrecke. Der Autoverkehr wird umgeleitet. Unerwartet hatte man hier von der chinesischen Seite Hilfe bekommen. Und finanziert wurde das Projekt u. a. von der so genannten Littering oder Singapurgebühr. Seit der Einführung müllt keiner mehr so leicht auf den Straßen und Plätzen. "Auch das Fensterkratzen hat stark abgenommen", sinniert Juli.

 

"Kalt, was?"  reißt Kay sie aus ihren Gedanken.

"Ja, aber wenn ich mir das hier ansehe, wird’s mir gleich wärmer. Irgendwie doch schade, dass erst im Frühling wieder angesegelt wird. - Bist du auch aus dem Kiez hier?" fragt Juli.

"Markgrafenstraße. Betreute WGs Lichtplantagen", kommt die Antwort.

"Lichtplantagen. Stell ich mir gigatoll vor. In der Gürtelstraße, wo ich wohne, läuft alles eher ’n Tick langsamer."

"Der Ethnomarkt bei euch ist doch auch blitzig. Aber ich muss schon sagen, die Lichtplantagen sind phantastisch. Blauer Himmel, Zuckersand, viel Grün, und alles interaktiv. Die Kids mögen’s. Der Stranddschungel ist übrigens am besten. Die Graffitis sind echt klasse. - So, ich muss hier leider rum. Vielleicht sehen wir uns mal da", spricht’s und ist um die Ecke verschwunden.

Juli joggt fast den Parkweg zum Bahnhof entlang. Am Ostkreuz verlangsamt sie jedoch automatisch ihr Tempo. Im Blumenladen Papageno begrüßt sie der pfeifende Papagei. Lächelnd kauft sie sich eine Gardenie. Beglückt von der Photoausstellung "Terra Australis" im Ansagerhäuschen will sie die grüne Rollbahn zum Bahnsteig in Richtung Alex nehmen, um dort ein Geschenk zu kaufen. Verträumt schlendert sie auf dem mit Rasen ausgelegten Bahnsteig entlang und setzt sich auf einen ausrangierten Flugzeugsitz neben eine Efeusäule. Die grüne Bahn hält leise und läd(t) sie ein. Doch bevor sie einsteigt, fällt Juli ein, dass das Oasenkreuz auch gute Geschenke zu bieten hat. Sie kehrt um und fährt mit der blauen Rollbahn zur Sonntagstraße. In der Sonntagstraße, einer der fünf Spielstraßen am Ostkreuz, fährt ein Auto über einen Ball. Ein Kind fragt den Fahrer vorwurfsvoll: "Warum hast du das gemacht?" Und ein jugendlicher  Straßengärtner winkt ihn zum KiKi Sonntag (Kinderkiosk) mit unterirdischem Parkplatz. Er wird Spende entrichten und mit dem Kind und einem neuen Ball eine Stunde im Park kicken. "So sind nun mal die Regeln in der Spielstraße," erklärt ihm der jugendliche Straßenwärter. "Wenn Sie Ihren Elternschein gemacht hätten, würden Sie besser aufpassen." Das Kind steht daneben und grinst.

Juli grinst auch und geht in ihr Haus. Im altmodischen Hausflur mit Stuckdecke schaut sie in ihren Briefkasten und meint gedankenverloren: "Niemand zu Hause."  Auf der Treppe brummt sie vor sich: "Wir schreiben das Jahr 2020, und es ist immer noch fast unmöglich, jemanden in dieser Stadt wieder zu finden. Lichtplantagen. Pffff. Da leben doch 20 000 Leute."

Am nächsten Morgen zerrt der Wecker an ihren Ohren. Juli reckt und streckt sich. "Da kann ich machen, was ich will", denkt sie. "Der Himmel bleibt wohl grau. Aber man soll ja den Tag nicht nach dem Wetter beurteilen und schon gar nicht, wenn man nicht in den Lichtplantagen wohnt." Zwischen die Balkontüren drängelt sich ein kleiner, frecher Lufthauch, der sie die warme Decke bis zur Unterlippe ziehen lässt. Das Aufstehen fällt ihr schwer. Versehentlich lässt sie die Traumstücke fallen. Die schimmernden Symbole lösen sich in Luft auf.

Juli trinkt mit Genuss einen Latte Macchiato und liest Anzeigen im Tip-Magazin. Und findet diese: "Singen eine Freude, Bücher wie Wein, Wasserpalme und Plüschtiger, Arbeit mit Worten, in Filme geträumt, Sport mit Vergnügen, Musik ein Genuss, schreib mir mal, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!."

"Klingt ja süß. Vielleicht schreibe ich nach dem Schachturnier was Verspieltes zurück."

Sie macht sich auf den Weg zum KIKI Sonntag, wo das Turnier stattfinden soll. Der große Spielsaal ist erfüllt vom Ticken der etwa 2000 Uhren, die sich winzig neben den karierten Brettern ausmachen. Niemand scheint zu atmen. Über jedem Brett berühren sich fast zwei gefurchte Stirnen, die Rücken vornüber gebeugt. Und Juli schwebt in diesem Schweigen, im Bann der Zeit. Keine Gestik, kein lautes Wort, kein Rauch, keine Musik, nur das Wispern der Umhergehenden und das zarte Schlurfen der Figuren auf den Holzbrettern. Ein Profi mit gestreiftem Hemd unter dem feuerwehrfarbenen Blazer und kontrastiv gestreifter Jeans, schlendert Arme wedelnd auf und ab, dreht sich um und geht dann auf einen Schachtisch neben Juli zu, an dem zwei Teenager sitzen. Juli sieht genauer hin. Sieht Kay ziemlich ähnlich. Oh, là, là. Ist auch Kay.

"Hallo. Du interessierst dich für Schach?" flüstert Kay Juli zu.

Die Farbe des Blazers annehmend sagt Juli schnell: "Ja, klar. Ich schreibe einen Bericht über das Turnier. Für die "Kiddy Times"."

Das Spiel der Teenager ist inzwischen beendet. Das kleinere der beiden Mädchen kommt auf Kay zu und sagt atemlos: "Ich muss unbedingt nach Hause. Mein Hund ist doch alleine." Kay hängt seine Tasche an den Rollstuhl des Mädchens und sagt: "Na dann los." Und dann: "Luzie, das ist Juli. Juli, das ist Luzie. — Tut mir leid, ich muss schon wieder weg." Und schon weiter entfernt: "Brauchst du einen Nebenjob? Komm doch einfach mal am Mittwochabend zur Lebenshilfedisco ins Kaleidoskop. Das ist in der Corinthstraße. Du nimmst am Ostkreuz die rote Rollbahn und gehst durch den Park. Dann findest du es schon. Ciao."

Die gefühlte Zeit bis Mittwoch, fünf Tage, beträgt für Juli einen Monat. Und immerzu sieht sie auf den Werbepostern, den Gesichtern der Fahrgäste in der U-Bahn der Stadt, selbst im Supermarkt und im Fernsehen das Gesicht von Kay.

Aufgeregt nimmt Juli am Mittwoch die Bahn und steigt am Ostkreuz aus. Der Weg ist tatsächlich leicht zu finden. Eine Gruppe ausgelassener Jugendlicher geht vor ihr durch den Park in ein bunt besprühtes Gebäude.

Musik schallt aus einem Saal. Auf einem Schild an der Tür steht "Alkohol, Essen und Zigaretten verboten." Juli geht in den verdunkelten Saal und an der Tanzfläche entlang. Allmählich gewöhnen sich ihre Ohren und Augen an die laute, enthemmte Atmosphäre. An der Decke hängen Plastikpalmen. Viele Leute umarmen sich und bewegen sich kollernd, redend, fuchtelnd. Fast niemand sitzt auf den Stühlen am Rande der Tanzfläche. Eine Frau umrundet fröhlich hüpfend den Saal und ruft "Hallo, hallo". Rollifahrer zappeln freudig wedelnd auf der Tanzfläche. Andere Jugendliche schieben sie und lächeln breit. Unbekannte schütteln Julis Hände, tanzen mit ihr mit strahlendem Gesicht. Einzelne liegen auf dem Boden und singen lauthals den Liedtext oder einen anderen. Hier und da jagen sich Verspielte zwischen den stehend, liegend oder sitzend Tanzenden. Reichlich beschalte Fußballfans führen auf der Bühne einen Sporttanz vor. Die Luft ist körperhitzig. Ein Liebespärchen küsst sich von Rollstuhl zu Rollstuhl.

Das Mädchen des Pärchens ist Luzie. Noch fünf Minuten vorher hatte sie ein samtrotes I-love-you-Herz von einem anderen Jungen geschenkt bekommen. "Ist nicht mein Typ, zu alt", sagt sie frech. Das Gesicht ganz Grübchen, wirbelt sie ihr langes Engelshaar und neuen Tanzpartner um sich herum. Juli hört, wie sie ihrer Freundin zuschreit: "Diese Disco ist mein Leben, Alter."

Da trifft Juli Kay mit strahlenden Augen und lachendem Mund.

 "Hallo", sagt Juli freudig. "Geht es hier immer so zu?"

"Klar. Komm tanzen", schreit Kay über die Musik hinweg.

Alles tanzt übermütig zu dem uralten Lied "Baby, I wanna know if you be my girl." Die Arme in der Luft schwingend singt man später einstimmig "nach Hause geh'n wir nicht" und zu anderen alten Kamellen. Der Rausschmeißer ist ein Schneewalzer. Kay steckt Juli zum Abschied schnell eine Café-Postkarte zu und sagt: "Schick’ mir bald mal eine E-mail. Ich zieh grade um und ein Handy hab ich sowieso nicht."

Auf der Karte steht:  Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Liselotte Kubitza - Nach meinen Tagebuchnotizen

 

Liselotte Kubitza
Nach meinen Tagebuchnotizen

20.5.2020

Wie stets allmorgendlich überlege ich auch heute mein Tagesprogramm. Nach dem Frühstück und dem Routineaufräumen spurte ich bei schönem Wetter und bester Laune los. Ein Blick vor der Haustür zum schönen gepflegten Wühlischplatz und loslaufend an der zur DDR-Zeiten lebhaft bevölkerten Max-Kreuziger-Oberschule vorbei, steigert sich meine gute Stimmungslage. Das hat seinen Grund darin, dass die nach der Wende 1989 aus Kindermangel geschlossene Schule im Jahre 2000 jahrelang vernachlässigt vor sich hingammelte und unsere Kiezbewohner dieses Trauerspiel missmutig verfolgten. Aufgrund einer kämpferischen Initiative  der rebellierenden Bewohner rund um den Bahnhof Ostkreuz wurde das Schulgebäude in Zusammenarbeit mit dem Rathaus endlich saniert und ein "Kiezhaus" für Jung und Alt aller Bevölkerungsschichten eröffnet. Seitdem glänzt die erneuerte Fassade in erfreulichen Farben, desgleichen die ehemalige Turnhalle auf dem Gelände des alten Schulhofs. Dieser wurde fantasievoll nach den Vorschlägen der Bürger mit viel Grün, Blumen, Sträuchern und Bänken umgestaltet. Der alte Baumbestand und ein Springbrunnen erfreuen den Blick im Vorübergehen. Im Weitereilen überlege ich, wann ich das schöne und interessante Kiezhaus betreten werde. In der Sonntagstraße herrscht bereits reges Treiben. Diese bietet nun einen alternativen Anblick. Alle Balkons haben Blumen. Nachdem wir jahrelang wegen der Sanierung der Altbauten aus der Gründerzeit um 1900 fast unzumutbar durch Bauschutt, Dreck und an Bauwagen sowie sperrigen Baumaterialien unterschiedlichster Art, verdunkelnden Baugerüsten unfallgefährdet vorbeistolperten, ist nun Bauruhe eingetreten. Wir haben’s mit viel Geduld überlebt und freuen uns alle sehr. Auch die Handelsszene hat sich nach 10 Jahren Geschäftesterben langsam erholt. Der abgeschlossene Gaststättenboom vom S-Bahnhof bis hinter die Lenbachstraße verbreitet ein besonders angenehmes Flair und zieht viele junge Leute von früh bis abends an. Auch der geräumige Platz vor dem Bahnhof ist grün und bei schönem Wetter spezieller Anziehungspunkt für Sonnenhungrige und Kinder an der Spielecke. Schnell kaufe ich Kartoffeln, Suppengrün und Kräuter im Gemüseladen ein, weil es den jetzt auch wieder wie zu DDR-Zeiten gibt. Am besten für die Hausfrauen ist aber das längst notwendige Fischgeschäft mit umfangreichem Angebot. Noch kurz eine Information an der vor drei Jahren eröffneten Galerie über die nächste Vernissage lesend, eile ich zum Mittagkochen nach Hause. Mein Entschluss, am Nachmittag das Kiezhaus aufzusuchen, setze ich in die Tat um. Am Eingang Böcklinstraße geht es raus und rein. Alle Altersgruppen sind vertreten. Viele begrüßen sich.  Die Häuser gegenüber des Kiezhauses sind restlos saniert und an der Böcklin-, Ecke Wühlischstraße ist ein Kinderspielplatz entstanden. Auffallend sind die früheren Graffitischmierereien am Ostkreuz zurückgegangen. Sehr zufrieden lese ich im geschmackvollen Foyer des Kiezhauses den aktuellen Veranstaltungsplan. Mich interessiert Verschiedenes. Gehe ich zu den Zeitzeugen der Senioren oder zur Schreibwerkstatt für Jung und Alt? Auch eine Vorlesungsgruppe jeden Alters trifft sich heute. Für die Malwerkstatt habe ich kein ausreichendes Talent, aber die ausgestellten Werke in den schön renovierten Räumen sehe ich mir gern an. Auch für den Chor und den Musikunterricht eigne ich mich nicht mehr, jedoch werde ich in zwei Tagen zum Seniorentanz in die ehemalige Schulaula gehen. Jetzt aber zur Schreibwerkstatt! Einige Kinder sind da und bitten die Senioren, ihre schriftlichen Visionen durchzulesen und eventuell Fehler zu korrigieren. Das machen wir gerne. Die Älteren berichten oft über die bewegte Vergangenheit, woran auch die Jüngeren interessiert sind und staunend zur Kenntnis nehmen. Rege wird dann diskutiert. Ich habe mir die schriftlich fantasievolle Zukunftsvorstellung eines dreizehnjährigen Mädchens durchgelesen und war ebenso erstaunt. Fehler hatte ich nur einige zu korrigieren: Zur Zubereitung von warmen Getränken gibt es eine kleine Küche auf jeder Etage. Tee oder Kaffee bringen wir selbst mit und Kekse spendiert jeder reihum. Kulturell bereichert ging ich nach zirka zwei Stunden nach Hause.

22.5.2020

Auf zum Tanz in das Kiezhaus! Meine Freude und Spannung sind groß. Gehübscht habe ich mich, so gut es geht. Näher kommend höre ich Musik. Nun kann’s losgehen. Aha, da steht ja auch mein seriöser Verehrer und echter Kavalier alter Schule. Beschwingt vergehen, ab und zu tanzend, drei Stunden. Bis zum nächsten Mal, wo ich bei den lateinamerikanischen Tänzen der Jüngeren zuschaue, denke ich an das erfreulich Erlebte. In einer Woche werden dann auch ausländische Tänzer, wie eben so häufig bei den Kindern, vertreten sein. Integration international ist im Kiezhaus kein Problem. Deutsch- und Gymnastikkurse erweitern die Palette des Angebots, wovon viele ausländische Bürger profitieren. Das allseitige Motto lautet: "Jeder hilft Jedem". Ein beispielhaftes Haus, nachahmenswert! Für die allgemeine Sauberkeit und Ordnung sorgt ein Hausmeister mit seiner Familie.

23.5.2020

Meine erste Außerhausarbeit besteht heute darin, zur neu eröffneten Schneiderei in der Sonntagstraße zu gehen. Wie lange haben wir diese vermisst. Ich bringe eine Hose zum Kürzen dorthin. Das schöne ist, dass Kurzwaren wie Nähgarn, Knöpfe, Reißverschlüsse, Bänder und ähnliches mehr angeboten werden. Wegen solcher Kleinigkeiten musste man all die Jahre zum Einkaufen fahren. Welche Verbesserung! Das Beste aber ist die Gelegenheit zum Laufmaschenaufnehmen der kaputten Damenstrümpfe. Wie hässlich sieht eine Dame mit sichtbaren Laufmaschen aus. Die Renteneinkünfte sind leider nicht hoch genug, um alles Reparaturbedürftige gleich wegwerfen zu können. Hierbei haben wir also den ehemaligen DDR-Standard wieder erreicht. Mein nächster Anlaufpunkt ist die Postfiliale in der Neuen Bahnhofstraße, die aufgrund der nicht nachlassenden Bürgerforderungen endlich eingerichtet wurde. Der Weg bis zur Frankfurter Allee war besonders für die Älteren und Behinderten viel zu weit. Im Laufe der Zeit ist in der Revaler-Straße ab Bahnhof Ostkreuz bis kurz vor der Modersohnbrücke eine ansehnliche Parkanlage und ein kleiner Spielplatz entstanden. Vor Jahren hatte ich dieses Modell anlässlich einer Bürgerbefragung vorgeschlagen und freue mich nun besonders über die Ideeverwirklichung. Zur Raumschaffung sind ein sehr hinfälliges Wohnhaus und alte, barackenähnliche Gebäude abgerissen worden. Nun kann man sich auf Bänken oder in einem netten kleinen Café niederlassen und verweilen. Hier treffe ich unvorhergesehen meinen amüsanten Tanzverehrer zu einem Plausch. Am Nachmittag bummle ich durch die mit vielen bunten Sonnenschirmen vor den Läden und Gaststätten verschönte Sonntagstraße zur Neuen Bahnhofstraße. Hier gibt es ein Geschäft am anderen und für die vielfältigen Waren wird unter lustig farbenfrohen Sonnenschirmen Reklame gemacht. Das bleibt nicht ohne Wirkung. Mein Ziel ist das Schuhgeschäft zwecks Kauf von Sommerschuhen und das Damenkonfektionsgeschäft wegen des Erstehens einer leichten Bluse. Im Vorübergehen kaufe ich noch im fantastischen Teegeschäft "Marion" ein Präsent für einen Damengeburtstag. Der nach Jahrzehnten geplante Umbau des Bahnhofs Ostkreuz ist mühsam abgeschlossen und hat für die Bürger nach Geduldsproben aller Art die lang ersehnte Verbesserung gebracht. Als Folge dessen entstand auch die ausgedehnte Geschäftswelt in der Neuen Bahnhofstraße. Viele Arbeitsplätze sind entstanden. Die Kriminalitätsrate ist zurückgegangen. Jubel überall!

25.5.2020

Das Wetter ist uns weiter hold. Alle Leute, so wie auch ich, sind in guter Stimmung. Mein Plan ist, zum Rummelsburger See zu gelangen. Dazu laufe ich durch den wunderbar umgestalteten Bahnhof Ostkreuz, benutze Rolltreppen und Fahrstuhl und erreichen bequem den nun existierenden Ausgang "Rummelsburger See". Dann nur wenige Schritte und ich bin da. Hier hat sich Erstaunliches getan. Mein netter Verehrer steht, wie im Café verabredet, neben der Bootsausleihstation am Ufer und winkt mir erwartungsvoll zu. Gemeinsam genießen wir das muntere Treiben der Leute und schauen auf die Ruder-, Paddel- und Wassertretboote. Den Kahn für Jugendliche zur Freizeitgestaltung gibt es noch immer und dazu eine Jugendherberge auf einem aus dem Verkehr gezogenen Dampfer. Ein Stück weiter befindet sich ein Restaurantschiff, welches wir zur Kaffeezeit betreten. Unsere Blicke richten wir auf einen langen Steg, an dem Segel- und Motorboote an- und ablegen. Eine Fähre fährt von einem Ufer zum anderen, hinüber auf die Lichtenberger Seite. Das wahrhaftige Bilderbuchwetter ist zum Ergötzen. Am Ufer befindet sich eine gepflegte Promenade mit Blumen und Sträuchern. Viele Jugendliche haben in ehrenamtlicher Arbeit zur Verschönerung der Anlage beigetragen. Für die Kinder gibt es bunte Luftballons sowie anderen Schnickschnack zu kaufen und überall Eis für Groß und Klein. Fröhlich erklingt eine bekannte Leierkastenmelodie, die zum Mitsummen verführt. Auf denn, weiter ins Getümmel! Wir sind beide gut drauf und strahlen mit der Sonne um die Wette. So kann’s bleiben, juhuh! Meine neuen Schuhe wurden bewundert und haben sich bewährt; desgleichen mein unterhaltsamer Herr. Für die nächste Woche nehmen wir uns eine Fahrt ins Umland mit der S-Bahn vor. Dank der lebenswert wieder eingeführten Jahresumweltkarte zu günstigem Preis und der hervorragenden Verkehrsmöglichkeiten ist das gut machbar. Ein schöner Tag geht zu Ende. Dankbar für das Erlebnis richte ich meine Gedanken auf den morgigen Tag. Da geht es zur Vernissage mit der neuen Bluse. Na dann, nur zu!

Vision Ostkreuz

 

Erika Reichelt
Vision vom (R) Ostkreuz

 

Ach, das könnte schön sein, ein Bahnhof mit Fahrstuhl,
wo Kranke mit Rollstuhl die S-Bahn erreichen,
wo rollende Treppen die Menschen befördern,
wo Sprayer die Wände nicht mehr bestreichen,
wo man durch Parks zum Bahnhof gelangt,
wo wieder eine Bahnhofsuhr prangt,
wo Händler ihre Waren verkaufen
und man nicht muss so viel laufen.

Vielleicht ein Ausgang zur Rummelsburger Bucht
Für den, der die Erholung sucht.
Eine Halle mit vielen Geschäften,
mit Fleisch und Wurst und vielen Säften,
mit Brot und Kuchen und anderen Sachen.
Das würde uns viel Freude machen.

Parkplätze wären auch nicht schlecht,
die wären P+R - gerecht.
Schnell soll der Umbau geh'n,
denn wir Alten wollen den Neuen seh'n,
wollen die Bequemlichkeit genießen,
die wir so lange schon vermissen.

Wollen als Anwohner den Baulärm ertragen,
um später den Kindern zu sagen:
Hier stand mal ein Bahnhof, das Rostkreuz genannt,
DEN haben wir noch gut gekannt.

Warten auf Tine

 

Fabian Theurer
Warten auf Tine

 

Tine und ich kommen ursprünglich ganz woanders her. Das ist heutzutage ja auch keine Seltenheit mehr. Wäre doch Zufall, wenn man ausgerechnet da, wo man eben geboren ist, auch noch Arbeit findet. Oder die Liebe seines Lebens. Zwanzig Jahre vor dem Jahr 2020 waren wir beide genau 20 und so unterschiedlich, wie sonst nur Zwillinge es sein können. Es war Sommer, als wir uns kennen lernten: Am Badesee. Das knallrote Banner des Che Guevara und ein wolkenloser Himmel trafen da aufeinander und in der Zweieinigkeit der Gegensätze fanden und hielten wir uns fest. Wir konnten uns anfangs nicht so oft sehen wie wir es gerne gewollt hätten. Doch hat sich auf Tine zu warten schon immer gelohnt. Sah ich sie dann endlich wieder, konnte sie immer mit einer besonderen Überraschung aufwarten: Sie hatte dann zum Beispiel einen Mandarine-Schinken-Salat erfunden oder trug einen neuen Wickelrock. Irgendwann beschlossen wir, eine gemeinsame Wohnung zu beziehen. Einen Schaukelstuhl und eine Palme für den Balkon, Teller und Tassen mit Blümchendruck, ein paar Schränke und unsere Bücher nahmen wir mit; Tine fand noch ein Telefon bei sich auf dem Dachboden und ich noch einen Tisch bei mir im Keller. Und dann wohnten wir zusammen. Saßen zum Beispiel auf unserem hochglanzpolierten Parkett und tranken uns mit Pinot Meunier zu, eine Rosenstolz-CD auf Wiederholung im Hintergrund, als Tine genüsslich feststellte, dass ich wie ein Zeitungsjunge aus den 20er Jahren (sie meinte die 1920er) aussähe, bevor wir übereinander herfielen und … man hätte es eine autonome Boheme nennen mögen, wäre es nicht ausgerechnet in Erlangen gewesen. So war unserem kleinen Glück auch keine große Zukunft beschieden: Ein paar Jahre nur, dann wurden Schaukelstuhl, Palme, Teller und Tassen mit Blümchendruck, die paar Schränke und unsere Bücher wieder herausgetragen, so wie sie hineingelangt waren. Es dauerte nur etwas länger als beim Einzug, da wir unseren Freundeskreis ziemlich vernachlässigt hatten.

Tine konnte meinen Schreibtisch gebrauchen, ich ihr Telefon. Auch ein paar Bücher wechselten noch schnell die Seite. Dann war die Wohnung wieder weiß und leer, Tine und ich wir sahen uns verzweifelt an. Tränen, letzte Umarmung, letzter Kuss. Wir stiegen in einen ICE, dem wir damals noch aus dem Küchenfenster hinterhersehen  konnten. In die eine Richtung fuhr er nach München, in die andere nach Berlin. Tine zog es nach Süden, mich nach Norden.

 

In der Zeit danach schrieben  wir uns Briefe. "Ich muss mir ja selbst weh tun", schrieb Tine dann etwa, bevor sie auf ihre Fortschritte bei der in München komplizierten Wohnungssuche zu sprechen kam. Auch ich war nicht gleich richtig angekommen. Anstatt in Berlin war ich in einem vom Verdauungsgas der Bourgeoisie aufgeblähten Vorort zwischen Berlin und Potsdam gelandet. Zehlendorf eine poetische Note abzugewinnen wollte mir nicht gelingen. Dennoch antwortete ich und Tine dankte es mir, indem sie stets mit "Fühl dich umarmt und geküsst" schloss – ganz so, als seien wir noch frisch verliebt. Manchmal allerdings traten ein paar Monate Pause auf, ehe der Vorhang des Schweigens sich wieder teilte. Im Ergebnis war die Neuigkeit dann immer eine besondere Sensation. So etwa, als Tine irgendwann beschloss, einen ihrer Zeitungsjungen zu heiraten. Was sie mit ihrem fortgeschrittenen Jurastudium offenbar genauso gut vereinbaren konnte wie ihre zahlreichen Seitensprünge. Zeitgleich wandelte ich auf Irrwegen durch einen seltsamen Landstrich. Die Einwohner dort begrünten ihre Regenrinnen und Hauseingänge mit kleinen Bäumen und Sträuchern; der Straßenbelag bestand aus etwa fünf verschiedenen Materialien aller deutschen Geschichtsepochen seit dem Kaiserreich, war aber an allen Stellen gleichmäßig kaputt. Ansonsten war noch bemerkenswert, dass grün angestrichene Rohre von etwa einem Meter Durchmesser, scheinbar wild aus dem Brachland eines geziegelten schwarzen Wasserturms emporkriechend, rätselhafte Substanzen geheimer Herkunft irgendwohin transportierten. Ich setzte Tine umgehend über meine Umzugspläne in Kenntnis.

Tine behauptete immer, München im Grunde zu hassen und nur aus Zweckmäßigkeitserwägungen dorthin gezogen zu sein, um beizeiten nach Berlin überzusiedeln. Vielleicht nahm sie die Nachricht deshalb eher mit Neid zur Kenntnis; sie ließ mich wissen, dass sie sich für mich freue, leider! Aber zurzeit furchtbar viel zu tun habe. "Ausführliches, sowie ich Zeit habe!", schrieb sie.

 

Hansestadt Bremen. Lutherstadt Wittenberg. Medienstadt Babelsberg. Jede Stadt bekommt einen Beinamen verpasst. Wenn sie keinen hat, erfindet die Deutsche Bahn eben rasch einen. Mein absoluter Favorit ist die "Stadt der Käthe-Kruse-Puppen Donauwörth Hubschrauberstadt Europas". Wie gut durchdacht dieser Name ist, erschließt sich einem sofort – jedenfalls, wenn man weiß, welches von den Wörtern ursprünglich die Stadt bezeichnet. Was sollten denn die Puppen allein nützen? Hubschrauber! Das klingt nach Schrappschrappschrapp: Hightech, Wirtschaft, Arbeitsplätze. "Juhu, es geht aufwärts!", drängt sich dem Stadtbesucher auf. Laptop und Lederhose! Und was ist Berlin? "Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland" natürlich. Das vereinigt bereits alle Superlative auf einmal in sich. Meines Erachtens haben aber auch der Bezirk Friedrichshain, ja, sogar das Ostkreuz sich einen Beinamen verdient. Die Bevölkerung sollte über mehrere Vorschläge abstimmen dürfen. Ich würde den Vorschlag "Entscheidungsraum Ostkreuz" einreichen. Erstens, weil es sich nicht entscheiden kann, wem es angehört: Friedrichshain? Hat der nicht was mit Kreuzberg zu tun? Oder Lichtenberg? Vielleicht auch ein ganz kleines bisschen Treptow? Und ist das dann Stralauer Kiez oder Rummelsburg oder...? Zweitens, weil hier vieles entschieden wird, von dem kein Mensch weiß, ob es wirklich so gut ist. Brauchen wir zwei, drei neue Bürotürme als Gegengewicht zum Treptower? Ich sage: Ja. Mindestens so notwendig wie das fünfte Einkaufszentrum um die Ecke und breitere Straße für noch mehr Autos. Tine hat sich gegen den Zeitungsjungen, aber für ein Kind entschieden. Ein Mädchen, das sie nach der Malerin Frida Kahlo benannt hat. In Ermangelung eines Partners ließ sie Glückwunschkarten mit dem Satz "Ich freue mich auf die Ankunft meiner Tochter Frida" bedrucken. Was ich für eine sehr alberne Idee hielt. Trotzdem gratulierte ich recht herzlich. Nun hatte ich aber meinerseits recht wenig Zeit, mich weiter darum zu kümmern, denn das Ostkreuz nahm mich in den nächsten Wochen und Monaten vollständig in Anspruch.

 

Im Grunde ist es ja wie eine Wohnung, in der ständig Putz von der Decke rieselt; man bückt sich, kehrt und wischt, bringt scheinbar alles in Ordnung – und wenn man sich umdreht, kann man schon wieder von vorne beginnen. Seltsam nur, dass es so wahnsinnig glücklich macht. Vielleicht, weil es hier immer noch wirklich notwendige Arbeit gibt, die andernorts schon längst ausgestorben ist. Facility Management, Personalberatung oder elektrische Fensterheber finden manche Menschen auch eine notwendige Beschäftigung. Ich aber nicht. Und Tine übrigens auch nicht, auch wenn sie vorläufig trotzdem nichts mehr von mir zu wissen wollen scheint.

Es waren wieder einmal Jahre vergangen, als sie mich eines Abends anrief und mit einer Selbstverständlichkeit drauflos quasselte, als sei sie nur mal eben Zigaretten holen gewesen. Dass sie einer großen Anwaltskanzlei in München vorstand, wusste ich schon. Sie hatte spektakuläre Auftritte bei Prozessen, von denen ich dann hinterher in der Zeitung las; zeitweilig brachte ich ihren Namen, den sie übrigens nie abgelegt hatte, gar nicht mehr mit meiner Tine in Verbindung. Perfekter Rollentausch: Tine berichtet, was sie bei ihren Streifzügen durch die Welt der Reichen und Schönen erlebt hat und ich … ach Tine, Odyssee! "Wie geht's Frida?" – "Och, der geht's gut. Weißt du was? Sie spricht zwei Sprachen fließend!" – "Andauernd wahrscheinlich, oder? Ganz die Mutter!" Gelächter. "Und was treibst du so?", fragte Tine. "Ich warte auf bessere Zeiten." – "Was?! Du wartest? Hör mal mein Lieber, das Glück kommt dir nicht mal auf halben Weg entgegen." – "Schade eigentlich", dachte ich bedrückt. Laut sagte ich: "Jaja, und Morgenstund hat Gold im Mund und Blut ist dicker als Wasser  …", was sie prompt wieder mit herzlichem Gelächter quittierte.

Gewisse Redensarten haben sich bis zum heutigen Tag einen gewissen Stellenwert erhalten, was den Lachreiz anbetrifft. Ihre raue Stimme jedenfalls wirkt anziehender denn je auf mich. Diese Stimme erklärte mir nun, sie müsse einen ungeheuer wichtigen Mandanten unbedingt in Berlin treffen, und wenn es mich nicht störte, wolle sie mal auf einen Sprung bei mir vorbeikommen. Wir hatten uns zwölf Jahre lang nicht mehr gesehen. Ich sagte sofort zu.

Tine wollte aus irgendeinem Grund nicht direkt zum Ostkreuz kommen, und schlug die Modersohnbrücke als Treffpunkt vor. Offensichtlich hatte sie vorher einen Stadtplan zu Rate gezogen. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Es war Winter 2020, ich vergrub meine klammen Hände in den Jackentaschen und marschierte los. Jeden Moment, den ich an sie dachte, wurde mir warm ums Herz. Seltsam: Kalte Hände, warmes Herz. Während ich die Straße herunter lief, erinnerte ich mich wieder an all die Dinge, die ich Tine früher so gerne gezeigt hätte: Das Rostkreuz mit den vielen Menschen. Die Schienen auf der Straße, die nirgendwo mehr hinführten. Den zur Straße hin angeschrägten  30-Zentimeter-Gehsteig. Meine kuriose kleine Gründerzeitwohnung mit den Ochsenblut-Dielen. Die Schuttpflanzen (heißen die nicht auch Pionierpflanzen?). Wo war das alles geblieben? Warum mussten wir es aufgeben? Wie hatte es sich angefühlt, in dieser Gegend zu leben – bevor das Ostkreuz zu einem Einkaufs- und Dienstleistungszentrum umgebaut worden war? Ich schloss die Augen und fand etwas davon wieder, doch als ich die Augen wieder öffnete, sah ich nur noch diese trostlose Gegenwart, die nun die Wirklichkeit darstellen sollte. Der alte Stadtteil von damals war verdammt jung geworden, und ich verdammt alt. Mit einem Mal empfand ich so etwas wie Scham: Erste graue Haare wuchsen auf meinem Schädel und ich atmete schon zu heftig für so einen kurzen Spaziergang. Vielleicht hätte ich doch das Auto nehmen sollen. Würde Tine bei meinem Anblick erschrecken? Andererseits war sie ja genauso alt wie ich. Und ich war, naja, auf eine Weise distinguiert, erfahren in den Umgangsformen und finanziell in der Lage, sie vornehm zum Essen einzuladen. Ganz anders als früher! Als wir noch die gemeinsame Wohnung in Erlangen hatten. Ich schreckte aus meinen Gedanken auf. Die Überraschung bestand darin, dass es keine gab. Als die mit einem dunkelblauen Schal vermummte Gestalt auf der Mitte der Brücke sich nach mir umwandte, erkannte ich Tine sofort wieder. Nein, mehr als das, sie war einfach wieder gegenwärtig, obwohl ich sie schon die ganze Zeit über gespürt hatte. Mein  erstarrtes Grinsen wollte erst wieder weichen, als ich sie plötzlich in den Armen hielt und ihre Tränen an meinem Hals spürte. Wenigstens sie war sich treu geblieben. "Du", sagte sie nach einer Weile, "ich muß dir was gestehen." Ich wartete: "Ich habe mich wieder gebunden …" – "Ja, aber das ist doch schön", log ich. Tine sah mich mit großen Augen an. "Es macht dir wirklich nichts aus …? Oh, das ist gut." Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und lachte verlegen. "Weißt du, ich stehe halt immer noch auf Typen so wie dich damals, in Erlangen." Ich mutmaßte natürlich sofort über die tollen Eigenschaften, die jemand besitzen musste, der mir ähnlich sein sollte. Kräftig, intelligent, erfahren und hochgradig männlich musste er mindestens sein, oder? Nein, hatte Tine gesagt. Es sei vielmehr so, dass sie immer noch auf Zwanzigjährige steht.

So ist es nun einmal, Jugend zahlt sich nicht aus und im Alter wird es auch nicht besser. Das gilt für außergewöhnliche Stadtteile ebenso wie für außergewöhnliche Frauen, die sich einem immer dann entziehen, wenn es eigentlich erst spannend werden könnte.  Immerhin gibt es sie, so viel steht fest. Ich weiß nur immer noch nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll.