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Kultur- und Nachbarschaftszentrum

Legenden vom Ostkreuz

Eine Anthologie

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Legenden vom Ostkreuz

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Ostkreuz - 15 Jahre im Literaturwettbewerb

 

Ostkreuz
15 Jahre im Literaturwettbewerb

 

Es begann alles in einem kleinen und verlassenen Gemüseladen, in dem schon 1903 Brot und Schrippen gebacken und gleich nach dem Ende des schrecklichen 2. Weltkrieges Wäsche und Gardienen gebügelt und aufgehübscht wurden.

Mit der Wende 1990 verlor der Stadtteil zwischen Spree und Bahngleisen und Warschauer Straße und Ostkreuz etwa 9000 der benachbarten Arbeitsplätze. Viele der Anwohner waren persönlich davon betroffen. Der Kiez rund um den Rudolfplatz sollte und wollte natürlich weiterleben.

Das war auch Anliegen des Berlin- Brandenburger Bildungswerkes. Ein Projekt für die Gegenwart und Zukunft  -  "RuDi der Stralauer Kiezladen" wurde geboren. Lebenshilfe für den Alltag, für Ältere und Junge, für Kiezbewohner mit und ohne Arbeit, für Kinder und Jugendliche aus den benachbarten Schulen, für Bewohner jenseits der S-Bahngleise und für Flüchtlinge vor dem Krieg auf dem Balkan, das war das tägliche Brot, das nun im Kiezladen gebacken wurde.

Wegzug von Gewerbe und weitere Entvölkerung von Ladengeschäften, jahrelanger Straßenbau und böse Sprüche wie "Ostkreuz – Rostkreuz" waren Herausforderung, sich gegen diese Entwicklung zu stemmen. Ein Aufruf zum Fotowettbewerb und der Suche nach historischen Fotos aus Familienalben brachte erstaunliche Ergebnisse und über 20 sehenswert gestaltete Schaufenster. Auch die Politik merkte endlich auf und die vier Wohngebiete um das Ostkreuz in Lichtenberg und Friedrichshain wurden Fördergebiete für Euromillionen aus Brüssel. Urban II hieß nun das Zauberwort.

Ein winziger I-Punkt in dieser Phase, so dachten wir, könnte ein literarischer Schreibwettbewerb werden, vom RuDi initiiert und betreut.

Gemeinsam mit Manfred Bofinger, dem bekannten Karikaturisten, Buchillustrator und Autor, der gerade bei uns Plakate ausstellte, wurde aus der  Idee ein praktikables Konzept. Bofi übernahm, fast selbstverständlich, den Vorsitz der Jury und beglückte uns nach einer "Sonderschicht" für den RuDi mit dem genialen Logo, das auch den aktuellen Umschlag ziert. Er hatte uns offensichtlich in sein großes Herz geschlossen - den kleinen Laden mit den vielseitigen Angeboten und seine Besatzung. Denn gleich um die Ecke hinter der Elsenbrücke am anderen Spreeufer, in der Treptower Plesserstraße, tickte sein Kiez mit ähnlichen Nöten und Sorgen, aber ohne einen RuDi!

"Ostkreuz - zweimal täglich" war 2001 geboren und die Resonanz zum ersten Schreibwettbewerb war für uns so überwältigend, dass aus den Beiträgen unbedingt eine Broschüre für alle Teilnehmer entstehen musste. Bofi zeichnete die Preisträger aus und gab gleichzeitig den Startschuss für Jahrgang zwei. "Ostkreuz 2020" war das hoffnungsvolle Thema.

Auf diese Idee brachte uns Ilse Treue, Drittplatzierte des ersten Jahrgangs, mit ihrem Text "Blicke aus einem Haus, das es nicht mehr gibt". Sie spannte den Zeitzeugenbogen von 1949 bis in die Gegenwart und endete: "Sein Umbau (Bahnhof Ostkreuz) sowie eine freundliche Gestaltung des Wohngebietes würden wir gerne noch erleben." Diesen Wunsch hegt sie mit über 93 Jahren bis heute und ist mit fast ununterbrochener Teilnahme die älteste und treueste Verbündete des RuDi und das gilt nicht nur für diesen Wettbewerb.

Bofi hat die Texte mit Blick in die Zukunft nicht mehr lesen können. Er starb nach langem Ringen mit dem Tod 2006. Seine Lebensfreude, die Begeisterung vor allem für Kinder als Zeichen seiner Kunst wollten und werden wir im RuDi bewahren. Ein Besuch an seinem Grab auf dem Friedhof in Stralau mit der Marmorfigur eines lesenden Kindes ist nicht nur für mich immer wieder Gelegenheit, mich an einen herzensguten und stets hilfsbereiten Menschen zu erinnern.

Stellvertretend führte Helios Mendiburu, ehemaliger Bürgermeister von Friedrichshain, die Arbeit der Jury weiter und bereicherte mit seinen Vorstellungen den Schreibwettbewerb um das Ostkreuz für die nächsten Jahre.

Mit dem nun vorliegenden dreizehnten Band kann sicher von einer Tradition gesprochen werden, die bei Beginn des Vorhabens nicht in unseren kühnsten Träumen zu erwarten war. Es ist immer wieder erstaunlich, wie vielfältig das Leben rund um das Ostkreuz  literarisch beschrieben werden kann.

Gern habe ich der Bitte entsprochen, für diese abschließende Anthologie einen Rückblick zu unternehmen. Mit besonderer Freude las ich noch einmal die Vorworte, fast alle von meinem ehemaligen Kollegen Rainer Fischer, der nach meinem Ausscheiden die Organisation des Schreibwettbewerbes hauptverantwortlich und verdienstvoll weiterführte und ein Garant für den niveauvollen literarischen Anspruch war.

Viele Beiträge aus den Vorjahren erinnerten mich an turbulente Zeiten des politischen Alltags, die Beeinträchtigungen für die Anwohner durch den immer noch andauernden Umbau des Verkehrsknotens Ostkreuz und den Neubau der Modersohnbrücke, das Für und Wider der Verlängerung der A 100, die Neugestaltung des Lebens im Osthafen und  die Sanierung vieler Häuser und Wohnungen verbunden mit dem Zuzug neuer Kiezbewohner.

Und der Schreibwettbewerb hatte noch eine wertvolle Begleiterscheinung: Es bildete sich ein neuer Zirkel für Freunde der Literatur, in dem sich Interessierte trafen und sich gegenseitig und der Öffentlichkeit ihre neuen Texte vorstellten.

Für die lange Reihe der erschienenen Anthologien gilt allen Teilnehmern am Wettbewerb ein besonderer Dank, ohne ihre Texte keine Publikationen. Dank zu sagen ist den Sponsoren aus dem Umfeld des RuDi und der Jury, ohne die solch ein zu großen Teilen ehrenamtliches Projekt nicht lebensfähig bleiben konnte.

Ich wünsche dem jetzigen RuDi Kultur- und Nachbarschaftszentrum viel neue Ideen für eine noch lange und erfolgreiche Existenz und allzeit ein volles Haus mit zufriedenen Nachbarn und Besuchern.

Eberhard Tauchert
Leiter des RuDi von 1996 bis 2006

Legende vom Federlesen

 

Peter Mannsdorff
Die Legende vom Federlesen

 

Wollen Sie wirklich wissen, was mit Katharina P. in diesem Jahr geschah? An der Nahtstelle vom Winter zum Frühling? Ich könnte Ihnen so viele Einzelheiten über die dunkelhaarige Frau mit den traurigen Augen sagen. Aber nur eine Episode aus ihrem Leben möchte ich preisgeben. Sie handelt von der kolossalen Veränderung, die Katharina erfahren hatte, einer Art magischer Metamorphose.

Sie hatte im letzten Winter Zeiten der seelischen Einsamkeit durchlebt, sie litt unter der Unfähigkeit, aktiv ihren Alltag zu gestalten, erstickte in Lethargie und Passivität. Fantasielosigkeit bestimmte ihr Leben. Sie vergrub sich unter der Bettdecke, verließ ihre Einraumwohnung nur, um das Nötigste zu kaufen: Brot, Margarine und Käse.

Sie war müde, lebensmüde.

Sie hatte keine Kraft mehr, wollte nicht mehr.

Eines Tages aber explodierte es in ihr. Sie hielt es nicht mehr aus. Das konnte doch nicht alles gewesen sein. Dieses bisschen Leben auf der Durststrecke? Katharina wollte unter Leute gehen. Ihre Luft zum Atmen war knapp geworden, sie röchelte nach Freiheit. Sie wollte raus aus dem Angstkäfig ihrer Wohnung. Frische Luft wie Landmilch schmecken, wie Honig kosten, wollte sie.

Es zog sie in die Gegend am Ostkreuz. Oder zum Westkreuz? Eigentlich war es ihr egal. Irgendetwas mit Kreuz müsste es sein. Ein Kreuzweg. Ein Scheideweg.

Sie entschied sich für das Ostkreuz.

Am Ostkreuz hielt sie sich immer gerne auf. Die Schienen trafen sich dort wirklich zum Kreuz; S-Bahnen fuhren in den Bahnhof ein wie Tausendfüßler auf Rollschuhen.

Dort wollte sie jetzt hin.

Sie irrte durch die Straßen, bog wahllos nach links und rechts in Nebenstraßen ein. Bald hatte sie die Orientierung verloren. Sie musste längst in Friedrichshain sein, als sie eine lange Brücke überquerte, die von großen Lampen angestrahlt wurde. Im Scheinwerferlicht hatten Spinnen ihre Netze am Geländer gespannt, schwarze Räuber lauerten auf Beute. Das Wasser der Spree zwirbelte um die Brückenpfeiler. Nächtliches Leben begann. An einem Brunnen saßen junge Leute, spielten Gitarre, sangen. Aber sie saßen in Gruppen. Katharina fand nicht den Mut, sich dazu zusetzen. Allmählich wurde es dunkel. Sie wusste nicht, wo sie war, wohin sie sollte. Wie eine Fremde in der eigenen Stadt irrte sie durch Häuserschluchten. Eine Stadtnomadin, die eine Oase suchte. Verbannt in die eigene Stadt, lebte sie wie im inneren Exil.

Sie verschwand in einem Café, suchte Nähe zu anderen Gästen, wollte mit jemandem reden, einfach nur reden, über Belangloses, Alltägliches. Die meisten Gäste saßen zu zweit an Tischen, sie wagte nicht, sich dazu zusetzen. Jene, die allein saßen, beschäftigten sich mit ihrem Smartphone oder waren über dem Tablet vertieft. Katharina setzte sich an einen freien Tisch. Sie verlangte das Billigste, ein stilles Mineralwasser. Sehnsüchtig blickte sie sich im Café um. Trotz des Wassers, ihr Durst wurde nicht gestillt.

Sie rief den Kellner und zahlte mit einem Fünfeuroschein. Er gab ihr auf fünfzig Euro heraus. Jetzt gehen!? Sie hatte kaum Geld. Das hier war wie ein Lottogewinn. Aber sie wollte ehrlich sein und rief den Kellner zurück. Seine Augen leuchteten auf. "So viel Ehrlichkeit habe ich selten erlebt. Sie haben einen Wunsch frei. Wollen Sie ein Freigetränk?"

Katharina zögerte. "Ich weiß nicht", sagte sie dann. "Gibt es hier in der Gegend nicht etwas mit ... wie soll ich sagen? ... mit mehr zwischenmenschlicher Wärme? Wenn Sie da etwas wüssten, wäre ich Ihnen sehr dankbar."

Der Kellner überlegte einen Moment. "Ich glaube, ich weiß, was du suchst." Er war inzwischen zum Du übergegangen. "Pass auf, ich führe dich hin. Ich nehme mir zehn Minuten frei."

Die beiden machten sich auf den Weg. In die Samariterstraße bogen sie ein. "Geh immer weiter geradeaus, auf der linken Seite findest du eine Buchhandlung. Da bist du richtig."

Katharina folgte der Straße und ging einen leichten Hang hinauf, bis sie an ein beleuchtetes Geschäft kam. An einer Schaufensterscheibe war in großen Druckbuchstaben geschrieben: Litlist – Antiquariat.

Vor der Buchhandlung standen Kisten, voll mit alten Büchern. Das Geschäft hatte noch geöffnet. Hinter dem Schaufenster bewegten sich Schatten von Menschen. Katharina öffnete die Tür und trat ein. Junge Leute saßen in durchhängenden Sesseln, auf alten Sofas, in Schaukelstühlen. Jeder hatte ein Glas Bier oder Wein vor sich, manche einen O-Saft oder einen Milchkaffee. Einige blätterten in Büchern, andere unterhielten sich. Alle Wände waren vollgestellt mit Bücherregalen. Die Borde waren meterhoch, die oberen Fächer nur mit einer Leiter zu erreichen. An Stellen, wo keine Regale standen, waren die Wände bemalt. Kerzen tauchten den Raum in eine anheimelnde Atmosphäre. Gesichter flackerten im Spiel von hell und dunkel; Schatten zitterten durch den Raum und verwandelten ihn in eine Höhle.

Ein junger Mann in schwarzem Rollkragenpullover, den Bart mit einem Schießgummi zu einem langen Zopf gebunden, auf dem Kopf eine dunkelblaue Schiebermütze, schenkte an der Theke Getränke aus und bereitete Käsetoasts zu. Katharina fiel ihm sofort auf. "Einen wunderschönen guten Abend", begrüßte er sie. "Ich bin der Buchhändler, ich heiße Thomas, und du? Willst du etwas trinken, bevor es losgeht?"

"Ich habe nicht viel Geld", sagte Katharina leise.

"Gib, was du entbehren kannst. Wir freuen uns über jede Spende."

Katharina warf einen Euro in ein rosa Sparschwein und bekam dafür ein Glas Wein. Sie wollte wissen, was wann bald losgeht.

"Das Federlesen", sagte Thomas. "Wir treffen uns einmal in der Woche hier im Litlist und lesen uns unsere eigenen Texte vor. Später reden wir darüber. Das ist immer eine sehr spannende Sache. Wir lesen Geschichten, die passiert sind und verweben sie mit Dingen, die nur im Kopf des Autors passiert sind."

"Und warum heißt das Buchgeschäft Litlist?"

"Litlist, das ist der Traum von einem schreibenden Fleckchen Erde. Ein Dorf, in dem alle, Kinder und Erwachsene, Geschichten schreiben. Weißt du, zum Schreiben braucht man nicht viel. Einen LIT - er Lust, viel LIST gegen die Einfallslosigkeit und eine Flasche FANTA – sie."

Das Federlesen begann. Katharina setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Obwohl die Atmosphäre ihr hier so gut gefiel, fühlte sie sich noch immer matt, wie fremdbestimmt. Als wäre nicht sie für ihr Handeln und Denken verantwortlich, sondern irgendjemand anders. Wie eine Marionettenpuppe kam sie sich vor. Sie konnte nicht wie auf Knopfdruck eine andere sein. Trotzdem wollte sie sich konzentrieren und lauschte gebannt der Geschichte des jungen Autors in schwarzen Jeans, die an den Knien zerrissen  waren. Beim Zuhören liefen Bilder vor ihren Augen ab, und ihr war, als guckte sie in ihren Spiegel.

Der Mann las von einer Frau, die unter bösen Depressionen litt und nach ihrem Leben trachtete. Sie wollte sich umbringen. Eines Tages hatte sie einen Traum. Sie wusste nicht, ob es ein schlechter Traum oder ein guter gewesen war. Sie hatte geträumt, dass sie eine Romanfigur war, eine Figur einer ausgedachten Geschichte. Ihr Blut war nicht fließendes Rot, sondern abgestandene Druckerschwärze. Ihr Körper bestand nicht aus Fleisch, sondern aus einer losen Ansammlung von Buchstaben.

Sie war geboren als Idee im Kopf eines Schriftstellers. Der Schriftsteller, der sie aus seinen Rippen geschnitzt hatte, muss düstere Gedanken gehabt haben, als er ihre Geschichte aufschrieb. Blutleer, ohne Lebenslust hatte er sie beschrieben.

Nur wer bitte sehr war ihr Autor?

Sicher war es kein anderer als der Schöpfer. Am Anfang war das Wort ... Sie könnte ihn Gott nennen oder ihn als ein Gesetz bezeichnen, das sich seine eigenen Regeln aufgestellt hat, dem sich jede Kreatur der Schöpfung zu fügen hat. Jetzt hätte dieser Gott ihre Geschichte zu Ende erzählt. Er rief sie. Das fühlte sie. Sie müsste ihr Leben beenden, um in sein Reich einzukehren.

Ihre Geschichte würde zwischen den Buchseiten enden, zwischen Schichten frischer Erde im Grab. Plötzlich stockte die Frau, vielleicht gäbe es auch eine andere Möglichkeit. Hatte sie nicht die Wahl, aus der Geschichte, die ihr Schöpfer für sie aufgeschrieben hat, auszusteigen und sich eine andere, eine bessere Geschichte zu schreiben? Dann wäre ihr Roman nicht zu Ende. Wenn sie morgen aufwachte, bekämen die papierhölzernen Seiten ihres bisher trostlosen Lebens vielleicht Bewegung, würden zu sprudelndem Leben, und sie wäre kein starres Abbild mehr, sondern ein Mensch, der laufen, tanzen, springen könnte wie ein Schauspieler in einem Film.

Katharina P. ging nach dieser Lesung im Litlist mit neuen Eindrücken nach Hause. Auf der Oberbaumbrücke blieb sie stehen. Unter ihr glitzerte die Spree im Mondschein. Die silbernen Wellen des Flusses wurden zum Funkenregen eines Feuerwerks. Wie eine Natter schlängelte sich der Fluss durch Berlin.

Nicht mehr hinabstürzen in die Tiefe wollte sie sich, Katharina P. schaute in den Mond. Ganz deutlich erkannte sie Krater und Meere. Es sah aus, als ob jemand in der gelben Scheibe schlummerte. Vielleicht wirklich der Mann im Mond. Oder Gott? Vielleicht war er wirklich ein Geschichtenerzähler und erzählte jedem Menschen seine Geschichte. Liebesgeschichten, Trauerspiele, Geschichten zum Lachen. Manche gingen gut aus, manche schlecht. Schicksal, sagen die Menschen, wenn sie glauben, Gott habe es so gewollt, dass ihnen nur traurige Dinge widerfahren. Vielleicht aber ist alles ganz anders. Müsste man nicht vielmehr dieses ewige Gejammer beenden und etwas zum Lachen daraus machen? Über sich und seine Wehwehchen lächeln.

Vor einem Geschäft blieb Katharina stehen und spiegelte sich im Schaufenster. Nie hatte sie gewusst, wer sie wirklich war. Jetzt erst erkannte sie sich. Sah in ihre Augen, bemerkte die Falten in ihrem Gesicht. War sie wirklich blind gewesen? Sind alle Menschen in der Stadt blind? Lesen sie denn nicht in jeder Falte, in jeder Narbe des Obdachlosen in der U-Bahn eine Geschichte aus seinem harten Leben? Sehen sie die Falten, die Narben denn gar nicht?

Sollte sie sich wirklich von ihrem winterlichen Tief erholen, würde sie wieder zu einer Frau voll sprudelnden Lebens werden, die in selbstbestimmter Freiheit ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen würde? Und ihr Herz, würde sie es zurück gewinnen? In der Phase der Niedergeschlagenheit hatte sie nicht vermocht zu sehen. Wer kein Herz hat, der ist blind ...

Existierte Katharina in ihrem bisherigen Leben auch gleich einer Romanfigur zwischen den Zeilen auf einer bedruckten Seite? Oder, wenn sie im anderen Bild bleiben wollte, müsste sie ihre Marionettenfäden abschneiden? Egal, wenn irgendeine unsichtbare Macht sie auf einen falschen Weg geschickt hatte, müsste sie diesen Weg verlassen wie man aus einer S-Bahn am letzten Bahnhof vor der Endstation aussteigt.

Allmählich, sehr langsam, fand Katharina wieder ihr seelisches Gleichgewicht und begab sich unter Menschen. Das Litlist fand sie nicht mehr vor, aber es hatte es wirklich einmal gegeben, es war ein zwitscherndes Vogelnest fröhlicher Literaten gewesen, in das sich bald ein finanzkräftiger Laden für Computerzubehör eingenistet hatte. Das Litlist war zu einer lebendigen Legende im Kiez geworden. Dorthin wäre Katharina gerne zurückgekehrt, und mangels dieses verschollenen Antiquariats fand sie mit viel Geduld im Internet das Rudi Nachbarschaftszentrum, eine Heimat für Einsame im Kiez der anderen Art ...

Letzter Sommer

 

Gabriela Spangenberg
Letzter Sommer

 

Im Osten geboren, dem Kreuz so fern,
lag ich plötzlich vor einem Angestellten des Herrn.
Grund war die Treppe, so lang und steil,
unten gelegen, der Fuß nicht mehr heil.
Alles schien plötzlich so unwichtig und weit,
gebremst meine Lebensgeschwindigkeit.
Aufgezwungene Ruhe im kirchlichen Hospital,
dazu der kranke Vater, welch ein Tal.
Ein Seelsorger in der Klinik namens Tim,
sagte, dahinter steckt ein tieferer Sinn.
Nun gut, dachte ich, ich lass mich drauf ein
und lagerte hoch mein kaputtes Bein.
Lange Wochen, nur mein Vater und ich,
die Sonne sehr heiß und er sorgte für mich.
Er vergaß seine Krankheit und lebte auf,
ein schöner Sommer nahm seinen Lauf.
Endlich ging‘s aufwärts, wieder laufen allein,
wie schön konnte doch das Leben sein.
Ostkreuz hatte ich aus dem Kopf verbannt,
vorbei die Zeit, dass ich Treppen gerannt.
Als der Alltag mich wieder eingesogen,
schäumten die sonst so glatten Wogen
und nahmen mir den Vater, das Herz so schwach,
für immer entschwunden mein Beschützerdach.
Und plötzlich im Kopf, die Worte von Tim,
dies war also der tiefere Sinn?
Gegönnt ward mir ein Sommer, nur mein Vater und ich,
die Sonne sehr heiß und er sorgte für mich.

Ostkreuz du bist jetzt mein Lieblingsort,
wie gern bin ich in der Nähe dort.
Du hast mir so wertvolle Zeit gegeben,
mit einer Träne proste ich auf das Leben.

Johanna vom Ostkreuz

 

Herbert-Friedrich Witzel
Johanna vom Ostkreuz

 

Legenden handeln von Heiligen oder dienen als Erklärung zur Landkarte. Hier kommt beides.

Es geschah am 20. September 2015, dem 16. Sonntag nach Trinitatis, als ich die Heilige Johanna traf beim Blind Date nach dem Motto: "Wer Ohren hat zu hören, der höre."

Meine Lieblingskirchen wurden kreuzförmig zum Licht hin gebaut, mit der Längsachse von West nach Ost, gen Orient also, daher unser Wort Orientierung. Ich wollte mich orientieren, ohne gleich wieder in die Kirche einzutreten, und machte mich deshalb auf den Weg zum Ostkreuz. Jede Menge Volk wie du und ich bewegte sich dort auf der Sonntagstraße, um noch einmal die Ruhe zu genießen, bevor hier doppelgleisig eine Tram langbretterte: "Elegants, Bürger mit der Hausfrau und den lieben Kleinen in Sonntagskleidern, Geistliche, Jüdinnen, Referendare, Freudenmädchen, Professoren, Putzmacherinnen, Tänzer, Offiziere usw."

(E.T.A. Hoffmann.)

 

Die Heilige Johanna vom Ostkreuz 21 hat am Telefon behauptet, das sei in Europa mit der EU wie damals in Frankreich mit den Engländern und sie wolle eine Bresche durch den Schreibtisch schlagen. Ich solle nur am Sonntag in die Sonntagstraße kommen, dann würde ich sie schon sehen und hören bei diesem Lichtbildvortrag zum Thema: "Auferstehung". Und dann legte sie auf mit dem Ruf: "Auf, auf!"

Ich glaubte ihr natürlich nicht, weil ich heute niemandem mehr glaube, wenn es um den EU-Cäsarenwahn geht mit irgendwelchen Lichtbildern von der Nacht-und-Nebel-Lawine, die uns als TÜV-geprüfte Achterbahn verkauft wird. Ich ging auch nur hin, weil es in der Ankündigung hieß: "Eintritt frei", im Gegensatz zu ARD und ZDF. Beim Bezahlen sitze ich nämlich lieber in der dritten Reihe als in der ersten.

Und dann sah ich auch schon diesen Wartesaal, wo ZUKUNFT dran stand, trat durch die Tür und lauschte dem dortigen Talk-Show-Kommando: "Wir shoppen nicht, wir kaufen uns glücklich! Wenn der Sonntag als Ruhetag abgeschafft und zum Einkaufstag gemacht wird, warum sollen wir dann die Sonntagstraße in Ruhe lassen?"

So lautete im Wartesaal das Wort zum Sonntag,  liebe Leserinnen und Leser daheim hinter den Netzhäuten, Netzstrümpfen, Lesebrillen und Kontaktlinsen. Ein mitwirkender Leser hatte seine Brille vergessen, aber dafür seine Klampfe mitgebracht und einen Hut auf. Er rief kurzsichtig in die Runde: "Ist Rita da?"

"Mein Gott, Walterchen", antwortete eine tiefe Stimme, "du hier und nicht im Ballhaus?"
Hilfsbereit fragte ich das Mädchen neben mir, die Augen machte wie Susi Ratlos vom FKK-Chatroom: "Heißen Sie Rita?"

Susi schüttelte den Kopf. "Ich bin Johanna die Heilige vom Schlachthof aus dem Nachbarbezirk. Wir sind für heute verabredet, mein kleiner Guckindieluft." Und dann fragte sie zurück: "Seit wann Siezen wir uns eigentlich? Haben wir schon mal zusammen Schweine gehütet oder Perlen vor die Säue geworfen?"

Erschrocken schüttelte ich nun ebenfalls den Kopf und stellte fest, dass die Bräute von heute immer frecher werden. Am Telefon hatte Johanna noch ziemlich manierlich und ganz zahm geklungen.

"Ich bin Walter von der Vögelweide!", rief dieser Gitarrenmann mit Hut. "Ich bin Minnesänger und hab für Rita einen Minnesang gemacht."

"Rita kommt gleich", bemerkte der Bass. "Sie hat gesagt, du sollst schon mal anfangen."

Walter prüfte kurz nach, ob die Saiten seiner Gitarre stimmten: "1-2-3-4-5-6 — STIMMT! Alle Saiten sind da, die Gitarre ist vollständig." Dann fing er an:

Rita, deinen hellen Klang und dein dunkles Haar
Und deine grünen Augen find’ ich wunderbar.
Du hast ja die schönsten Beine von Berlin!
Magst du vielleicht zu mir zieh’n?

Ich bin gut zu Fuß auf den Straßen dieser Welt,
Denn ich hab keinen Fahrausweis, kein Auto und kein Geld.
Das, was ich dir bieten kann, ist ein 1.000-Sterne-Zelt,
Und ich hab ’nen kleinen Mann im Ohr,
Der zu dir hält.

Bitte, Rita, bitte sei mir gut!
Ich hab dich so lieb,
Lieber noch als meinen Hut.

Du tust grad so, als wär’ ich Luft
Komm, sei nicht so gemein!
Du hast doch so ein großes Herz,
Pass’ ich denn da nicht rein?

Ich lieb dich bis zum Himmel hoch,
Meine Haut mag deine Haut,
Du bist vom ganzen Friedrichshain
Die allerschärfste Braut.

Rita, bitte, schenk mir doch ein Date!
Ich kauf mir auch ’nen Wecker
Und komme nicht zu früh.

Das Lied machte uns alle sehr nachdenklich.

"Johanna", sagte ich dann, "hast du nicht mal in Frankreich eine steile Karriere gemacht bis rauf zum Scheiterhaufen?"

Sie nickte. "Damals hab ich für Frankreich gekämpft und heute trete ich an für unser cooles Friedrichshain." Sie sprang auf. "Alles jubelt, alles lacht,  Johanna hat was mitgebracht!" Damit hielt sie eine Tiefkühltragetasche hoch. "Hier hab ich den Fisch aus unserm alten Bezirkswappen, der immer gegen den Strom geschwommen ist. Deshalb haben ihn die Kreuzberger Grünen entfernt, nachdem sie selber zum Mainstream geworden sind."

"Vorsichtig, Johanna", flüsterte ich, "hör bloß auf, in die falsche Richtung zu stänkern."

Unbeirrt fuhr sie fort: "Dieser Fisch hilft uns gegen den Hunger in der Welt, besonders dort in Afrika und Asien, wo die Armut am größten ist."

"Ich bin auch ganz hungrig", krähte jetzt Walter dazwischen und sang schon wieder:

Johanna, deinen hellen Klang und dein dunkles Haar
Und deine braunen Augen find’ ich wunderbar...

Er sang noch mal das Gleiche in Grün, bis auf die braunen Augen statt der grünen und Johanna statt Rita, und den letzten Vers hatte er aktualisiert:

Johanna, bitte, schenk mir doch ein Date
Und nen neuen Wecker:
Meiner steht.

Die Heilige Johanna ging auf Walters Wunsch- und Brunftkonzert nicht weiter ein, sondern fuhr fort mit Butter bei die Fische: "Fleisch vom Schwein wird Hunger und Eiweißmangel nie besiegen, jedenfalls nicht in muslimischen Ländern. Mit Rindfleisch haben wir ganz schlechte Karten bei den Hindus."

Walters und Johannas Geräusche lockten einen dynamischen mittelalterlichen Sonnyboy in den Wartesaal, mit Laptop in Profischwarz unterm petrolfarbenen Kaschmirärmel. "Ich bin Rudi Raffke von der Banken-Bedarfsgemeinschaft!", rief er dazwischen und zückte seinen Filofax. "Wie heißt denn dieser Fisch?"

"Tilapia", antwortete Johanna dem Kollegen Kaschmirklamotte, "am See Genezareth nennen sie ihn den Petrusfisch. Damit können wir hier in der Alten Welt die Sintflut ausbremsen und drüben in der Dritten Welt Leben retten. Gib dem Hungrigen einen Fisch und er hat zu essen für einen Tag. Hilf ihm, Fische zu züchten, und er wird nie wieder hungern. Tilapia vermehren sich wie die Karnickel. Sie sind Buntbarsche, anspruchslos, kaum anfällig für Krankheiten, und sie fressen alles: Kartoffelreste, Bananenschalen, Reisstroh,  Hühnerkacke. Deshalb heißen sie in Afrika Wasserschwein."  Johanna holte Luft. Walter, der Mann mit den schweinischen Liedern, der jetzt mit dem Hut rumging, sah angewidert aus. Kaschmirix schrieb und schrieb und schrieb.

Johanna redete weiter: "Das Fleisch auf den Gräten ist so edel, dass es Tilapiafilet inzwischen auch in allen Kaufhallen, Discounts und Supermärkten gibt." Sie zückte aus der Tragetüte einen Tiefkühlkostkarton und hielt ihn hoch vor unseren staunenden Gesichtern. "Wenn Sie bitte mal schauen möchten, der Herr Herbert, die Dame Rita und das Schlepptop: Tilapia, küchenfertig vorbereitet mit Basmatireis, Currysoße und Piep und Papp und Pepperoni."

Walter hatte sich wieder erholt, weil Rita jetzt tatsächlich da war. "Und was haben wir davon?", fragte er.

"Wir können dafür sorgen, dass die Speisung der Fünftausend wieder stattfindet"!, rief Johanna mit blitzenden Augen, "aber nicht hier, sondern bei ihnen, bei 12 mal 12 mal Hunderttausend zu Hause. Das einzige, was diese Eiweiß liefernden Tilapia unbedingt zum Leben brauchen, ist Wasser von 18° an aufwärts und das finden wir im Hungergürtel der Erde überall. Wir brauchen bloß ein Loch zu buddeln, am besten 5 mal 10 Meter, und Wasser reinlaufen zu lassen oder die nächste Regenzeit abzuwarten. Dann setzen wir Tilapia in den Teich und ab geht die Luzie!" Sie strahlte vor Begeisterung wie Narva und Osram zusammen.

"Gibt es einen Tilapia Investment Fonds?", schaltete sich jetzt das Kaschmir-Laptop ein. "Und wenn JA, wie hoch ist die Rendite?"

Johanna vom Ostkreuz war überfragt. Sie schwieg.

"Soll das etwa Nulltarif heißen?", erregte sich das Laptop und schaltete den Zahlenblock wieder auf OFF. "Beim Weizen als Hilfsmittel gegen Hungersnöte schöpfen wir Intensivbanker weltweit ein Drittel vom Endpreis ab, Tendenz steigend. Das ist uns nicht geschenkt worden, darauf haben wir hingearbeitet. Und jetzt kommen Sie hier an und wollen uns die Märkte kaputtmachen? Zeigen Sie erstmal Ihr Parteibuch!"

Johanna hielt ein kleines Neues Testament hoch, eins von den Gideons mit Psalter und Sprüchen im Anhang und einem Stichwortverzeichnis als Hausapotheke vorneweg.

Auf einmal öffnete sich das Dach vom Wartesaal wie in der Geschichte des Gelähmten, den Jesus dann geheilt hat, und vom Himmel her geschah eine Stimme: "Du bist meine liebe Tochter, an der ich Wohlgefallen habe. Ich nehm dich zu mir und alle andern können zur Hölle fahren, jeder nach seiner Façon. Mein Wort war nur geborgt."

Als wir das hörten, ging es uns durchs Herz und wir knirschten mit den Zähnen gegenan. Johanna aber, voll heiligen Geistes, sah auf und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehen zur Rechten seines Vaters.

Zuerst flog das Evangelium aus Johannas Hand zurück in den Himmel. Und als das geschehen war, wurde sie zusehends aufgehoben und eine Wolke nahm sie weg vor unseren Augen.

Was soll ich euch sagen? Es gab von diesem Tag an keine Neuen Testamente mehr auf der ganzen Welt, weder gedruckt noch als Dateien. Von allen Kruzifixen verschwand der Gekreuzigte und als man Karl Barth fragte, wie er sich den Teufel vorstellt, da antwortete er: "Wie den segnenden Christus von Thorvaldsen."

Nur dieser Christus blieb nun noch übrig, der nette nach ISO-Norm mit eingebauter Warteschleife. Er stand segnend als billiger Jakob im Stimmen-Einkaufszentrum und rief dauernd: "WILLKOMMEN! WILLKOMMEN!"

Dazu lief die Klimaanlage wie in jedem Einkaufszentrum und sorgte für so pupwarm verbrauchten Mief, dass jede Eiche, jeder Weihnachtsstern und überhaupt jede Pflanze einging außer den Nachtschattengewächsen. Ich wollte schnell raus aus der Hölle, bevor ich auch noch einging. Aber keiner kam mehr raus, weil wir das Wort nicht mehr hatten, das Passwort.

legendäre Bahnhof

 

Christian Gajewski
Der legendäre Bahnhof

 

Schon lang bevor die Stadt man teilte, ein jeder sich dort sehr beeilte.
Früh um 5 ging‘s zur Maloche - und das 6 Tage in der Woche.
Ab Sonnabendnachmittag um 3, da war man wandervogelfrei.
Ob Buch, Bernau und Müggelsee - Hauptsache man war j.w.d.
Nur selten war er Reiseziel, doch umgestiegen ist man dort viel.

Als dann der Krieg hatte begonnen eben,
hielt er auch Einzug in des Bahnhofs Leben.
Unser Ostkreuz lag hellwach im kriegerischen Bombenkrach.
Blieb dunkel auch des Nachts das Licht, verschont‘ ihn mancher Treffer nicht.

War man nicht ausgebombt und noch am Leben,
so fuhr man voller Dankbarkeit in die nun kommende Nachkriegszeit.
Und so mancher fuhr auf Hamstertour - man wollte überleben nur.
Das Leben ging wieder seinen Gang und unser Ostkreuz mittenmang.

Ob NARVA, Goldpunkt oder Viehhof, zum Umsteigen diente unser Bahnhof.
Stets mit Gewusel und Gedränge schiebt auf und ab die Menschenmenge.
Krieg, Teilung und Vereinigung, noch vielen in Erinnerung.
Geschichten, Storys, Anekdoten werden reichlich hier geboten.

Wie ein Monument liegt unser Bahnhof dieser Tage bereit für weitere 100 Jahre.

Geister, die man nicht rief

 

H. Kleinschmidt
Die Geister, die man nicht rief

 

Berlin, das Gespenst der Legende "Ostkreuz" entstand im Jahr 1871. Diesen seinen Namen erhielt der Bahnhof erst am 15.März 1933 als Pendant zu dem vorher entstandenen Bahnhof "Westkreuz". Der Nahverkehrs-Umsteigebahnhof Ostkreuz gilt als meist genutzter Bahnhof in Berlin. Hier kreuzen sich auf der unteren Ebene die Schlesische Bahn und die Preußische Ostbahn mit der Berliner Ringbahn auf der oberen Ebene. Die Bahnanlage wurde 1872 mittels zweier Verbindungskurven in Richtung Stadt ergänzt. Da noch kein Haltepunkt existierte, fuhren die Züge auf diesen Strecken ohne Halt durch. Auf neun Linien steigen hier täglich an die "100000 Menschen" ein, aus oder um.

Obwohl die Bahnanlagen im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt wurden, konnte der Zugbetrieb schon ab Juni 1945 wieder anrollen.

Die Gefühle, welche uns Bahnreisende bei den Gedankengängen um‘s Ostkreuz bewegen, pendeln zwischen Horror wegen der wuseligen Unübersichtlichkeit des Geschehens und der Begeisterung über das gigantisch-märchenhafte Vorhaben! Ein Wehmutstropfen bringt uns der Verkauf des beliebten Wasserturms an eine Privatperson. Dieses unter Einfluss des Jugendstils stehende, als Baudenkmal eingetragene Wahrzeichen, südlich vom Bahnhof, überragt alle Gebäude. Hier wurden die zahlreichen, verkehrenden Dampfloks mit Wasser betankt. Jetzt spukt der vom Rummelsburger See wegen übermütiger Handlungen hierher strafversetzte Wassergeist "Pitschplatsch" im Turm herum. Der neue Besitzer hat die Absicht, den Turm in eine Gastronomie- und Kulturstätte umzufunktionieren. Das bedeutet Umbau und Entfernen des im Dach eingebauten 400 Kubikmeter fassenden Wasserbehälters. Hier aber hat sich gerade Pitschplatsch gemütlich einquartiert. Neulich kam Herr Privatier von einem Architekten begleitet in den Turm, um die baulichen Veränderungen zu besprechen. Als Pitschplatsch das hörte, bescherte er den Beiden eine Überraschung in Form eines Duschbades. Klitschnass und wütend zogen sie von dannen. Der Herr Privatier bestellte einen Handwerksmeister für Gas-Wasser-Sch--- um den mutmaßlichen Schaden an den Wasserabstellventilen zu beseitigen. Auch nach gründlicher Kontrolle konnte der keinen Schaden entdecken, es war alles dicht.

Der Wassergeist Pitschplatsch lauerte fortwährend und versuchte Veränderung innerhalb des Turmes, um sofort mit Wasserkuren der besonderen Art in Aktion zu treten. Er kann außerdem eine Menge Spukgeräusche imitieren, zum Beispiel Donner, oder quietschende  Bremsen. Allerdings der Umgang mit Wasser gefällt ihm selbst am besten. Immer wenn Herr Privatier im Turm auftaucht, dann taucht Pitschplatsch im Wassertank unter und spukt ihm lautstark Geräusche von plätscherndem, rauschendem Wasser vor. Herr Privatier nimmt dann sofort Reißaus. Ob  Pitschplatsch allerdings die vom Privatier gewünschte Bestimmung des Turmes zukünftig erfolgreich verhindern kann, bleibt abzuwarten. Wenn er es dann zu arg treibt, wird sein großer Vorgesetzter Poseidon ihn wohl oder übel wieder abberufen.

Märchen oder Wahrheit, egal - jedenfalls eine Legende!

Ostkreuz-Legende

 

Sonja Bürgel
Eine Ostkreuz-Legende

 

Vor wenigen Jahren zogen wir nach Stralau. Die Bauarbeiten am Ostkreuz und drumherum waren schon in vollem Gange. Der Radweg, der von der Halbinsel zur S-Bahnunterführung verlaufen soll, war erst zum Teil fertig. Er zielte genau auf eine prächtige Platane zu, die ihm im Weg stand. Beim Vorbeifahren war ich immer wieder froh, dass sie noch da war. Aber wie lange noch? Und dann, wie schön, machte der Radweg einen eleganten Bogen und die Platane blieb stehen.

Bei unserem Umzug waren auch Schwiegermutters Wollreste mitgezogen. Meine Schwiegermutter ist schon viele Jahre tot, aber sie hatte uns gern, ihre guten Ratschläge, ihre klugen Sprichwörter, sind immer noch bei uns. Nun wusste ich einen guten Verwendungszweck für all die aufbewahrten Wollknäuel. Beim Fernsehen klapperten abends meine Stricknadeln und nach und nach wurde ein bunter Schal immer länger und länger. Als ich mit dem Bandmaß einmal nachmaß, war er aber immer noch nicht lang genug. So ein Stamm einer alten Platane hat einen erstaunlichen Umfang. Ich fand auch noch eine Menge gesammelter Knöpfe im alten Nähkasten. Früher wurde eben alles aufgehoben - vielleicht bräuchte man es noch? Das ergab einen Extrasuperschmuck.

Im Winter - zu Muttels Geburtstag - machte ich mich im Dunklen auf den Weg. Ich wollte nicht unbedingt bei meinem etwas seltsamen Tun gesehen werden. Wie es sich für eine gute Geschichte gehört, schien der Vollmond.

Als ich meinen Freundinnen in der Uckermark von meinem "Baumschmuck" erzählte, meinten sie, dass der in Berlin nie im Leben lange halten würde. Sie schätzten irgend etwas falsch ein. Ab und zu, wenn ich an meiner Platane vorbeiging oder fuhr, sah ich nach meiner Handarbeit. Einmal hatte jemand noch ein kleines Häkeldeckchen daran festgemacht, mal war eine Getränkedose dahintergeklemmt … Nach unserem Urlaub war durch lange Regenfälle alles ausgeleiert und hing schlaff und traurig — aber das ließ sich schnell beheben.

Ich habe nicht immer aufgepasst, nach ungefähr zwei Jahren war die Platane wieder ungeschmückt. Ich sah mir die Umgebung an, Gestrüpp und Wild-kräuter. Da waren keine Spuren. Heruntergerissen und liegengelassen war mein Dank an den schönen Baum also nicht. Aber wer brauchte den langen bunten Schal mit seinen vielen altmodischen Knöpfen auf einmal doch?

Das tapfere Schneiderlein?! Dem war Regieren als König, noch dazu mit einer Frau, die nicht viel taugte, langweilig geworden. Er wollte wieder etwas Ordentliches erledigen. Der alte König brauchte einen Schal, kürzer, denn so einen dicken Hals hatte er nicht.

Wenn man ein Stück abschneidet, muss man alles gut vernähen, sonst laufen Maschen. Aber das weiß das Schneiderlein natürlich. Und die Knöpfe? Die man auffädeln und der kleinen Prinzessin über die Wiege hängen. Die klappern schön, wenn Prinzesschen es schafft, dagegen zu grapschen. Da muss sich die Kleine anstrengen. Das wünscht sich der Papa für sein Töchterchen.

Im Wasserturm am Ostkreuz wohnt Rapunzel, das wissen Sie sicher. Und weil dort nicht viel los ist, freut sie sich über jeden, der sie besuchen kommt, es muss nicht mal unbedingt ein Prinz sein. Aber ihr langes blondes Haar ist bei diesen vielen Hangeltouren ziemlich dünn und brüchig geworden. Sie könnte vor zur Elsenbrücke laufen, dort ist ein Friseursalon. Aber wie soll sie das mit der Bezahlung regeln. Der nächste nächtliche Besucher bekommt den Auftrag, ihr zu helfen.

Da fällt mir natürlich gleich der schöne lange Schal ein. An dem er eben bei Vollmond vorbeigeradelt ist. Schon am nächsten Abend ist er wieder da. Er hilft Rapunzel, den langen Schal in ihren Zopf zu flechten. Nun stimmt zwar der Spruch nicht mehr ganz – wirf dein Haar herunter – aber wer fragt bei so einem schönen Stelldichein noch nach der Quelle? So könnte es auch gewesen sein.

Vielleicht ganz anders? Die Spezialisten auf der Ostkreuzbaustelle hatten ihre immer gleichen rotweißen Absperrbänder über. Zur Abwechslung nahmen sie an einem Tag einfach mal: Paketschnüre, Damenschals, Herrenschlipse, und eben den bunten Schmuck der Platane.

Bemerken konnte ich das nicht, meist bin ich mit dem Rad unterwegs. Und die anderen Fahrgäste? Die haben es eilig und sind genervt von den immer wieder geänderten Zu- und Abfahrten. Leider haben sie keine Zeit und keinen Blick für das gigantische Bauwerk. Das wächst und wächst immer besser. Da musst du ein wenig Geduld aufbringen, so schnell ist das nun mal nicht fertig. Aber welcher Berliner hat schon Geduld?

Oder war da vielleicht ein Pärchen in Shade of grace? In der Spätvorstellung? Und nun möchten sie zu Hause noch ein wenig ausprobieren, ob ihnen das auch gefällt. Aber alle Baumärkte sind lange geschlossen, da kann man keine Fesselbänder mehr kaufen. Also war ihnen mein Platanenschal gerade recht?

Du merkst schon, eine endgültige Antwort lässt sich nicht finden – oder doch – wenn jemand diesen Text liest oder hört.

Es hat mir Spaß gemacht, das Stricken, das Beobachten, das Nachdenken und das Aufschreiben.

Verkanntes Talent

 

Sonja Meggers
Verkanntes Talent

 

Natürlich wusste ich in jedem Jahr schon vorher, wessen Geschichten als die besten des Wettbewerbs ausgewählt worden waren. Der Autor des Siegertextes war auch klug genug gewesen, meine Hinweise zu verstehen, doch die Gewinnerin des Vorjahres saß doch tatsächlich schon wieder da! Ich war mir nicht sicher, ob sie einfach nur dumm oder doch vielleicht sehr gerissen war, aber nun saß diese dürre Ziege auf dem Platz, auf dem ich sitzen sollte und gab ihre Geschichte zum Besten. Irgendwas von einer bescheuerten Feuerwehr. Eine FEUERWEHR!!! Wie poetisch! Im Jahr davor war es die Geschichte von einer Bekloppten, die sich das alte Ostkreuz zurechthalluzinierte.

Der Fotograf der Zeitung machte Bilder. Er würde, wie im letzten Jahr, einen Artikel über sie und ihre Scheißgeschichte schreiben.

Seit über einem Jahrzehnt arbeite ich an meinem Durchbruch. Lange hat es gedauert, bis die Presse endlich auch Bilder der Gewinner veröffentlichte und somit eine größere Öffentlichkeit ansprach. Jetzt aber ging es richtig los und ich schaute wieder in die Röhre. Wie oft habe ich versucht, einzelne Jurymitglieder zum Aufgeben zu bewegen, um endlich Kritiker zu finden, die den Wert meiner Werke zu schätzen wissen. Immer ohne Erfolg. Aber Aufgeben kam irgendwann auch nicht mehr in Frage, denn ich hatte so viel investiert, dass die Früchte meiner Arbeit in greifbarer Nähe schienen. Aber vielleicht zurück zum Anfang. Der lag im Jahr 2001.

Ein tiefer Blick in die Kaffeedose verriet mir, dass es schon wieder auf das Ende des Monats zuging. Um mich voll und ganz auf meine Karriere konzentrieren zu können, hatte ich meine Stelle in der Senatsverwaltung gekündigt und war dementsprechend nicht ganz so gut bei Kasse. Weil mir zu Hause mal wieder die Decke auf den Kopf fiel, stromerte ich, unter den Begleiterscheinungen des unfreiwilligen Kaffeeverzichts leidend, durch die Straßen. Als ich durch Zufall an dem kleinen Kiezladen vorbeikam, stieg mir der herrliche Geruch von frisch gebrühtem Kaffee in die Nase. Meine Entzugserscheinungen und das Gefühl als Talent wieder einmal verkannt worden zu sein, verleiteten mich zu der wahnwitzigen Idee einen Fuß in die Begegnungsstätte zu setzen. Ich hatte gerade das 52. Mal die Nachricht erhalten, dass man meinen Roman bei der Vergabe der Preise nicht habe berücksichtigen können, man wünschte mir aber "für die Zukunft als junger Autor alles Gute". Solche Sätze sind einer der Gründe, aus denen ich andere Menschen hasse. Außerdem riechen sie oft absonderlich, erzählen permanent nur von sich und wenn sie in Gruppen zusammentreffen lachen sie dümmlich über Dinge, die nicht lustig sind. In diesem Moment aber hatte ich keine Wahl. Ich war der festen Überzeugung, dass ich ohne Kaffee hätte sterben müssen und weil ich vom Hörensagen wusste, dass der Kaffee in solchen Kiezläden meist umsonst war, fasste ich einen wahnwitzigen Entschluss. Vorsichtig öffnete ich die Tür und heuchelte Interesse an einem der Aushänge. Langsam schlich ich den Flur entlang. Immer der Nase nach. Zum Kaffeeduft mischte sich langsam der Geruch von schweren Parfüms in unterschiedlicher Konzentration. Egal was mich erwarten würde, ich brauchte einen Kaffee. Als ich den Raum betrat, drehten sich etliche grauhaarige Köpfe zu mir um. Verlegen lächelte ich. Ich habe das Lächeln später mal zu Hause vor dem Badezimmerspiegel rekonstruiert und mir wurde klar, warum keiner der damals Anwesenden es wagte, mich fortzuschicken.

Die Mischung aus Serienkiller und grenzdebilem Enkelsohn war selbst für mich erschreckend. Stillschweigend nahm ich mir einen Kaffee und setzte mich in die Runde.

Es ging um Fotografien. Scheinbar waren alle begeisterte Hobbyfotografen. Auf ihre Fragen log ich das Blaue vom Himmel. Ich sei gerade erst hergezogen und ja, ich würde auch gerne fotografieren. Zum Glück gaben sie nach kurzer Zeit auf, einsilbige Antworten aus mir herauszuquetschen und so konnte ich in Ruhe meinen Kaffee trinken.

Weil meine finanzielle Lage sich nicht wirklich verbesserte, nahm ich immer häufiger an den unterschiedlichsten Gruppen teil. Neben Kaffee gab es auch Kekse oder Kuchen. Und wie ich erwartet hatte, sprachen die Menschen eigentlich nur von sich. Nur selten wurde eine Frage an mich gerichtet. Da ich zu Hause geübt hatte, nett und freundlich zu antworten, ließen sie mich schnell wieder in Frieden.

Immer wieder versuchte ich abends die Ereignisse des Tages für meinen nächsten Roman zu nutzen. Es gelang mir aber nicht, ein Interesse für andere Menschen zu entwickeln und ihre Geschichten so wiederzugeben, dass sie spannend oder in irgendeiner Weise lesenswert klangen. Meine Romane handelten immer von einem einsamen Helden, der recht viel mit mir gemeinsam hatte, aber natürlich schrieb ich nicht über mich selbst. So etwas machten nur Anfänger und Leute, die mit allem abschließen wollten.

Ich war gerade an dem Punkt, an dem ich zu der Einsicht gelangt war, dass jeder Künstler erst die schmerzhafte Verkennung seines Talents erleiden muss, bevor er in voller Blüte erstrahlen konnte. Mein Talent wartete also nur auf die richtigen Bedingungen.

Natürlich hätte ich einfach selbst einen Verlag gründen können, um nicht immer und immer wieder die traurigen Absagen aus dem Briefkasten hätte ziehen müssen, aber es gab mehrere Gründe, die dagegen sprachen. Zum einen war da die finanzielle Seite. Jene, die mich seit der Jahrtausendwende immer häufiger in den Kiezladen trieb, um wenigstens einen Kaffee trinken zu können. Zum anderen wäre der Moment des Durchbruchs mit einem eigenen Verlag nicht der, den ich mir vorstellte. Ich wollte entdeckt werden. Mit großem Tamtam, mit Musik und Häppchen. So, wie es meinem Talent entsprach.

Irgendwann kam mir also der entscheidende Gedanke: Der Kiezladen, der zwischenzeitlich umgezogen und zu einem Nachbarschaftszentrum geworden war, müsste einen Wettbewerb ausschreiben. Einen, an dem ich teilnehmen und trotzdem die Finger mit im Spiel haben könnte. Jetzt hieß es, klug zu handeln. Einfach während der nächsten Planungsrunde die Idee in den Raum zu werfen, erschien mir deutlich zu platt. Zumal ich natürlich, wenn der Gedanke von mir geäußert worden wäre, kaum an dem Wettbewerb hätte teilnehmen können. Eigentlich weiß ich nicht einmal mehr, wie es mir gelang, meinen Gedanken in die Köpfe der anderen zu pflanzen, aber nach einer netten Unterhaltung auf dem Herrenklo stand der Wettbewerb plötzlich im Raum und dann ging alles ganz schnell.

Schon im Februar des kommenden Jahres sollte es losgehen. Bis dahin war noch eine Menge zu tun. Es galt, Sponsoren zu finden, die Werbetrommel zu rühren und vor allem die Presse zu informieren. Die Sache mit der Presse war die einzige Idee, die ich mit Nachdruck in die Brainstorming-Runde warf. Danach hielt ich mich vornehm zurück und wartete, was passierte. Bloß nicht zu sehr engagieren. Um an dem Wettbewerb teilnehmen zu können, verbrachte ich in den kommenden Wochen weniger Zeit im Nachbarschaftszentrum.

Um die Durchführung des Wettbewerbs unerkannt und doch gezielt beeinflussen zu können, begann ich diejenigen, die an der Planung beteiligt waren, zu isolieren und ihnen meine Gedanken als die eigenen zu verkaufen. Ich bekam schnell heraus, wer sich wann, wo aufhielt, was die Menschen taten und vor allem, an welchen Orten ich mit ihnen ins Gespräch kommen konnte. Und nicht zuletzt begann ich mich zu tarnen. Ziemlich schnell wäre man mir sonst auf die Schliche gekommen.

Falls sie schon einmal versucht haben herauszubekommen, welche Person in ihrer Nachbarschaft ein von ihnen bevorzugtes Instrument spielt, ohne dass sie es durch die Wände ihrer Wohnung hören können, haben sie vielleicht eine Vorstellung davon wie schwierig das alles war.

Ich zum Beispiel liebe Akkordeon-Musik. Ein Instrument, das meines Erachtens viel zu wenig Beachtung findet und so dachte ich mir, dass es nett wäre, wenn meine Siegerlesung von einem Akkordeon begleitet würde. Es hat mich mehrere Wochen der Recherche und Beobachtung gekostet bis ich herausgefunden hatte, dass ein freundlicher Herr mittleren Alters leidenschaftlich das von mir favorisierte Instrument spielt. Diesen Herren dann auch noch dazu zu bewegen, Kontakt zum Nachbarschaftszentrum aufzunehmen, erscheint mir aus heutiger Sicht als eine fast schon Nobelpreis verdächtige Leistung. Aber irgendwann hatte ich es geschafft.

Neben den Rahmenbedingungen musste ich natürlich auch für die thematische Orientierung des Wettbewerbes sorgen. Da meine Geschichten, wie gesagt von einem einsamen Helden im Kiez handelten, war schnell klar, dass der Schreibwettbewerb sich thematisch um das Ostkreuz drehen musste, um meinem Talent gerecht zu werden.

Durch meine frühere Tätigkeit in der Senatsverwaltung wusste ich, dass im Rahmen des Projekts Urban II Fördergelder für den Bereich rund um das Ostkreuz bereitgestellt wurden. In diesem Sinne begann ich ein Informationsblatt über eben jene Ausschreibung von Fördergeldern zu erstellen und ließ dieses wie zufällig in den Briefkasten einer Person gleiten, die im Rahmen des Wettbewerbes für die Akquise von Spenden zuständig war.

Nun hieß es abwarten. Immer wieder verfolgte ich einzelne Mitglieder der Planungsgruppe, um zufällig mit ihnen ins Gespräch zu kommen, meine Ideen unbemerkt einfließen zu lassen und natürlich etwas über die Fortschritte meiner Einflussnahme herauszubekommen. Thematische Begrenzung, Zeitpunkt und Dauer der Ausschreibung, sogar das Rahmenprogramm folgte meinen Ideen. Ich war selbst überrascht, wie gut das Ganze funktionierte. Allerdings gab es auch Dinge, auf die ich keinen Einfluss nehmen konnte und die waren es, die mir im ersten Durchlauf des Wettbewerbes das Genick brachen. Nicht einmal unter die besten drei schaffte es meine Geschichte! Schon meine Großmutter sagte immer: Undank ist der Welten Lohn. Und so war es auch.

Im nächsten Jahr ging ich etwas weiter. Meine Einflussnahme wurde noch geschickter. Meine Verkleidungen besser und: Ich war klug genug, unter unterschiedlichen Namen einfach mehrere Geschichten einzureichen. Und natürlich sorgte ich dafür, dass diejenigen, die den Wettbewerb gewannen, im kommenden Jahr nicht mehr teilnehmen wollten oder konnten. Oft waren es nur ein paar mehr oder weniger nette Briefe, die meine Mitstreiter von einer erneuten Teilnahme abhielten. Wenn die nicht ausreichten, wirkten die Information darüber, dass ihre Siegerblumensträuße vergiftet waren oder zerstochene Reifen Wunder. Nur ein einziges Mal war ich gezwungen, einem der Schreiberlinge die Finger in meiner Kofferraumklappe zu zertrümmern. Keiner meiner Briefe, keines meiner mit Krankheitserregern gespickten Geschenke hatte ihn davon abgehalten an dem Wettbewerb teilzunehmen. Das Auto für meinen Plan hatte ich mir extra leihen müssen, weil ich aufgrund der bereits erwähnten finanziellen Engpässe kein eigenes besaß. Den ganzen Tag harrte ich vor seinem Haus aus. Nach sage und schreibe 6 Stunden und 34 Minuten bog er endlich um die Ecke. Ich sprang aus dem Auto und rannte zum Kofferraum. Dort tat ich an der geöffneten Klappe so als ließe sie sich nicht mehr schließen. Hilfsbereit wie mein Konkurrent war, musste ich nicht lange um seine Hilfe bitten. Es war nur ein kräftiger Schlag mit der Klappe. Dann war es erledigt.

Tja, aber wie man sieht, reichten all die Bemühungen nicht aus. Immer noch gibt es Leute, deren Arbeiten meinen vorgezogen werden. Leute, die sich nicht abhalten lassen, zur Preisverleihung zu erscheinen und die dann mit Musik und Häppchen Bilder für die Zeitung machen lassen.

Eigentlich hatte ich durch den Wettbewerb zu einer Autorenlegende werden wollen, aber nun, nach knapp 14 Jahren, beschleicht mich das Gefühl, dass ich, wenn das alles hier jemals rauskommt, zu einer ganz anderen Legende werde.

Ich schreibe zum ersten Mal über mich und ein Anfänger bin ich nach so vielen Jahren ganz bestimmt nicht mehr.

Sonja Meggers
Spielzeug-Feuerwehr