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Schönes neues Ostkreuz

-Eine Anthologie-

 

 

 

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Schönes neues Ostkreuz

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Isabel Janke - Brückenkonzert

 

Isabel Janke
Brückenkonzert

 

Der alte Bahnhof — in seiner ursprünglichen Form existiert er fast nur noch in der Erinnerung. Die Gleise mit samt den Bahnsteigüberdachungen aus vernieteten Stahlträgern des vorletzten Jahrhunderts wurden schon größtenteils umgelenkt, abgerissen oder erneuert. Auch von den atmosphärischen Backsteinbrücken zeugt keine Spur mehr. Neben dem denkmalgeschützten, nicht sehr schönen aber charismatischen Wasserturm mit Pickelhaube, das weithin sichtbare Wahrzeichen unseres Kiezes, wächst nahezu stündlich eine riesige verglaste Bahnhofskuppel aus stützenden Stahlsegmenten. Des Nachts, wenn die Großbaustelle in weißes Flutlicht getaucht ist, vermischt sich metallisches Schlagen mit dem dünnen Elektromotorengebrumm der dinosaurierhaften Kräne zu einer futuristisch-surrealen Nachtmusik. Den menschlichen Gesang dazu liefern die Kommandos in verschiedenen Sprachen und deren weittragende Echos aus den Mündern der behelmten Bauarbeiter.

 

Am Tage pulsieren hier zwischen langen Spanplattenwänden die vielen S-Bahnreisenden und an diesem Knotenpunkt umsteigenden Passagiere umständlich in blinden Trichtern in Richtung der unübersichtlich ausgeschilderten Behelfsbrücken. Eine dieser Brücken mündet in den allerletzen, von Modernisierung noch verschonten Teil dieses alten Bahnhofsreptils.

 

Abgetretene, bucklige Pflastersteine lassen diesen Ausgang des Ostkreuzbahnhofes fast dörflich erscheinen. Die riesigen Pfützen, die zum Ärgernis der eilig mit ihren Rollkoffern Vorbeihastenden und zu Badeseen der Berliner Spatzen werden, reflektieren müde die dunkle Unterseite der letzten, eine alte Gleisführung ins Nirgendwo tragenden Brücke. Beinahe märchenhaft wölbt sie sich als Schleusengang zwischen alter und neuer Welt über das Ende der Sonntagstraße. Diese Seite ist für mich noch immer der schönste Eingang zum Ostkreuz. An der baufällig wirkenden Brücke hängt in einem riesigen grünen Kreis ein weißes Neon-S, das schon zu DDR-Zeiten den Bahnhof markierte.

An beiden Seiten der Brückenmauern klebt eine zentimeterdicke Schicht alter und neuer Veranstaltungsplakate, die zum Teil in großen Fetzen von der dunklen Mauer herabhängt oder von Punks als notdürftige Sitzunterlage, auf den von Zigarettenkippen gesäumten Bordsteinkanten gelegt wurde. Vor Jahren stand hier die Baracke eines Blumenverkäufers vor einer provisorischen Eingangshalle. Zur vollen und halben Stunde ist heute ein Anwachsen von Wartenden an dieser ins Friedrichshainer Vergnügungsviertel mündenden Unterführung zu beobachten. Haben die Suchenden die Wartenden gefunden, verteilen sie sich gemeinsam in der angrenzenden Parkanlage oder in den unzähligen neuen Kneipen und Cafés der Straße.

 

Genau hier, an eine der Mauern der alten Brücke gelehnt, warte auch ich auf meinen Gitarristen. Es ist ungefähr zwanzig Uhr und ein Gewitter liegt schon den ganzen drückenden Sommertag über in der Luft. Der Himmel ist verhangen und seit einigen Minuten höre ich starken Wind in den von der Bahn-AG noch ungefällten Pappeln. Unter der Brücke verabredet, unter der ich jeden Tag mehrmals eilig entlang gehe, werde ich jedoch heute Abend nicht weiter ziehen, sondern genau dort stehen bleiben, der guten Akustik und des Regenschutzes wegen. Ich habe die Geige dabei und bemerke, es kostet mich etwas Überwindung, meinen Rucksack und den Geigenkasten an die alte dreckige Wand mit ihrer dicken Patina zu lehnen, irgendwie verströmen diese Wände die urbane schwitzende Feuchtigkeit von Brücken, die sonst über große städtische Flüsse führen.

Dieser Fluss hier ist nur eine endende Straße. Ich betrachte amüsiert eine Sternburgwerbung und denke an die Punks, die hier sonst mit diesem Bier hocken. Es wird immer windiger und dunkler. Plötzlich quietschen Fahrradreifen neben mir und es kommt der Mann mit der Gitarre auf dem Rücken zum stehen. "Na, traust du dich hier?" sage ich und die Frage ist mehr an mich selbst gerichtet. Die Ecke ist ein bisschen versifft, findet auch er aber sie hat durchaus ihren Charme. "Du wolltest ja unbedingt hier spielen!" antwortet er mir. Ja, ich wollte unbedingt mein Ostkreuz mal von dieser Seite kennenlernen, mich ihm aussetzen mit dem Instrument in der Hand. Voilà!

 

Als wir die Instrumente ausgepackt haben und zum ersten Lied ansetzen wollen, kommt ein Plakatierer mit seinem Leimeimer und einem Arm voller Plakate um die Ecke. Wir sehen uns schon mit vollem Schwung und mitten in der musikalischen Bewegung an die Wand gekleistert, als er uns zunickt und zuerst die gegenüberliegende Brückenseite plakatiert. So fangen wir an, während die Leute an uns vorbeihasten, ohne in ihrer Eile Notiz von unseren anfangs noch recht zarten Gitarren- und Geigenklängen zu nehmen. Ein paar Wartende sehen in unsere Richtung, vertiefen sich dann aber gleich wieder in ihr Gespräch oder in ihre Mobilfunkkonferenz. Manche Partyleute verströmen große Coolness und ich fühle mich sehr unpassend und aufgerieben in diesem lauten ignoranten Treiben. Das Musizieren fühlt sich hier rauer an als in den von uns sonst aufgesuchten Museumsstadtteilen, in denen eher ältere Bildungsbürger oder trödelnde Touristen umherschlendern. Hier aber fühlen wir den Puls der Straße, hier ist der rüde Alltag, hier wirken die Leute müde, genervt oder auf Härteres aus. Ich erinnere mich an eine Jungsband, die vor einigen Tagen mit Verstärkern und E-Gitarren auch hier stand und an Lautstärke einen dem Ostkreuz angemesseneren Pegel verursachte. Zarte Klänge werden wohl in den Straßenstaub getreten, vielleicht aus diesem Grunde verfremdete an dem Ort im letzten Herbst bei jedem Wetter ein Cellist sein Spiel mit einem Verzerrer. Egal.

Ich sehe meinen Gitarristen an und wir spielen einfach. Es geht gut und ich mag die Akustik sehr, manchen Passanten laufe ich ein Stück hinterher, was einige zu irritieren scheint. Ich habe meinen Spaß dabei. Der Plakatierer sieht ab und zu mutmachend zu uns herüber, er ist dann auch der Erste, der uns ein bisschen Kleingeld zusteckt.

Ich freue mich schon auf den versprochenen Regen und die Blitze und bin ganz wild darauf, unsere Musik in diese Begleitung hinein zu spielen und so die Verwandlung der Atmosphäre zu erleben. Doch das Gewitter lässt auf sich warten. Auch die Passanten sind auf einmal vom Erdboden verschwunden. Wir haben das Gefühl, hier doch nicht ganz richtig zu sein, als ein Mann auftaucht, der uns im Vorbeigehen Komplimente auf Englisch macht.

In diesem Moment dreht sich irgendetwas. Es ist plötzlich sehr ruhig. Und so fühlt sich die Musik mit einem Mal platzierter an. Wir spielen mal ruhige, mal feurige russische und osteuropäische Weisen, die uns von den dunklen Wänden zurückgeworfen werden. Irgendwann fängt der Gitarrist leise an zu singen und das - ist schön.

Der Ort verzaubert uns und wir übertragen das wieder zurück auf den Ort. Die Resonanz hat begonnen, die Schwingungen übermitteln Energien. Leute bleiben kurz stehen oder wenden sich uns zu, manche lächeln, als sie uns mit Kleingeld bedenken. Eine Mutter schiebt ihren, für den Kinderwagen schon zu großen Jungen, ganz nah an uns heran. Er beobachtet uns scheu, steigt dann sehr bedächtig und vorsichtig aus seinem Gefährt heraus, legt seinen Luftballon sorgfältig wieder hinein und kommt langsam die zwei Schritte auf uns zu als kostete es ihn ungeheure Überwindung und Konzentration. Er ist dennoch zielstrebig und wirkt sehr interessiert, als er seine Münze auf die Gitarrentasche legt. Ich knie mich vor ihn hin und bedanke mich. Dann steigt er wieder ein und die Mutter fährt ihn mit einem leichten Gruß in unsere Richtung weiter über das Holperpflaster.

Im nächsten Moment stellt sich ein junger Mann vor uns hin und erklärt auf Englisch seine Begeisterung über Berlin und sein Hiersein, sein Bei-uns-sein und dass er den ganzen Weg aus Schweden gekommen sei, um uns zu hören. Er hat ein Bier dabei und schüttet uns — ein paar Groschen vor die Füße, bevor er auf dem gegenüberliegenden Bordstein Platz nimmt. Wir spielen jetzt für ihn — unser Publikum — und verbeugen uns demonstrativ nach seinem Applaus in seine Richtung.

Indes schwimmen zwischen unseren Ufern wieder Ströme von Menschen, die die S-Bahnen ausgespuckt haben und die nach Hause oder die nächste S-Bahn erreichen wollen. Als wir ein besonders bekanntes russisches Lied spielen, halten drei Bauarbeiter im Feierabendmodus und ebenfalls mit Bierflaschen vor uns an und singen strahlend mit. Sie klatschen und tanzen und wirken überrascht und glücklich, als sie uns danken. Berührungen. Hier unter unserer Ostkreuzbrücke bekommen die Menschen plötzlich für mich ein anderes Gesicht. Einigen von ihnen wäre ich unter anderen Umständen sicher aus dem Weg gegangen. Metamorphosen. Manche Leute wirken inspiriert, manche lachen und winken herüber, danken uns auf verschiedene Art. Wir haben zu danken. Andere sehen sehr widerwillig und abschätzig auf uns und den Schweden von gegenüber herab, der uns inzwischen in Gesellschaft eines zweiten Biertrinkers zujubelt.

Das Gewitter bleibt aus, der Wind hat nachgelassen und nach einer Stunde Straßenmusik verabschieden wir uns von den Menschen unter der Brücke und gönnen uns von dem geschenkten Kleingeld ein Getränk im Park. Als wir eine Stunde später noch einmal hier vorbeikommen um das Fahrrad des Gitarristen abzuholen, hatte ein anderer Plakatierer schon wieder komplett neue Plakate über die vorherigen geklebt. An der Stelle, an der wir gestanden hatten, liegen jetzt die Scherben einer zersplitterten Bierflasche. Ephemere Welt. Doch der halb herunter hängende Plakatfetzen, der vorhin schon immer hinter dem Rücken des Gitarristen in unsere Richtung winkte, wird auch jetzt noch von einem leichten nächtlichen Luftzug bewegt. Wie ein Echo hallt uns dieses Bild entgegen, bis das Flutlicht der Großbaustelle eingeschaltet wird und wir in verschiedenen Richtungen in der Nacht verklingen.

Christa Block - Es wär so schön gewesen...

 

Christa Block
Es wär so schön gewesen...

 

Nach langen Jahren trafen wir uns wieder. Einst waren wir Schulfreundinnen, später gingen wir gemeinsam in die Tanzschule, trafen uns ab und an zu gemeinsamen Unternehmungen, verliebten uns auch mal in den gleichen Jungen, dann fanden wir den richtigen Mann, heirateten, bekamen Kinder, hatten unsere Arbeit und der Kontakt verlor sich.

Oft hatte ich Fotos hervorgekramt und trauerte der alten Freundschaft nach. Aber wie sollte ich sie finden, ich wusste nicht einmal mehr ihren Nachnamen und nicht jede in meinem Alter war im Internet zu finden. Solange ich noch meinen Mann hatte, die Kinder und Enkel in meiner Nähe waren, ich mit meinen Nachbarn nett verkehrte, konnte ich auf die Kinder- und Jugendfreundschaft auch verzichten. Ich hatte genügend Menschen um mich herum.

Doch das Leben bleibt nicht wie es ist, wie es war. Jetzt bin ich allein. Nein, ich fühlte mich nicht alleingelassen, noch sind ja die Kinder und Enkel da, wenn wir uns auch nicht ständig sehen, aber wir telefonieren miteinander, schicken E-Mails hin und her und damit ist weder Hamburg noch Texas näher dran, als man denkt.

Doch dann sahen wir uns wieder. Anita und Anja saßen wieder zusammen beim Kaffeetrinken. Der Zufall war es. Aber sind es nicht die Zufälle, die das Leben verändern, schöner machen? Ich war zu einem Treffen in einer Begegnungsstätte. Ab und zu zog es mich dahin, vor allem, wenn es Musik und Gespräche gab. Wir saßen am gleichen Tisch und keiner von uns beiden erkannte die andere. Wir quatschten und wie es oft bei uns Alten so ist, hechelten wir unsere jungen Jahre durch. Was, wir beide gingen in die gleiche Schule? Hatten die gleiche Lehrerin? Auch sie hat getanzt? Nun sahen wir uns richtig an, tiefer in die Augen. Immer noch kein Erkennen. Wir nannten unsere Namen, die zwei A's. Waren wir es wirklich? Mein Gott, wie hatten wir uns verändert. In den fünfzig Jahren, in denen wir uns nicht gesehen hatten, wurden aus blonden und braunen Haaren graue. Die damals so schöne glatte Gesichtshaut war nun faltig, fleckig. Ja, wir zwei hatten uns sehr verändert, nichts war mehr von unserem damaligen Aussehen übrig geblieben.

Aber wir hatten uns wieder! Und bald saßen wir etwas abseits an einem anderen Tisch und redeten, redeten und frischten unsere gemeinsamen Erinnerungen auf. Wir waren die letzten, die die Begegnungsstätte verließen. Doch wir nahmen nicht Abschied von einander; der nächste Termin für ein Treffen stand schon in unserem Kalender, die Adressen und Telefonnummern waren ausgetauscht. Unsere alte und so schöne Freundschaft konnte ihren Lauf nehmen, konnte in eine neue Phase treten und wir waren heiß darauf. Und dann besuchten wir uns gegenseitig in unseren Wohnungen. Ich empfing sie in der Frankfurter Allee und besuchte sie am Nöldnerplatz.

Sie war in dieser Gegend wohnen geblieben, hatte nie das Bedürfnis, irgendwo anders hinzuziehen. Ja, auch ich wollte nie aus Friedrichshain weg, lebte aber später dann um die Frankfurter-, Karl-Marx-Allee herum.

Gemeinsam betrachteten wir immer wieder die alten Fotos, Schulbilder, Erinnerungen an die miteinander verbrachten Ferien auf dem Grundstück ihrer Oma. Dann die späteren, die unserer Hochzeiten, unserer Kinder und, und, und . . .

Nach wenigen Wochen hatten wir das Gefühl, nie getrennt gewesen zu sein. Alles war wieder da und unsere Gespräche füllten die Lücken, die sich gebildet hatten.

Ich hatte so manchmal meine Mühe mit den Besuchen bei ihr. Stets musste ich am Bahnhof Ostkreuz umsteigen, immer musste ich die dämlichen Treppen hinauf und herunter laufen. Dieser Bahnhof ärgert mich, solange ich ihn kenne. Das fing mit meiner Berufsausbildung und späteren Arbeit an – immer ging es über Ostkreuz. In den ersten Jahren meiner Ehe wohnte ich ja in ihrer Nähe und täglich ging es über Ostkreuz. Mit dem Kinderwagen, mit Reisegepäck, Treppen hoch und Treppen runter. Wie oft habe ich das schlechte Wetter verflucht, Regen und Wind von allen Seiten. Schneegestöber!

Anja tröstete mich. Du siehst doch, dass man baut, bald wird alles besser. Ja, ich sah es. Man baute und baute und baut noch immer. Und noch immer muss ich mit meinen nunmehr siebenundsiebzig Jahre alten Beinen die Treppen hinauf und hinunter. Was hilft mir da die große, viel zu große Überdachung des Ring-Bahnsteiges, was hilft mir da die Zukunftsmusik von einem schönen neuen Ostkreuz.

Irgendwann schien meiner lieben Freundin mein Gejammer über diesen Bahnhof wohl zu viel geworden sein. Vielleicht hatte auch sie genug davon, wollte es nur nicht so eingestehen. Sie hatte eine Idee, eine Idee für die Zukunft meinte sie. Oft genug habe ich ihre schöne große Drei-Zimmer-Wohnung mit dem Balkon bewundert. Viel zu groß für eine Person, dachte ich. Schließlich muss man ja in seiner Wohnung auch etwas tun, alles sauber halten, Fenster putzen usw. Nein, ich war mit meiner wesentlich kleineren Behausung sehr zufrieden.

Aber nun zu Anjas Idee. Ich sollte zu ihr ziehen! Sie bot mir ihr größtes Zimmer an und dort sollte ich wohnen. Küche und Bad können wir gemeinsam nutzen, meinte sie. Wir werden uns schon verstehen. Haben uns doch immer verstanden. Wir brauchten nicht mehr durch die Gegend zu fahren, um uns zu besuchen. Wir können täglich miteinander frühstücken, gemeinsam kochen, gemeinsam fernsehen, quatschen über Gott und die Welt, gemeinsam spazieren gehen. Alles gemeinsam? Na ja, meinte sie nach meinem Einwurf. Natürlich kannst du auch die Tür hinter dir zumachen, allein sein, wenn dir so ist. Wir müssen nicht ununterbrochen zusammenhocken. Aber schön wäre es doch, wir zwei beide unter einem Dach. Und billiger wäre es auch. Wir teilen uns die Miete und die Nebenkosten und mit dem Gesparten können wir dann Kaffee trinken gehen, kleine Reisen machen.

Nachdenklich verließ ich sie nach diesem Vorschlag. Mit Mühe kletterte ich die die S-Bahn-Treppe hoch und wieder runter. Ja, das bliebe mir erspart. Ich müsste nicht wieder, wie heute, den Regenschirm aufspannen und trotzdem nass werden. Und das mit der Miete, die ja in letzten Jahren auch immer höher stieg, wäre ja auch nicht zu verachten.

Auch in den nächsten Wochen sahen wir uns regelmäßig. Sprachen auch oft über dieses geplante, nein, noch nicht geplante, nur angedachte Vorhaben des gemeinsamen Wohnens. Plötzlich sah ich sie, meine langjährige Freundin mit ganz anderen Augen an. Beobachtete ihre Gewohnheiten, entdeckte Macken, die mir nicht gefielen, die mich nervten. Stellte mir vor, dass sie mich vielleicht oder wahrscheinlich genau so betrachtete. Doch sie schien mit mir und meinem Leben keine Probleme zu haben, denn so oft kam sie auf ihren Vorschlag zurück. Sie wusste auch schon, wie sie ihr Zimmer leer machen wollte, unterbreitete mir Vorschläge, welche Möbel ich mitbringen sollte. So weit war ich noch lange nicht. Noch hatte ich auch mit meinen Kindern über dieses Vorhaben nicht gesprochen. Ich wusste natürlich, dass sie nichts dagegen haben würden. Wie so oft, würden sie mich bei meinen Vorstellungen unterstützen.

Und so schob ich eine endgültige Entscheidung immer wieder auf und stellte auch manchmal fest, dass mir regelmäßige Treffen mit meiner Freundin eigentlich auch ausreichten.

 

Dann kam der Tag, wo wir meinen eventuellen Einzug in ihre Wohnung erst einmal aufschieben mussten. Anja war gestürzt, lag zwei Wochen im Krankenhaus, ging anschließend zu einer Reha-Kur. In der Zeit kümmerte ich mich um ihre Wohnung, goss die Blumen auf dem Balkon, buddelte die Frühlingsblumen aus und ersetzte sie durch Geranien. Fühlte ich mich nicht schon wie zu Hause in dieser Wohnung? Ich putzte ihre Fenster und bereitete alles auf ihre Rückkehr vor. Ja, da war sie wieder. Aber es war nicht mehr die alte bewegliche und unternehmungslustige Anja. Die Hüfte, das Knie, Gehen am Stock, weitere physiotherapeutische Maßnahmen. Ich tat alles, um sie zu unterstützen. Ging einkaufen, kochte Mittag, sorgte für Sauberkeit und Ordnung. Mehrmals wöchentlich quälte ich mich durch den schönen neuen Bahnhof Ostkreuz.

Inzwischen war auch ihre Tochter aus Dresden da. Die hatte extra ihren Urlaub genommen, um der Mutter zu helfen. Es war schön anzusehen, wie gut die zwei sich verstanden. Schön war es auch für mich, dass ich vorerst nicht mehr so oft zum Nöldnerplatz musste. Eines Tages wurde ich überrascht. Die beiden besuchten mich. Keine Anfahrt mit der S-Bahn, nein, das wäre nicht gegangen. Eine Taxe und die Fahrstühle in ihrem und in meinem Haus machten es möglich. Wie freute ich mich, kochte Kaffee für den Überraschungskuchen, den sie mitgebracht hatten. Wie besorgt schob ich ihr den Stuhl zur recht, damit sie es ja bequem beim Sitzen hatte, wie gut tat uns diese gemeinsame Runde. Wenn sie mich jetzt gefragt hätte, ob ich bei ihr einziehen wolle, ich hätte laut und freudig "Ja!" gerufen. Doch es kam keine Frage. Es kam ganz anders. Anja würde nach Dresden ins Haus ihrer Tochter ziehen. Dort erwartete sie ein kleines Zimmer, gleich daneben Dusche und Toilette – alles zu ebener Erde und ohne Behinderungen zu erreichen. Ich war ein wenig erstaunt. Hatte sie nicht oft darüber gesprochen, dass sie nie bei ihren Kindern wohnen wolle, dass sie nie der Familie zur Last fallen wolle. Auch ich hatte diese Meinung oft vertreten. Eher in ein altersgerechtes Wohnen, eher in ein Heim, aber nicht zu den Kindern oder Enkelkindern.

Ich sah die beiden an. Glücklich sahen sie aus. Beiden schien diese Entscheidung zu gefallen.

"Du kannst mich ja dort auch besuchen kommen. Dann musst du nicht über das schöne Ostkreuz, kannst mit der U- und S-Bahn bis zum Hauptbahnhof fahren, dort gibt es jede Menge Rolltreppen und Fahrstühle, steigst in den Zug und fährst ganz bequem bis Dresden. Dort wirst du mit dem Auto abgeholt und bei uns im Haus findest du auch ein Bett und alles, was du brauchst." Ihre Tochter unterstützte die Einladung noch mit vielen Worten und Beschreibungen von Haus und Garten.

Dann war ich wieder allein, überdachte all das Gehörte. Nein, ihre Zufriedenheit über die Entscheidung zum Umzug zur Familie, war kein Moment des Glücks, es ging über den Moment hinaus. Es war ein guter Entschluss für die Zukunft von beiden Seiten, von Mutter und Tochter. Und da gibt es keine Gegenargumente, kein Dafürhalten, dass man das Alleinsein aufgibt und sich in eine Familiengemeinschaft einfügen muss. Es war die richtige Entscheidung.

Natürlich dauerte es mit dem Umzug, dem Auflösen der Wohnung noch ein paar Wochen, in denen ich regelmäßig über meinen ungeliebten Bahnhof Ostkreuz zur Freundin fuhr. Fleißig half ich beim Aussortieren, Einpacken, Verpacken und bei all den Kleinigkeiten, die so eine Haushaltsauflösung mit sich bringt.

 

Der Abschied von einander fiel uns nicht leicht, wenn wir auch froh waren, die Plackereien der letzten Wochen hinter uns zu haben. Die Wohnung war schon so gut wie leer, den Rest würde eine Firma erledigen. Anja stieg mit ihrer Tochter ins Auto und ich winkte ihnen hinterher. Ich winkte wohl noch, als sie schon um die nächste Ecke gebogen waren.

Und dann stand ich auf dem schönen neuen Bahnhof Ostkreuz mal wieder im Regen, denn ich stand unten und nicht oben auf dem viel zu großen überdachten Bahnsteig, hatte immer noch kein Dach über dem Kopf, und so wird es hier wohl auch noch eine Weile sein,. Aber ich muss ja nun auch nicht mehr hier aussteigen, meine Träume hatten sich zerschlagen – es wär so schön gewesen.

Christine Kahlau, Andreas Monning - Zweimal Ostkreuz und zurück

 

Christine Kahlau / Andreas Monning
Zweimal Ostkreuz und zurück

 

Andreas: Weißt du Christine, was ich denke? Wenn wir zusammen über das Ostkreuz schreiben wollen, sollten wir vielleicht Positionen beziehen. Um es für den Leser spannend zu machen meine ich.

 

Christine: Nee, ich habe nämlich keine Position – jedenfalls keine, die mir auf Anhieb einfällt. Das entwickelt sich doch, denke ich mal, in unserem Dialog, über Ostkreuz. Überhaupt, was ist'n dieses OST KREUZ??? Kreuz des Ostens? Was kreuzt sich denn da überhaupt und seit wann? Und stimmt das heute überhaupt noch so...?

 

Andreas: Fragen über Fragen, die ich mir so ehrlich gesagt auch noch nie gestellt habe. Ich frage mich vielmehr, warum es neben Ost-, West- und Südkreuz eigentlich kein Nordkreuz gibt. Aber das führt hier vom Thema weg. Deinen Einwand kann ich jedenfalls schon verstehen. Du hast keine Position, und ich auch nicht, also wäre das etwas künstlich. Es geht wohl eher um die verschiedenen Bezüge. Soll ich mal mit einem Anfangen?

 

Christine: ...

 

Andreas: Das Ostkreuz kam neulich in einem meiner Karriere-Artikel für die Berliner Morgenpost vor. Es ging um den derzeitigen Großbauten-Boom in Berlin und die Jobchancen, die der mit sich bringt. In dem Fall also Baubranche, Architekten, Facility Management und so weiter. Ich habe dann unter anderem das Architekturbüro besucht, dass das neue Ostkreuz entworfen hat und dort eine Mitarbeiterin interviewt. Man kann von deren Besprechungsraum aus direkt auf das Ostkreuz gucken. Die Früchte der eigenen Arbeit quasi täglich vor Augen.

 

Christine: Oh, die Ärmste! Ob die sich wohl wünscht, da selber zu wohnen? Wobei, die Umgebung ist ja schon Spitze...! Ich frage mich oft, ob es in Berlin vielleicht eine geheime Absprache gibt, daß nur möglichst Hässliches gebaut werden darf? Angeblich ist ja alles, was schöner wäre, immer nicht bezahlbar... Also, eine Art Verschwörung, Berlin auf die Art "klein" zu kriegen... Na, ja, mein Geschmack ist es jedenfalls nicht, abgesehen davon, daß es dann trotzdem noch teuer ist!

Aber, zurück zu uns: Fragen auf zu werfen, ist doch gut. Da kann sich die werte Leserschaft die Antworten entweder selbst geben, oder aber losgehen und die Antworten selbst herausfinden. Also, ich sehe mich hier weniger als Faktenlieferin sondern vielmehr als... Moment, Vorsicht! Falle: keine Position einnehmen (obwohl, hab ich ja bereits)... als emotionale Seismografin für das, was Ostkreuz auch ist, vielleicht...

 

Andreas: He, Christine, sehr geehrte Seismographin, ich glaube wir müssen uns mal kurz verständigen: Ist Ostkreuz jetzt die S-Bahnstation - oder die Gegend? Von wegen wohnen!? Im Hauptbahnhof sind Büros, aber in der S-Ostkreuz soweit ich weiß nicht, auch keine Wohnungen. Obwohl es jetzt, wo ich es sage, nach einer tollen Idee klingt. Sagen zu können: Ich wohne im Ostkreuz! Und sehe von oben herab die Bahnen in alle Himmelsrichtungen entgleisen. Oder sagt man davongleisen? Jedenfalls könnte man kaum verkehrsgünstiger angebunden wohnen.

Apropos verkehrsgünstig und wohnen: Bei unserer Ortserkundung letztens hatte ich schon stark den Eindruck, dass das aufgepeppte neue Ostkreuz wohl was mit den vielen schicken Neubauten an der Rummelsburger Bucht zu tun hat. Von wegen Entwicklungsbedarf, Aufwertung, Infrastruktur pipapo. Umso famoser so gesehen, dass wir am Markgrafendamm – das Ostkreuz vis-à-vis – im Sandkasten des Technoclubs gesessen haben, wo ganz klar noch nix von neu und teuer zu spüren war. Obwohl... Um die Ecke gedacht könnten das natürlich genau die Vorboten des neuen Schicks sein. Die als Raumpioniere die Gegend aufwerten und so lange bleiben dürfen, bis das Kapital Interesse anmeldet. Und dann: Wie Magnet und Knaack auf dem Prenzlauer Berg. Prrrt!

 

Christine: Lieber Andreas, mitnichten bestand und besteht (das?) Ostkreuz nur aus Bahnhof! Dafür spricht z. B. was es hier – parallel neben investorischem Begehren und Gebaue — so alles an bürgerschaftlichem Engagement gibt, und das reicht bis hin zur Rummelsburger Bucht! Übrigens wurde hier landeseigenes Gelände verschachert — für das Neue Wohnen am Wasser, inmitten Berlins! Also, noch aufgewerteter geht es wohl kaum... Zu Deiner Idee, in nem Bahnhof zu wohnen fällt mir ein, was mir ein älterer Schwuler mal erzählte: zu Ostzeiten, als der Bahnhof Ostkreuz schon alt und ziemlich runter war, gab es dort ein Klo auf dem unteren Bahnsteig. Wenn ich mich recht erinnere, musste Frau sich den Schlüssel bei der Bahnaufsicht holen. Was an sich schon umständlich war, erst recht, wenn man mit kleinen Kindern unterwegs war, die plötzlich ganz schnell mal mussten, "groß" natürlich... Auf dem Männer-Klo dagegen ging es – offensichtlich ohne Schlüsselzwang – zu manchen Zeiten dafür hoch her, nach der Beschreibung. Auf die genaueren Details dieses Schnell-Befriedigungs-S-Bahn-Kreuz-Herrganges habe ich dann lieber verzichtet.

 

Noch etwas zum Seismografischen: Ich denke die Gegend um Ostkreuz tatsächlich immer mit. Wenn man lange genug in einer Stadt verbleibt, bekommt man auch die regionalen Veränderungen dort mit, ob man will oder nicht. In meinem Leben gibt es zahlreiche Bezüge zum Ostkreuz, zu den verschiedensten Zeiten. Und egal von welcher Seite ich mich dieser Region nähere, es hat sich grundlegend gewandelt. Und - es lässt mich auf jeden Fall nicht los, dieses Ostkreuz, warum auch immer...

 

Andreas: Oha. Während ich also aus dem Fenster meiner Bude mit Bahnhofsblick gleisenden Bahnen zusehen könnte, würde sich geisterhaft das An- und Abbahnen sexueller Entgleisungen am Toilettenhäuschen der Männer manifestieren. Zumindest wenn man als spirituell, um nicht zu sagen: als esoterisch beeinträchtigter Mensch zu so einer Sichtigkeit neigt.

 

Ich sage nur "die Geister die ich rief". Eine Toilettenrechnung habe ich nämlich auch mit dem Ostkreuz. Ich weiß nicht ob man sagen kann: eine beglichene. Wenn ich mal aus dem intimen Nähkästchen plaudern darf, gab es bei mir zuletzt eine längere Phase herausfordernden Blasenstresses. Was bedeutet hat, dass ich oft akut pinkeln musste, egal wo ich grade war. Da ich in der Phase zufälligerweise oft das Ostkreuz als Umsteigebahnhof hatte, kam es vor, dass ich dort aus der S-Bahn gestiegen bin – und nur noch wenig Zeit hatte, mir einen Pinkelort zu suchen. Ich habe ehrlich gesagt immer noch keine Ahnung, ob es am neuen Ostkreuz offizielle Toiletten gibt, denn danach zu suchen hätte mir viel zu lange gedauert. Stattdessen habe ich herausgefunden, dass es ein Bahnsteigende gibt, das so weit aus dem Bahnhof ragt, dass dort gefühlt schon eine neue Welt beginnt. Eine Outdoor-Welt, in der Raucher rauchen dürfen und man ungestört durchs Geländer ins Gleisbett pinkeln darf. Das hat mich sehr beruhigt — und mit dem neuen Bau versöhnt. Mein Dank den Architekten, die das (unbewusst) berücksichtigt haben. Solche Freiräume hatte ich bis dahin nämlich eher den alten, freundlich maroden Stationen zugeschrieben. Also: Es ist auch Raum für Menschlichkeit im neuen Ostkreuz!

 

Christine: Ist ja allerhand! So erfahren wir also noch etwas über das Verhältnis sich hypermodern gebender Großstadtbahnhofsarchitektur zur allermenschlichsten Bedürftigkeit. Die Angebote dort etwas zu Konsumieren sind ja unübersehbar, die Bedürfnisanstalt dagegen hat man gut versteckt, wie es scheint. Aber, Problem clever gelöst, wie ich finde!

 

Ich hielt mich übrigens schon früher nicht all zu gerne auf am Bahnhof Ostkreuz, musste ich aber, wollte ich nach Karlshorst, Strausberg oder bis nach Erkner fahren. Ich fühlte mich oft so verloren auf diesen tristen, zugigen Bahnsteigen. Heute bin ich immer noch froh, wenn ich Ostkreuz hinter mir lassen kann – inzwischen wegen der kantigen Beton-Glas-Ästhetik und des unübersichtlichen Fahrgastgewusels darin. Aber nun gelingt es rascher wegzukommen, weil zum Glück die Zugabfahrtszeiten heute kürzer getaktet sind.

 

Aber um mal wieder wegzukommen von diesem Bahnhof – einer der Bezüge, die ich mit Ostkreuz verbinde, war mein erster und einzig wirklich gut bezahlter Job als Soziologin, gleich nach meinem Diplom. Leider währte er nur kurz, nämlich ein halbes Jahr, dann wurde ich gefeuert. Es war die Zeit der Sanierungen der Häuser rund um den Bahnhof Ostkreuz. Ich betreute im Sozialplanverfahren, die von der Sanierung betroffenen Mieter. Niemand von uns ahnte damals den Hype, den dieses Friedrichhainer Viertel einmal als Vergnügungsmeile ereilen würde.

 

Andreas: ...

 

Christine: Da Du hier schweigst, will ich noch ergänzen: Hätte ich damals in diesem Job verbleiben können, so hätte ich eine überaus sinnvolle Tätigkeit, einen Einblick in die Wohnraumbewirtschaftung Berlins und vor allem ein sicheres Einkommen – zumindest für einige Zeit - gehabt. Doch meine durchwachsene Arbeitsbiografie und meine damalige Unerfahrenheit mit dem innerbetrieblichen Klima in Zeiten neoliberaler Dienstleistungsgesellschaften, haben dies dann eben verhindert.

 

Andreas: Mein Schweigen waren stille Zustimmung und Einvernehmen. Und eine Denkpause, in der mir folgendes eingefallen ist: Einen Katzensprung vom Bahnhof Ostkreuz Richtung Alt Strahlau stand mal etwas, was mir Bekannte als ehemalige "Glaserei" verkauft haben. Ob das stimmt weiß ich gar nicht. Jedenfalls war es eine mordsmäßige Fabrikruine, ein düsterer und doch irgendwie freundlicher Tempel des Verfalls. In den wir begeisterten Jünger natürlich nicht rein sollten, in den es aber trotz aller vermauerten, verschweißten und vernagelten Türen und Fenster immer wieder neue und zum Teil halsbrecherische Zustiege gab, zuletzt an der Fassade rauf und über die Vordächer rein.

 

War man dann drinnen, begrüßte einen magisches Halbdunkel, eine seltsam postapokalyptische Atmosphäre. Keine Maschinen mehr, nur Trümmer und zerbrochenes Fensterglas in riesigen Hallen und Räumen, in denen es zog und durch das eingestürzte Dach reinregnet. Und überall waren unendlich viele und zum Teil bemerkenswert künstlerische Graffitis. Meistens haben wir in dem Koloss dann auch entweder Sprayer getroffen – oder Fotografen, die um die Endlichkeit aller schönen Dinge wissend die bizarre Welt im Bild festgehalten haben.

Ein Freund und ich sind aber vor allem zum Industrieklettern gekommen. Das heißt: zum üben. Denn für uns beide waren es die Anfänge des Kletterjobs, und in der gigantischen Ruine gab es natürlich genug herausfordernde Struktur, um Kletter- und Sicherungstechniken zu üben. Wenn wir zu zweit waren, war das zwar berufsgenossenschaftlich immer noch nicht okay, aber zumindest in der Hinsicht vorbildlich, dass ein Kletterer den anderen aus einer Notlage hätte befreien können. Wenn mein Kletterfreund keine Zeit hatte, bin ich manchmal aber auch alleine dorthin. Um im Dämmerlicht beispielsweise durch das turmhohe Gerippe eines Lastenaufzugschachtes zu steigen. Manchmal habe ich mir vorgestellt, dass ich abstürze und mich erst ein Sprayer oder Fotograf in den Trümmern findet. Dann hätte das Ostkreuz eine tragische Geschichte dazu bekommen. Der unbekannte tote Kletterer.

 

Mittlerweile ist unser Abenteuerspielplatz für Großstadtjungs allerdings längst sanierter Teil eines Neubauensembles. Wer nicht weiß, dass dort eine riesige Fabrik stand, erkennt nichts Ungewöhnliches mehr. Das alte Gerippe ist fast komplett umbaut. Nur für Leute, die eine intime Verbindung zu dem Ort aufgebaut haben, ist klar zu erkennen, dass Fassadenteile noch von der alten Fabrik stammen. Statt meines Absturzes ist das also die Tragödie: das stille Verschwinden dessen, was diese Stadt einmal einzigartig für mich und viele andere gemacht hat. Der sanft entschlummerte Fabrikkoloss, inmitten eines Birkenwäldchens.

 

Die neuen Wohngebäude sind modern und eigentlich ganz hübsch. Wer das Gebiet nicht von früher kennt, wird hier vermutlich nichts anstößig finden.

 

Christine: Hm. Ich sehe dort bloß nichts Modernes, sondern nur kastenartige Ausführungen von my home is my castle style und das ist doch eher Schnee von gestern. Jeder bleibt für sich und damit sich selbst der Nächste. Hat dabei zwar einen tollen Ausblick, joggt am – sehr schönen – Ufer entlang, führt den Hund aus... Wer also die Kohle hat, kauft bzw. mietet sich dort ein – der Rest kann ja dahin ziehen, wo es für die Investoren zu unattraktiv ist. Ist das jetzt Fortschritt oder nicht eher Rückschritt? Und wo bleibt dabei die Poesie und Dichtung am Bau? - um mal Mies van der Rohe (sehr frei) zu zitieren...

 

Aber, der Annemirl-Baur-Platz auf der anderen Seite vom Bahnhof Ostkreuz gefällt mir! So offen nach allen Seiten, weitläufig, verspielt, ringsum mit bequemen Sitzmöbeln versehen... ein guter Ort für klein und groß. Überhaupt scheint in diesem Teil Ostkreuz das die Sanierung begleitende Sozialplanverfahren vor allem für die Bewohner Positives bewirkt zu haben! Das Quartier wirkt lebendig, geradezu quirlig und ist dabei trotzdem gemischt. Nur der Touristenandrang würde mich persönlich wahnsinnig machen...

 

Mich beschäftigt, wie man Altes, auch Überholtes losläßt und neue, kreative Akzente setzt, ohne dabei all das, was die Besonderheit eines Ortes, seinen unverwechselbaren Charme ausmacht, zu zerstören. Und ohne dafür ein Museum, eine Art Disneyland der guten alten Zeit schaffen zu müssen. Das Atmosphärische, meinethalben Authentische eines Ortes braucht Zeit, um sich zu entwickeln und entsteht doch vor allem durch die Menschen, die darin leben...

Andreas: Na weißt du, mein "modern" war eigentlich nicht positiv gemeint, sondern mehr im Sinne von... neu!? Obwohl doch, irgendwie schon auch mit so einer Art, sagen wir mal: Anspruchs-Architektur, durch die sich solche Neubauten von denen ohne jeden Anspruch unterscheiden. Vielleicht könnte man sagen: Gebäude mit einer erkennbaren gestalterischen Idee im Gegensatz zu wirklich gesichtslosen Wohnklötzen, die man den sozial Schwachen zumutet.

Deine Beschreibung hat mir aber vor allem in Erinnerung gerufen, dass ich mit meiner aktuellen Ausbildung zum Gesundheitscoach auch in so einem modernen Bau hocke, für den vermutlich ein sanierungsfälliger Altbau weichen musste. Boxhagener Ecke Holtei, gefühlt noch im Intimbereich des Ostkreuzes. Da zu Beginn meiner Ausbildung der schneeweiße Neubau mit schwarzen Farbbomben beworfen war, vermute ich, dass nicht alle mit der Veränderung einverstanden waren. Da haben sich entweder die Kiezbewohner oder die mobilen Gentrifizierungsgegner der Sache angenommen.

 

Kann ich als alter Ruinenkletterer einerseits natürlich bestens verstehen. Andererseits sitze ich da nun regelmäßig in dem Bau und genieße eine sehr gute Ausbildung. Ich meine, schon klar, für die hätte kein Wohnhaus platt gemacht werden müssen, das hätte man woanders auch anders organisieren können. Aber irgendwie ist das wohl genau der gängige Zwiespalt: Dass die einen auf das abkotzen, womit andere aus völlig anderen Gründen zufrieden sind. Weil sie es wie ich ausschließlich von der positiven Seite erfahren. Und nu?

 

Christine: Das Beste daran ist noch, wenn Altes, noch Funktionierendes weg geknallt wird, das Neue aber eine gute, sinnige Nutzung zulässt. Ich denke da an den Abriss intakter, alter Wohnviertel in den Siebzigern, in Berlin-West, wo dann dafür Neubausiedlungen entstanden sind, mit einer eigenen, unabhängigen Infrastruktur - ganz ähnlich übrigens der Entwicklung im Osten Berlins. Da wurde auch kurzerhand nebenbei mal Geschichte beseitigt und zu betoniert. So empfand ich früher die Plattenbausiedlungen in Ostberlin immer als böse Zumutung. Heute dagegen staune ich über die damalige Weitsicht der DDR-Architekten, die die verschiedenen Bedürfnisse der Bewohner bei ihrer Planung sehr wohl im Blick hatten: viele Grünflächen, eine gute Infrastruktur, viele Kindereinrichtungen, oft gute Kunst am Bau... Manches offenbart seine Qualitäten eben erst nach einer Reihe von Jahren. Apropos Zukunft: Hast Du nicht Lust auf eine kleine Zeitreise, sagen wir, Ostkreuz im Jahre 2053? Ich beginne schon mal:

 

Es ist früh am Morgen, B. räkelt sich und beschließt, heute vor dem Dienst, ein Morgenbad in der Spree zu nehmen, die vor ihrer Haustür liegt. Seit dem das Ufer vor einigen Jahren bepflanzt wurde – dazu wurde die alte Uferbegrenzung aus Beton beseitigt und weicher, weisser Sand aufgeschüttet – gönnt sie sich hin und wieder das Vergnügen. Sie trifft dabei Nachbarn aus dem eigenen oder einem der anderen Blocks. Manche sind mit dem Hund spazieren – es gibt etliche Ältere darunter, die schon lange hier wohnen und immer wieder begeistert von den Entwicklungen des Viertels in den letzten Jahrzehnten schwärmen. Seit sich die hier Wohnenden vor Jahren der Transition-Town-Bewegung angeschlossen haben, hat sich das Leben grundlegend verändert. So wurden anstelle des privaten Eigentums, Wohngenossenschaften mit Mitspracherecht gegründet, die Selbstversorgung mit Wind- und Solarenergie vorangebracht und Gärten angelegt, in denen die saisonale Versorgung mit Obst, Gemüse und Blumen sicher gestellt wird. Und Infrastruktur wurde vor Ort geschaffen, mit kleinen Läden für alles Lebensnotwendige, einigen Dienstleistern und mehreren Kindereinrichtungen. Weiterhin gehören inzwischen auch eine kleine öffentliche Bibliothek, einige Mehrgenerationenhäuser sowie ein Nachbarschaftszentrum dazu. Die Wohnungen im Viertel sind sehr gefragt, zumal die Mieten hier sozial gestaffelt sind, je nach dem Einkommen der BewohnerInnen.

B. holt sich nach dem Bad einen Kaffee aus der Bäckerei und trinkt ihn in der Morgensonne. Danach geht sie nach oben, zieht sich um und schnappt ihre Tasche. Sie nimmt anschließend die S-Bahn, die sie von Ostkreuz nach Weißensee bringt, zu ihrem Arbeitsplatz, einem mittleren Unternehmen für Umwelt- und Stadtsoziologie...

 

Andreas: Mensch, Christine, entschuldige, aber deine sozialromantische Skizze provoziert mich zum dystopischen Gegenentwurf. Kann daran liegen, dass ich gestern Oblivion gesehen habe, in dem Tom Cruise als Held und technischer Facility Manager die Ausbeutung des verwüsteten Planeten Erde betreut. Wer den Streifen gesehen hat, wird die Zitate erkennen. And here we go:

 

D. E. wacht verkatert auf, quält sich aus dem Bett und zündet sich als Erstes eine Zigarette an. Nach einigen tiefen Zügen setzt er sich an sein Kommunikationsmodul, an dem schon seit langem die Ruflampe blinkt. Als er auf Empfang schaltet, wird ihm die Order des Tages entgegengequäkt: Eines der Kraftwerke, für das er zuständig ist, meldet einen Betriebsfehler und muss sofort inspiziert und repariert werden.

 

D. E. verlässt sein Quartier, dass in einem provisorisch instand gesetzten Dachgeschoss eines fünfstöckigen, ehemaligen Wohnhauses untergebracht ist. Ansonsten liegt das Viertel nahe dem ehemaligen Berliner Bahn­knotenpunkt Ostkreuz fast vollständig in Trümmern, die Straßen sind menschenleer. Nach einem gespenstischen Fußweg an Schuttbergen und menschlichen Hinterlassenschaften vorbei, erreicht D. E. die Spree. Über dem Wasser schweben in einer endlosen Reihe gigantische Konstruktionen, die Tag und Nacht Gigatonnen Wasser ansaugen und in Energie verwandeln.

 

Als D. E. sich auf den Weg zu dem defekten Kraftwerk 0777 machen will, bleibt sein Blick an einem der Trümmerberge hängen. Aus dem Schutt zieht er ein Buch und klopft vorsichtig den Staub ab. Der Titel lautet Schönes neues Ostkreuz. D. E. blättert behutsam die Seiten um, stoppt bei einer Geschichte von Christine K. und fängt an zu lesen. Die Autorin beschreibt eine wunderschöne Utopie der Gegend, in der D. E. heute alleine lebt. Als der Techniker zu Ende gelesen hat, steckt er das Buch vorsichtig in seine Umhängetasche und schaut die Reihe der unablässig arbeitenden Kraftwerke entlang. Eine Träne läuft ihm über die Wange.

 

Christine: B. ist in ihrem Campus angekommen – durch die neue S-Bahnverbindung spart sie etliche Minuten Zeit – und betritt ihr Büro. Sie gehört zu einer Gruppe junger Sozialwissenschaftler, die sich mit den Auswirkungen nicht sichtbarer Phänomene beschäftigen, wie dem Auftreten von Energieströmen in menschlichen und tierischen Gehirnen und Organen, in Pflanzen sowie in anorganischer Materie. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Veränderung menschlicher Verhaltensweisen. Die inzwischen sehr gute Messbarkeit und damit Darstellbarkeit solcher Energien leitete bereits vor Jahren eine neue Ära in Forschung und Gesellschaft ein. So hat die vor Jahren gegründete WOMPES (World Organisation for Maintenance and Preservation of the Earth's Surface) eine Studie in Auftrag gegeben, die den Zusammenhang erforschen soll zwischen den Gedanken von Menschen auf ihr Leben und ihre unmittelbare Umgebung. B. entdeckt auf dem Tisch ihres Kollegen R., der noch nicht eingetroffen zu sein scheint, ein abgegriffenes, vergilbtes, einfach gebundenes Buch. Vom Titel ist nur noch das Wort OSTKREUZ zu entziffern. B. schlägt es neugierig auf. Es handelt sich dabei offensichtlich um einen Roman. Sie beginnt gerade die Beschreibung eines düsteren Weltuntergangsszenariums zu lesen, geschrieben von einem Andreas M., als R. das gemeinsame Büro betritt. B. zuckt ertappt zusammen. Doch ihr Kollege begrüßt sie freundlich und sagt grinsend: Die Schwarte hab ich neulich auf dem Dachboden meines Hauses gefunden, stammt aus dem Jahre 2013. Wirklich spannend geschrieben, diese Zukunftsgeschichte über Ostkreuz. Etwas apokalyptisch zwar, aber auch anregend! Ich mag so was hin und wieder als Ablenkung und Entspannung. B. klappt das Buch zu und betrachtet ihren Kollegen gedankenversunken. Sie hat gerade das Gefühl von einem Déjà-vu...

 

Andreas: Na, wenn jetzt hier nicht doch der Positionenkampf entfesselt ist. Und ich bin der dunkle Tintenritter, der böse Dystop? Denkste! Ich will was ganz anderes beisteuern, es hat sich nämlich schon wieder neues Material zum Ostkreuz ergeben. Im Nachhall des scientologie-verdächtigen Cruise-Streifens Oblivion hat es mich am nächsten Abend gleich noch mal ins Open-Air-Kino gezogen. Dieses Mal: The Master, der Film über den Scientology-Gründer Hubbart. Ort: Das kleine aber superfeine Freiluftkino Pompeji, ein Babykatzensprung entfernt vom Ostkreuz. Fantastisch war das, super großstadtromantisch, zusammengedrängt in dem engen, alten Hof zu sitzen und diesen bildgewaltigen Streifen zu sehen. Die Pappeln rauschen, die Sterne funkeln, auf dem Weg zum Pompeji die lange Schlange vor dem benachbarten Club... Magische Momente. Jetzt ist auch das für mich Ostkreuz.

 

Christine: Einverstanden, bleiben wir im Hier und Jetzt, in Ostkreuz. Ist doch schön, oder schrecklich, je nach dem wie man es gerade betrachten will oder kann. Also, was Du gerade beschreibst - es gibt Orte, die wollen noch entdeckt sein, im Ostkreuz. So, wie ich neulich die Mühlenstraße entlang radele und mir plötzlich das Andreashaus auffällt und welches zur Katholischen Skt. Andreas Kirche gehört. Inmitten dieser lauten und stark frequentierten Vergnügungsmeile an der Spree, ein Zufluchtsort der Kirche, oder gerade dort? Überhaupt, Kirchen in Ostkreuz. Was stellen sie dar: historisch, architektonisch, aktuell? Beispiel Friedhofskapelle Boxhagener Straße, ein wahrhaft transformierter Ort...

 

Andreas: Du meinst die Theater-Kapelle, richtig? Aber weißt du was: Mich beschleicht das Gefühl, mit den Kirchen lenkst ab. Von was eigentlich? Und ich habe noch ein Gefühl: Dass ich nämlich nach all unseren Runden zu meinem Eingangsgefühl zurückkehre, dass das Ostkreuz für mich keine Gegend, sondern eine S-Bahnstation ist. Und zwar eine, in die ich mich mittlerweile fast verliebt habe. Ja, du hörst richtig. Ich habe mich vorletzte Woche von der Frankfurter Allee getrennt und das Ostkreuz zu meiner Ein- und Aussteigestation gemacht, wenn ich zur Ausbildung fahre. Der Charme des Unschönen hat mich mal wieder gekriegt, würde ich sagen. Wie schon damals das triste Bochum, das ich zum Unverständnis vieler auch sehr gerne gehabt habe. "Ostkreuz ich komm aus di-i-ir, Ostkreuz ich häng an di-i-ir"... Ich glaube Grönemeyer würde mich verstehen.

 

Christine: Und schwuppdiwupp, beziehst Du hier astrein eine Position - zu Ostkreuz: der romantische Schwärmer vom Bahnhof Ostkreuz... Aber ist okay! Wirklich. Und ich brauche gar nichts dagegen zu halten – denn Ostkreuz ist für mich alles: Bahnhof und Umgebung! Und hält mir so vieles bereit, das noch entdeckt werden will. Entdecke Du nur weiter Deinen Bahnhof – ich streife lieber durch die Straßen, Plätze, Kirchen, dabei immer wieder auf Neues, Unbekanntes stoßend... Hin und wieder schaue ich mal rüber, zum Bahnhof, dem gläsernen Ungetüm und denke an Dich und zurück an die schöne Zeit, als wir uns zusammen so unsere Gedanken machten, über Ostkreuz...

 

Andreas: Liebe Christine, warnst du mich freundschaftlich vor dem Bahnhofstunnelblick? Vielleicht zu Recht, denn eigentlich kenne ich mich. So schnell wie ich verliebt bin, kündige ich Beziehungen auch wieder auf. Aber hey, zu meiner Ehrenrettung: mehr als oberflächliches Verknalltsein bietet der schnieke Bau einfach auch nicht an! Oder? Am Ostkreuz quietschen und kreischen seit einigen Tagen jedenfalls die Rolltreppen: Erst die bergauf, dann kam die Reparaturpause. Jetzt die bergab. Zack, Peng! bin ich genervt – und denke an meine gute alte Frankfurter Allee. Kann sein, man wird mich schon in Kürze erzählen hören "Ich hatte da mal was mit dem Ostkreuz".

 

Christine: Das ist eben der Unterschied zwischen Verliebtsein und Liebe. Das man dem anderen auch über eine gewisse Zeit hinaus seine kleinen Fehler und Schwächen nachsieht, weil man ja weiß, was man an ihm, an ihr hat. Was stört da schon ein Quietschen oder ein Schnarchen, hier eine Funktionsstörung, da eine Unvollkommenheit...? So gewinnt man auch einen Ort irgendwann lieb, in dem man ihn immer wieder und in unterschiedlichen Stimmungen und Situationen erlebt. Und, es ist doch eher weniger das Perfekte und Vollkommene, was sich uns einprägt. Aber, obwohl mein Herz tatsächlich an einem anderen Stadtteil hängt, kann ich doch Ostkreuz mittlerweile einiges abgewinnen.

 

Andreas: Gewinnen und zerrinnen. Ich glaube, dass mir Berlin dieses schnelle Einlassen und Loslassen beigebracht hat. In dieser Stadt verändert sich so schnell so viel, da heißt es doch in einer Tour "Guten Tag" und "Auf nimmer Wiedersehen". Notwendige Anpassung könnte man meinen. Und die Veroberflächlichung der Beziehungen ist halt eine Nebenwirkung.

 

Christine: Das schon – aber das ändert nichts daran, daß es unterschiedliche Qualitäten von Beziehungen gibt und das seinen Sinn und Wert hat. Flexibilität ist wichtig und auch gut, wird aber meiner Meinung nach grad massiv überbewertet. Außerdem kann man hier und da auch gegensteuern: Verstetigung, Entschleunigung, Lebensqualität.... Huch, schon wieder wird hier Position bezogen...!

 

Andreas: Allerdings! Aber falls ich dich mit meinen Äußerungen dazu getrieben haben sollte, tut mir das Leid. Pass auf, ich habe einen Vorschlag: Wir gehen noch mal zum Ostkreuz, einer nimmt die S41, einer die 42, und dann fahren wir in unsere unterschiedlichen Richtungen... bis wir uns in der Mitte treffen, wo auch immer die ist. Und falls wir es nicht schaffen, rechtzeitig auszusteigen, dann winken wir uns im Vorüberfahren zu – und drehen noch eine Runde, und noch eine, so lange bis...

 

Christine: Andreas, das wäre ein neues Projekt! Nichts dagegen. Aber zuerst wünsche ich mir, mit Dir noch mal ne Runde durch Ost-Kreuz zu drehen. Treffen meinetwegen am Bahnhof, dann schlendern durch den Kiez: Eis essen und vom Ufer aus in die Spree spucken oder Freiluft-Kino gucken, Tee schlürfen in der Strandbar zu Technoklängen... alle Überlegungen mal beiseite lassen und einfach nur genießen — Ostkreuz...

 

Epilog

Und so geschah es, und gemeinsam trugen sie ihr Ostkreuz und klagten nicht, sondern waren es zufrieden.

OscarTheFish(pak) - Der (letzte) Ostkreuzritter

 

OscarTheFish(pak)
Der (letzte) Ostkreuzritter

 

"Mein Kind, ich treffe ständig Leute / Die auf der Suche sind in dieser Welt
Doch hantier ich nicht mit Suchmaschinen
Ich bin im Fundbüro noch angestellt!"

So hört man ihn / Den Mann mit der Tasche
Der als klassisch-mediane Bevölkerungsflasche
Sein Leben fristet / Ungelistet an der Bank der Klage
Mit ihren Policen für ein Leben hinter Gittern
In die so viele im freien Fall, dem Casus liber, schlittern
Was ihnen ohne Liebe lieb nicht ist.

Keine Frage / Wann all die Hoffnungen starben;
Sie fahren nicht nur schwarz, weiß und in Farben
In die Hölle täglich / Hin und zurück
Reingefallen auf den Trick vom Glück
Nadelnder Eliten aus rostigen Nieten parteigegelt gestanzt

Die versuchen zu verstören / Mit Möhren am Bande in der Ferne

Ausgekernt und ausgeseelt verwanzt / Die Beute auszujagen

Bis der Widerstand in Ohm und Macht
Gebrochen ist und alle jene Ja und Amen sagen
Zu dem, was sie zu tragen haben
An Last der Schuld, Geschichte und Entbehrung
Und wer nicht spurt, wird ausgelacht

Sondern aus der Haut heraus / Wie aus dem Leben.

Bleiern ist dieses Schweben;
Wie ein Schwein den Trüffel / Erschnüffelst du den Büffel
Mit Moschusduft in dieser Luft zum Schneiden
Denn das Volk per pedes soll den Erstickungstod erleiden
Perfide / Durch all die Mon- und Dioxide der Kohlen
Die nicht mehr zu holen sind / Gestohlen
Von eben diesen Welchen;
Ein geöffnetes Fenster schon / Könnte das Risiko erhöhen /
Auch zu erleiden
Eine Infektion durch Bakterien des Winds.
Wäre es das alles wert / Unter dem Schwert des Fluchs
Unserer Welt der Haltung eines Buchs
Der gähnenden Leere der Betriebswirtschaft?

Abgeschlaff geschafft und ohne Kraft / Gönnt man der Leutemeute
Als Geschenk zum heiteren Vergessen / Zum Kühlen der Nerven
Sowie zur Stillung aller Schmerzreserven / Ein geistiges Getränk.
So wird die emsig Arbeitsbiene / Mit arg verhärteter Felssteinmiene
Progressiv gelockert wie eine Schraube / Zu Hause, in Schänken oder in der Gartenlaube

Und nach und nach ganz dröge und versiert
In legalem Rausch poröse mit Heiterkeit entpetrifiziert.
Zudem wird sie noch schonend schon / Im Zeichen der Ersatzradreligion
Durch Spirituosen spirituell.

Die Fahne / Flattert im Wind der Weichen / Zwischen Spuren gekleckert und geklotzt
Angemahnt durch Bremsspurstreifen / Unreifen Früchten abgetrotzt.
Denn durchgemacht ward letzte Nacht / Die durchgebracht den Horizont verkleinert
Obwohl 'ne Lücke im Gedächtnis klafft / Wird krampfhaft fokussiert
Sich so noch etwas Übersicht verschafft.

Im Sinne von Visionen / Reizen Muskat-Spieler aus anderen Dimensionen
In den Reihen der Versicherungs- und Volksvertreter
An Eides Statt ein heißes Blatt.
Es steht der Ehre viel / Auf dem – lokal – verbotenem Spiel / Mit illegaler Farbe:
Westkreuz am Ostkreuz!
Und später – im Verlauf – nach rockendem Zocken
Das hätte niemand so erwartet / Gehen beide Gegner platt
Ganz plötzlich Knall auf Fall / Erschien doch unerreichbar der Grand-mal
Mit ganz viel Glück auf Stoß gestrickt / Ohne jeglichen schmutzigen Trick
In subito [sic] pro rege!
So kam mit Damen, Buben, Ass und Nebelkrähen statt Kerzen
Als hätten sich die Gegner voll versehen / Im Spiel der Kippe noch die Wende
Das nimmt man sich zu Herzen / Und führet mit Kalkül
Unter progredienten Magenschmerzen / Zur Zerstörung von Werten im Selbstgefühl.

So konnte nur der Sieger sagen am bittren Ende
Denn die Stimmen der Straße der Verlierer / Wurden über leise vollends stumm:
Ex sartore ego sum – ich bin aus dem Schneider! [sic]

Nun komm endlich ich ins Spiel
Doch diese, jene, welche sie sollten sich gedulden
Bis der neue König aller Spieler / Und Lehnsherr aller Spielverlierer
Vergeben wird / Die bis dato angehäuften Schulden.

Unaufgeregt und leise / Führt meine Zeitenreise
Nach Einwurf einer ebensolchen Kapsel / Im Flugzug
In unreifen Schleifen / Auf tosend unruhiger Welle
An den Ort der Verzögerung:
Einer hart umkämpften Bahnhofsbaustelle.
Hier kommt man nur Zug um Zug voran ...
Jeder kommt dran / Angeblich / Jeder dieser passageren Passagiere

Die Frage ist nur: Wann?
Vor allem im Winter / Wenn nichts mehr fährt
Außer den Winden der Därme / Angespannt gelassen durch die Hosen
Deren Wärme das Leiden des Wartens lindert / In bolusartigen Dosen
Dann fühlst du dich versetzt / Wie du da frustran fröstelnd stehst
In eine kleine Kinorolle / In "Vom Darmwinde verwest"!

De cerebello Gallico! / Aufmarsch der Nervenheilkunden
...
Warum gibt es statt Oxygarum / Der Offizialsdelikatesse
Nur einfache Fischbrühe / Ohne Finesse?

Mindset and attitude – Geist, Salz und Attitüde
Sie sind müde des Überziehens der Konten
Am Steuer der hinterzogenen Lottozahlen
Im Strahlen sprechender Füße gemahlener Boni
Und heute? / Tee oder Kaffee zum grauen Schnee?

Unter dem vorgezogen-verzogenen Strich
Setze, stell und leg ich fest: / Ich spinne, also bin ich ich! [sic]
Nicht nur aus Vanille / Vielleicht ein Eis / Zwei Eisen
So lande ich auf den Gleisen / Des kreuzenden Bahnhofs Ost
Mit seinen Streckenkeilen unter Oberflächenrost
Als Vorbote verbotener Botschaften / Gegen Seile auf den Schienen
Dem sogenannten Netzwerk aus Beziehungsvitaminen
Die reserviert sind nur für Güterzüge
Aus der Bande der Barone der politischen Lüge.

Mittelohr und Mitternacht
Fallen zusammen am Tisch des Systems / Am Fuße des biblischen Turms zu Babel.
Im Gewand einer märchenhaften Fabel / Eile ich herbei
Sowohl ornithosymbolisch frei / Durch Kick-Download der Abgesandten
Zypriotischer Hilflosdienste / Auf fleischfressenden Elefanten
Als auch transzendent im Transport der Transmitter
Als einer der letzten / Aus dem guten Geschlecht
Der noch echten Ostkreuzritter!

Im Schweinerotlauf der Hähne Drang
Liegen die Waffen des Intellekts ganz ohne Zwang
Im leisen Lesen zur Steigerung innerer Stärke
Folgender – aus meiner Sicht – wichtiger drei Werke:
    "1984" und
    "Farm der Tiere"
    von George Orwell
sowie
    Aldous Huxleys
    "Schöne neue Welt".

Da begreift man schnell wie es bestellt ist / Um die Realität der sogenannten
Der von virtuellen Konstrukten überrannten
Spiegelbühne der Glückseligkeit.

Für jeden Kandidaten eine Nummer / Zur Ideenflucht aus dem Alltagskummer.
Das ist Demokratie: / Die Demonstration der Dämlichkeit
Und damit verdient man in dieser Welt / Nicht unerheblich, sondern reichlich Geld.
Denn das Geld liegt auf der Straße / In Salz und Pfeffer hingegen nur der Hase.

Die Beschäftigung des Einzelnen / Führt zur Beschäftigung der Masse!
Das ist im Prinzip schon ganz gut und klasse / Da durch den Druck der Nöte
Das Volk nach fremder Flöte tanzt und hechelt
Und in der Kunst des klaren Gedankens schwächelt
Abgelenkt im Trubel des Konsums der billigen Genüsse
Die da schützen vor den Wellen / Mächtiger Gedankenflüsse;
Aber nicht den einzelnen privaten Krieger
Sondern die Gruppe rekrutierter Kadaversieger:
Den dressierten Pseudobesten
In ihren schwarzen und nicht mehr weißen Westen.

Und jede Ablenkung zählt!
Da wird beeinflusst / Wer was bei Wahlen wählt
Unter Berieselungen von Klängen / Dann gewinnt das Geld um Längen
In säglicher Unsachlichkeit ...
Denn auch die Sozialisten in dieser unschön neuen Welt
Stehen nur auf frisches fremdes Geld;
Und bei all dieser Hektik / Wird von Ochs' und Esel nicht so schnell gerafft
Dass in der Ruhe liegt die Kraft!

Zeit zum Selberdenken, Fühlen, kognitiv Erkennen
Das ist des Glückes Schlüssels Schluss / Von dessen Schlüsselbrett oft Welten trennen
Und die Katzenstreu vom Weizen.

Geboren sich zu verheizen / Schnell und gleichförmig individuell
Das wird viel zu häufig angenommen
Und als Pseudosinn des Lebens verschwommen
Sowie in dioptrienären Doktrinen verkommen
Nachgemacht und plagiiert / Unbedacht und ungeniert
Doch niemand wird uns retten / In Untertassen mit ganz netten
Aliens und Eisprüngen in der Schüssel / In Rettungsgassen noch ungebildet.

Ode an die Schadenfreude!
Alpha est et Epsilon / Was weiß ich eigentlich schon?
Ich weiß Bescheid / Über das Leid der Menschen in der Zivilisation
Deren parlamentarischer Thron / Jenseits der Bäume
Vernebelt durch Wolkenträume dahinverschlummert.

Einigen geht es doch noch gut. / Doch die neu gewählte Miss Mut
Von den Männern der Sternenbannersender / Sieht hinaus über die Tellerränder
Bis in andere Länder und Sitten / Und es bleibt unbestritten
Etwas in Korrektur zu ändern
Gegen die Blindheit auf eigener Rinde
So zu tun als stünde angeblich ...
Doch es steht schon so viel auf dem Spiel
Ja, sogar so sehr / Dass im Rahmen der Nöte Wehr
Der Barytraum beendet werden muss und sollte
Im Sinne einer konstruktiv geläuterten Revolte!

Alea glaciei iacta est – der Eiswürfel ist gefallen
Ist es das Ende / Der gebundenen Hände?
Wir haben die Wahl! / Beenden wir die Höllenqual der Beute
Nicht unterlegen / Sind wir doch in Überzahl
Und überwinden als Zeichen unserer Zeit
Zuerst die vorherrschende Erlernte Hilflosigkeit
Dann die Trübheit unserer Mienen / Als hätte die Sonne immer für uns geschienen.
Und wird das Lachen wieder stärker und graziös
Wandelt es sich zum Feuer, wird ansteckend und infektiös
Zur Fackel in unseren Nächten
Sowohl zur Stärkung der Guten als auch zur Schwächung der Schlechten
Als Geschenk an uns und die nächste Generation
Und mahnende Quell' zur Erneuerung unserer Zivilisation.

Ohne Wille bleibt Stille / Ohne Dampfdruck kein Kampf!
Doch fangen die Tränen an zu brodeln / Wird greifbar der nötige Sieg
Dann spreiz deine staubigen Flügel / Heb ab ganz erhaben und flieg!

Ich öffne die Augen und murmel zu mir leise
Das war eine schöne, intensive Zeitenreise
Die mich stärkt und meinen Willen weckt
Sowie helfend mir die großen Ziele steckt.
Und im Namen der Macht all meiner Transmitter
Steh ich zu dem, was ich sag, zu jedem Gedankensplitter
Den Resten der Hoffnung meiner Tugend / Sowohl von heute
Als auch aus meiner Kindheit und Jugend.
Denn obwohl ich am ganzen Leibe zitter
Bin ich wohl einer der letzten / Aus dem guten Geschlecht
Der noch echten Ostkreuzritter!

Ich denke – also bin ich / Im Kampfe gegen die Intrigen
Endlich bereit / In Lernprozessen zu obsiegen.
Die Augen offen / Mit Pupillen eingestellt und weit
Wohl begreifend:

Das wird jetzt / Unsere gemeinsame Zeit!

H. J. D. Kleinschmidt - Bankgeheimnisse

 

H. J. D. Kleinschmidt
Bankgeheimnisse

 

Ostkreuz, eine S-Bahn Richtung Lichtenberg fährt in den Bahnhof ein. Im Vorbeifahren sehe ich eine Bank, auf der ein Pärchen sitzt, welches sich engumschlungen hält. Sie küssen und liebkosen sich. Die Welt um sie herum scheint versunken, keine Wirklichkeit zu sein. Ein Philister, oder Neidhammel der beim Zuschauen missgünstige Gedanken wälzt! Der Platz ist gut gewählt. Denn die Bank befindet sich am Ende des Bahnsteigs. So ist das Bild für die Optik des Betrachters nur eine Momentaufnahme, denn auch der letzte Wagen des Zuges rollt an dem Tatort vorbei.

In stiller Andacht lehne ich mich zurück, schließe meine Augen und ein Lächeln der Erinnerung umspielt meine Mundwinkel. Vor meinem geistigen Auge entsteht ein Bild, auf diesem erscheint ein Pärchen am selben Ort, in gleicher Position und Situation. Das Mädchen war zu dem Zeitpunkt des Geschehens erst siebzehn Jahre alt und getraute sich deshalb nicht ihren Eltern die Existenz ihres Herzallerliebsten zu beichten. Wie man aber feststellen musste, findet die Liebe immer einen Weg zu ihrer Erfüllung, im Notfall mit solch einer Improvisation. Die Geheimniskrämerei dauerte dann immerhin noch fast ein ganzes Jahr bis zur Offenbarung. Allerdings führte sie danach wie gewünscht in den Hafen der Ehe. Der Weg bis dahin gestaltete sich zeitweise als Kopfsteinpflaster und wir Betroffenen mussten lernen ohne zu stolpern selbstsicher voranzuschreiten. Im Rückblick können wir stolz feststellen, dass wir es gemeinsam gut gemeistert haben, denn wir feierten im Januar diesen Jahres bereits die Goldene Hochzeit.

Glücklicherweise bleibt die Zeit nicht stehen. Die Architekten, Statistiker, Spezialisten und Bauarbeiter bemühen sich, mit all ihren Möglichkeiten des Wissens und der Technik, wenn auch für uns Reisende im Zeitlupentempo ein schönes neues Ostkreuz Wirklichkeit werden zu lassen.

Der kleine "Schreiberling", also meine Wenigkeit, wünscht sich so sehr ein schönes neues Ostkreuz, welches ganz viel Menschlichkeit und wie zu Beginn geschildert alle Romantik der Welt zulässt!

Nun mag eine gute Fee wirksam werden, um alle Wünsche zu erfüllen.

Andrea Collins - Waldkita

 

Andrea Collins
Waldkita

 

Ab in den Wald

 

Öfter mal was Neues

Die Rolltreppe endet auf dem Asphalt des Bürgersteigs. Davor ist das "Blaue Monster", die Krake aus Rohren, umgeben mit blauer Folie. Wozu ist dieses Industriekonstrukt da?

Täglich ist das Ostkreuz neu. Es ist nicht, wie es war. Wir werden sehen, was bleibt.

Wer hier wohnt, wartet auch ein bisschen auf das, was städtebautechnisch kommt.

 

Es kann nur besser werden.

Thomas sagt: "Das Ostkreuz wird untertunnelt." Er weiß es genau. Er ist Vermessungstechniker und bekommt die Stadtbauentwicklungen mit.

 

Make over

Derzeit endet die A 100 hinter dem neu gebauten Autobahndreieck Neukölln an der provisorischen Anschlussstelle Grenzallee. Der Weiterbau der A 100 bis zur Frankfurter Allee ist geplant und der Abschnitt bis zum Treptower Park soll von 2013 bis 2020 realisiert werden. [5] Dabei führt ein Bauabschnitt (BA 16) entlang der Ringbahn und am ehemaligen Güterbahnhof Treptow vorbei bis zur AS Am Treptower Park. Der BA 17 führt von dort aus zum großen Teil unterirdisch bis zur Frankfurter Allee. Dort soll die Autobahn vorerst enden.1

 

Easy does it.

Am Alex gibt es ein Plakat, auf dem der Tunnelbohrer-Maulwurf abgebildet ist, hiesig Bärlinde genannt. "Fünfmal so schnell wie ein konventionelles Miniergerät durchwühlt die Krupp-Fräse die Erde, oft bis zu 300 Metern unter der Oberfläche. Die mächtige Bohrmaschine - Länge: 24 Meter; Gewicht: 75 Tonnen - dringt mit jeder Arbeitsstunde durchschnittlich fünf Meter tief ins Gestein - bis zu 50 Meter pro Tag. Dirigiert wird das Monstrum von einem einzigen Techniker."2 Laut Plakataussage mit Bild hinterläßt Bärlinde einen beeindruckenden fertigen Tunnel mitsamt Bahngleisanlage.

 

Das Beste aus allem machen.

Einladung über E-mail zu einem Flashmob gegen den Weiterbau der Autobahn: "A100 stoppen! Wir legen uns quer! Für alle, die keine Autobahn vor ihrer Wohnung haben wollen. Mitmachen mit Spaßfaktor!"

Das letzte mal wurde mit Gasmasken vorm Gesicht auf der Straße demonstriert.

 

Mut zur Veränderung

In dem Ostkreuz Infopunkt wurde 2012 gesagt, dass die Autobahn unterirdisch gelegt und der Markgrafendamm stillgelegt werden wird. In dem Ostkreuz Info-Punkt wird 2013 gesagt, dass der erste Spatenstich für die Autobahn gemacht wurde, geplant ist sie bis zur Elsenbrücke, dann "werden sie sehen, dass es ein Verkehrschaos gibt und sie werden die Autobahn unterirdisch weiterbauen. Der Markgrafendamm wird bis zur Hauptstraße hin vierspurig ausgebaut; er wird auf keinen Fall stillgelegt."

In dem Ostkreuz Infopunkt wird 2014 vielleicht etwas anderes gesagt werden.

 

For better or worse

Der Bau dieser kurzen Autobahnstrecke ist der Grund, weswegen die SPD nun mit der CDU zusammen Berlin regiert und die Grünen in der Opposition sind. 3,2 km Fahrtstrecke...3

 

Eile mit Weile

Das schöne neue Ostkreuz wird nicht 2016 fertig, steht im Berliner Anzeiger. Jetzt ist die Planung auf 2017 hin angelegt. "Die historische Fußgängerbrücke soll sogar erst 2018 wieder aufgebaut werden... Mit 411 Millionen Euro sei man weiter im Kostenplan; allerdings kommen für die nachträglichen Arbeiten am Ostbahnhof weitere sechs Millionen Euro hinzu."4

 

Ein Schritt nach dem anderen.

Die Jungs mit ihrem Webdesign Laden sind an den Markgrafendamm gezogen als die Straße für 2 Jahre stillgelegt war. Jahrelang hatte die Ladenfläche im Erdgeschoss VH zur Straße hin leergestanden; Gewerberäume vermieten sich in dieser Gegend schlecht. Als den Jungs die Miete erhöht werden sollte, nachdem die Straße wieder in Betrieb genommen war, gingen sie gegen die Mieterhöhung an und kamen damit durch.

Sie sind sehr beeinträchtigt durch den Lärm und jeden Tag lagert sich schwarzer Ruß bei ihnen im Raum ab, den sie besser wegputzen.

 

Worauf du dich verlassen kannst.

"Das atmen wir hier alles ein." Der schwarze Staub lagert sich in der Lunge ein. 300 Meter muss man mindestens von der Straße entfernt wohnen, um nicht von der Luftverschmutzung gesundheitlich beeinträchtigt zu sein.

 

Mit der Zeit gehen

"Wir warten, dass die Straße stillgelegt wird", meinen die Jungs vom Webdesign Laden. Umziehen ist nicht so wirklich mehr möglich, bezahlbare Wohnungen gibt es kaum noch.

 

Immer mit der Ruhe.

"Das haben Sie hier in Berlin überall", meint der Bäcker, "die großen Straßen und die Abgase und den Lärm." Er ist eine Institution in der Nachbarschaft; er weiß über jede/n Bescheid.

"Und wenn das Ostkreuz neu eröffnet wird?" "Dann bin ich nicht mehr hier!" sagt er mit 3 Ausrufezeichen.

 

Nachhaltigkeit

Und einatmend weiß ich, dass ich einatme.
Und ausatmend weiß ich, dass ich ausatme.
Und einatmend bin ich im Wald
und ausatmend ist eine tiefe Ruhe.
Und einatmend - Wald
und ausatmend – tiefe Ruhe.
Und einatmend sehe ich einen Baum
und ausatmend fühle ich mich fest verwurzelt.
Und einatmend – Baum
und ausatmend – fest verwurzt.
Und einatmend rieche ich Nadelhölzer
und ausatmend bin ich an der frischen Luft.
Und einatmend – Nadelhölzer
Und ausatmend - frische Luft. - eine buddhistische Meditation.5

 

Das wird schon werden.

"Bewegung an der frischen Luft mildert Atembeschwerden und beugt Krankheiten vor," steht im Konzept der Waldkita.6

 

Jedem das seine

Vor der Gentrifikation ist diese Gegend auch nicht sicher. Jedenfalls nicht jenseits der großen Verkehrsstraßen. Marias Wohnung wurde saniert und jetzt bezahlt sie das Doppelte an Miete; es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie deswegen ausziehen muss.

 

Don't you worry ´bout a thing.

Die Spaltung zwischen Arm und Reich hat in Berlin längst stattgefunden.

 

Wer arm ist, stirbt früher.7

"Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt", meinte Heinrich Zille

 

Alles zu seiner Zeit

Kotti & Co, die Bürgerinitiative, ist am 13. November 2012 in großer Manier ins Berliner Abgeordnetenhaus gezogen, um gegen den Abbau des Sozialen Wohnungsbaus anzugehen. Wochenlang recherchierten Betroffene: es wurde sich inhaltlich auf das Wissensgebiet vorbereitet, Lobbymaterial erstellt und Diskussionen geübt. Sehr gut vorbereitet argumentierten BewohnerInnen, WissenschaftlerInnen, JournalistInnen mit den 2 AbgeordnetInnen, die dafür AnsprechpartnerInnen waren.

8 Stunden lang war die Konferenz.

Hinten im Raum war von den Bewohnerinnen ein Büffet mit selbstgemachten belegten Brötchen und Getränken für 300 Leute auf Spendenbasis errichtet worden.

Es war für alle/s gesorgt.

In themenbezogenen Gruppen wurden Roadmaps erstellt als Vorschläge für die Abgeordneten, damit sie als Multiplikatoren fungieren können.

"Die Zwangsräumungen sollen aufhören", war eine dringende Forderung.

22 Zwangsräumungen finden in Berlin z. Zt. an jedem Werktag statt.

"Wir bleiben alle! Für soziale Mieten, für den Erhalt von sozialem Wohnungsbau im innerstädtischen Bereich." — Die Slogans wurden durch Workshops, Dokumentationen und Handlungspläne untermauert.

"Es wird vom Senat eine Kampagne gestartet werden, um für die BürgerInnen die Wohnorte Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg und die Berliner Außenbezirke attraktiv zu machen", sagte der eine Abgeordnete.

 

Christoph sagte zum Abschluss seiner Rede: "Berlin war immer eine soziale Stadt. Sie werden das schon machen" und sah die Abgeordneten vertrauensvoll an.

 

Plenty of nothing

Seit November ist von Seiten Politik nichts mehr zu hören gewesen. Bei Nachfragen der Bürgerinitiativen war die Zuständigkeit für die Thematik auf Seiten des Abgeordnetenhauses nicht mehr klar.

 

Gutes und Neues

"Wir bieten Kindern ab 3 Jahren die Gelegenheit ihre Zeit bei uns im Wald zu verbringen. In unserer Walderlebniszeit beschreiten wir Pfade die zum Staunen und Empfinden, Forschen und Stöbern einladen. Unser großes Ziel ist es, Kinder als resiliente starke Persönlichkeiten mit gereiftem Geist und allumfassenden Fähigkeiten in die Schule zu entlassen. Nachgewiesener Weise ist die Waldpädagogik hierfür bestens geeignet," steht auf einem Flyer, der am Zaun an der Bushaltestelle am Ostkreuz hängt.

 

In der Ruhe liegt die Kraft

Im Grunde ist dieser Kiez eher dörflich. Es gibt keine Infrastruktur, auf die sich bezogen werden kann. Morgens krähen die Hähne der August-Sander-Schule, Bereich Agrarwirtschaft8, Bienen der dortigen Imkerei summen, der interkulturelle Garten ist am Blühen. Zwischen Rudolfplatz, dem Sportplatz, der Grünfläche Ecke Persius/Corinthstr. und der Freifläche vor der Warschauer Brücke liegen Erholung und Freiraum. Mit dem Fahrrad ist hier gemütlich fahren. Der Winter ist eher abgeschottet mit der vereisten Modernsohnbrücke, im Sommer schwirrt die Luft.

 

Es geht voran.

Nach und nach ziehen auch vermehrt MigrantInnen in den Kiez. Von Menschen mit intercultural mind werden sie mit freudigen inneren Purzelbäumen und mitunter einem Lächeln begrüßt.

 

Alles ist in Ordnung, alles wird gut.

Raviv ist wieder Chill Out DJ beim RAW Tempel. Bei sommerlich hohen Temperaturen schweben die Bässe über die Straße hin, Glasscherben liegen auf der Modernsohn Brücke. Der urbane Sonnenuntergang wurde bis in die Nacht hinein kollektiv zelebriert.

Völlig losgelöst chillt ein von der Techno-Meile entgleister Trupp auf dem Mittelstreifen Persius/Ecke Corinthstr. Leute bewegen sich, z. T. wie in Trance.

Wie geht es eigentlich weiter? Du musst dich wiedermal umstrukturieren, wie soviele in Berlin wieder und wieder. Vielleicht läuft die Stelle aus, die Schlange beim Amt wartet. Die Miete wird auch immer teuerer, es ist absehbar, dass du aus der Wohnung raus musst.

Es ist alles gut; es ist alles o.k.

 

Nach vorne schauen.

Nicht zurück. Manchmal bleibt nicht mehr als vorwärts zu blicken.

 

"Nein, nicht nach Marzahn-Hellersdorf", sagt Maria lächelnd zu Christoph und nimmt seine Hand,
"ab in den Wald".

 


 

1 - http://de.wikipedia.org/wiki/Bundesautobahn_100 am 12.06.2013
2 - http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46196338.html am 10.06.2013
3 - http://www.xhain.info/a100.html am 21.06.2013
4 - http://www.tagesspiegel.de/berlin/grossbaustelle-in-berlin-bauarbeiten-am-ostkreuz-verzoegern-sich-bis-2017/8210208.html am 19.06.2013
5 - entlehnt
6 - http://www.wakib.de/index.php?site=konzept am 10.06.2013
7 - http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/43785/Robert-Koch-Institut-Wer-arm-ist-stirbt-frueher am 22.06.2013
8 - gefördert von der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung

Kerstin Janke - Helene

 

Kerstin Janke
Helene

 

12. Februar 1933

Meine liebe Helene!

Bitte verzeih, daß soviel Zeit vergehen mußte, bevor Dich nun mein nächster Brief erreicht. Ich wollte Dich gewiß nicht so lange auf neue Nachrichten von mir und aus Deiner so geliebten Heimat warten lassen. Ich hoffe, nein ich weiß, Du kannst und wirst Nachsicht walten lassen und anstatt mir zu grollen begierig meine in Gedanken an Dich niedergeschriebenen Worte verschlingen.

 

Ach, meine liebe Helene, was ist das nur für eine Zeit, so überaus hektisch, so prätentiös und so arm an menschlicher Wärme und freundlichem Miteinander. Daß Du, mein geliebtes Wesen, nicht hier bei mir sein kannst ist dabei die schlimmste aller Ursachen meiner Verstimmung, jedoch gedenke ich nicht, diesem Umstand allein die Verantwortung dafür aufzubürden. Ich will versuchen zu erklären, was mir die Laus über die Leber treibt.

 

Die Zeiten sind hart, das muß ich Dir, die Du die Lebensumstände hier in Berlin nur allzu gut kennst, nicht sagen. Zwar gelingt es mir nach wie vor all monatlich das Mietgeld für unsere kleine Bleibe zusammenzubringen. Doch wahrlich, wie lange wird das noch gehen? Zwar sitze ich noch immer täglich ab den frühen Morgenstunden auf meinem Bock, gut gepflegt die Kutsche und wohl gestriegelt die Pferde, in Erwartung der Reisenden, die meine Dienste in Anspruch nehmen möchten, um bequem und sauber an ihr Ziel zu gelangen. Doch welch Ärger, es gibt ihrer immer weniger! Es sind nicht die anderen Pferdekutscher, die mir das Leben erschweren, im Gegenteil, auch ihre Zahl hat in den letzten Monaten beachtlich abgenommen. Doch was passiert da, warum bleiben die Kunden aus? Beliebt man nicht mehr zu reisen?

 

Nein, die modernen Zeiten selbst sind es, die den Tribut der Traditionen fordern. Haben wir nicht gerade erst die so genannten Goldenen Zwanziger Jahre hinter uns gelassen, in denen sich beinahe jeder für einen Parvenü hielt und plötzlich ein Automobil besitzen mußte? Die Dienste der Droschkenfahrer schienen mit einem Male nicht mehr schicklich für die feine Gesellschaft. Nun, es war ein kurzes Aufflammen neuen Reichtums - stehen doch in der Zwischenzeit nicht wenige der glänzenden Mobile beim Pfandleiher und die Damen und Herren kommen nicht umhin, Stadtbahn und Droschken zu benutzen. Alles schien sich zum Guten zu wenden.

Aber nein, erneut schlagen mir die modernen Zeiten ein Schnippchen. Daß ich mit meinem Fiaker längst ein Exot unter all diesen Motordroschken bin, sei's drum. Doch mir schwante bereits nichts Gutes als vor - wie lange ist es jetzt her, drei oder vier Jahre? — unsere geliebte Stadtbahn eine Geißel des Stromes wurde. "Die große Elektrisierung" — Du erinnerst Dich sicher — brachte monatelanges Durcheinander, Züge hielten nicht oder fielen gar ganz aus, Baudreck, Lärm, genervte Reisende - und viele Kunden für uns Droschkenfahrer. Nun da alles überaus zuverlässig verkehrt, der Strom fließt, der Bahnhof wächst und nunmehr noch zahlreichere Umsteigevarianten bietet, sind wir die Leidtragenden. Denn kaum einer bemüht sich noch in die Droschke, reist er doch mit der Stadtbahn nun schneller, kommt gut selbst zu entlegenen Stadtteilen und entrichtet dafür nur wenige Groschen. Und daß allerorten schon wieder vermehrt Automobile zu sehen - und vor allem zu hören - sind, davon mag ich gar nicht reden.

 

Und als wäre all dies nicht schon genug der Schmach über uns, die wir um und von unserem Bahnhof Stralau-Rummelsburg leben, Helene, Du wirst es nicht glauben, doch es ist wahr: Unser geliebter Bahnhof, Ort der traurigen Abschiede und freudigen Wiedersehen, wird alsbald einen neuen Namen tragen. 'Ostkreuz' wird er fortan heißen. Das Pendant zum 'Westkreuz' soll er bilden und dem Reisenden die Orientierung in der wachsenden Stadt erleichtern.

Wie findest Du den Namen, meine geliebte Helene? Ich gebe zu, ich bin noch wankelmütig zwischen Fürsprache und Mißgunst. 'Gewöhnlich' war der erste Gedanke, der sich mir aufdrängte, als ich vor einigen Wochen von der Umwidmung im Tageblatt las. Auch die durchaus einleuchtende Begründung befriedete mich zunächst nicht. Solls mir doch gleich sein, daß das Westkreuz sich als solches - wie nannten sie es noch - 'sich bereits etabliert' habe und der Name 'Ostkreuz' für diese 'der Provinz entwachsenen Haltestation nur folgerichtig' sei. 'Schönes, neues Ostkreuz' titelte die von Umbauten und Fortschritt begeisterte Presse.

Wenn Du meine ehrliche Meinung willst: Genau wie Stadtbahnen, die der Strom antreibt, kommt mir auch dieses Gerede recht abgehoben vor. Ich komme nicht umhin zu glauben, die Zeit überhole mich, ich könne nicht mehr standhalten mit dem Tempo um mich herum. Vielleicht gehört der 'Bahnhof Stralau-Rummelsburg' ja tatsächlich in langsam vergehende Zeiten? Möglicherweise gebietet das moderne Leben in der Tat eine Abkehr von Tradition und ländlichem Idyll - mag man es mit spitzer Zunge meinetwegen 'Provinz' nennen. Vermutlich ist das 'Ostkreuz' nun eben keine Stadtbahn-Haltestation mehr sondern vielmehr Kreuzungspunkt vielerlei Wege, Begegnungspunkt aus zahlreichen Richtungen Kommender und Umsteigebahnhof für täglich Pendelnde. Denkbar, daß dieses sich in unserem Berlin ausbreitende, weltmännische Gefühl jegliche Provinzialität abstreifen muß, um der neuen Hektik die Stirn zu bieten. Ich weiß es nicht. Genauso wie mir die moderne Sprechweise 'S-Bahn' nur schwer über die Lippen kommt, werde ich wohl noch ein wenig Mühe haben, mich an das 'schöne neue Ostkreuz' zu gewöhnen. Allein es bleibt mir wohl keine Wahl.

Doch was rede ich allzu viel von mir, meine liebe Helene. Wie ergeht es Dir und kannst Du Fortschritte bei Deinen Studien verzeichnen? Klagtest Du doch erst unlängst über den zweifelhaften lebenspraktischen Wert Deiner Arbeiten und darüber, daß der Herr Professor noch immer daran zweifelte, ob eine Frau zur Erbringung wissenschaftlicher Ergebnisse fähig sei. Ich wünschte, ich könnte Dir mehr beistehen in dieser aufregenden Zeit. Ich wünschte, Du wärst hier, bei mir, Deine Nähe fehlt mir inmitten dieses fröstelnden Februars.

 

Zum Ende möchte ich Dir noch von einer Überraschung berichten, die ich mir für Dich, die Liebe meines Lebens, habe einfallen lassen. Ich kann einfach nicht an mich halten und mich noch weniger gedulden, bis Du es mit eigenen Augen siehst: Fühlte ich mich in den letzten Wochen besonders einsam, setzte ich mich manchmal auf die alte Bank am Ende des Bahnsteigs A. Ich kann spüren, wie ein Lächeln über Dein anmutiges Gesicht huscht, weil Du Dich daran erinnerst, wie wir uns hier zum ersten Mal trafen. Und wie wir später beinahe wöchentlich saßen und redeten, philosophierten und träumten. Alt war sie geworden, unsere Bank, unsere Pritsche mit Blick in die Welt, unser hölzerner Pausen-Sitz gebaut aus allerlei Gedanken. Ich wußte, der Bahnsteig A soll vollends erneuert werden und fürchtete zu Recht, diese unsere Bank würde ein Opfer der Moderne werden. So ließ ich mich beinahe täglich hier nieder, so als könne ich damit die Bauarbeiten oder gar den gesamten Lauf der Zeit aufhalten. Es wird Dich nicht überraschen zu hören, daß dies ein aussichtsloses Unterfangen war. Als ich eines Tages auf den Bahnsteig wollte, war er abgesperrt, die entscheidende Phase der Modernisierungsarbeiten war nun eingeleitet worden und... unsere Bank war weg. Gleich einem wertlosem Stück Müll lag sie etwas abseits nebst zahlreichem Schutt auf einem Berg ansehnlicher Größe. Du kannst Dir meine Enttäuschung wohl vorstellen. Hier war nicht nur irgendein altes Sitzmöbel achtlos entsorgt worden, hier ging es um Erinnerungen und Träume, hier ging es um nichts Geringeres als die Liebe.

Meine Enttäuschung wandelte sich rasch in Wut. Einige Tage und - ich traue es mir kaum zu sagen - Nächte schlich ich erbost um die Baustelle, ich weiß nicht mehr recht mit welchem Ziel. Ob ich tatsächlich glaubte, ich könne unsere Bank irgendwie aus ihrer mißlichen Lage befreien und entwenden? Möglich wäre es; und es ist mir im Nachhinein etwas peinlich. Aber mir kam indes eine bessere Idee.

Es war nicht eben einfach den zuständigen Sachbearbeiter der Deutschen Reichsbahn ausfindig zu machen und es kostete mich meinen ganzen Charme mich an den verschiedenen mehr oder minder galanten Vorzimmerdamen vorbei zu lavieren, um schließlich in einem bequemen Sessel vor Herrn Kanopkes riesigem Schreibtisch Platz genommen zu haben. Herr Kanopke ist Leiter der Rummelsburger Eisenbahnbetriebe und als solcher zuständig für die - wie er es nennt - 'bauliche Aufwertung der ehemaligen Haltestation Stralau Rummelsburg'. Wir empfanden rasch einige Sympathie zu einander und das obwohl er mir einigermaßen stolz berichtete, daß sich mit der Umbenennung des Bahnhofs in 'Ostkreuz' wohl die beste, nämlich seine, Idee durchgesetzt habe. Für mein Vorhaben war ich bereit, darüber hinweg zu sehen, eine Mission in Sachen Liebe verlangt eben manchmal seelische Opfer.

 

Nun, meine liebe Helene, ich will Dich nicht länger der Neugier anheim geben. Fortan ziert eine neue Bank den inzwischen beinahe fertig gestellten Bahnsteig A. Zwar ist sie nicht annährend so anmutig wie die alte und noch hat sie nichts zu erzählen vom Leben - das wird wachsen, da bin ich sicher - aber dank Dir ist diese neue schon jetzt etwas Besonders. Ein kleines, feines Blechschild schmückt die Anlehne, 'Für meine geliebte Helene' steht darauf. Ist das nicht wundervoll? Ich konnte einfach nicht anders, als diesen für mich, für uns, so wichtigen Ort der Erinnerung als solches zu erhalten.

Aber nein, mach Dir keine Gedanken wegen der finanziellen Aufwendungen für diesen Liebesbeweis. Bahnbereichsleiter Kanopke war gerührt von unserer Geschichte, leitete höchst selbst alles Nötige in die Wege und verlangt als Dankeschön nicht mehr als daß ich ihn allmorgendlich vom Bahnhof trockenen und sauberen Fußes in sein Büro kutschiere. Nun, das ist es mir allemal wert. Und daß nun Hitler die politischen Zügel in den Händen hält, gereicht dem Herrn Bahnbereichsleiter Kanopke nicht eben zum Nachteil: Ist er doch fortan Bezirksbetriebsleiter von Lichtenberg. Welch ein Aufstieg für diesen kleinen Mann, der sich durchzusetzen weiß. Vielleicht vermag ja selbst ich eine Nützlichkeit daraus zu ziehen. Reist solch ein angesehener Herr mit der Pferdedroschke, werden es möglicherweise auch bald wieder mehr andere geschätzte Damen und Herren tun. So wäscht eine Hand die andere, resümierte Herr Kanopke unlängst, bequem und kostenfrei in meiner Droschke reisend. Und glaub mir, er weiß wovon er spricht, seine Hände sind sehr gepflegt.

 

Geliebte Helene, ich hoffe unsere neue Bank wird ebenso ein Ort des Innehaltens, des Rastens und des sich Besinnens, wie es die alte war. Vielleicht vermag diese neue Sitzgelegenheit unsere Geschichte ja sogar fortzuschreiben, in dem sie kein Refugium der Heimlichkeit sondern ein Hort der Offenheit und Ehrlichkeit wird. Kaum kann ich es abwarten sie Dir zu zeigen, mich mit Dir niederzulassen und dabei Deine Hand zu halten.

Ich hoffe so sehr, schon bald Nachricht von Dir zu erhalten, daß Dein törichter Ehemann erneut einen längeren Auslandaufenthalt plant und Du frei bist, um hierher nach Berlin, hierher zu mir zu reisen. Ich vermisse Dich so sehr und ertrage den Gedanken nur schwer, daß er mehr Zeit mit Dir verbringt als ich. Aber Du weißt, ich werde mich unter allen Umständen an unsere Abmachung halten. Denn wie unser gemeinsames Leben auch aussehen mag, das Wichtigste für mich ist, daß Du die Hauptrolle spielst. Und das tust Du, solange wir einander lieben.

In ewiger Liebe, Dein Herbert

Birgit Wilms - Der alte Mann und das Gleis

 

Birgit Wilms
Der alte Mann und das Gleis

 

Langsam und zittrig, Schritt für Schritt
Er sich durch die Menschenmenge schiebt
Die Luft am Morgen nach Herbst schon riecht
Sein suchender Blick übers Ostkreuz schweift,
Seine Hand ängstlich nach dem Geländer greift.
Doch das alte Gleis mit der kleinen Bank, war nicht mehr
Und beim Gedanken daran, ward das Herz ihm ganz schwer.

Von Ferne konnte er ihr rotes Haar schon sehen
Ihre langen Locken wild im Winde wehen
Wie sehr er diesen Moment schon seit dem Morgen ersehnte
Und nun sein Herz sich im größten Glücke wähnte.
Doch das alte Gleis mit der kleinen Bank, war nicht mehr
Und beim Gedanken daran, wurde sein Blick ganz leer.

Ihr lautes Lachen durch seine Erinnerung noch hallte
Ihre liebliche Stimme noch immer in seinen Ohren und
Über das menschenvolle Gleis schallte
Wie sehr er sie vermisste, wie sehr ihm ihre Nähe fehlte
Dieser eine Moment im Leben nur zählte.
Doch das alte Gleis mit der kleinen Bank, war nicht mehr
Und beim Gedanken daran, versanken seine Augen in einem Tränenmeer.

Immer wieder, Tag für Tag kam er hier her,
Denn er hatte Niemanden mehr
Sein Leben war schon gelebt und im Grunde bereits vorbei
Einzig die Erinnerung ihn täglich trieb,
Für sie allein, er am Leben blieb.
Doch das alte Gleis mit der kleinen Bank, irgendwann in seiner Erinnerung versank.
Ihre Liebe jedoch nie vergeht und in seinem Herzen weiterlebt.

Sonja Meggers - Annabel

 

Sonja Meggers
Annabel

 

Ihr Mund war so trocken, dass sie ihren Finger zu Hilfe nehmen musste, um die kleine bunte Kapsel aus ihrer Backentasche zu befreien. Sie spuckte sie in die Toilettenschüssel und schickte sie mit einem Fingerdruck auf die Reise durch die Kanalisation. Dann nahm sie wie jeden Morgen ihre Haarbürste und kämmte sich hingebungsvoll das lange braune Haar, bevor sie es zu einem strengen Zopf zusammenband. Sie putzte sich ihre Zähne, wusch sich das Gesicht und legte ein klein bisschen Rouge auf. Mehr war es damals nicht gewesen und so beließ sie es auch heute dabei.

Fast andächtig nahm sie das blaue Kleid vom Bügel und streifte es über ihren Kopf. Sanft glitt der weiche Stoff an ihr herunter und sie liebte das Gefühl, wenn der Saum ihre Waden berührte. Das leichte Sommerkleid war dunkelblau mit zahllosen kleinen Margeriten und an der Taille mit einem zarten Band gebunden. Es betonte ihre schmale Silhouette und selbst wenn sie eine Wahl gehabt hätte, sie hätte sich wohl für eben dieses Kleid entschieden. An diesem Tag musste es dieses Kleid sein, dass war ihr klar, sonst könnte sie ES nicht ändern.

Mit einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel verließ sie das Badezimmer und ging in ihr Schlafzimmer. Dort schloss sie das Fenster und blickte kurz auf die weißen Schneeflocken, die auf dem dunklen Holz des Fensterbrettes lagen. Wie kleine Gefangene lagen sie dort. Kamen aus einer freien Welt und wurden vom Wind an diesen Ort geweht, an dem sie ein jähes Ende finden sollten. Für einen Moment wurde sie traurig. Das Schicksal hatte es nicht gut mit ihnen gemeint. Oder vielleicht doch? Sie waren ohnehin dazu verurteilt, sich in Wasser aufzulösen. Wer war sie darüber zu urteilen, ob es gut oder schlecht ist, dass sie es an diesem kalten Januarmorgen auf ihrem Fensterbrett taten. Sie zwang sich dazu, die Gedanken an die Schneeflocken abzuschütteln denn schließlich hatte sie heute etwas Wichtiges vor und so setzte sie sich in ihren Sessel und machte sich auf den Weg zum Ostkreuz.

Wie an jedem Tag umwehte sie die kühle Luft auf der alten Treppe zum Ringbahnsteig. Aus dem Sonnenschein kommend brauchten ihre Augen eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Der Urin unzähliger nächtlicher Trunkenbolde vermischte sich mit der Feuchtigkeit des schimmelnden Mauerwerks zu einem atemraubenden Gestank. Immer wieder wunderte sie sich, wie dieser Mief es schaffte, den alten Aufgang auch bei diesen sommerlichen Temperaturen so kühl zu halten. So schnell es eben in den schmalen Sandalen ging, erklomm sie die alten krummen Stufen und atmete erst wieder ein, als sie die letzte Stufe hinter sich gelassen hatte.

Sofort fiel ihr Blick auf Ihn. Sie brauchte ihn nicht suchen, sie wusste genau, wo er stand. Wie an jedem Tag war sie gebannt von seiner Ausstrahlung. Sein kurzes dunkelblondes Haar stand in alle Himmelsrichtungen von seinem Kopf ab. Das olivgrüne T-Shirt betonte seine athletische Figur und die dunkelbraune Hose, die direkt unterhalb des Knies endete, gab den Blick auf seine sportlichen, sonnengebräunten Waden frei.

Sie hatte sich in ihn verliebt. Gleich beim ersten Blick. Wann immer ihr jemand etwas von der "Liebe auf den ersten Blick" erzählt hatte, hatte sie nur gelacht und gesagt, dass es so etwas doch nur im Film gäbe. Nun aber war es um sie geschehen und sie musste einige Teile ihrer Weltsicht neu ordnen.

Sekundenlang ruhte ihr Blick auf ihm. Er sah so unbeschreiblich traurig aus und sie fragte sich, was wohl in seinem Kopf vorginge. Ob er vielleicht gerade jemanden verloren habe, der ihm viel bedeutete. Möglicherweise wurden alle die Pläne, die er hatte vom Schicksal durchkreuzt. Tag für Tag zermarterte sie sich den Kopf was es wohl sein könnte. Gut möglich, dass er nicht mehr so traurig aussehen würde, wenn sie ihr Leben gemeinsam verbrächten. Sie malte sich aus, wie viel schöner er sein müsste, wenn er lächelte. Ob er kleine Grübchen haben würde? Oder vielleicht auch kleine Fältchen um seine wunderschönen blauen Augen bekäme? Sie dachte darüber nach, worüber sie lachen würden, an welche Orte sie gemeinsam gehen könnten und wie eine gemeinsame Zukunft aussehen könnte. Nie zuvor hatte sie solche Gedanken in Bezug auf einen Menschen gehabt. Nie hatte sie geglaubt, dass sie sich vorstellen könnte, jemandem ganz nahe zu sein. Es waren nur wenige Sekunden, allenfalls eine Minute, in der ihr all diese Gedanken durch den Kopf gingen, doch sie veränderten alles. Damals, da hatte sich schon einmal alles verändert. Das war als ihr Vater starb. Sie hatte geglaubt, nie wieder jemanden an sich heranlassen zu können. Doch jetzt stand da dieser Mann und sie wusste, dass er der Einzige war, mit dem sie zusammen in ein neues Leben gehen könnte. Und allein aus diesem Grund musste sie ihn ansprechen. Sie musste ES ändern, damit sich alles ändern konnte, damit sie sich ändern konnte.

Tausend Mal ist sie gedanklich durchgegangen, wie sie es anstellen könnte. Wie sie ihn auf sich aufmerksam machen, vielleicht sogar ein Gespräch beginnen könnte. Das würde alles ändern und alles würde gut werden.

Anfangs hatte sie den anderen noch von ihm erzählt. Von der Situation am Bahnhof und von ihren Gefühlen. Sie hatte ihnen alles beschrieben, in jeder Einzelheit.

Sie liebte den morbiden Charme dieses Bahnhofs, der noch nicht diesem ganzen Modernisierungswahnsinn zum Opfer gefallen war, der seit der Wende unaufhaltsam um sich griff. Die gemauerten Bögen über den kühlen Treppenaufgängen, das offene Dach, dass im Sommer den warmen Wind um ihre Bein spielen ließ. Es hatte so etwas beständiges. Als sei es für die Ewigkeit gemacht. So wie ihre Liebe zu ihm...

Aber irgendwann hatte sie aufgehört, von ihren Ausflügen zu erzählen. Immer wieder kamen dumme Kommentare, dass es dort doch gar nicht mehr so aussehen würde, wie sie es beschriebe, aber sie war doch jeden Tag da, sie wusste alles ganz genau, kannte jedes noch so kleine Detail und keiner konnte ihr sagen, was sie anders machen könnte, um die Dinge zu ändern.

Dankbar hatte sie einmal das Angebot von Dr. Sterzer angenommen, gemeinsam zum Ostkreuz zu fahren, aber er brachte sie zu einem völlig anderen Bahnhof und wollte ihr weißmachen, dass es sich bei dieser futuristischen Großbaustelle um das Ostkreuz handle. Über eine kaum benutzte Rolltreppe fuhren sie dann auf den Bahnsteig, der von einem geschlossenen Monstrum als Metall und Glas überdacht wurde. Kein Lüftchen regte sich und natürlich war auch ER nicht da. Dr. Sterzer erzählte noch irgendwelchen Mist, dem sie gar nicht mehr zuhörte und sich unterdessen schwor, nie wieder jemandem von ihren Ausflügen zu erzählen. Es konnte ihr ohnehin niemand helfen. Das hier musste sie alleine schaffen.

Und so ging sie jeden Tag aufs Neue ihren Weg. Doch jedes Mal, wenn sie am Bahnsteig stand, konnte sie sich nicht bewegen. Sie konnte nicht auf ihn zugehen. Wie gelähmt stand sie jeden Tag am gleichen Fleck und starrte bewegungslos in seine Richtung. Sie wollte zu ihm gehen. Wirklich. Doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie wollte nach ihm rufen, doch all ihre Rufe blieben stumm. Jeden Tag hoffte sie auf eine Verspätung der Bahn. Irgendetwas, das anders wäre, damit ES anders würde. Aber nie passierte etwas und so kam sie Tag für Tag her, um ES selbst zu ändern.

Plötzlich ertönte das Knistern der Lautsprecher. Sie würde nur noch wenige Sekunden haben, dass wusste sie ganz genau. Innerlich schrie alles in ihr und sie versuchte aus Leibeskräften, sich zu bewegen. Doch dann ertönte die Durchsage. Die einzelnen Worte verschwammen zu einem grotesken Brei und sie wusste, dass es zu spät war. Sie hörte, wie sich der Zug näherte und sie sah wie er seine Schritte nach vorne tat. Jeden Tag aufs Neue. Und an jedem Tag hoffte sie, er würde es sich anders überlegen oder sie könnte vielleicht doch etwas sagen. Etwas rufen. Irgendetwas tun, was ihn davon abhielt, diesen einen Schritt zu machen. Doch an jedem Tag tat er diesen Schritt. Sie schloss die Augen und hörte nur, wie die Bahn seinen Körper traf. Und dann hörte sie sich schreien. Dann endlich konnte sie schreien. Aber es war zu spät. Und wie an jedem Tag um 8 Uhr 47 kam ein Pfleger. An jedem Tag wird sie dann auf die Liege in ihrem Zimmer geschnallt, bekommt diese beschissene Spritze und ist dazu verdammt, eine gefühlte Ewigkeit dort liegen und aus dem vergitterten Fenster schauen zu müssen. Aber vielleicht schafft sie es morgen, etwas zu ihm zu sagen. Und dann wird alles anders....