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Buch 2011 Tod am Ostkreuz kl

Zu diesem Buch

 

Von kaum einem anderen Verb des Deutschen gibt es so viele stilistische Varianten wie von 'sterben'; sie reichen von drastischer vulgärer Grobheit bis zu einem eher verhehlenden, hingehauchten Euphemismus. Es gab Zeiten, in denen man sogar das relativ neutrale 'sterben' oder 'tot sein' vermied. Heute ist das nicht mehr so. In den Nachrichtenmedien klingt die Mitteilung über den Tod eines prominenten Zeitgenossen ungefähr so: "Der Dichter Vernon Briggs ist tot. Er starb am vergangenen Dienstag, neunzigjährig, an Herzversagen." Der sachliche Ton einer solchen Nachricht bedeutet aber nicht, dass wir zum Tod und zum Sterben ein lapidares, rationales Verhältnis gefunden hätten. Sie ist nur eine andere Strategie, um mit dem Unfassbaren umzugehen.

Wenn in der Literatur der Tod thematisiert wird, geschieht das zumeist auf eine vermittelte Weise. Der Vorgang des Sterbens wird beschrieben oder das Leid und die Trauer der Hinterbliebenen. In der klassischen Tragödie markiert der Tod des Helden die Zuspitzung aller Konflikte in einem dramatischen Höhepunkt — die Geschichte des Helden nimmt ihre schlimmstmögliche Wendung. Oder der Tod tritt — wie auch in einigen Geschichten dieses Bandes — personifiziert, als allegorische Gestalt auf, ausgestattet mit den seit der Antike bekannten Accessoires: der Sense und dem schlotternden schwarzen Gewand, das die Gestalt, die mitunter nur ein Skelett ist, dezent zu verhüllen vorgibt. Visuell stilgebend und oft zitiert und kopiert: Der Tod in Ingmar Bergmans "Das siebente Siegel" von 1957.  

Die Darstellung des Memento mori hat in der bildenden Kunst eine ganz eigene Ikonografie von Signaturen und Topoi hervorgebracht: das Stundenglas oder andere Zeitmesser, ein Schädel, ein Schachbrett, ein umgestürztes Weinglas, herunterbrennende Kerzen, verwelkte Blumen...  

In Hugo von Hofmannsthals "Jedermann" (1911) erscheint der Tod als Büttel Gottes, der den so sehr am Irdischen (das heißt für den Herrn Jedermann vor allem an seinem Geld) hängenden Menschen wieder an die göttliche Allmacht erinnern soll.

Die für mich wohl eindrücklichsten Zeilen zum Thema finden sich am Ende von Rainer Maria Rilkes "Buch der Bilder" (1902): "Der Tod ist groß. / Wir sind die Seinen / lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen, / wagt er zu weinen / mitten in uns."

"Alles wird lächerlich, wenn man an den Tod denkt", heißt es bei Thomas Bernhard. Und wenn man den speziellen Bernhardschen Humor zu genießen weiß, ist einem klar, dass der Tod in das Lächerliche einbezogen ist. Das Lachen ist eine zutiefst menschliche Fähigkeit. Wenn der Tod unausweichlich ist, kann über ihn auch gelacht werden. Dieser, zugegeben, immer noch etwas anrüchigen, unschicklichen, für manche geradezu blasphemischen Logik zu folgen, hat auch eine lange Tradition. Der Jolly Roger, die schwarze Flagge auf Piratenschiffen, zeigt einen grinsenden Totenkopf.

Seit der Neuzeit glauben wir nicht mehr daran, dass alles menschliche Streben eitel und vergeblich ist und unser "irdisches Dasein" nur ein Zwischenstadium. Die Jenseitsverheißungen der Religionen haben einiges an Glanz verloren. Aber das macht es nicht leichter. Der innermenschliche Konflikt zwischen Demut und trotzigem Selbstbewusstsein geht in die nächste Runde.

So oft wir auch zu hören bekommen, dass der Tod zum Leben gehöre, und so richtig das auch sein mag, es hilft nichts, der Tod wird immer das Unfassbare, das schlichtweg Unangemessene sein. Das macht ihn für die Literatur, die Kunst, inkommensurabel und zu einer nie versiegenden Quelle der Inspiration.

Für die meisten von uns steht fest: über den Tod können nur Lebende nachdenken. Und schreiben. Wer liest, kann nicht tot sein. Ich lese, also bin ich.

Lesen wir.

 

Rainer Fischer Berlin, im Oktober 2011

Buch 2011 Tod am Ostkreuz kl

Zu diesem Buch

 

Von kaum einem anderen Verb des Deutschen gibt es so viele stilistische Varianten wie von 'sterben'; sie reichen von drastischer vulgärer Grobheit bis zu einem eher verhehlenden, hingehauchten Euphemismus. Es gab Zeiten, in denen man sogar das relativ neutrale 'sterben' oder 'tot sein' vermied. Heute ist das nicht mehr so. In den Nachrichtenmedien klingt die Mitteilung über den Tod eines prominenten Zeitgenossen ungefähr so: "Der Dichter Vernon Briggs ist tot. Er starb am vergangenen Dienstag, neunzigjährig, an Herzversagen." Der sachliche Ton einer solchen Nachricht bedeutet aber nicht, dass wir zum Tod und zum Sterben ein lapidares, rationales Verhältnis gefunden hätten. Sie ist nur eine andere Strategie, um mit dem Unfassbaren umzugehen.

Wenn in der Literatur der Tod thematisiert wird, geschieht das zumeist auf eine vermittelte Weise. Der Vorgang des Sterbens wird beschrieben oder das Leid und die Trauer der Hinterbliebenen. In der klassischen Tragödie markiert der Tod des Helden die Zuspitzung aller Konflikte in einem dramatischen Höhepunkt — die Geschichte des Helden nimmt ihre schlimmstmögliche Wendung. Oder der Tod tritt — wie auch in einigen Geschichten dieses Bandes — personifiziert, als allegorische Gestalt auf, ausgestattet mit den seit der Antike bekannten Accessoires: der Sense und dem schlotternden schwarzen Gewand, das die Gestalt, die mitunter nur ein Skelett ist, dezent zu verhüllen vorgibt. Visuell stilgebend und oft zitiert und kopiert: Der Tod in Ingmar Bergmans "Das siebente Siegel" von 1957.  

Die Darstellung des Memento mori hat in der bildenden Kunst eine ganz eigene Ikonografie von Signaturen und Topoi hervorgebracht: das Stundenglas oder andere Zeitmesser, ein Schädel, ein Schachbrett, ein umgestürztes Weinglas, herunterbrennende Kerzen, verwelkte Blumen...  

In Hugo von Hofmannsthals "Jedermann" (1911) erscheint der Tod als Büttel Gottes, der den so sehr am Irdischen (das heißt für den Herrn Jedermann vor allem an seinem Geld) hängenden Menschen wieder an die göttliche Allmacht erinnern soll.

Die für mich wohl eindrücklichsten Zeilen zum Thema finden sich am Ende von Rainer Maria Rilkes "Buch der Bilder" (1902): "Der Tod ist groß. / Wir sind die Seinen / lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen, / wagt er zu weinen / mitten in uns."

"Alles wird lächerlich, wenn man an den Tod denkt", heißt es bei Thomas Bernhard. Und wenn man den speziellen Bernhardschen Humor zu genießen weiß, ist einem klar, dass der Tod in das Lächerliche einbezogen ist. Das Lachen ist eine zutiefst menschliche Fähigkeit. Wenn der Tod unausweichlich ist, kann über ihn auch gelacht werden. Dieser, zugegeben, immer noch etwas anrüchigen, unschicklichen, für manche geradezu blasphemischen Logik zu folgen, hat auch eine lange Tradition. Der Jolly Roger, die schwarze Flagge auf Piratenschiffen, zeigt einen grinsenden Totenkopf.

Seit der Neuzeit glauben wir nicht mehr daran, dass alles menschliche Streben eitel und vergeblich ist und unser "irdisches Dasein" nur ein Zwischenstadium. Die Jenseitsverheißungen der Religionen haben einiges an Glanz verloren. Aber das macht es nicht leichter. Der innermenschliche Konflikt zwischen Demut und trotzigem Selbstbewusstsein geht in die nächste Runde.

So oft wir auch zu hören bekommen, dass der Tod zum Leben gehöre, und so richtig das auch sein mag, es hilft nichts, der Tod wird immer das Unfassbare, das schlichtweg Unangemessene sein. Das macht ihn für die Literatur, die Kunst, inkommensurabel und zu einer nie versiegenden Quelle der Inspiration.

Für die meisten von uns steht fest: über den Tod können nur Lebende nachdenken. Und schreiben. Wer liest, kann nicht tot sein. Ich lese, also bin ich.

Lesen wir.

 

Rainer Fischer Berlin, im Oktober 2011

Alles Zufall

 

Inka Engmann
Alles Zufall

 

Der alte Penner Karl sitzt auf der Bank am Rand des Parks an der Sonntagstraße und guckt den Leuten zu, die vom Ostkreuz in die Straßen und in die Kneipen strömen. Er hat eine Schnapsflasche in der Hand und ein Grinsen im Gesicht. Ja, der Tag heute war gut, einen Beutel Tabak und sogar zwei Flaschen Schnaps hat Karl sich kaufen können. Der Sommerabend ist mild, die Mädchen sind bunt und luftig gekleidet und laufen erwartungsvoll in die Nacht — so lässt es sich leben!

Vom Ostkreuz kommt ein langer, hagerer Mann mit einem Zylinder auf dem Kopf und einem schwarzen Mantel, der um seinen Körper herumschlottert. Der Mann geht zu Karl und setzt sich neben ihn auf die Bank. "Guten Abend", sagt er höflich, fast feierlich.

Karl glotzt ihn an. Er blickt in zwei kleine funkelnde Augen, die tief in den Höhlen liegen und von dunklen Schatten umgeben sind. Das Gesicht des Fremden ist schmal und sehr bleich, der Mund fast lippenlos. "Meine Fresse, siehst du Scheiße aus!", sagt Karl, "hier trink'n Schluck, denn jeht's dir besser!" Und er reicht dem Mann seine Schnapsflasche. Der nimmt einen tiefen Zug. "Wat willst'n überhaupt, woher weeßte denn, wer ick bin?", fragt Karl. Der Fremde sieht ihm bedeutsam in die Augen und spricht: "Ich bin der Tod und ich bin gekommen, um dich zu holen, Karl!" "Ach du Scheiße!", ruft der, "jib mal schnell die Pulle wieder her, du hast ja janz schön een sitzen!" Er reißt die Flasche an sich und trinkt einen Schluck.

Der Mann, der behauptet, der Tod zu sein, sieht Karl erwartungsvoll an. Eine Weile sitzen sie so schweigend, dann sagt Karl: "Wenn du der Tod bist, warum holst'n mich denn ausjerechnet heute? Ick mein', wo ick jrade heute mal jute Laune habe!"

"Alles Zufall!", spricht der Fremde. "Nun komm, wir wollen gehen!"

"Man sachte!", sagt Karl, "jetzt roochen wa erstmal eene!" Und er hält dem Mann seinen Tabaksbeutel hin. Der nimmt ihn und dreht sich eine Zigarette. "Überhaupt", ruft Karl fröhlich, "is' doch eh alles Zufall, haste gesagt! Also trinken wa erstmal een, ick hab nämlich noch 'ne Pulle! Und wenn wa denn noch loofen könn', seh'n wa weiter." Er prostet dem Mann zu und nimmt einen ordentlichen Schluck.

"Du hast wohl gar keine Angst, mit mir zu gehen?", fragt der Fremde.

"Ach, ob wir nu hier rumhängen oder woanders, det is' ja woll scheißegal!", lacht Karl.

Der Mann dagegen blickt finster. "Du scheinst nicht glauben zu wollen, dass ich der Tod bin", mutmaßt er. Aber Karl klopft ihm beruhigend auf die Schulter: "Klar gloob ick dir, Alter. Aber ick würde det nich allen so erzähl'n, die sind janz schnell dabei und stecken dir inne Klapse!"

Der Mann blickt darauf noch finsterer, aber das bekommt Karl gar nicht mit — er nuckelt an seiner Zigarette und betrachtet wohlgefällig eine Gruppe junger Mädchen, die gerade vorbeigeht.

"Weißt du was, Karl?", sinniert der Fremde, "ich denke, ich hole dich heute doch noch nicht."

"Wat?"

"Siehst du den jungen Burschen dort? Den in der blauen Jacke?" Er zeigt auf ein paar junge Leute, die um einen Tisch vor einer der Kneipen sitzen, darunter der blau gekleidete junge Mann. "Den werde ich statt deiner heute holen. Und nun auf Wiedersehen, Karl!" Damit geht der Mann, der behauptet, der Tod zu sein, langsamen Schrittes Richtung Ostkreuz davon.

Jetzt ist es Karl, der finster blickt. "Verpiss dich doch, du Penner!", brüllt er. "Säufst mir den janzen Schnaps weg und laberst nur Scheiße!" Er trinkt und guckt wieder auf das Straßengeschehen. In seinem Blickfeld sitzt der junge Mann mit der blauen Jacke, gerade stößt er mit seinem Kumpel an und lacht ausgelassen. "So'n Penner!", knurrt Karl kopfschüttelnd.

Vom Ostkreuz her sind laute Stimmen zu vernehmen, die falsch und fröhlich irgendein Lied grölen. Gleich darauf taucht eine Horde Männer auf, so ganz gerade laufen die nicht mehr. Sie torkeln über die Straße und sind jetzt in Höhe der Kneipe, wo der Mann mit der blauen Jacke sitzt. Das Gegröle wird lauter, es klingt nun nicht mehr fröhlich. Karl duckt sich in seine Bank, er kann die steigende Aggressivität beinahe körperlich spüren. Die Gesten der Männer werden bedrohlich. "Jetzt knallt's gleich", murmelt Karl. Und dann kracht es. Und wie. Und ganz schnell geht alles. Statt Gegröle sind jetzt Schreie zu hören. Und plötzlich rennen sie alle, bis auf einen, der liegt am Boden und hat eine blaue Jacke an. Karl reißt die Augen auf und springt auf. Aber schon stehen und hocken und knien ganz viele Menschen um den Mann in der blauen Jacke und versperren den Blick auf ihn. Sie gestikulieren und diskutieren, einer schreit in sein Handy. Karl setzt sich wieder hin und trinkt einen Schluck. Wenige Minuten vergehen, dann kommt ein Rettungswagen angebraust, dicht gefolgt von der Polizei. Jetzt knien die Männer aus dem Rettungswagen über dem Mann mit der blauen Jacke, während die Polizisten die Schaulustigen verdrängen und mit der Zeugenvernehmung beginnen. Die Männer aus dem Rettungswagen stehen bald auf und machen resignierte Handbewegungen. Karl kann den Mann in der blauen Jacke wieder sehen, aber er ist jetzt mit einem weißen Tuch zugedeckt. Gerade hält noch ein Auto, ein dunkles. Zwei Männer mit einem Blechsarg kommen, heben den Mann in der blauen Jacke in den Sarg hinein, legen den blechernen Deckel über ihn und tragen ihn in das dunkle Auto.

Karl atmet lange und pustend aus. Dann hebt er die Schnapsflasche Richtung Ostkreuz, wohin der Mann, der behauptet hatte, der Tod zu sein, verschwunden war. "Allet Zufall!", brummt Karl und trinkt einen Schluck.

Kreuz des Ostens

 

Jan-Mike Singer
Das Kreuz des Ostens

 

Hastig stürmte ich an der unablässig herausquellenden Menschenmenge vorbei. Viel Rücksicht konnte ich dabei auf die vielen Passanten nicht nehmen. Leider. Denn ich hatte keine Zeit. War zu spät. Viel. Alles drängte. In dreizehn Minuten musste ich in Lichtenberg am Bahnhof sein, sonst würde ich meinen Zug verpassen. Der wohlverdiente Osterurlaub begänne dann unschön. Das wollte ich nicht. Schließlich wurde es langsam Zeit, dass ich mir ein wenig Erholung gönnte. Dies nun gleich mit Maria. Endlich. Ich freute mich jetzt schon unbändig, wenn ich nur daran dachte. Auch wenn alles ein wenig knapp kalkuliert war. Wie immer hatte ich alles auf die letzte Minute gelegt und jetzt die Bescherung. Das kurz vor Ostern. Mein Telefon war auch tot. Maria konnte ich nicht anrufen und über mögliche Verspätungen informieren. Allein Hoffen blieb mir. Schließlich wurde ich früher in der Schule zum historischen Optimisten erzogen. Wenn auch nicht viel von damals übrig geblieben war, das hat überdauert. Würde schon schiefgehen. Von Ostkreuz nach Lichtenberg braucht man mit der S-Bahn vier Minuten. Mindestens. Wenn sie kam. Wenn.

Kopfüber stürzte ich die abgenutzten Stufen herunter. Am Geruch vorbei. Bloß zur S-Bahn. Jetzt. Unglücklicherweise war mein atemloses Rennen vergeblich gewesen. Und umsonst. Kein Zug. Nirgends. Weder hier noch da. Am Horizont nichts. Was ich alles am Himmel entdecken konnte, möchte ich lieber verschweigen. Alles war so verdammt trostlos. Der beinahe leergefegte Bahnsteig fügte sich unaufgeregt in dieses apathische Stillleben ein. Ein paar traurige Gestalten verliefen sich zwischen den alten Gleisen und harrten vereinzelt bis zum Unvermeidlichen aus. Vorwärts ging hier nichts. Alles stagnierte. Die nächste Steigerung wäre der Tod. Allein eine Kleingruppe bewegte sich ausufernd und blockierte die für mich orthographisch bedenkliche Imbissbude "Keb-Up’s" erfolgreich.

Mutter, Vater, Doppelkind. Dass sie zusammen gehörten, erkannte man sofort. Selbst ich. Sogar in dieser unchristlichen Eile. Sicherlich half die ihnen gemeinsame mausgraue Uniform etwas, aber auch sonst war die Ähnlichkeit nicht zu übersehen. Bei den beiden Kindern leuchtete das ein, aber warum die vermeintlichen Eltern sich so inzestuös ähnelten, verwunderte mich doch. Kurz. Für legereres Staunen hatte ich keine Zeit. Zwölf Minuten und mein Zug wäre weg. Die Urlaubsstimmung komplett verschwunden. Denn Maria hatte kein Verständnis für irgendwelche Abweichungen vom Plan oder andere Unregelmäßigkeiten. Sie wurde dann fuchsteufelswild. Auch zu Ostern. Selbst wenn der nächste Zug eine Stunde später fuhr.

Die vierköpfige Kleingruppe hatte sich in Schale geworfen, auch wenn es für mich ziemlich schal daherkam. Einen kleinen farbenfrohen Wimpel hatten sie auch bei sich. Der flatterte munter im Wind und signalisierte die "Protestantische Studiengruppe Detmold/Lippe". Das war noch das Fröhlichste an ihnen. Die studierenden Protestanten litten wahrscheinlich sehr unter Heimweh, Ostkreuz war ganz schön weit von zu Haus, denn einen aufgeräumten Eindruck machten sie gerade nicht.

Die Tochter sah schon gut aus. Sehr gut sogar. Selbst in dieser Kluft. Ihre Schönheit hatte was Überwältigendes. Überirdisch. Ihre blauen Augen funkelten das Monotone dieser Einheitskleidung glatt hinweg. Es war ein ungeheurer Rausch der Sinne, aber ich musste nüchtern bleiben. Denn ich hatte keine Zeit für Eskapaden. Nicht jetzt. Elf Minuten vor Abfahrt des Zuges.

Die Eltern und ihr Bruder hingegen erstrahlten nicht in der Uniform, sie trugen sie einfach. Sahen fürchterlich profan darin aus. Allein deshalb würde ich mich nicht mehr in Einheitskleidung pressen lassen. Der Kirchengruppe war das anscheinend egal. Ich bemerkte bei ihnen keine konfessionellen Abweichungen. Vater und Mutter bewegten sich in der Tracht mit orthodoxer Erhabenheit, aber ein Bild für die Götter war das nicht. Die Montur des Glaubens hing lustlos an ihrem Körper herab. Das war phantasiefeindlich in höchster Potenz. Überhaupt sahen sie nicht besonders lustig aus. Eher wie auf einem unwiderstehlichen Abenteuerurlaub. All inclusive.

Der Sohn spielte wild mit seinem Telefon gegen die drohende Langeweile an und Mama und Papa wohnten dem großstädtischen Treiben immer wieder aufgeregt bei. Ihre ungeteilte Billigung erfuhr das Leben in Berlin nicht. Das sah man. Auch ich. Konnte nicht fragen, was sie störte. Musste fort. In zehn Minuten würde der Zug Lichtenberg verlassen. Fürchtete, das ohne mich. Mist. Unruhig biss ich mir auf die Lippe. Ich ging schnell wieder zum Gleis und hielt Ausschau nach meiner Bahn. Irgendwann müsste sie doch kommen.

Aber nichts.

Keine Rettung kam.

Die Verzweiflung war nahe. Langsam.  

"Er ist auch für dich gestorben", vernahm ich eine sanfte Stimme. Aus weiter Ferne flüsterte sie mir zu. Anscheinend sollte mich das trösten.

Ich drehte mich um. Da war aber keiner, den ich kannte. Musste ich mir eingebildet haben. Wahrscheinlich wurde gerade alles zu viel.

"Sein Leben hat er gegeben. Vergiss das nicht!", sagte die gleiche Stimme wieder mit Nachdruck. Sie hatte einen sanften Ton. Schien aber keinen Widerspruch zu dulden. Wie bei einer alle beglückenden Predigt.

Aber die Bahn kam deshalb auch nicht schneller.

Und die Stimme schwieg.

Ich versuchte, mehr zu erhaschen. Aber vergeblich. Nichts kam. Keine Bahn und auch keine Worte. Jetzt reichte es mir. Ich hatte schon genug Probleme und deshalb keine Zeit, wildfremden Stimmen zu lauschen. Allein die planmäßige Fahrdienstabfolge war mir wichtig. Da konnte ich mich auch nicht mit der Autopsie eines Unbekannten rumschlagen. Dafür hatte ich derzeit einfach keine Kapazität frei. Ich wurde wütend. Sah nur noch rot.

"Bitte? Wer ist tot?", schrie ich aufgebracht. Den Kopf zum Himmel gereckt. Wen konnte ich sonst entdecken, der mit mir sprechen sollte.

Wollte mich jemand zum Besten halten?

"Jesus Christus ist zwar gestorben, er ist aber nicht tot", säuselte das weibliche Organ mir lieblich zu.

Ach du meine Güte. Das hatte mir jetzt gerade noch gefehlt. In neun Minuten musste ich am Bahnhof Lichtenberg sein, kein Zug kam und jetzt sollte ich auch noch zum Gegenstand christlicher Trostspender werden. Für die Todesinterpretationen eines gewissen Herrn hatte ich gerade weder Zeit noch Lust, selbst wenn irgendwo in der Stadt wieder mal ein Evangelischer Kirchentag tobte. Obwohl ich mir das Toben nicht so richtig vorstellen konnte. Zumindest wenn ich diese drei Leute aus Detmold an der Lippe sah. Da konnte ich weder wilde Ausschweifung noch hemmungslose Ekstase vermuten. Eher ein weihevolles Innehalten. Die Mutter hatte nämlich gerade ihre Arme vor dem Schoß verschränkt und lächelte mir nachsichtig zu. Hoffnung in ihren Augen. Irgendwie sah sie glücklich aus. Beseelt. Entrückt. Ich konnte mir das zwar nicht erklären, aber ich hatte keine Zeit für religiöse Phänomene. Wenn die Bahn nicht bald kommen würde, bräuchte ich ein Wunder. Welcher Art auch immer, denn Maria konnte fuchsteufelswild werden. Dann war sie geradezu irdisch und verdammt direkt.

"Alles mag so bitter erscheinen; als wäre es vorüber, aber die Kraft des Gebets versetzt Berge", fing die gleiche gnadenlose Stimme wieder von vorn an.

Wär doch was. Wenn es wenigstens ein Lichtenberg wäre, dann würde ich wahrscheinlich auch gewisse metaphysische Erscheinungen akzeptieren. Aber nur dann. Solange wusch ich meine Hände erst mal in Unschuld. Da war ich sicherlich nicht der Einzige.

"Versuch es doch einmal. Bete!", lockte mich die Stimme.

Danach war mir aber gar nicht zumute. Lieber suchte ich den Himmel nach sicheren Zeichen des Fortschritts ab. Aber da war wenig. Wenn auch etwas. Ein kleiner Punkt, der langsam größer wurde und sich zum willkommenen Abbild einer gut erhaltenen S-Bahn entwickelte. Noch sieben Minuten bis Buffalo. Mensch, war ich froh!

Detmolds Mutter hingegen ruhte jetzt nicht mehr in sich. Irgendwas hatte ihre Seelenruhe gründlich verhagelt. Im Moment wirkte sie etwas kurzatmig und sehr gereizt.

"Oder bist Du etwa einer von diesen gottlosen Atheisten? Waren sie doch im Osten fast alle und bei der Stasi oder beides. Habe ich doch in der Zeitung gelesen", schmetterte ein stimmliches Tremolo schrill los. Ich hörte kaum noch zu und hatte unglücklicherweise auch keine Zeit mehr, ihr zu sagen, dass ein Wort allein für ihre abfällig gemachte weltliche Einschätzung gereicht hätte.

Denn meine Bahn kam. Drei Minuten zu spät, aber sechs Minuten vor Abfahrt des Zugs.

Würde schon klappen.

Alles.

Lisbeth / Galgen

 

F. Stofflovsky
Lisbeth / Galgen

 

Lisbeth

Seit Jahrzehnten wohnt Elisabeth Heidenreich in der Lenbachstraße. "Vorher", so pflegt sie mit ihrer fragil gewordenen Stimme zu sagen, "ham wa in der Sonntagstraße jewohnt." Und das mag auch seine Richtigkeit haben. Auf jeden Fall kennt sich die Frau bestens in ihrem Viertel aus.

Frag sie nach einer Straße, nach einem Platz, nach einer Geschichte, du musst auf die detailgetreue Antwort nicht lange warten.

Elisabeth, von ihren wenigen verbliebenen Freundinnen Lisbeth genannt, hat ein gehöriges Faible für Katzen. Zwei besitzt sie noch, die schlafen, fressen und trinken in ihrer Zweiraumwohnung, mehr hat die Hausverwaltung ihr untersagt. Aber sie versorgt das ganze Viertel, jeden Morgen pünktlich 5 Uhr. Die Hälfte ihrer Witwenrente geht dafür drauf. "Did jeht ins Kreuz, sach ick dir." Tagtäglich stehen die verschiedenen Sorten in den Büschen an der Ecke Lenbachstraße/Simplonstraße. "Aber", so lenkt sie ein, "es hält ooch fit." Den Katzen hat sie nach und nach Namen gegeben: CHARON, ORPHEUS, EURYDIKE, usw. "Charon", sagt sie, "mag vor allem Hühnchen".

Man erzählte sich in den 1980er Jahren, Elisabeth Heidenreichs Großmutter sei dem so genannten S-Bahn-Mörder Paul Ogorzow in die Hände gefallen. Jener Schänder hat zwischen 1939 und 1941 als Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn auf der Strecke zwischen Rummelsburg und Karlshorst sein Unwesen getrieben. Etliche Vergewaltigungen und Morde gingen auf sein Konto. Elisabeth erzählt aber nichts davon und man muss sich fragen, ob was dran ist an der Sache.

Seit dem Tod ihres Mannes war sie nicht mehr auf dem Friedhof. "Wat soll ick denn da?", fragt sie. "Nee, lass mal jut sein, der Friedrich konnte auch nichts mit diesen Gärten anfangen. Solange ick leb, will ick es mit Lebendjen zu tun ham, und wenn's nur meine Katzen sind."

In den frühen Morgenstunden begegnet Elisabeth Heidenreich den unterschiedlichsten Menschen. Heulende Teenager gehören dazu, torkelnde Mittvierziger, aber auch Autodiebe und Sprüher. Und immer wieder hat sie sonderbare Gespräche. Manchmal sagt sie einem der jungen Mädchen ein paar tröstende Worte. Mal warnt sie jemanden vor einem Autounfall. Von den Autodieben hält sie sich fern, aber sie ist keine Denunziantin, obwohl sie das nicht gutheißen kann. Einmal hat sie sogar für zwei Sprüher aufgepasst. Jetzt steht neben dem Bild, von dem Elisabeth sagt, "kann ich nicht lesen", ein mit schwarzer Farbe hingeschriebenes "Yo Lisbeth". Und man kann es ihr ansehen, darüber freut sie sich insgeheim.

Elisabeth Heidenreich arbeitete, daher auch ihr Rückenschaden, mehr als die Hälfte ihres Lebens als Wäscherin. "'ne Zeit lang", so erinnert sie sich, "musst' ick bis innen Prenzlauer Berg fahren. Hab da in der Pappelallee jearbeitet. Jeden Morgen mit der Ring-Bahn, Ostkreuz rin, Schönhauser raus. War ja früher leer die Bahn, nach 63 ham die aus'm Westen das S­Bahn-Unternehmen ja boykottiert. Na, mir war's recht. Ja, mit der Mauer. Frag mich sowas nicht. Viele Tote. Junge Menschen, aber auch Alte und Kinder. Ach, nee, aus so was kann man nicht schlau werden."

Auf die Frage, wie sie über den Tod denke, geht sie nur kurz ein. "Wissen Sie", sagt sie, "ich hab da so meine Vorstellung. Die soll'n mich dann neben meinen Mann packen, wenn es ihnen Spaß macht. ER und ich, wir ham viel übern Tod jeredet, das war sein großes Thema. Nicht zufällig heißen die Katzen wie sie heißen. Jeder muss sich da seine eigenen Gedanken machen. Ick werd hier sterben, wie ick hier jelebt hab. Nur um die Katzen mach ick mir jelegentlich Sorgen."

 

Galgen

Aus dem Koma erwacht, wie er zu sagen pflegt, trifft A. gegen 14 Uhr, die Sonntagstraße herunter kommend, ein. Die anderen sind schon da, spielen Tischtennis, quatschen Schwachsinn und nehmen gelegentlich einen Hieb aus der aufgeheizten Rotweinflasche. Mädchen und Jungen bei brennender Sonne.

"Und noch gut nach Hause gekommen?", schreit L., der gerade auf den Ball wartet.

"Schon. Doch ich hatte heut Morgen zu kämpfen", entgegnet A. mit krächzender Stimme.

"Gib mal Blättchen!", fordert B., bekommt sie von E. zugeworfen.

 

Nachdem auch die Tischtennisspieler aufhören, sitzen sie da, schauen sich um. Da hängen sie rum und chillen. Wie jeden Tag, sieben Tage das gleiche Programm.

Und die Säufer im Schatten, an den Pissstellen, unter den Bäumen.


B: "Eh, guck mal, sitzen da mittendrin, wo am Abend jeder hinpisst."

A: "Die kriegen's halt nicht mehr mit."

B: "Lass mal ausprobieren, wer am höchsten kommt."

A: "Eh, L., bist dabei?"

L: "Klar."

Seit Anfang des Sommers stand der Galgen, so nannten sie die Holzkonstruktion, einfach da, ohne genutzt zu werden. Den Sommer zuvor hing noch ein Netz daran, in dem man schaukeln konnte. Irgendwer hatte gesagt, es habe sich ein Unfall damit ereignet. Sie waren der Sache nicht nachgegangen.

E., die Freundin von B. hatte einmal überlegt, ob sie eine Installation daraus machen sollte. Sie hatte dann doch nicht die Stoffpuppe drangehangen, mit der sie schocken wollte. Doch dieser Galgen warf seinen Schatten, faszinierte.

Jetzt nehmen L., B. und A. nacheinander Anlauf, rennen den Balken hinauf, soweit sie kommen und balancieren dann, wie auf einen Schwebebalken, den 45 Grad Winkel in Höchstgeschwindigkeit runter. A. liegt die nächsten zwei Versuche vorn, gefolgt von B. Als L. die 5 Meter übertritt, will A. es wissen. Da rennt er also hoch, verfehlt, der Ballen seines linken Fußes stechelt noch einmal zärtlich über die Kante hinweg, bevor A., der Schwerkraft erlegen, dem Abgrund zufällt. Ein Zufall. Ein Unfall.

Vergiss nicht zu lieben

 

Andrea Collins
Vergiss nicht zu lieben

 

"Wo bist du?", fragt mich mein Bruder am Telefon. "Auf’m Alex", sage ich. "Und was machst du da?", fragt er. "Ich will Lösungsmittel für die Kontaktlinsen kaufen, bei Fielmann", sage ich und etwas ungeduldig: "Was gibt es?" — Arndt sagt: "Der Vater ist gestorben."

 

Ich sehe Holzbuden stehen, noch nicht in Benutzung, aufgebaut für den kommenden Ostermarkt. Gehe zwischen sie, stelle mich unter ein Holzbudendach — kein Mensch sonst ist da — zwischen der einen und anderen Reihe. Ich stehe da allein, für keine/n sichtbar. Halte mich an einem Holzpfeiler fest.

"Ich halte mich an einem Holzpfeiler fest", sage ich zu Arndt. "Ich stehe hier zwischen solchen Buden."

Schock.

 

"Heute Morgen hat der Vater noch gefrühstückt", sagt mein Bruder, "dann ist er eingeschlafen, was ungewöhnlich war. Später ist er nochmal kurz aufgewacht und hat unklar geredet. Dann ist er wieder eingeschlafen." Er redet wie einstudiert, sachlich, ganz der Jurist. Der Tatbestand: "Die Mutter hat zu dem Zeitpunkt die Ärztin geholt. Die hat gleich die Einweisung in die Klinik angeordnet. Der Krankenwagen ist gekommen und der Vater ist auf einer Bahre aus dem Haus getragen worden. Mutti und ich sind gleich auf die Intensivstation nachgekommen. Dort haben uns die Leute so angeguckt, dass wir wussten, es ist nichts mehr zu machen. Einer sagte: 'Das ist der Zeitpunkt, an dem die Angehörigen gefragt werden, ob der Mensch noch am Leben gehalten werden soll, damit alle Angehörigen Abschied nehmen können.' Wir haben gesagt, dass deine Anreise aus Berlin zu lange dauern würde. Wir haben dem Vater die Hände gefaltet, uns zu dritt an den Händen gehalten und dreimal das Vaterunser gebetet und dich da mit reingenommen. Um 13 Uhr haben sie die Beatmung abgestellt."

Es war ein leichter Tod, medizinisch gesehen, denkt die Krankenschwester in mir und das sage ich auch. Mein Bruder ist jünger; ich möchte ihn stützen. Er sagt, er stehe neben sich und könne es noch gar nicht glauben. Die Beerdigung fände am Dienstag statt. "Es reicht, wenn du am Wochenende kommst." Er sagt: "Nimm dir ein Taxi nach Hause."

 

Ich denke über die Taxi-Alternative nach und nehme die S-Bahn. Meine Knie wanken. Der Realitätssinn verbiegt sich. Kriege ich das hin? Zu laufen, mit der S-Bahn zu fahren? Mechanisch kann ich mich darauf verlassen, die Wege in diesem Alex­Großstadt-meine-Stadt-Gewusel zu kennen. Beruhigende Routine.

 

Ich rufe Maria und Gerlinde an, von meinem Sitzplatz zwischen zwei Leuten aus: "Das Tanzen für Sonnabend muss ich absagen. Mein Vater ist gestorben. Ich fahre nach Heidelberg."

Das geht in Berlin, solche Dinge in der Öffentlichkeit zu sagen. Die große Freiheit der Anonymität: keine/r schert sich drum oder guckt zweimal. Ich darf sein. Allerdings rede ich auch nicht derart laut, dass ich die Mitfahrenden mit meinen Geschichten belästige. Fast stimmlos erledige ich die Telefonate. Ich will sie so schnell wie möglich hinter mich bringen. Zu tun ist, was gemacht werden muss.

 

Ausstieg Ostkreuz, Richtung Markgrafendamm, warten auf den 194. Nicht recht bei Sinnen. Funktional.

Ich rufe die Mutter an, höre wie es ihr geht.

Im Dunkeln, bei zugezogener Gardine ob dieses Innenhofschachtes, denke ich zu Vatern hin: "Wie kannst du mir das antun?", und platze es fast raus. "Mich hier allein lassen, in dieser Unfertigkeit, mit diesem Baustellenleben, in der Durchgangssituation. Ich bin noch nicht soweit, dass du mich verlassen kannst." Gedanken der Kindlichkeit. In meinem Alter nehme ich kritisch wahr. Anklage. Selbstmitleid.

Bisher hatte ich mich auf nicht mehr als ein Baustellendasein eingelassen.

Schwarz ist das Zimmer, das Licht bleibt aus.

 

Zwei Wochen vorher träumte ich, dass der Vater sich von mir verabschiedet. Er ging aus dem Zimmer und sagte Lebewohl.

Ich dachte, ich irre mich. Es kann nicht sein, weil es eher bergauf ging mit seiner Genesung. Er hatte wieder an Kraft gewonnen. Lief mit dem Rollator umher — auch auf der Straße — und war bei einer Essenseinladung auf dem Dilsberg dabei. Für den Herbst war ein Urlaub in Italien geplant.

 

Aber das Gefühl blieb, ihm einen Brief schreiben zu müssen. In Gedanken formulierte ich die Sätze immer wieder: wie viel er mir bedeutete die ganzen Jahre und dass ich wusste, ich würde immer auf ihn zählen können. Dass ich mich ihm geistig verbunden fühle, auf dieser intellektuellen Ebene. Und ihn so außerordentlich schätze für die innere Haltung, die er lebte, die ungebrochene Geradlinigkeit im Umgang mit Menschen; dass er sich nicht orientierte an dem Materiellen, am Status der Leute, an ihrer Popularität.

Zeitlebens fuhr er mit seinem klapprigen, zum Schluss 50 Jahre alten Fahrrad umher und trug seine Kleidung bis sie auseinanderfiel. Es gab bei ihm keinerlei Zeichen von Dünkel.

Auf dem Fußgängerweg neben der S-Bahn-Brücke zum Treptower Park redete ich mit Vater das letzte Mal. Ich sagte zu ihm: "Wenn du nur wieder gesund wirst", und wusste innendrin, dass es nicht so wird. Ungläubig ob der Intuition. Trostlos. "...dass ich dich liebhabe", sagte ich und dachte an den Brief, den ich jeden Tag im Kopf schrieb. "Das ist gut zu wissen", sagte er.

Wir redeten sonst nicht so emotional.

 

Den Tag vor seinem Anruf hatte ich meinem Bruder eine Mail geschrieben mit Anweisungen, wie die gesundheitlichen Fortschritte des Vaters zu unterstützen seien. Es war eine Auflistung ausführlicher Ansagen aus der gesundheits- und krankenpflegerischen Perspektive.

Das war Dienstagabend. Am Mittwoch war der Vater tot.

Wir hatten den Abschied geprobt. Durch einen Fehler des Krankenhauses war er im Sommer des Vorjahres nach der OP praemortal  gewesen. Als die Mutter morgens auf Station kam, hatten die Schwestern Schläuche und Infusionen abgestöpselt. "Ihr Mann ist austherapiert", sagten sie ihr.

Angeschlossen wurde alles wieder nachdem mein Bruder als Betreuer dafür sorgte. "Der Vater hat so gekämpft", sagte er, "er wird nicht abgehängt".

 

Damals hatte morgens um halb acht die Mutter auf dem Handy angerufen, ich solle "sofort kommen, der Vater stirbt". Ich rannte die Frankfurter Allee entlang, rannte Geld holen, rannte in den U-Bahn-Schacht.

Im Hauptbahnhof sah ich die Schlange und sagte zu den englischsprachigen Touristen, die gerade anstanden, und den Wartenden: "Excuse me. My father is dying. I have to get the ticket immediately. I’m sorry." Ich weinte.

Die Leute ließen mich nicht nur vor, sondern die Schalterangestellte verließ auch wenige Minuten später ihren Sitz und zog mit mir zusammen am Automaten ein Ticket nach Heidelberg für sofort.

Unvergesslich.

 

Mit dem Taxi in Heidelberg zum Salemkrankenhaus, Zimmer gefunden, Schutzkittel angezogen, ans Bett gestellt, die Hand vom Vater genommen. Tränen in den Augen, stundenlang. Ich sah meinen Bruder und die Mutter an, wie nahe wir uns sind.

 

Ich sagte zum Vater: "Ich komme jetzt jedes Wochenende, bis du wieder gesund bist." Die verschiedenen Stationen, auf denen er lag, lernte ich ganz gut kennen. Auch die Rehaklinik, in die er bald darauf kam.

Es gab eine Kehrtwende. Die medizinischen Werte besserten sich.

 

Der buddhistische Gynäkologe, bei dem ich am Donnerstag nach Arndts Anruf einen Termin habe, erzählt, dass er vor einem Jahr seinen Vater verloren hat und wie es für ihn war. Er sagt: "Im Buddhismus machen wir es so, dass die Angehörigen in den ersten sechs Wochen jeden Tag zur Todesstunde eine Kerze anzünden, in die Ruhe gehen und dem Verstorbenen gute Wünsche mitgeben und beruhigend mit ihm reden. Bis ein Jahr nach dem Tod sollen die Nahestehenden keine großen Veränderungen in ihrem Leben vornehmen: nicht umziehen, keine neue Arbeit annehmen."

Auch jetzt rede er noch mit seinem Vater, sagt er. Ab und zu.

Meiner Freundin Julia bringe ich vor der Beerdigung die Mimose. Sie sagt zu meinem Patenkind: "Die Andrea ist heute ganz traurig. Ihr Vater ist gestern gestorben. Wenn du willst, kannst du sie mal an den Zehen kitzeln und ihr einen Kuss geben, dann sagst du gute Nacht." Und das tut er dann auch, der kleine Junge.

Fünf ist er jetzt. Befriedigt nehme ich wahr, dass wir keine Kindersprache mit ihm sprechen und ihn für voll nehmen.

Mein Seelenvogel breitet die Flügel weit aus bei Antons Abschied für den Abend.

 

Grau. Graue Trauer. Der Vater liegt in einer grauen Stahlbox auf der Pathologie. In einem Schiebfach, dass ich von Filmen her kenne. Als Schwesternschülerin war ich mit der Klasse einmal dort, um eine Untersuchung anzusehen. Ich sah nicht hin.

 

Die Beerdigung geht vorüber. Unsere Familie hat sich gut gehalten. Ich bin stolz darauf, in Anbetracht der Verstrickungen, die tatsächlich zwischen uns herrschen. Ein Kraftakt und das schauspielerische Können der gesellschaftlichen Vorgaben. Rollen werden eingehalten, das Brauchtum stützt. Mothers little helpers tun ein Übriges.

Authentische Begegnungen unter diesen Umständen prägen sich ein.

 

Ich streichele die Tannenzweige auf Vaters Grab, sitze in der Hocke davor. Schön, dass du kommst, höre ich den Vater in Gedanken sagen und erschrecke. "Die Seele macht das", sagt Julia dazu später.

Einen Stuhl will ich neben das Kreuz stellen, mich setzen und Papiere lesen. Die Mutter will keinen Stuhl dort. Sie sagt, sie hat den Vater so schon immer präsent.

Wenn die Mutter dabei ist, bin ich am Grab für sie stark.

Noch drei Tage Praktikum, dann ist das vorbei. Mit der Stelle verbindet mich nichts, daher bietet sie nichts Tragendes. Natürlich stellen sie niemanden ein, obwohl es ein florierendes Forschungsunternehmen ist.

Die Mitarbeiterinnen in meinem Büro unterstützen den Führungsstil: sie nehmen die Arbeit mit nach Hause und sind sogar an den Feiertagen damit beschäftigt.

Eine Kollegin ist als Leiharbeiterin bei einer Zeitarbeitsfirma angestellt und verdient wesentlich weniger als ihre Zimmerkollegin. Sie beschwert sich bei mir über die Zustände und dass das Unternehmen sie hinhält und ihr sagt, vielleicht werde sie zum nächsten Jahr übernommen – seit eineinhalb Jahren. Jeden Tag macht sie Überstunden, hält sich an der Hoffnung hoch und will die Oberen von ihrem Einsatz überzeugen.

Anfangs drucke ich ihr Arbeitsstellen aus, auf die sie sich mitbewerben will, später lasse ich es. Ich kriege das Gefühl, sie braucht diese Situation.  

Wir Teilnehmerinnen der Weiterbildung, die elf Monate lief, sehen uns nochmal zur Endrunde. Die Luft ist raus. Ich sitze dabei, bin anwesend. Der Leiter der Maßnahme meint, wir wären der netteste Kurs seit Jahren gewesen, sie hätten überlegt, uns zu verlängern.

Wir hatten uns gegenseitig in Schutz genommen, verteidigt, hatten einander sein lassen trotz entschiedener Differenzen und waren im Wesentlichen fair geblieben. Es war ein wohlwollender Haufen von Leuten, die sich auf dem Ersten Arbeitsmarkt wie er heute ist, (zeitweilig) nicht durchsetzen konnten.

Wie in anderen Settings des Zweiten Arbeitsmarktes empfand ich die Leute (mit ihren Handicaps) wieder als 'humaner'.

 

Kraftlosigkeit. Nur noch Liegen. Nicht mal die Beine will ich mehr bewegen.

 

Es hat nichts mit mir zu tun — die Ballerinas, die ich einkaufen müsste. Ich fasse sie an — wie in einer anderen Welt. Bedeutungslosigkeit hat ein neues Gesicht bekommen. Einkaufen ist sinnlos.

Der Vater sagte: "Irgendwann stellt man fest, dass man im Grunde fast nichts braucht, dass sich einiges ummodeln lässt und nichts Neues nötig ist".

Er hatte sich hochgearbeitet zur intellektuellen Elite.

Weder hatte er deren Werte übernommen noch in ihre Normen gepasst.

Eine polnische Bauersfrau hat ihn zum Schluss gepflegt. Ich erzählte ihr, dass er in einem Bauernhaus aufgewachsen war in armen Verhältnissen und schließlich Professor wurde.

Die beiden waren ein gutes Team. Sie war genau richtig für ihn.

Mir schien, er hatte in der einfachen Wahrhaftigkeit des Umgangs miteinander ein Stück Heimat wiedergefunden.

 

Die Pfarrerin in der Samariterkirche im Nordkiez spricht in ihrer Predigt von den 'unverlierbaren Toten'. Sie bezieht sich auf Hilde Domin und hat das Gedicht am Ausgang ausgelegt.

Angenommener Weise ist Gott mit uns.

Durcheinander. Neben-sich-Stehen. Plötzliche akute Verwirrung: Wie bewege ich den Cursor mit der Maus? Stehe ich soweit neben mir? Derartig war ich noch nie von der Rolle!?

"Das ist normal, diese Verwirrtheit", sagt mein Freund Sven und fängt von den Trauerphasen nach Elisabeth Kübler-Ross an. Die Abgespaltenheit und das Sich-Fremd-Fühlen.

Er sagt: "Ich will in der Trauer für dich da sein."

Er ist da.

 

Zu Janet, einer Ex-Kommilitonin, sage ich: "Es tut mir so Leid, dass ich den Brief nicht geschrieben habe, von dem ich die ganze Zeit dachte, ich solle ihn schreiben. Ich hatte durch diese 40-Stunden-Praktikumsstelle einfach keine Zeit."

Ihr Vater ist vor vier Jahren gestorben. Sie sagt, dass sie ihrem Vater damals auch gerne das eine oder andere noch gesagt hätte, dass er aber genauso überraschend gestorben wäre. Bei einem Workshop zu dem Thema wurde ihr gesagt: "Das ist die Nähe, die dein Vater zugelassen hat. Wenn er vorher gestorben ist, bevor du das sagen konntest, hat er genau diese Nähe gewollt und keine andere."

 

Ruhe. Nur Ruhe, Ruhebedürfnis. Ich halte es lange ohne Menschen aus. Ein nie erlebtes Alleinsein-Wollen und Alleinsein-Können. Ich sehe nur wenige, melde mich bei Einzelnen. Gehe zu Einladungen, zu denen ich mich aufgrund langjähriger Freundschaft verpflichtet fühle. Verbundenheit zählt.

Außer den engen Freundinnen sind alle unwesentlich.

Anderen gegenüber werde ich mitunter grantig und aggressiv.

So kenne ich mich nicht.

Vier Wochen Nebel. Tag für Tag vorantasten. Den Tunnel befühlen. Einen Schritt nach dem anderen machen. Möglichst wenige.

Niedergeschlagenheit.

Auf einer tieferen Ebene ist alles egal.

Trauer und Wut.

Im Hausflur morgens kommt mir der Hauswart mit Fahrrad entgegen. Er fährt zu seiner Laube.

Seit Dezember benutzt er so viel Parfüm, dass der ganze Hausflur und Innenhof nach ihm stinkt. Er will die Alkoholfahne überdecken, denke ich; ich hörte ihn lallen.

Es lässt sich nicht völlig ausschließen, dass er die Aufträge der paar Mieter erledigt, die auf seiner Lieblingsliste stehen. Bei den übrigen rührt er keinen Finger und der Wasserhahn bleibt ohne Mietervereinsanwälte am Tropfen. Tatkraft zeigt er, indem er sich lautstark räuspert, am Telefon brüllt und den Mieterinnen zuruft: "Sehen Sie heute wieder gut aus."

Weder des Hörens noch Riechens mehr adäquat fähig, einsatzunwillig und von fortschreitender Verkindlichung betroffen, überzeugt der Mann ausschließlich durch starre Bockigkeit bezüglich seines altersgerechten Abtretens.

Die Hausverwaltung geht mit diesem peinlichen senilen Profilneurotiker mit.

"Wir zahlen Ihnen hier die Rente", sage ich ENDLICH zu seiner Frau. Dass die beiden sich auf Kosten der überwiegend armen Mieter einen lauen Lenz machen.

 

Auch die Mutter lässt ihre Wut in häuslicher Umgebung aus. Weil sie neun Jahre älter als der Vater war, ging sie immer davon aus, zuerst zu sterben. Jetzt, mit 84 Jahren ist sie so rege, dass sie in einer Abruptaktion das vom anderen Grundstück hereinragende Überholz absägen lässt, das dazugehörige Unterholz nebendran abtragen lässt, überragende Baumäste abschneiden lässt und sich mit den Nachbarn anlegt. Die Fetzen fliegen.

Für kurze Zeit entwickelt sich die alte Dame zur Maschendrahtzaun-Mafia und nimmt das Gesetz in die eigene Hand.

Janet erzählt, dass ihre Mutter das erste halbe Jahr nach dem Tod des Vaters vor Wut über das Verlassenwordensein die Tennisbälle nur so geschmettert hatte.

 

Halbtags trifft sich Mutter mit den anderen Witwen im Thermalbad, geht schwimmen und Kaffee trinken.

Ich ziehe den Hut vor ihr.

Ihr Werdegang wird von ihren Kindern engmaschig beäugt.

Ein paar Wochen später sitze ich auf einer Bank in der Grünfläche neben dem Nachbarschaftshaus RuDi, den Brief vom Notariat in der Hand. Sind die Fenster, die ich sehe, die vom Nachbarschaftsheim? Nein, da ist eine Schule dazwischen. Ein Schüler sitzt dort weiter weg auf einer anderen Bank; er geht weg als ich mich hingesetzt habe. Wohl zu den anderen, die auf dem Sportplatz sind. Haben sie nicht Unterricht?

"Das Erbschaftsverfahren ist eröffnet", lese ich. Es interessiert mich nicht. Ich will das alles nicht. Ich will, dass der Vater zurückkommt.

 

Auf der Modersohnbrücke fahre ich an Jugendlichen vorbei. Sie sitzen dort und sehen sich den urbanen Sonnenuntergang an. Heute mit Techno Musik aus dem Ghettoblaster.

Es ist einer der Momente, für die ich Friedrichshain liebe.

Nur zehn Prozent der Bewohnerinnen des Stadtteiles sind in meinem Alter, zwischen 40 und 60 Jahre, lese ich in der Statistik — und ich glaube es auch. Ich höre, dass viele Ältere mit der Jugend Schwierigkeiten haben. Ich habe sie nicht.

Manchmal höre ich zu und beantworte Fragen. Drei-, viermal habe ich Leuten auf Drogen beigestanden bis der Notarzt kam. Oft fühle ich mich mütterlich, tantenhaft.

Wenn es im Haus zu laut wird, sage ich der Jugend Bescheid. Die Bullen hab ich auch schon mal geholt, den Bereitschaftsdienst. Das lag in Kreuzberg auch manchmal an.

Bisher bin ich nicht reif für den Stadtrand mit Familien.

Christoph vom Interkulturellen Garten hilft mir dabei, meine Parzelle neu zu bepflanzen. Er schlägt das Hilfsangebot von sich aus vor. Anfang Juli legen wir das Saatgut aus, das für April angedacht war. "Was noch wächst, das wächst", meint er.

Ich kenne ihn seit 30 Jahren. Habe ihn wiedergetroffen in den Laskerhöfen, wo er einen 1-Euro-50­Job macht, vorher hatte er eine ÖBS. "Die war besser", sagt er, "da wird auch gezahlt, wenn man krank ist. Und sie geht zwei Jahre."

Manchmal reden wir über alte Zeiten.

Irgendwie ist die Stadt nach so vielen Jahren wie ein Dorf.

Inzwischen ragt der eiserne Überbau des neuen Bahnhofs am Ostkreuz in die Luft. Das Hochgerüst ist fast fertig.

Es geht dem Spätsommer entgegen.

Zuverlässig steht der alte schwarze Turm daneben – unter Denkmalschutz. Er bleibt.

In seiner Beständigkeit wird er ein Wahrzeichen für das Ostkreuz sein.

"Vergiß nicht zu lieben" steht unten an der Mauer des Restaurants Rotherstraße, Ecke Modersohn. Ich lese es gerne und habe es fotografiert.

Ich habe viel vor.

Mein Vater ist immer bei mir.

Wucht

 

Paul Warg
Wucht

 

Frank

Ich hörte wie die Haustür zuschlug, Alex hatte es wieder einmal besonders eilig. Es war 7.20 Uhr und er hatte eigentlich noch genügend Zeit, rechtzeitig zur Schule zu kommen, aber es gefiel ihm, auf dem Schulweg noch ein wenig herumzutrödeln. Er hatte sein Schulbrot auf dem Küchentisch vergessen, also nahm ich es und legte es in den Kühlschrank.

Mit meiner Frau Kathrin war ich nun schon seit elf Jahren zusammen. Ich lebte mit ihr und ihrem zwölfjährigen Sohn in Berlin nahe dem Bahnhof Ostkreuz. Alex ist für mich wie mein eigener Sohn, denn seinen leiblichen Vater hatte er nie kennen gelernt. Kathrin kannte ich schon aus gemeinsamen Studienzeiten und war seit Alex' Geburt immer für sie da. Aus Fürsorge wurde Liebe und als wir beschlossen zusammenzuziehen, fanden wir vor neun Jahren eine große Altbauwohnung am Ostkreuz und fühlten uns dort auf Anhieb sehr wohl. Zwischenzeitlich hatte sich viel verändert, aber wir mochten es. Am Markgrafendamm und den umliegenden Straßen war es eher ruhig. Dafür war auf der anderen Seite vom Ostkreuz, in der Sonntagstraße, immer was los. Man konnte bummeln gehen oder einfach mal einen Kaffee trinken. Auch für Alex gab es immer was zu entdecken.

Kurz nachdem Alex die Wohnung verlassen hatte, klingelte das Telefon. Widerwillig nahm ich den Telefonhörer ab. "Charité … Intensivstation … Ihre Frau …" Ich nahm nur noch Wortfetzen wahr. Der Telefonhörer fiel mir aus der Hand, aber im letzten Moment fing ich ihn wieder auf. Ich verstand nichts mehr. Ich hatte einen Kloß im Hals, brachte kein Wort mehr heraus und legte den Hörer einfach auf. Mein Herz schlug wie verrückt und ein dumpfes Klopfen machte sich in meinem Kopf breit. Ich fing an zu schreien, stand brüllend im Flur. Ich zitterte am ganzen Körper und versuchte verzweifelt, nicht die Kontrolle zu verlieren.

Mein nächster Gedanke ging an Alex. Wie sagt man seinem zwölfjährigen Sohn, dass seine geliebte Mutter im Sterben liegt?

 

Alex

Ich konnte es schon in den Augen meines Vaters sehen, irgendetwas stimmte nicht. Sein Blick verriet mir, dass etwas passiert sein musste. Er schaute mich durchdringend an. Seine Augen waren rot und glasig. Wir standen im Flur. Es dämmerte und ein schummriges Licht drang durch die offenen Zimmertüren in den Flur. Er sagte mit leiser Stimme, dass er etwas mit mir besprechen wolle. Ich guckte in seine glasigen Augen und legte meine Arme um ihn. Ich legte meinen Kopf fest auf seine Brust. Ich spürte wie er zitterte. Er drückte mich leicht weg und nahm meine Hand. Wir gingen in mein Zimmer und ich versuchte mich zu erinnern, ob ich meinen Vater schon jemals hatte weinen sehen. Ich konnte mich nicht erinnern. Wir setzten uns auf das kleine Sofa, das unter meinem Hochbett stand. Immer wenn man sich darauf setzte, versank man förmlich in den Polstern. Es herrschte eine beängstigende Stille, die plötzlich durch eine vorbeifahrende S-Bahn durchbrochen wurde. Mein Vater schien die Gelegenheit nutzen zu wollen, mir etwas zu erklären. Seine Lippen bewegten sich.

Ich wusste sofort, dass es mit meiner Mutter zu tun haben musste. Sie sollte am Kopf operiert werden, denn man hatte vor einem Monat einen Gehirntumor bei ihr festgestellt. Jetzt lag sie im Krankenhaus, da war ich aber auch schon mal. Letztes Jahr hatte ich mir meinen Arm gebrochen. Es dauerte vier Tage und dann war ich wieder zu Hause. Meine Mutter war nun drei Tage fort. Ganz genau wusste ich nicht, was los war. Meine Eltern unterhielten sich in den letzten Tagen sehr häufig und eindringlich. Doch das war nicht so ungewöhnlich oder auffallend und dass Krebs heilbar ist, wusste ich. Also, was konnte Schlimmes passiert sein?

Mein Vater begann mit leiser Stimme: "Kathrin geht es nicht gut." Er erzählte, dass bei der Operation etwas passiert sei. Soweit ich es verstand, hatte es während der Operation eine unerwartete Blutung im Gehirn gegeben. Es schossen ihm immer mehr Tränen in die Augen. Ich verstand schon, dass das nicht gut war, fragte mich aber insgeheim, was daran so schlimm sei. Ich dachte nur daran, wie lange Mutter denn noch weg sein würde. Sie fehlte mir sehr, aber wenn sie nicht da war, konnte ich immer viel alleine unternehmen. Mein Vater besuchte sie jeden Tag in der Klinik und kam dann am späten Nachmittag wieder heim.

Er nahm mich in den Arm und schaute mich an. "Alex, es kann sein, dass sie nie wieder kommt. Sie liegt im Koma und die Ärzte sagen, dass es jetzt nur an ihr liegt, wieder aufzuwachen." In dem Moment wurde mir schwarz vor Augen und ich konnte keinen Ton hervorbringen. Ich hörte wie mein Vater noch etwas sagte, verstand aber seine Worte nicht mehr. Ich empfand Schmerzen, wie ich sie zuvor noch nie gespürt hatte. Mein Magen zog sich zusammen. Ich konnte nichts mehr sagen. Ich konnte nicht mal heulen. So saß ich da bis die Tränen kamen. Die Rotze lief mir aus der Nase. Später konnte ich mich erinnern, wie mein Vater fragte, ob er mich erst mal in Ruhe lassen solle. Ich war unfähig zu antworten. In dem Moment saß ich einfach nur da wie ein Häufchen Elend, zusammengekauert und am Heulen. Ich weinte mich in den Schlaf.

 

"Alex, du musst zur Schule, aufstehen!" Ich guckte verschlafen und verdutzt hoch. Mein Vater stand vor mir. Ich wollte mich noch mal umdrehen, überlegte es mir aber anders und stand auf. Ich ging schnell in die Küche und machte mir ein Glas Kakao. Ich trank jeden Morgen ein Glas Kakao, mit einem halben Teelöffel Kakaopulver, genau wie meine Mutter. Ich ging mir die Zähne putzen und anschließend duschen. Nachdem ich mich angezogen hatte, schnappte ich meinen Schulranzen und verabschiedete mich von meinem Vater. Ich machte mich auf den Weg in die Schule. Nach den ersten Metern kamen mir Zweifel, ob ich jetzt wirklich in die Schule gehen wollte. Ich fragte mich, wie es wohl meiner Mutter gehen würde. Meine Gedanken kreisten hin und her. Ich ging an meiner Schule vorbei und über die Modersohnbrücke den staubigen Weg zum Ostkreuz. Vorbei an den leer stehenden, abrissreifen Häusern. Ich wollte zur S-Bahn. Wenn ich nicht in die Schule wollte, setzte ich mich manchmal in die Ringbahn und fuhr so meine Runden, bis es Zeit war, nach Hause zu gehen.

Am Ostkreuz angelangt, ging ich über die Fußgängerbrücke, die mit Tags vollgemalt war. Ich guckte mir immer alles genau an und manchmal machte ich Fotos von Graffitis, die mir besonders gefielen. Ich roch den eigenartigen Ostkreuzgeruch, nach Moder und Altöl, muffig, aber nicht unangenehm. Der Wind blies mir durch die teilweise kaputten Fenster der Fußgängerbrücke ins Gesicht. Ich ging die Treppen hinunter zur Stadtbahn, um von dort zur Ringbahn zu gehen. Eine Bahn stand am Bahnsteig zur Abfahrt bereit. Ich hörte noch die Durchsage: "Zurückbleiben bitte!" und rannte los. Mit einem Sprung klemmte ich mich durch die sich schließende Tür und schaffte es gerade noch in die Bahn. Ein wenig außer Puste ging ich durch die Sitzreihen und setzte mich dann auf einen freien Sitz am Fenster. Die Bahn fuhr los und ich blickte auf das alte Dach des unteren Bahnsteigs. Ich wunderte mich, was da alles rumlag. Bierflaschen, unzählige Kronkorken, Fahrradschlösser, ein alter Reifen und sonstiger Abfall bedeckten es. Die Bahn passierte den Wasserturm, der wie ein Riese alles überblickte. Ich starrte aus dem Fenster und versuchte die vielen Graffitis zu erkennen und zu lesen. Die bunten Bilder rasten an mir vorbei.

Ich fuhr einige Stationen, wobei ich meinen Ranzen fest in der Hand hielt. Es war ein alter "Camel"-Ranzen, der schon einiges mitgemacht hatte und ziemlich abgeschabt war. Das war mir aber egal, ich hatte ihn schon lange und hing sehr an ihm. Meine Gedanken kreisten endlos umher, doch ich konnte keinen festhalten. Ich spürte wie sich mein Hals zuzog und es fühlte sich an, als wenn ich um jeden Atemzug kämpfen müsste. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich konnte sie erfolgreich zurückhalten, ich wollte nicht in der Bahn heulen. Ich war wieder voll da. Meine Gedanken kreisten jetzt um meine Mutter und meinen Vater. Wie fühlte er sich wohl und wie würde es ohne meine Mutter weiter gehen. Wieder wanderte mein Blick aus dem Fenster. Ich war eine Runde gefahren und der Zug fuhr gerade wieder am Ostkreuz ein, also entschloss ich mich auszusteigen.

Gleich kam mir der bekannte Geruch wieder entgegen, den ich mochte, weil er etwas Vertrautes hatte. Ich ging den Ausgang in Richtung Sonntagstraße hinunter. Die Wände in diesem Durchgang waren immer feucht, zumindest schien es mir so. Die Ecken waren immer nassgepinkelt und es roch stark nach Pisse. Ich ging den Weg zwischen dem alten Haus und den alten Bauarbeiterhütten entlang, unterquerte die alte Backsteinbrücke, die vollbeklebt mit Plakaten war und gelangte zur Sonntagstraße. Ich spürte, dass ich Hunger bekam und als ich in meinen Schulranzen griff, bemerkte ich, dass ich mein Schulbrot vergessen hatte. Kein Wunder, sonst legte mir meine Mutter immer das Schulbrot in den Ranzen. Geld hatte ich auch nicht dabei, also beschloss ich, Pfandflaschen zu sammeln. Am Ostkreuz ist immer etwas los und die Leute, die in Eile sind, lassen ihre Flaschen achtlos rumstehen. Deshalb dauert es meist nicht lange, bis man zwei oder drei Euro zusammen hat. Ich ging die Sonntagstraße entlang mit all den kleinen Buden. Es roch jetzt nach Pizza und Döner. Ich schlenderte an den Geschäften und Cafés vorbei. Am Ende der Straße wechselte ich auf die andere Seite mit dem kleinen Park und suchte mir ein paar Flaschen zusammen. Nicht lange und ich hatte genug Flaschen zusammen. Ich wechselte erneut die Straßenseite, um die Flaschen an einem der Spätverkäufe abzugeben. Es würde reichen, um mir einen Döner zu kaufen.

Ich trat gerade aus dem Laden, als mein Handy klingelte. Ich hielt inne und schaute auf mein Handy. Es war mein Vater. Eigentlich war es noch zu früh, denn er war zu meiner Mutter gefahren und normalerweise nicht vor 17 Uhr zurück. Es klingelte wieder und wieder, doch ich zögerte.

Letzter Tag am Ostkreuz

 

Andrea Noeske
Kurts letzter Tag am Ostkreuz

 

Die Sonne klettert am Horizont empor, um ihren Logenplatz einzunehmen. Es verspricht ein schöner Tag zu werden. Vielleicht nicht mehr ganz so warm wie die Tage zuvor. Ein frischer Wind kündet vom bevorstehenden Jahreszeitenwechsel. Der Herbst steht vor der Tür und damit die Entscheidung für Kurt, sich einen Platz zum Überwintern zu suchen. Nach diesem Sommer hat er keine Lust mehr auf die überfüllten Bahnsteige, die Menschenmassen, die sich morgens und abends treppauf, treppab schieben. Die unzähligen S-Bahnzüge, die in den Bahnhof rattern immer begleitet von Ansagen wie "Eingefahrener Zug S 3 in Richtung Erkner. Einsteigen bitte. Zurückbleiben bitte." Zisch, Rumms, Türen zu, wieder eine Ladung Mensch auf dem Weg nach Irgendwo. Irgendwo interessiert Kurt nicht. Sein 'Irgendwo' ist im Hier und Jetzt. Das hier ist sein Revier. Der Bahnhof Ostkreuz mit seinen angrenzenden Brachen. Der Bahnhof beginnt sich wieder zu füllen. Füße scharren über Beton. Frauen in Kostümen laufen mit lautem Klack, Klack hoher Absatzschuhe über den Bahnsteig. Männer in Anzug und Krawatte, ihr Mobiltelefon am Ohr, schauen ihnen neugierig hinterher. Kurt kennt sie alle. Insbesondere die notorischen Zuspätkommer, die über die Treppen hetzen und es mit waghalsigen Sprüngen zwischen die sich schließenden S-Bahn-Türen noch in letzter Sekunde schaffen.  

Es wird Zeit für Kurt, Zeit fürs Frühstück. Auf dem Bahnsteig ist nichts mehr zu holen. Der Bautrupp hat sich seit gestern immer weiter in seinen Bereich vorgearbeitet. Heute wird auch das letzte Grün, der letzte Grashalm dem Presslufthammer weichen, da ist sich Kurt sicher. Er wird seinen Platz aufgeben müssen, der ihm Schutz geboten hat bei heftigen Sommergewittern, der glühenden Sonne. Niemand hat ihn hier entdeckt, niemand hat ihn eines Blickes gewürdigt.

Wehmütig betrachtet er den Dachvorsprung, seinen Schlafplatz darunter. Kurt ist müde. Einfach sitzen bleiben und abwarten, was kommt. Für einen Moment erscheint ihm das verlockend. Verlockend sind aber auch die Wiesen und Bäume hinter dem Bahnhof fernab von all dem Trubel hier. Aber es ist ein weiter beschwerlicher Weg. Er ist sich nicht sicher, ob er ihn noch einmal schaffen kann, auf seine alten Tage. Kurt hat nichts mehr von seinem jugendlichen Elan. Der ist dahin, genau wie der Sommer.

Der Bahnsteig vor ihm füllt sich immer weiter. Vielleicht sollte er einfach die nächste S-Bahn nehmen und irgendwo hinfahren. Aber die Gefahr, zwischen all den Leuten zerquetscht zu werden, ist ihm zu groß. Nein, er wird sich auf den Weg in die Brache machen, sobald der nächste Zug durch ist.

"Die S3 verspätet sich um wenige Minuten."

Kurt horcht auf. Das ist seine Chance. So kann er den direkten Weg rüber auf die andere Seite nehmen. Es wird ihn weniger Mühe kosten, also sonst. Einfach Augen zu und durch. Seine Füße sind noch ganz klamm vom Morgentau. Kurz reibt er sich übers Gesicht, dann öffnet er seine orangefarbenen Flügel, so dass sich einer der 5 schwarzen Punkte in der Mitte teilt und schwingt sich in die Luft. Nicht zu hoch, der direkte Weg … .

"Eingefahrener Zug auf Gleis 2…"

Eingefahrener Zug?! Das kann nicht sein, eben hieß es doch noch 'wenige Minuten'. Kurt sieht das Ungetüm aus dem Augenwinkel, sieht den Lokführer hinter der Scheibe immer größer werden.

Zu spät.

Er schafft es nicht.

Er fliegt viel zu niedrig.

Keine Kraft mehr.

Wind von vorn.

Der Aufprall.

Plopp.

Dann blickt er in die weit aufgerissenen Augen des Lokführers. Ach nein, sie sind nicht weit aufgerissenen, blicken stur geradeaus, unberührt. Kurt ist nur ein weiterer Fleck neben vielen anderen an der Windschutzscheibe. Ein Quietschen, gefolgt von einem unheilvollen Scharren ist das Letzte, das Kurt hört, bevor der Scheibenwischer für klare Sicht des Lokführers sorgt.

Beta einhundert

Helge Bewernitz
Beta einhundert

 

"Warum sind Sie eigentlich nie hier weggezogen? Dies ist nicht unbedingt die schönste Gegend Berlins." Die junge Frau sah einen Moment von ihrem Aufnahmegerät auf. Es warf aus einer Falte ihrer Multifunktionskleidung heraus ein bläuliches Licht in den sich nach und nach verdunkelnden Raum. Er hatte wiederholt das Gefühl, dass sie mit einigen eingestreuten privaten Fragen seine Zunge lockern wollte – er konnte es ihr nicht verdenken, so hatte er es schließlich früher auch gemacht. Mit dem Unterschied, dass die jungen Leute diese Technik heutzutage offenbar an der Journalistenschule lernten.

Er schwieg und trank betont langsam einen Schluck von seinem Tee. Er nutzte die Pause, diese zierliche, ganz in Weiß gekleidete Person näher zu betrachten. Eine Splitterexistenz, gleichzeitig zu Hause an verteilten Orten, echten und virtuellen. Ihr dienstlicher Alpha-Status zeigte an, dass sie sich zu neunzig Prozent in seiner Wohnung befand – ein sehr hoher Wert. Und mit immerhin zehn Prozent ihrer privaten Beta-Existenz war sie ebenfalls hier bei ihm ...

Er blickte aus dem Fenster als er ihr antwortete. "Wissen Sie, ich lebe nach wie vor gerne hier. Dies ist meine Heimat, viele meiner Freunde lebten und leben hier. Ich bin 2001 hergezogen als ganz junger Mann, also vor über fünfzig Jahren. Ich habe mein Leben hier verbracht, als Lokaljournalist, wie Sie wissen." Ihr Alpha-Status sank auf siebzig Prozent; bei dem Wort "Heimat" stieg ihr Beta-Wert kurz auf über fünfundzwanzig … "Das ist es also, was dich interessiert? Dann bleib, hier bei mir, diese eine Nacht..."

Die junge Frau sah ihn jetzt mit einem Blick an, der Mitleid auszudrücken schien – oder doch eine Spur von … Sehnen?

Folge dieser Spur. Ich will deine Hand an meiner Wange und diesen Duft einsaugen bis ins Grab und dort sollen Blumen gepflanzt werden, die genauso duften …, aber ich will dich GANZ, verstehst du? Nur so kannst du die Heimat fühlen, die ich in dieser Nacht für dich sein kann.

Alpha sechzig, Beta vierzig. Es war sein Blick, vermutete er. Er gab sich keine Mühe, seine Gedanken und Gefühle zu verbergen. Sie las darin wie er in ihrem: Und dort – in ihren wissbegierigen Augen – schien sich etwas zu verbergen, so wie ein Stein eine Höhle verschließt …, eine Höhle voller Kostbarkeiten.

Ist das der Eingang zu deiner Seele? Was ist deine Sehnsucht? Ein Wort, ein winziges Funkeln aus dieser Höhle würde genügen … Für den Bruchteil eines Moments schien es ihm, als wolle sie darauf antworten.

"Nun gut", begann sie das Gespräch erneut, "kommen wir zurück zum Thema. Wir waren gerade bei Stadtgeschichte" — "Ja, richtig. Wissen Sie, ich bin raus aus dem Geschäft. Jahre und jahrzehntelang habe ich geschrieben, wie Sie, wenn auch nicht mit einem Mega-Verlagshaus im Hintergrund. Und so bitte ich Sie auch, meine Ausführungen zu verstehen. Ich werte nicht. Das ist gute journalistische Tradition. Auch wenn ich natürlich privat meine Meinung habe." — "Gut. Ich habe Zeit." Wieso hatten junge Leute heutzutage eigentlich Zeit? Als er jung war, schien sich die Welt immer schneller zu drehen … aber damals verstanden sich die Menschen auch noch als Individuen ... Alpha neunzig, Beta zehn ….

"Wie Sie wissen, wurden bis vor wenigen Jahren Siedlungen für Arme immer dort angelegt, wo es sowieso große Bauprojekte gab, auch am Ostkreuz. Moderne, kleine Apartments, mit optimaler Gleisanbindung, alles sehr hell und freundlich, mit großem Garten für die Kinder. Solche Siedlungen waren relativ günstig zu bauen, quasi nebenbei. Und sie sollten den Benachteiligten ein Leben im Zentrum ermöglichen."

Ohne ihren Blick abzuwenden, tippte sie etwas in ihr Aufnahmegerät. Dann kam sie wieder auf den Grund ihres Besuchs zu sprechen: "Sehen Sie durch die Katastrophe am Ostkreuz vor zwei Monaten den Fortbestand dieser Projekte gefährdet?" — "Nein, eigentlich nicht. Wissen Sie, diese Bauten wurden noch unter Regie des alten Bezirks geplant, das war 2036." — "Glauben Sie, dass es einen Zusammenhang gibt zum Selbstmord von Herrn Freiser? Immerhin hat er sich direkt am Ostkreuz vor den Solar-Zug Berlin-Paris geworfen."

Er schwieg und musterte sie abermals; ihr kleines Gesicht, die wachen Augen, die zielgenau den Kern eines Sachverhalts zu erkennen schienen. Kennst du auch ein Leben neben deinem Job? Oder hastest du von einem Ort zum nächsten, heimatlos?

"Wissen Sie", er räusperte sich und hoffte, dass es bedeutungsschwanger wirkte, "ich kannte Andi Freiser recht gut. Um nicht zu sagen wir waren befreundet. Was ihn dazu bewog, das weiß ich nicht." — "Ich habe etwas recherchiert. Die Siedlung unter dem Ostkreuz ist damals unter seiner Regie entstanden. Jetzt sind sechzig Menschen gestorben, zwanzig im Zug, vierzig in ihren Wohnungen, weil offenbar die Deckenkonstruktion fehlerhaft war. Das ist doch auffällig oder etwa nicht?"

Es ist doch alles so unwichtig. Nur das eigene Leben zählt, die Toten sind tot. Lass sie in Frieden ruhen. Lass uns abhauen, zusammen kann uns nichts stoppen. Lass uns den Himmel erobern und dann die Strafe eines dafür zuständigen Gottes gemeinsam empfangen. Ihre Mundwinkel zitterten, kaum wahrnehmbar … Es ist gut. Ich verstehe dich. In ihren Augen blitze etwas auf … als sei der Stein vor ihrer Höhle einen winzigen Spalt verrückt, so dass ein Lichtstrahl ihres Schatzes nach außen dringen konnte.

"Nun ja, junge Dame, diesen Zusammenhang stellen Sie her. Aber ich muss Ihnen ja nicht erklären, dass scheinbar offensichtliche Zusammenhänge oft nur genau das sind: scheinbare Zusammenhänge. Haben Sie mal in Erwägung gezogen, dass Andi Freiser schlicht private Probleme hatte?" — "Und?", setzte sie gleich hinterher, "hatte er?" — "Dazu werden Sie natürlich von mir nichts erfahren – kann sein, kann auch nicht sein."

Eine Sirene heulte. Großalarm im Kiez. In diesem Moment schwärmte in einem Umkreis von drei Kilometern die Bürgerpolizei auf der Suche nach Drogendealern aus.

Warum fängst du nicht auch an, Drogen zu nehmen? In deinem Alter ist es egal. Und die neuen genomoptimierten Pillen sollen ja wahre Wunderdinger sein: Ich könnte wann immer ich wollte ihren Körper spüren und ihren wundervollen Duft genießen, der gerinnt, an dem ich mich nähren könnte wie an einem Nektar.

Es war jetzt dunkel in seiner Wohnung. Nur ihr weißer Dress war sehr gut sichtbar, fast wie eine Lichtquelle. Er dachte an diesen Brecht-Satz — "Die im Dunkeln sieht man nicht."

Wartet nur, auch ihr werdet irgendwann im Dunkeln wandern und die Schatten derer, die dort leben, werden auf eure schöne weiße Kleidung fallen. Dann werdet ihr – die im Dunklen und ihr – ein reicheres Leben führen.

"In diesem Fall jedoch …" Er legte eine Kunstpause ein. — Alpha neunzig, Beta zehn — "Ich könnte Ihnen tatsächlich Informationen zur Verfügung stellen, die für eine Story taugen. Sie ist allerdings nicht besonders originell, solche hat es viele gegeben in den letzten Jahren."

Sollen wir nicht lieber eine wirklich bedeutsame Geschichte schreiben, gemeinsam, du und ich? Einmal noch will ich dieses eine Gefühl spüren … und du? Ich kann dir helfen, deine zahllosen Splitter zusammenzufügen … wenigstens für einen Moment. Sie blickte erschrocken auf. Wie jemand, der hohe Dornenbüsche zu überwinden hat, ehe er einen wundervollen Garten erreicht …

"Es ist schnell erzählt: Andi Freiser war damals als Baurat gemäß den geltenden Vorschriften verpflichtet, die Firma mit den Arbeiten zu beauftragen, die das günstigste Angebot im Rahmen der Ausschreibung abgegeben hatte. Nun – und diese Arbeiten wurden offenbar nicht richtig ausgeführt. Ihn trifft also keine Schuld, er hat sich vollkommen korrekt verhalten. Nichtsdestotrotz konnte er offenbar den Gedanken nicht ertragen, dass das Projekt während seiner Amtszeit beschlossen worden war. Ich verfüge über Unterlagen, die Ihnen eine wasserdichte Story ermöglichen." — "Wo befinden sich diese Unterlagen?" — "Hier in meiner Wohnung." Er stand auf und holte einige Ordner und Datenträger. "Danke. Ich werde sorgsam damit umgehen."

 

Sie verabschiedete sich, als es dämmerte. Alpha null, Beta einhundert, seit Stunden schon. Ihre Kleidung blitzte und blinkte. Aber sie ignorierte sämtliche Kontaktanfragen. An der Tür wandte sie sich um. Sie betrachtete wie schon so oft in dieser Nacht verwundert den kleinen Handspiegel, auf den er mit roten Buchstaben ihren Namen geschrieben hatte. "Danke". Sie reichte ihm ein letztes Mal ihre Hand … er spürte ein letztes Mal ihre Haut. Dann beugte sie sich vor und hauchte einen Kuss auf seine Wange.

Schließlich wandte sie sich ab und ging langsam das Treppenhaus hinunter. Leiser und leiser wurden ihre Schritte … bis sie abrupt zu verstummen schienen, als habe sie ihren Gang gestoppt. Bald darauf zeigte ihm das LED an, dass sie das Haus verlassen hatte.

 

Zwei Tage später fand er den Spiegel in der konventionellen Post: Ihr Name war bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Und nur die goldene Fassung hielt die zahllosen Splitter zusammen, die ihn in feinen Bahnen durchzogen.... Beigelegt fand er ein Kärtchen. "dein leben ist mein tod. es ist alles gut."

 

Der Strand war so weiß, dass er nur deswegen immer eine Sonnenbrille trug. Er fühlte Zufriedenheit. Der Kreis seines Lebens schien sich geschlossen zu haben. Wer war er gewesen auf dieser Welt? Ein einzelner Mensch, dem es vergönnt war, einige wirklich große Momente zu erleben, der sogar die Liebe kennen gelernt hatte, vor langer Zeit. Alles war gut. Es gab keinen Gott, der alles fügte. Er fühlte die ungeheure Freiheit, die dieser Gedanke in sich barg, während er auf das grünlich schimmernde Meer hinausblickte, auf dem schon einige Schatten tanzten. Sie näherten sich, fanden auf dem schneeweißen Sand Halt und umhüllten ihn schließlich, ganz sanft. In seinem Herzen tänzelten sie um seine Heimat; um SEINE Heimat; er lächelte.

Angst bis Ostkreuz

 

Ute Bluhm
Angst bis Ostkreuz

 

Eine Kleinstadt östlich von Berlin. Die Spätschicht ist beendet. Laufe durch menschenleere Straßen, ab und zu flimmerndes Licht von Fernsehern durch zugezogene Fenster. Zwei Bierflaschen vergessen am Kiosk, wo sonst verlorene Gestalten gemeinsam Schicksal hinunterspülen. Der einsame Bahnsteig mit Verbotsschildern. Also kein Zigarillo.

Besteige müde den letzten Wagen der Einundzwanziguhrachtzehn.

Mit einem großen, bulligen Kerl allein im Abteil. Blaue, stechende Augen, eine schlecht verheilte Narbe quer im Gesicht. Graugrüne Schimanski-Jacke und ein vergilbtes T-Shirt über dem fetten Bauch. Ein Metallgegenstand blitzt aus seiner Tasche. Ein Messer?

Erinnere mich.

Am Vormittag die eine Zeile.

Dieser Mann hat sechs blonde Frauen bestialisch ermordet.

Ängstlicher Blick. Warum steigt niemand zu? Noch sechs Stationen bis Ostkreuz.

Ziehe die Jacke enger zusammen, lange Kapuze verbirgt blondes Haar. Tasche und stumpfer Hausschlüssel der einzige Schutz.

Sehe plötzlich eine große Lache auf dem Fußboden, dunkel und klebrig. Blut?

Gänsehaut. Panik breitet sich aus.

Endlich – die blechern tönende Stimme – nächste Station Ostkreuz.

Bin noch am Leben.

Glück.

Nur noch ein paar Schritte durch die quirlig heitere, hell erleuchtete Sonntagstraßen-Gemeinschaft bis nach Hause.

OSTKREUZ!

Mit letzter Kraft schlage ich den narbigen Massenmörder zusammen.

Zwischen Seite hundertsiebzig und einundsiebzig.

Berlin-Ostkreuz, Freitagabend

 

August J. Herbst
Berlin-Ostkreuz, Freitagabend

 

Die Luft ist noch hitzig. Ein Vorhang öffnet sich. Die Sonne flirrt wie ein Scheinwerfer knapp durch die gusseisernen, schmuddeligen Säulen des Bahnhofs hindurch, die das schäbig schöne Dach tragen und bereits lange Schatten wie Figuren auf das Pflaster werfen.

 

Ein Pärchen schmeißt einige Groschen in einen Münzschlitz und krabbelt Kopf einziehend in die übelriechende Farbfotobox. Neckisch schieben sie sich in die richtige Position und ziehen die Gardine zu. Ein älterer Herr mit Violine und einer schweren, ledernen Aktentasche lächelt ihnen schwelgerisch hinterher.

Der Zielanzeiger flattert. S3 nach Erkner.

Eine Mutter mit Wickeltuchsäugling watschelt auf ihren noch verschwollenen Wasserfüßen vom Ring herunter an einer Schulclique Mädchen vorbei, die albern vor sich hingackern, direkt auf eine der hölzern harten Wartebänke zu und erdrängelt sich einen Platz. Ein Mann mit Schnauzbart stöhnt in seine graue, abgegriffene S-Bahnzeitung. Nervös leckt er sich die Finger feucht und grabbelt weiter durch die Seiten. Sie warten – beobachten verschwörerisch einen Buben in ihrer Nähe. Die verfilzten, blonden Haare auf seinem Kopf erinnern an alte, zu dick geschnittene Pommes und bereiten ihr sichtlich Unbehagen.

Seine Wangen sind ganz bleich. Er knibbelt sich in den Hosentaschen herum, kaut auf seiner Lippe, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Aus den Augenwinkeln hat er ihren aufdringlichen Blick bemerkt. Man spürt, dass er sich unwohl fühlt. Auch er wartet.

Erkner ist noch nicht da.

Am Gleis gegenüber stehen die Menschen dicht an dicht. Eine ältere Dame klemmt sich ihre Einkaufstüte zwischen die Beine, das Silbergrau ihrer Dauerwelle schillert im untergehenden Sonnenlicht. Der Herr mit der Geige wird aufmerksam, der schwelgende Blick wird zu einem träumerischen. Er macht diesen Augenblick zu ihrem Moment. Er setzt den rosshaarigen Bogen sanft an die zum Reißen gespannten Saiten. Sie fährt mit ihrer matten Hand über ihr Haar und richtet ihre konservative Frisur. Eine liebliche Melodie aus seiner Violine schleicht sich schmeichelnd an ihr Ohr. Damenhaft hebt sie das Kinn, streicht die Falten aus dem perfekten, purpurnen Kostüm, die Glasperlen an ihrem Dekolleté klingen flüsterleise aneinander, wenn sie den Hals nach ihm wendet. Er strahlt sie an. Sie räuspert sich genierlich und schlägt die Augen auf. Der Perlenglanz bricht sich darin. Er lässt die letzten Takte langsam ausklingen und applaudiert ihr mit einem Lächeln. Sie genießt das warme Gefühl der Scheinwerfer auf ihrer Haut.

Lichtenberg fährt ein und beendet ihren Auftritt abrupt. Fünf graue Täubchen fliegen aufgeschreckt davon und landen auf dem Dach einer ramschigen Würstchenbude. Ein dicker Junge mit kurzer Hose bestellt sich gerade eine fettige Currywurst.

Die Verkäuferin grinst und verschwindet hinter einem Regal prallvoll mit schillernden Keramikkatzen und staubigen Glaselefanten. Ein Lichtkegel fängt sie auf ihrer winzigen Bühne ein. Mit der Grazie einer adipösen Ballerina tanzt sie durch die drei Quadratmeter Verkaufsfläche, greift blind nach ihren Utensilien. Brutzelt, schnippelt und flatscht die Ingredienzen auf die Papppfanne. Hungrig reibt der Kleine sich mit seinen schmutzigen Fingerchen um den wässrigen Mund. Noch einmal dreht sie eine letzte Pirouette und wirft ein grünes Gäbelchen auf die in Ketschup ertrinkenden Fleischbrocken. Dann verneigt sie sich, blickt in die niedergehende Sonne und verlässt ihre Bühne. Es wird kühler.

Lichtenberg ist rappelvoll, das Signal tönt und ein Türke stemmt sich zwischen die Türen der Bahn. Sein Freund hüpft gerade so herein, es rummst und Lichtenberg fährt ab. Verschwindet irgendwo hinter Häusern und hinterlässt einen geleckten Bahnsteig im rosarot der sich verabschiedenden Sonne.

Erkner ist noch immer nicht da.

Die Gruppe Schulmädchen schreit laut auf. Der Scheinwerfer richtet sich umgehend auf ihr melodramatisches Schauspiel. Füße trippelnd und immer lauter plärrend zeigen sie mit Fingern und panischen Mienen auf den Eingang des Imbisses, aus dem soeben ein mehrbeiniges Tier mit einem langen, kahlen Schwanz flüchtet. Grazil umflitzt es den bonbonbäuchigen Currywurstbuben, dem erschrocken das Toastbrot von der Pappe rutscht, vorbei an der Bank – mit gerollter Zeitung schlägt der Schnauz nach dem Tier, verfehlt es, die verängstigte Mutter kriegt die wässrigen Beine nicht schnell genug hoch. Kurz stippt das Untier in den alsgleich kreischenden Fotoautomaten – es blitzt –, weicht knapp einer fallenden Aktentasche aus und verschwindet mit einem waghalsigen Sprung im Gleisbett. Zwei oder dreimal knallt noch wütend eine Zeitung auf die Lehne einer Bank. Dann wird es wieder ruhig. Ein wenig Wind kommt auf.

Von ganz weit kann man Erkner im Gegenlicht der Sonne kommen sehen.

Der Herr sammelt seine Notenblätter vom Boden, die beim Aufprall aus der Tasche stoben. Die Mädchen wenden sich ab und quasseln wieder gackernd vor sich hin. Der kurzhosige Junge tritt etwas unwillig die Scheibe Weißbrot auf die Gleise. Sogleich schwirren die Tauben vom Dach dem fliegenden Futter hinterher und picken sich wie in Trance große Krümel aus dem schmutzigen Toast heraus. Er freut sich ein wenig über die hungrigen Vögel und spießt das letzte Stückchen Wurst auf seine Gabel und steckt es sich zwischen die verschmierten Ketschuplippen.

Erkner rauscht plötzlich unerwartet herein. Ein dumpfer Knall und vier Vögel, die in alle Richtungen entfliehen. Geschockt steht der kleine Mann mit der Wurst zwischen Zähnen seines offenen Mundes im grellen Licht des einsamen Spots, der nur auf ihn gerichtet ist und schaut perplex an die Stelle, an der sich noch eben fünf graue Täubchen das Abendessen friedlich mit ihm teilten.

Die Türen öffnen. Das Wickeltuch stemmt sich behäbig von der Bank. Der Pommeskopf und die Mädchen steigen ein. Der Schnauz ist längst in den Waggon gestürmt und hat sich einen Doppelsitz reserviert. Das Abfertigungssignal tönt aus dem knisternden Lautsprecher. Der Geiger schließt seine Tasche und macht seinen letzten dramatischen Abgang. Die Türen schließen sich und Erkner fährt ab.

Der Bahnsteig ist nun fast leer. Nur in der Imbissbude tänzelt noch immer die Ballerina und wischt den Staub von ihren glitzernden Keramikkatzen. Ein Fotostreifen fällt aus dem Schacht des Automaten. Vier Aufnahmen der selben verdutzten und aufgeschreckten Gesichter. Er küsst ihre Hand und sie steckt die Bilder ohne weitere Beachtung in ihre Handtasche, bevor sie die Treppen hinauf verschwinden.

 

Der Vorhang schließt sich langsam und die Sonne grinst ein letztes Mal aus weiter Ferne. Lange, rote Fäden ziehen sich vom Horizont bis auf die Gleise herab. Die Schatten der eisernen Säulenallee verschmelzen mit dem Rest der Dämmerung und die nun kühle Sommerluft wischt taktlos um die nackten Beine eines dicken Jungen, der weinerlich ins Gleisbett schaut.

Gespräche von John und Jagda

 

Jeannette Abée
Gespräche von John und Jagda, Gespräche über die Stadt
Gespräch vom 25.07.2011

 

Tod am Ostkreuz sagst Du?

Genau, John, Tod am Ostkreuz.

Und was soll ich sagen dazu?

Einfach was sagen, John, ist Thema.

Aha, das Thema.

Ein Wettbewerb, John, man kann ein Gedicht dazu schreiben, ein Spiel, das acht Leute gewinnen oder auch zehn.

Gewinnen, was willst du gewinnen?

Frag nicht so, sag was.

Schreib über den Tod am Müggelsee, sag ich.

Tod am Müggelsee, was hat das mit dem Tod am Ostkreuz zu tun?

Tod ist Tod, ob Ostkreuz oder Müggelsee, geräumiger ist es, da im Hinterland des Wassers.

Was meinst du, John?

Weiß eine Geschichte, weil ich Gabi dort traf. Die lachende Gabi aus alten Tagen, hat jetzt ein Haus dort und freute sich, als ich kam. Mein Minne, sagte sie und stellte ihn vor. Er war Odin, ein Odin am Müggelsee, aufrecht und stark, fern der Heimat baut er seine drei Höfe allein.

Odin?

Hieß Ansgar ihr Mann, sah aus wie Odin. Mit bloßen Händen baute er vom Keller zum Dach, unterm Dach die Kinder fast groß, grüßten gelassen herüber. Gabi ist Frigg, denk ich, hilft mit und zerbricht, braucht Raum, mein Minne, sie sagte das und schaute mich an.

Raum, John, alle wollen ihn, obwohl er doch da ist.

Und Odin baut weiter, Jagda. Im Garten ein steinerner Leib. Riesig. Dämmerte unfertig. Das Gewölbe, er hört danach auf, sagte sie, er hat es versprochen.

Ein Gewölbe?

Ein steinerner hohler Leib, Jagda, nach dem Haus die Walhall, denk ich, voll das Grundstück, fast voll und reicht noch für was, für den dritten Hof, und es wächst bereits, über den steinernen Leib, den begehbaren Rücken, ein Pavillon, drei Schuppen. Odin zeigte sein Schnitzwerk am Tor, zeigte Halle, Gewölbe, gekreuzt.

Hör auf, John, hör auf, er baut sich zum Tod, baut seine Frigg in den Tod, meinst du das?

Tod oder Weisheit Jagda, das ist bei Odin eins, durch den Tod stand er auf. In den Berg hinein sterben die Menschen, doch Odin ist Gott, sitzt in der Halle, trinkt Met. Als Gottmensch am Müggelsee wird er weiterbauen, bis die Quadratmeter voll sind.

Und was passiert dann?

Dann zieht er mit seiner Frigg in ein Wohnmobil, weil das Geld nicht mehr reicht und die Kinder schon groß sind.

Also kein Tod am Müggelsee. John, kein Tod am Müggelsee und keiner am Ostkreuz.

Dann denk dir was aus, Mensch, was am Ostkreuz, du bist doch nicht doof.

Bin nicht doof doch doof, John.

Ein Kreuz ist ein Kreuz, musst du zugeben.

Ein Kreuz ist ein Kreuz, ja John.

Wozu ist ein Kreuz da?

Wozu, wozu, um wen dranzunageln?

Jagda, denk mal ganz einfach.

Wie einfach, bei dir ist das nie klar, was einfach ist.

Ein Kreuz verbindet zwei Richtungen, meinst du auch?

Zwei Richtungen, zwei Wege, du meinst die Wege, John, ich kenne dich.

Und wo Verbindung ist, ist auch Trennung, das meinst du sicher auch, John.

Meine ich auch, ist Entscheidung, am Kreuz ist Entscheidung, Jagda.

Für was?

Für West, Ost, Süd oder Nord.

Sei nicht doof, John.

Am Kreuz ist Begegnung, Jagda, ist Handel, Austausch, Verschwinden.

Hat das mit Tod zu tun?

Lässt sich schaukeln alles.

Sicher, John, das Hinbiegen, Herbiegen, deine Art.

Du biegst hin, Jagda, verdrehst, verdrängst, aber jetzt weiter im Text.

Welcher Text?

Den du erfinden musst, Jagda. Allein du und denk dir ein Nest, ein Liebesnest, ein Zimmer am Ostkreuz. Denk Trennung, Entscheidung.

Das ist nicht denken, das ist erinnern, John, hör auf damit.

Es rattert von den Gleisen ins Fenster rein und da sitzen zwei und schweigen, weil alles zu Ende geht. Jagda, so hast du erzählt, eine Liebe geht tot in nur drei Minuten, ätzt Magen, Gedärm, der Kopf ist voll, leer, irgendwas. Dann geht einer. Einer geht zum Kreuz, steigt ein, fährt weg. Oder beide gehen, verlassen das Nest. Ins Nest rattert’s weiter rein, weil weiter die S-Bahnen fahren.

Will das nicht, John.

Dann leg eine Leiche ans Gleis, doch was hat eine Leiche mit dem Tod zu tun, frage ich dich? In diesen Geschichten geht es nicht um den Tod, es geht um Ermittler, Kommissare, und es macht Spaß, mit ihnen gemeinsam zu rätseln, das gebe ich zu.

Will keine Leiche, John, und kenne mich nicht aus damit.

Willst du überhaupt was, willst du mitmachen?

Es werden alle so knabbern wie wir, John. Alle, die mitmachen, meinst du nicht?

Du meinst, es schadet nichts.

Genau, es schadet nicht, John.

Nutzt es?

John, deine alte Leier.

Ganz alt, ich frage nach, gib mir Meinung. Wenn ich frage, stelle ich eine Frage, forsche nach, so lassen sich Dinge erkunden.

Danke, John.

Wofür?

Wir schreiben alles auf jetzt. Einfach auf.

Nun denn, du schreibst, ich geh raus, raus an die Luft.

Wohin gehst du?

Zum Ostkreuz. Gucke Baustellen an, passiert immer was, wird gebaut, immer gebaut, Jagda, womit wir wieder bei Odin wären, Odin vom Müggelsee.

Du bist gemein, John.

Bin nicht gemein, ich gehe nur.

Du lässt mich allein, John.

Ich lasse mich auch allein. Verdammt allein.

Darf ich mitkommen?

Wir sind am Punkt jetzt, denke ich.

Am Punkt?

Am toten, verdammt toten Punkt, Jagda. Ich stelle mir gerade einen Menschen vor, der da am Bahnsteig sitzt und nichts will, nichts weiß, nichts denkt. Er betrachtet, wie Gestänge der Gerüste sich kreuzen, an Gestängen die Lampen hängen, wie Menschenkörper im Blick zerschnitten werden von Linien und Rohren, betrachtet Gesichter darin, in den vielen Rechtecken aus Masten, Stangen und Bändern. Ob sie gelassen sind oder traurig, sieht Blau und Rot, betrachtet die Schatten der Füße und erkennt, dass das Licht von Süd/Südwest kommt.

Und weiter?

Dieser Mensch sieht Planen wie Leinwände, sieht sich bewegende Schatten dahinter, Schatten von Menschen, Kränen und Seilen, von Ösen, Gestängen und Lampen, lässt sich treiben durch Licht-und Schattenwelt, wie es sich ineinanderschiebt, das Davor, Darin und Dahinter.

Züge fahren ein, zeichnen Bänder und Linien, zerschneiden die Luft und Worte, in ihren Fenstern mischen sich Davor, Darin und Dahinter, mischen und verdoppeln sich, sieht sich selbst dieser Mensch, sich gespiegelt und sich verschwinden, wenn der Zug wieder anfährt.

Sieht sich verschwinden. Und immer noch denkt er nichts, weiß nichts, will nichts.

Ist er leer, John?

Er ist voll, Jagda, und könnte nicht voller sein. Zustand größter Erfüllung und Stille zugleich das, wie er da sitzt und sich verschwinden sieht.

Schneller

 

Miryam Kirschner
Schneller

 

Es ist bereits das dritte Mal, dass ich schweißgebadet aufwache, so kurz vor dem Klingeln des Weckers, und das obwohl ich ihn nicht einmal immer auf die gleiche Uhrzeit stelle. Auch dieses Mal erschreckt mich dieser schrille Ton, denn mir gelingt es nicht schnell genug, diesen Wecker im Vorfeld kurz nach dem Erwachen auszuschalten.

Ich fühle mich erschöpft und habe nicht mal die Kraft, meiner Wut Ausdruck zu verleihen, indem ich dieses penetrante Ding einfach gegen die Wand feuere.

Der Morgen nimmt seinen Lauf mit dem üblichen Zähne putzen und dem Trinken eines Fenchel­Kümmel-Anis-Tees. Seit ein paar Wochen gelingt es mir mit Hilfe dieses Rituals, den Tag zu beginnen.

Heute habe ich keinen Termin. Ich verlasse das Haus und peile den nächsten U-Bahnhof an, begebe mich in den Untergrund.

 

Von Weitem höre ich das Pfeifen der U-Bahngleise. "Schnell, die kriegst du noch", denke ich mir. Also rasch um die Ecke gebogen, die Treppen hinunter gesaust, zwei, drei Stufen auf einmal, wie ein gehetztes Tier flitze ich mit dem Gedanken: "Ist es überhaupt die richtige Richtung?" Ja, es ist die richtige Richtung, gegen den Uhrzeigersinn, die Türen stehen weit offen, die U-Bahn ist voll wie immer zu dieser Zeit, aber ich glaub’, ich pass’ da noch rein, ich kann mich noch hineinquetschen in die Menge, diese Masse an Menschen, deren Schweiß und Parfum die Nasen eines jeden einzelnen rümpfen lässt.

Plötzlich dieser übertrieben schrille Ton und "Zurückbleiben!" Ich stoße gegen die Tür und falle zurück auf den Bahnsteig.

Ich überschlage mich wieder mal selbst. Meine Beine können gar nicht so schnell wie ich will. Wünschte ich doch, den Tag damit zu beginnen, gemütlich im Treptower Park einen Winter-Spaziergang entlang der Spree zu machen, einfach nur die Gedanken laufen lassen..., in sich hineinspüren, das Knirschen des Schnees unter den Füßen hören..., den Kindheitserinnerungen nachsinnen...

Wie auch immer, dies ist wieder mal einer dieser Tage an denen ich mich abhetze, ohne zu wissen, warum.

 

Die Anzeigentafel blinkt auf: "Unregelmäßiger Zugverkehr" – auch das noch.

Ich setze mich hin, auf der Wand gegenüber drängt sich mir ein Plakat auf, mit einer ohne Zweifel üppigen, Silikonbusen tragenden Wasserstoff-Blondine. Grinsend, scheinbar ohne Anstrengung stemmt sie einen Kasten Bier. Darüber steht:

"Mehr zum Anpacken!"

Ich stehe auf, weil ich genug habe von diesem Bild, laufe hin und her, als endlich nach zwanzig Minuten die nächste U-Bahn einfährt, diesmal nicht ganz so voll.

 

Dafür entdecke ich im Wagon eine andere Werbung für eine dicke Schwarte: "Schneller lesen – mehr verstehen". Klingt irgendwie paradox oder?! – Ein Buch, das mein Leseverhalten verbessern soll?! Na ja, für den einen oder anderen mag das ja was sein, für mich jedenfalls kommt das nicht in Frage. Ich lese in meinem Tempo weiter und außerdem tue ich das zwischen den Zeilen.

Ich habe plötzlich den Eindruck mein Zeitgefühl zu verlieren. Alles wird schwarz um mich herum.

Vor meinen Augen erscheint:

Schneller kochen – mehr essen, schneller essen – mehr kotzen.

Schneller kotzen – mehr Körpergefühl, abnehmen!

Dabei kann ich gar nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte.

Schneller kaufen, mehr Umsatz – schnellerer Umsatz, mehr Produktivität!?

Schneller saufen, mehr raufen – schnelleres Delirium statt Elysium.

Schneller ficken – mehr Orgasmen,

dazu brauchen Sie nicht mal mehr einen Partner.

Schneller Cyber-Sex – mehr virtuelle Befriedigung

und endlich

schneller schlafen – mehr träumen, schneller träumen – mehr verarbeiten.

 

Jetzt bin ich eine Station zu weit gefahren, aber meine Beine sind gelähmt, ich kann nicht aufstehen. Mein Atem wird schneller, ich spüre förmlich, wie der Puls ansteigt.

Schneller studieren – mehr Wissen.

Schneller meditieren – mehr Weisheit erlangen, schneller Weisheit gewinnen – größere Erleuchtung.

Schneller telepathische Fähigkeiten entwickeln – den Menschen näher sein.

Schneller transzendental spüren – mehr Erkenntnis,

nicht zu verwechseln mit der Transzendenz, die das Übersteigen der Grenzen des Erfahrbaren bedeutet.

Schneller parapsychologisch bzw. telekinetisch experimentieren – intensiveren Zugang zum Teufel finden.

Schneller heilen, länger leben.

 

Auf einmal bekomme ich keine Luft mehr.

Auf meiner Uhr, die stehen geblieben ist, erscheint in grellen Buchstaben, welche regelmäßig aufleuchten und einen ungemeinen Schmerz in meinen Augen auslösen, wieder und wieder:

Schneller sterben – mehr Jenseits!!!

Mich überkommt eine unendliche Müdigkeit.

Mir gelingt es dann aber doch, irgendwie aufzustehen. Ich schleppe mich aus der Tür und weiß erst mal nicht, wo ich mich befinde. Verschwommen erkenne ich das Bahnhofsschild Ostkreuz. Ich laufe in Fahrtrichtung hin zum Ausgang, der wegen einer Baustelle gesperrt ist. Ich schlage die andere Richtung ein, aber auch hier treffe ich auf Bauarbeiten. Die Funken der Flex machen mich müde. Ich finde keinen Ausgang. Was soll ich tun? Warten? Warten darauf, dass alles hoffentlich nur ein Traum ist, aus dem ich erwache und ich mich im besten Falle am Treptower Park befinde? Warten aufs nächste Jahr, das – Gott bewahre – nicht so schnell vergeht, vorausgesetzt ich überlebe dieses?

Wie auch immer... Es gibt einen Ausweg, auch wenn ich ihn noch nicht kenne, und

ich werde ihn wagen, den Sprung in die Freiheit.

Der Börsengang

 

Katharina Triebe
Der Börsengang

 

Es waren ehrgeizige Ziele, als im Jahr 2006 verkündet wurde, dass die Modernisierung des Bahnhofs Ostkreuz zehn Jahre später fertiggestellt sein würde. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass das Weltgeschehen dem Plan einen Strich durch die Rechnung machen würde.

 

Am 21. Juli 2011 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der 17 Euroländer auf ihrem Gipfeltreffen in Brüssel auf ein Krisenpaket für Griechenland. Um das Land vor dem Staatsbankrott zu bewahren, sollte ein Rettungsschirm in Höhe von 2,3 Milliarden Euro gebildet werden. Nur einen Tag später wurden auch in Spanien und Italien Gerüchte von einem finanziellen Crash laut. Die Regierungen der EU-Länder sahen sich angesichts des riesigen Finanzbedarfs zum schnellen Handeln gezwungen. Bundeskanzlerin Merkel ordnete eine sofortige Einstellung aller geplanten und bereits laufenden Bauvorhaben an. Die Wiedererrichtung des Stadtschlosses wurde auf Eis gelegt. Der Flughafen BBI würde auf ein Terminal für den neuen Airbus A380 verzichten müssen und die Bauarbeiten auf dem Bahnhof Ostkreuz wurden mit sofortiger Wirkung gestoppt. Als diese Nachricht am Morgen des 30. Juli 2011 im Radio gesendet wurde, reagierten Millionen Zuhörer in Deutschland geschockt. Für Horst Bäumlich, leitender Mitarbeiter des Eisenbahnbundesamtes und Chef des Projektes Umbau und Modernisierung des Bahnhofs Ostkreuz kam dieser Beschluss einem Ruin seiner bisherigen beruflichen Tätigkeit und einem Ende seiner Laufbahn gleich. Doch Rettung nahte.

Just an diesem Morgen nämlich landete Sepp Mausbichler, österreichischer Tourismus-Mogul und Multimillionär aus dem alpinen Wintersportort Saalbach-Hinterglemm mit einer Maschine der Austrian Airlines in Berlin-Schönefeld. Da weit und breit kein Taxi in Sicht war, entschloss er sich, mit der S-Bahn nach Ostkreuz zu fahren, um in der dortigen Außenstelle des Eisenbahnbundesamtes seinen Schwager Horst Bäumlich zu besuchen. Zeit hatte er genug bis zum Treffen und freute sich deshalb auf eine entspannte Bahnfahrt. Die Vorfreude währte allerdings nur wenige Minuten, denn aufgrund von Betriebsstörungen verkehrte die Bahn nur im 30­Minuten-Takt und war dann natürlich rappelvoll. "Jo mei, wo san’s ma denn hier?", rief Sepp, der mit solchem Andrang nicht gerechnet hatte und bei jeder Station mehr ins Schwitzen kam. Er durchlebte das volle Programm: Er wurde mit Kaffee bekleckert, von Bettlern bedrängt, in Schweißgerüche eingehüllt und mit Ellenbogen gestoßen. Außerdem fielen ihm die entnervten und gelangweilten Mienen der Fahrgäste auf. Bahnfahren schien ihnen lästig zu sein, eine bloße Zeitverschwendung, ein notwendiges Übel. Einige hatten sich hinter Zeitungen verschanzt, vorausgesetzt, sie hatten einen Sitzplatz ergattert, und schenkten ihrer Umwelt keinen einzigen Blick. Niemand schien es zu genießen, nach draußen zu schauen. Endlich erreichte der Zug Ostkreuz und Mausbichler stieg aus.

Kurz darauf betrat er das Büro von Bäumlich. Nach einer herzlichen Begrüßung stellte Bäumlich neidvoll fest, wie gesund und entspannt doch sein Schwager aussah. "Jo, aber du gfallst mir gar net", rief Mausbichler, "hoast Sorgen?" Bäumlich ließ zwei Tassen Kaffee bringen und berichtete von dem Regierungsbeschluss, der sämtliche Bauvorhaben auf Eis gelegt hatte und wahrscheinlich sogar das Aus für den Bahnhof Ostkreuz und Bäumlichs ehrgeizige Träume bedeutete. Mausbichler hörte aufmerksam zu, überlegte, trank noch weitere zwei Tassen Kaffee und aß dazu einige Leberkäsesemmeln aus seinem Rucksack, denn nach der langen Reise hatte er ordentlich Appetit bekommen und in der Austrian Airlines war kein Imbiss angeboten worden.

Kurz vor Mittag schließlich war Bäumlich mit seinem Bericht fertig und Mausbichler saß da und dachte nach. Im Gegensatz zu seinem Schwager war sein Gesicht allerdings nicht traurig und verzweifelt, sondern allmählich immer vergnügter geworden. "Ich hab’s", verkündete er schließlich und legte seinem Schwager seine Idee dar, die so absurd und verwegen war, dass Bäumlich erst skeptisch den Kopf schüttelte, dann aber angesteckt wurde von Mausbichlers Optimismus. "Sepp, alter Junge, du hast freie Hand!", rief er zum Schluss. Dieser Satz sollte dem Bahnhof Ostkreuz das Leben retten.

Der Plan sah folgendermaßen aus. Sepp Mausbichler würde als privater Teilhaber in die Modernisierung des Bahnhofs Ostkreuz einsteigen und sofort mehrere Millionen von seinem Konto bereitstellen, um die Bauarbeiten fortzuführen. Allerdings würden diese vom ursprünglichen Plan etwas abweichen – das war dessen Bedingung bei dem Geschäft gewesen. "Weißt du, es ist nicht gut, wenn die Leute so griesgrämig in der S-Bahn sitzen und am Ostkreuz vorbeifahren. Mir fehlt die Begeisterung der Menschen an dem Projekt. Lass uns den Umbau zur Kult-Aktion machen und das Ostkreuz zur echten Attraktion werden. Nicht nur Technik, auch Spaß und Abenteuer wollen wir den Fahrgästen bieten, eine einmalige Fahrsensation. Wir machen das Ostkreuz zur Erlebnisstation!" Und da Sepp Mausbichler seine bisherigen Millionen beim Bau von Seilbahnen, Après-Ski-Hütten und Abfahrtspisten im österreichischen Alpentourismus verdient hatte, plante er, auch dem Ostkreuz und dessen Umgebung einen alpinen Anstrich zu geben. Alt-Stralau würde endlich aus dem Dornröschenschlaf geweckt werden und ein österreichisches Restaurant, in dem es Schweinshaxen und Speckknödel gab, erhalten sowie einen längst fälligen Supermarkt. Neue Häuser sollten dort von jetzt an nur noch im Alpenstil gebaut werden. Die Bepflanzung der Balkons mit üppigen Hängegeranien wurde zur Pflicht erklärt. Außerdem wurde eine Diskothek geplant, in der an den Wochenenden regelmäßig Partys stattfinden würden. Allerdings nicht der ausgetretene Techno- und House-Sound, sondern echte österreichische Hüttengaudi. Passenderweise würde die Diskothek Partystadl heißen.

Parallel zur S-Bahnstrecke Ostkreuz-Treptow sollte eine Seilbahn mit Sessellift und Kabinen verlaufen. Damit wäre gesichert, dass bei Zugausfällen auf dieser Strecke eine zuverlässige und sportliche Alternative bereitstünde. Auch wer sich gerne bewegte, sollte auf seine Kosten kommen – die Elsenbrücke würde als Nordic-Walking-Strecke und im Winter als Skiloipe umgebaut werden. Alle Züge der Ringbahn sollten um zwei Waggons verlängert werden – einer würde als Raucher-und Kinderwagenabteil dienen, der zweite als Speisewagen. Durch die Abteile streunende Bettler sollten verboten und stattdessen mit monatlich 100 Euro fest angestellt werden. Dafür hatten sie bei Zugausfällen auf den Bahnsteigen für gute Laune zu sorgen, indem sie österreichische Volkslieder schmettern und Schuhplattler tanzen sollten. Die Kosten für Lederhosen und Tanzlehrgänge würden von der Bahn AG übernommen. Horst Bäumlich gab zu bedenken, dass er diese Ideen nicht alleine durchsetzen könnte – dafür müsse man die Zustimmung von Bahnchef Grube einholen. Kein Problem. Mausbichler ließ sich sofort mit Grubes Sekretariat verbinden und erhielt einen Termin für den Nachmittag desselben Tages. Das Gespräch beim Bahnchef erfolgte unter sechs Augen, nur Mausbichler, Grube und Bäumlich waren anwesend. Die Zeitungen sprachen am nächsten Tag von "leidenschaftlichen Debatten". Wie verlautete, sei Bahnchef Grube von den Plänen begeistert gewesen und hatte zusätzlich vorgeschlagen, dass junge adrette Serviererinnen im Dirndl in der Ringbahn den Fahrgästen Kaffee, frische Brezeln und Leberkäsesemmeln anbieten könnten. Inhabern von Jahres-, Umwelt- und Seniorentickets würden nach erfolgtem Börsengang Vorzugsaktien angeboten werden. Diese Neuerungen im Service-und Abonnementbereich würden die Fahrgastzahlen bei der Bahn in traumhafte Höhen schnellen lassen, vom Imagezuwachs ganz abgesehen. Auf jeden Fall hatte das Gespräch die Bahn einen entscheidenden Schritt in Richtung Börsengang vorangebracht. Bahnchef Grube und Mausbichler waren am Schluss des Gesprächs höchst zufrieden auseinander gegangen. Gerüchte, dass die beiden sich zum Abschied geduzt hätten, konnten allerdings nicht bewiesen werden.

Natürlich musste sich auch am äußeren Erscheinungsbild des Ostkreuzes einiges ändern. Mit der Anzahl der Bars und Hostels in der Umgebung war Mausbichler zwar zufrieden, aber sie sollten zünftige österreichische Namen erhalten. Das Hostel Alcatraz Backpacker in der Bahnhofstraße wurde kurzerhand in Pension Alpenrausch umbenannt, die Sportlerklause am Rudolfplatz hieß neuerdings Zum Großglockner und Heidis Imbiss in der Sonntagstraße Zenzis Hexenhäusl, um nur einige zu nennen.

Der Umbau des Ostkreuzes schritt nun schnell voran. Die Zeitungen überschlugen sich vor Lob und Begeisterung und eine heftige Diskussion ergab sich, ob man den Bahnhof Ostkreuz nach seiner Fertigstellung nicht umbenennen solle. Bäumlich – und damit stand er nicht allein – plädierte für "Sepp-­Mausbichler-Station", Mausbichler wiederum hatte "Grube-Kreuz" vorgeschlagen. Der Bahnchef jedoch winkte bescheiden ab und so einigte man sich schließlich auf den aussagekräftigen Namen "Ostkreuz-Alpin".

Natürlich würde auch eine rauschende Eröffnungsfeier, von der noch Generationen schwärmen sollten, anlässlich der Fertigstellung des Ostkreuzes stattfinden. Das Zentrum der Feierlichkeiten würde die neue Diskothek in Alt-Stralau bilden. Ein riesiges Plakat, das den gesamten oberen Teil des Bahnhofs Ostkreuz umspannte, war Monate vorher bereits ausgerollt worden und warb mit den Worten: "Das Après-Bau-Erlebnis mit der globalen Partystimmung" für Besucher aus Nah und Fern. Mausbichler hatte bereits viel österreichische Prominenz eingeladen. Dank seiner finanziellen Mittel war es ihm sogar gelungen, Weltstars für die Eröffnungsfeier zu engagieren. So hatten die "Original Oberkrainer" bereits fest zugesagt und ebenso die "Tiroler Alpengeister". Als Überraschungsgast – und darauf war Mausbichler besonders stolz - würde Lady Gaga auftreten und ihren Hit "The age of glory" in einer brandneuen Jodelversion darbieten.

Zum Schluss zauberte Mausbichler noch ein As aus seinem Ärmel – am Wasserturm am Ostkreuz sollte in Zukunft Paragliding möglich sein. Die Baukommission war sprachlos. Würden sich die Fallschirme nicht in den Bahnanlagen verfangen? Aber Sepp als alter Profi in Sachen Erlebnissport hatte an alles gedacht. Die Paraglider würden in Richtung Alt-Stralau und Rummelsburger Bucht fliegen und im Treptower Park landen. Gesagt, getan, Geld war genug da. In nur drei Monaten wurde der Wasserturm komplett saniert und umgerüstet. Ganz oben montierte man eine Plattform, von der aus die Sprünge erfolgen konnten. Was für ein prächtiger Ausblick sich von oben bot! Am 29. Juli, einen Tag vor der Eröffnungsfeier, sollte der erste Gleitschirm herabsegeln. Natürlich wurde Mausbichler die Ehre des ersten Sprunges zuteil, schließlich hatte er das ganze Projekt finanziert. Um 17 Uhr umringten Millionen jubelnde Zuschauer, Vertreter des Bahnvorstandes und des Eisenbahnbundesamtes das Gelände rund um den Wasserturm. Polizisten hatten Mühe, alle Neugierigen an die Seiten zu drängen. Um 19 Uhr erreichte die Stimmung ihren Höhepunkt. Sepp Mausbichler trat feierlich in Lederhosen und kariertem Wams, den Gleitschirm umgeschnallt, nach draußen auf die Plattform. Er winkte dem jubelndem Publikum jovial zu und sprang vom Gipfel des Wasserturms mit seinem Paraglider in die Tiefe.

 

"Österreichischer Multimillionär in den Tod gestürzt" — lautete die große Schlagzeile aller Zeitungen am nächsten Tag. Wie die Berliner Zeitung in ihrem Leitartikel berichtete, hatte sich Mausbichlers Gurt vom Paraglidingschirm unmittelbar nach dem Sprung gelöst und der Österreicher war zum Schrecken aller Zuschauer wie ein Stein hinabgestürzt. Jegliche Rettung kam zu spät.

Darunter stand in kleiner Schrift: "Grete Mausbichler, Witwe von Sepp Mausbichler und Alleinerbin seines Milliardenvermögens, hatte nach Testamentseröffnung sofort sämtliche Zahlungen ihres verstorbenen Mannes an das Projekt Modernisierung Ostkreuz eingestellt."

Doch noch eine weitere Meldung hatte es auf die erste Seite der Zeitungen geschafft. In dicken Schlagzeilen war zu lesen, dass sich Griechenland entschlossen hatte, die Drachme wieder als Landeswährung einzuführen. Der Rettungsschirm von 2,3 Milliarden Euro war damit überflüssig geworden, weshalb Bundeskanzlerin Merkel ab sofort alle Investitionen für die Fortsetzung von Bauvorhaben wieder freigab.

Eine Art Liebe

 

Clemens Schittko
Eine Art Liebe

 

Du wirst mich
auf den Tisch legen
und mich vollständig entkleiden.

Du wirst meinen Kopf,
mit einer Stütze im Nacken,
höher legen.

Du wirst alle Pflaster und Verbände,
Sonden und Urinbeutel,
Katheter und Herzschrittmacher
und ähnliche medizinische Utensilien entfernen
und auch alte Windeln entsorgen.

Du wirst meine Haut und alle Körperöffnungen
mit einem speziellen Desinfektionsmittel einsprühen.

Du wirst mich vollständig einseifen
und mit kaltem Wasser waschen
und dabei gröbere Verschmutzungen
sowie austretende Körperflüssigkeiten
und eingetrocknetes Blut beseitigen.

Du wirst eventuelle Wunden vernähen
und mich im Gesicht rasieren.

Du wirst meine Fingernägel
reinigen und schneiden.

Du wirst meine Haare gründlich waschen,
mit Shampoo einmassieren,
auswaschen und fönen.

Du wirst meinen Körper,
wie auch den Tisch,
vollständig abtrocknen.

Du wirst mich mit einer speziellen,
feuchtigkeitsregulierenden Massagecreme
eincremen und massieren,
damit sich meine Starre löst
und meine Haut nicht austrocknet
durch die Kühlung.

Du wirst alle meine Körperöffnungen
wie Nasenlöcher, Rachen und Anus
mit Wattebäuschen verschließen,
damit keine Körperflüssigkeiten austreten.

Du wirst mir
eine frische Windel
überstreifen.

Du wirst meinen Mund
mit einer sogenannten Ligatur verschließen,
indem du mit einem Baumwollfaden
und einer chirurgischen Nadel
den Unterkiefer von innen
mit der Nasenscheidewand zusammenbindest.

Du wirst meine Augen schließen,
indem du kleine kontaktlinsenartige,
mit Noppen besehene Plastikkappen
auf die Augäpfel aufsetzt
und die Augenlider
wieder darüberziehst,
damit sie nicht einsinken
oder sich wieder öffnen
durch die Austrocknung.

Du wirst mich ankleiden,
schminken und frisieren.

Und du wirst mich einbetten ...
in das Nicht-Gedicht deines Körpers –
eine Art Liebe,
die ich nicht
gekannt haben werde –
eine Art Liebe,
die mich nicht
gekannt haben wird.

 

ALLE 36 SEKUNDEN IN DEUTSCHLAND
wird bei einem Menschen
durch verringerte Hirnaktivität
die Wahrnehmung eingeschränkt,
wird die Atmung flacher,
wird das Sehvermögen schlechter,
funktioniert das Hörvermögen nur noch partiell,
geht die Sehfähigkeit völlig verloren,
tritt der Herzstillstand ein,
folgt unmittelbar, innerhalb weniger Minuten, der Hirntod
der Funktionsverlust der Hirnzellen,
beginnt, an den Herzstillstand
und den Hirntod anschließend,
die Zersetzung des Körpers,
sterben die Zellen ab,
beginnend mit den Gehirnzellen, den Neuronen,
gefolgt von den Zellen des Herzgewebes
zehn bis 20 Minuten nach dem Hirntod,
gefolgt vom Tod der Leber- und Lungenzellen,
erst ein bis zwei Stunden später
stellen auch die Zellen der Nieren ihre Funktion ein...
alle 36 Sekunden in Deutschland.

 

Tatort Tagesschau – To-do-Liste

den Tod erleiden
den Tod feststellen
den Tod finden
des Todes sein
eines gewaltsamen Todes sterben
eines natürlichen Todes sterben

in den Tod gehen
in den Tod treiben

mit dem Tod büßen
mit dem Tode bezahlen
mit dem Tode kämpfen
mit dem Tode ringen

sich den Tod holen
vom Tod ereilt werden
zu Tode hetzen
zu Tode kommen
zu Tode prügeln
zu Tode reiten
zu Tode schinden
zu Tode schuften
zu Tode stürzen

 

Friedrichshainer Epitaph

Es regnet, d.h.
ich muss nicht
zum Friedhof,
um die Blumen
auf dem Grab
meines Vaters
zu gießen.

Sagte ich "Grab
meines Vaters"?
Seit wann
können Tote Gräber
oder auch nur
irgendetwas besitzen?
Juristisch gesehen
gehört ihnen
vermutlich
noch nicht einmal
ihr Leichnam
bzw. ihre Asche.

Ich gehe nicht
zum Friedhof, d.h.
es muss regnen.

 

Auch die Gedichte

Auch die Gedichte,
die vom Tod handeln, lenken
stets nur ab – vom Tod.

GÄBE ES SIE NICHT,
die Toten, wäre ich längst
nicht mehr am Leben.

 

Sightseeing Zwischenkriegszeit

Die Bäume an den Straßenrändern
sind beschnitten
oder noch nicht groß genug,
als dass ihre Äste
mehr als eine Schlinge tragen.
Für alle Nicht-Bauarbeiter hingegen
sind die Baukräne schon zu groß,
als dass sie mit einem Galgen
verwechselt werden könnten.

WIR HALTEN HÄNDCHEN ...
Sind wir Liebende? Liegt einer
von uns im Sterben?

FÜR DAS AUSWASCHEN
der Augen genug
die Häuser voll Schlaf
kommt Zeit kommt Tod
ein Himmel ohnegleichen
nichts Vergebliches an uns
das Schweigen ein Salz
für das Erschöpfte
gehen Zwei aneinander wahr
ist Eins durchstoßen
ohne Antwort bleibt nichts
nichts ist vergeben
ein Haus und wir
entfallen einem Schlaf

Zwei Sichtweisen

 

Sonja Hoffmann
Zwei Sichtweisen

 

Nur unter aller größter Anstrengung hatte Lars sich heute Morgen aus dem Bett schälen können und obwohl er sogar auf eine Dusche verzichtet hatte, war er schon fünf Minuten zu spät am Ostkreuz. Dort stand er nun auf dem Bahnsteig der Ringbahn, völlig verschlafen, ungewaschen und hungrig. Einen Kater hatte er ehrlich gesagt auch noch, denn entgegen seinen Beteuerungen hatte er sich gestern doch noch mit den Jungs getroffen. Irgendwie ist es dann ganz schön spät geworden und in ihm stieg die Vermutung auf, dass das letzte Bier schon nicht mehr ganz gut war. Der Baustellenlärm tat in diesem Zusammenhang sein Übriges. Lars starrte auf die Uhr: mittlerweile war es drei Minuten vor neun. Um Viertel vor neun waren sie verabredet gewesen und er kam ja schon zu spät. Die nächste S-Bahn fuhr ein und endlich stieg auch Julia aus. Ohne eine Begrüßung und wild gestikulierend legte sie los:

"Ich hatte doch tatsächlich meine Ballerinas zu Hause vergessen und musste dann noch mal zurück. Ohne die geht schließlich gar nichts!"

"Hm...", war alles, was Lars vorbringen konnte, bevor Julia weiterredete.

"Also, wir müssen jetzt in die S 9, die fährt direkt bis zum Flughafen."

Lars nickte. Die Bahn kam und sie stiegen ein.

"Hast du die Matten denn noch bekommen?"

Matten? Welche Matten? In Lars' Kopf fing es an zu rattern. Julia brauchte keine Antwort. Sie hatte Lars gestern noch gebeten, die tollen Badematten bei Rossmann zu holen, denn dann bräuchten sie nicht die in ihren Augen völlig überteuerten Strandartikel auf Mallorca zu kaufen und außerdem liebte sie es, gut vorbereitet zu sein.

"Nee, oder, du hast sie nicht geholt. Und überhaupt, wie siehst du eigentlich aus? Du warst doch wohl nicht etwa noch mit den Jungs unterwegs, oder?"

Lars schaute schuldbewusst zu Boden.

"Eigentlich wollte nur Flo gestern noch kurz vorbeikommen, aber..."

Weiter kam er nicht.

"Ach so, nur Flo und dann bestimmt auch noch Sebastian und Hendrik und dann warst du natürlich gezwungen, dich noch mal kräftig mit ihnen zu besaufen, ja?"

Julia schaute Lars mit diesem durchdringenden Blick an, der ihm immer das Gefühl gab, ein dummer kleiner Junge zu sein. Er hasste diesen Blick seitdem sie ihn das erste Mal so angesehen hat. Damals, das war vor knapp einem Jahr als er ihr gesagt hatte, dass er mit seinen Jungs in den Urlaub fliegen würde. Er hielt es nicht für nötig, sie zu fragen, ob es in Ordnung für sie sei, denn solche Dinge müsse man in seinen Augen erst dann miteinander besprechen, wenn man verheiratet ist und bis dahin war es in seinen Augen noch ein langer Weg. Ehrlich gesagt hatte er noch nie wirklich darüber nachgedacht zu heiraten, schließlich war er erst 24 und wollte ja auch noch etwas erleben. Und bei Olli hatte er gesehen, wie solche Sachen laufen. Der hatte schon mit 23 seine Freundin Rebecca geheiratet. Er hatte sie sogar gefragt, denn er hat immer so einen Mist von "ganz große Liebe" gelabert!

Was für ein Trottel und sie war doch noch nicht einmal schwanger. Aber in den Augen von Lars hatte Rebecca Olli enorm unter der Fuchtel. Soweit würde er es bei sich und Julia nie kommen lassen, so viel war ihm klar. In seinen Augen musste man klare Grenzen setzen und den Frauen zeigen, wo es langgeht. Als Olli und Rebecca damals schon nach 2 Monaten in eine gemeinsame Wohnung zogen, hatte er Julia gerade kennengelernt. Sie fand es "so romantisch" und Lars konnte einfach nicht fassen, dass Olli behauptete, er würde sich darauf freuen, jeden Morgen neben "seiner Rebecca" aufzuwachen. Nicht genug, dass die Frauen ständig per SMS und Anruf kontrollieren wollten, wo man sich als Mann so rumtrieb. Nein, Rebecca würde immer WISSEN, wann Olli tatsächlich nach Hause gekommen war. Obwohl, Olli machte ohnehin nie etwas ohne seine Frau und so waren sie es letztlich auch, die Julia auf die Idee mit dem gemeinsamen Urlaub gebracht haben. Lars hoffte, dass sich ihre fixe Idee erledigen würde, wenn er nur lange genug die Füße stillhielte. Das hatte schon relativ häufig geklappt. Im Kleinen wie im Großen. Wenn sie zum Beispiel abends in Julias Wohnung auf dem Sofa saßen und sie sagte: "Ich habe so einen Durst", reichte es aus, wenn er nur lange genug so tat, als habe er sie gar nicht gehört. Nach circa 15 Minuten stand sie dann von alleine auf und wenn er dann überrascht tat und sagte: "Ach, du holst was zu trinken? Dann nehm’ ich ein Bier", brachte sie ihm eigentlich immer eins mit.

Dass welches da war, dafür hatte er schließlich gesorgt. Als Julia am Nachmittag das x-te mal anrief um zu fragen, wann er denn nun vorbei käme, hatte sie ihn auch noch gebeten, etwas zum Kochen mitzubringen. Er hatte daraufhin einen Six-Pack Bier und zwei Tiefkühlpizzen besorgt. Julia war ausgerastet und schwafelte irgendwas von "gemeinsamen Kochen", dabei wusste sie doch, dass er es hasste zu kochen und wenn man es ganz genau nahm, musste man die Pizza ja zumindest backen. Da die Taktik des "Aussitzens" im Hinblick auf Julias Wunsch nach gemeinsamem Kochen oder den "Kuschelabenden" oft von Erfolg gekrönt war, hatte Lars sich, zunächst eher unbewusst und aus einer Not heraus, später dann aber auch bewusst dazu entschieden, sie auch im großen Rahmen anzuwenden.

Das kam so: Als Julia vor zwei Monaten ihre Wohnung verlassen musste, weil der Vermieter ihrer WG gekündigt hatte, nahm Julia dies zum Anlass, Lars nach einer gemeinsamen Bleibe zu fragen. Er bekam die blanke Panik und verfiel wie ein Kaninchen vor einer Schlange in die Starre, die ihn immer dann ereilte, wenn er um die Erledigung unliebsamer Aufgaben gebeten wurde. Damals war es mehr ein Reflex als eine bewusste Entscheidung, aber es zeigte sich, dass diese Reaktion ihre Wirkung nicht verfehlte. Julia fragte gefühlt einhundert Mal, ob sie nicht gemeinsam nach einer neuen Wohnung suchen wollen und kam immer wieder mit den Wohnungsanzeigen aus allen bekannten Tageszeitungen an. Lars gab zu keinem ihrer Wohnungsvorschläge einen Kommentar ab und hielt sie so eine ganze Weile hin. Letztlich führte der Umstand, dass sich Julias beste Freundin von ihrem Freund trennte, ihn rausschmiss und nicht alleine wohnen wollte, dazu, dass sie Julia anbot, den frei gewordenen Platz in ihrer Wohnung zu füllen. Julia zog also bei Lena ein. Einfach so und Lars hatte es geschafft, einer unliebsamen Konfrontation abermals aus dem Weg zu gehen.

Hinsichtlich des Urlaubs hatte er es dann ebenfalls mit dieser Strategie versucht, aber dieses Mal hatte es nicht ganz so geklappt, wie er sich die Sache vorgestellt hatte. Durch die penetrante Demonstration von Desinteresse hatte er gehofft, dass Julia, nachdem sie ihm den x-ten Vorschlag aus dem Internet präsentiert hatte, endlich aufgeben würde. Dieses Mal zog sie das Ding aber knallhart durch und buchte den Urlaub einfach auf eigene Faust. Er hatte bisher noch nicht einmal für die 10 Tage Mallorca bezahlt. Julia hatte einfach alles übernommen und so saß er nun in dieser Bahn und trotz der Aussicht darauf, dem Schmuddelwetter zu entfliehen und stattdessen mit Halbpension versorgt am Strand in der Sonne braten zu können, wollte bei Lars keine rechte Urlaubsstimmung aufkommen.

Ganz anders sah es dagegen bei Julia aus. Nachdem sie wochenlang im Internet nach den besten Angeboten gesucht hatte, fand sie schließlich eine Pauschalreise, die zumindest laut Beschreibung ihren Anforderung gerecht werden konnte und nach der zusätzlichen Studie sämtlicher verfügbarer Bewertungen anderer Gäste hatte sie dann letztlich zugeschlagen.

Die Idee, mit Lars gemeinsam in den Urlaub zu fahren, hatte sie eigentlich schon, bevor die beiden sich überhaupt kennengelernt hatten, denn für sie war immer klar, dass man, sobald man sich vor der Weltöffentlichkeit als Paar präsentierte, auch gemeinsam in den Urlaub fuhr.

Als Lars ihr dann im vergangenen Sommer eröffnete, dass er mit seinen Freunden und nicht etwa mit ihr in den Urlaub fahren wolle, beschloss Julia zweierlei Dinge. Zum einen war ihr klar, dass sie im nächsten Jahr einen gemeinsamen Urlaub auf die Beine stellen werde, koste es was es wolle, und zum anderen buchte sie in dem vergangenen Jahr einen Club-Urlaub mit ihren Freundinnen. Diese erstellten dann etliche Fotos auf denen Julia mit gutaussehenden Jungs zu sehen war und Lars kräftig eifersüchtig machen sollten, was aber nur bedingt klappte. Da er nämlich ebenfalls auf fast allen Urlaubsbildern mit hübschen Mädchen zusammen zu sehen war, machte Julia die größere Szene und obwohl Lars und seine Freunde beteuerten, dass mit keinem der Mädchen etwas gewesen sei, fühlte Julia sich betrogen.

Nachdem es ihr gelungen war, das Vertrauen zu ihm zurück zu gewinnen, bot sie ihm dann die in ihren Augen mehr als großzügige Möglichkeit einer gemeinsamen Wohnung an.

Sie war mittlerweile schließlich schon 28 und da mussten langsam Nägel mit Köpfen gemacht werden. Klar, er war nicht ihr Traummann: eigentlich war er ihr zu klein, sein Bauch zu dick, er war zu unordentlich und er verdiente ja noch nicht einmal eigenes Geld. Aber sie hatte bereits ein kleines Polster angespart und rechnete fest damit, dass er bald mit seinem Studium fertig werden würde. Dann könnten sie beginnen, ein Nest zu bauen und sie bräuchte nicht wie Lena an ihrem dreißigsten Geburtstag ohne Mann und Kind dastehen und das war letztlich das, worum es ging. Mit diesem "Traummann-Mist" hatte sie ohnehin zu viele Jahre verloren und obwohl Rebecca immer behauptete, dass Olli ihr Traummann sei, war Julia sich sicher, dass auch sie ihn morgens gerne mal aus dem Bett werfen würde oder sich bei den Lästereien mit ihren Freundinnen so richtig in Rage reden konnte. Aber das war es doch auch, was eine Beziehung in ihren Augen ausmachte. Freundinnen seien zum Reden da und die Männer sind dafür da, das Geld nach Hause zu bringen und genügend Stoff für die Gespräche mit den Freundinnen zu liefern.

Ob Lars gerne mit ihr zusammengezogen wäre, war ihr eigentlich relativ egal und ihr war auch klar, dass es eine Menge Arbeit bedeuten würde, ihn zu dem Wohnpartner zu machen, den sie sich wünschte, aber sie war bereit für ihr Ziel zu kämpfen. Als sie dann ihre Wohnung verlassen musste, versuchte sie zunächst, eine Wohnung mit Lars zu suchen, aber als Lena ihr dann ein Zimmer in ihrer Wohnung anbot, beschloss sie, Lars zunächst in seinem gewohnten Umfeld zu belassen und ihn dort "umzuerziehen", damit er dann als neuer Mensch ihren Wohnpartner-Ansprüchen gerecht werden könnte.  

Bei dem Urlaub zeigte sie ihm nun schon einmal, wer in der Beziehung die Hosen anhatte und buchte alles auf eigene Faust. Sie legte ihm zwar zwischendurch einige Angebote vor, damit er den Eindruck bekäme, sie hätten alles gemeinsam entschieden, aber letztlich war seine Meinung ihr absolut egal. Sie organisierte immer alles für die beiden und das fand sie auch gut.

Jetzt saß Julia zufrieden in der Bahn und ging jeden Tag ihrer gemeinsamen Reise nochmals durch. Eigentlich war ihr schon längst klar, an welchem Tag sie was unternehmen würden und an wen wann welche Karten geschrieben werden sollten. Gemeinsam mit Lena hatte sie zwei Reiseführer akribisch durchgearbeitet und einen genauen Plan erstellt. Eigentlich war Lena ja die falsche Ansprechpartnerin, wenn es um Pärchen-Urlaub ging, denn nachdem sie mit ihrem Freund nach Paris geflogen war, hatte sie sich von ihm getrennt. Aber eigentlich war der ohnehin ein Idiot und Julia war sich sicher, Lars wesentlich besser im Griff zu haben, als Lena ihren (jetzt Ex-)Freund. Lena konnte es sich allerdings nicht verkneifen, Julia noch einige Horrorszenarien über ihren bevorstehenden Urlaub mit auf den Weg zu geben und schwafelte etwas davon, dass Lars entweder zu spät käme und sie den Flieger verpassen würden, oder aber, dass er den ganzen Tag nur schlafen wollen würde und anstatt Abends mit Julia schick essen zu gehen, den Besuch irgendeiner billigen Disco vorziehen würde.

Lena war Julias beste Freundin, aber was ihre Schwarzmalereien in Bezug auf den Urlaub mit Lars angingen, war Lena einfach nur neidisch. Schließlich würden Julia und Lars noch gefestigter aus dem Urlaub zurückkehren; vielleicht hätte sie ihn dann schon so weit, dass er ihren Wohn-Ansprüchen genügen würde und dann würde Lena schon sehen, wie unrecht sie hatte.

 

Während des Fluges hatte Lars die ganze Zeit geschlafen. Er war einfach noch zu kaputt vom Vorabend und wollte für den Besuch im Ballermann schon mal Kräfte tanken. Seine Vermeidungsstrategie hatte es erfordert, dass er sich nicht im Geringsten mit der Geografie Mallorcas auseinandergesetzt hatte, aber da Mallorca im Fernsehen immer mit dem Ballermann gleichgesetzt wurde, ging er davon aus, dass diese Lokalität von jedem Flecken der Insel in kürzester Zeit zu erreichen sei.

Nach einer schier unendlichen Busfahrt vom Flughafen zum Hotel kamen ihm jedoch erste Zweifel an dieser Theorie, welche zudem durch die Zusammensetzung der Buspassagiere ins Wanken geriet. Wie konnte es schließlich sein, dass sie in Richtung Ballermann unterwegs waren und außer zwei jungen Pärchen in ihrem Alter nur Rentner und Familien mit nervigen kleinen Kindern den Bus bevölkerten.

Die Kinder wiederum veranlassten Julia zu einem der von ihm so verhassten "Wie-wollen-wir­denn-eigentlich- unsere-Kinder-nennen?"-Monologen. Auch hier sagte er einfach möglichst wenig und versuchte, die aufsteigende Panik zu überspielen. Andererseits, wenn nicht der Ballermann in unmittelbarer Nähe läge, so gibt es sicher unzählige andere Discos, denn Mallorca wird doch nicht ohne Grund als "Partyinsel" bekannt sein.

Dennoch schienen die Discos hier gut versteckt zu sein und außer Souvenirshops und Restaurants war auf dem Weg nicht viel zu entdecken. Lars versuchte ruhig zu bleiben und seine Frage nach der Abendgestaltung erst einmal zu vertagen, um keinen Streit mit Julia anzufangen.

Am Hotel angekommen bestätigten sich jedoch seine schlimmsten Befürchtungen, denn außer ihnen verließen nur vereinzelte Rentner, zwei Familien mit kleinen Kindern und eines der jungen Paare den Bus, um im Hotel einzuchecken.

 

Sie hatten das Zimmer noch nicht einmal wirklich betreten, da begann Julia bereits, zu nörgeln: die Fußleisten seien fürchterlich schmutzig und der Flur zum Zimmer sei viel zu dunkel. Nachdem sie dann die Betten und das Badezimmer einer akribischen Inspektion unterzogen hatte, kam sie zu dem Urteil, dass alle Bewertungen im Internet nicht stimmen könnten, sie unter solchen Umständen unmöglich einen entspannten Urlaub verleben könne und Lars sich doch bitte umgehend bei der Reiseleitung beschweren solle. Darauf hatte er allerdings so gar keine Lust, denn schließlich sah er sich dieses Zimmer nur in volltrunkenem Zustand nutzen und in seinen Augen war doch schließlich alles in bester Ordnung. Während er ersteres lieber für sich behielt, teilte er Julia die zweite Einschätzung in einem ruhigen Ton mit, was sich jedoch als fataler Fehler herausstellen sollte.

Es dauerte keine zwei Sekunden und Julia wurde zu einer hysterischen Furie. Wie es denn sein könne, dass sie sich um alles kümmern müsse und er dann nicht einmal Partei für sie ergreifen würde. Sie habe alles für diesen Urlaub getan, während er sich noch erdreistete, verkatert zum Bahnhof zu kommen. Und Lars tat das, was er in solchen Situationen immer tat: schweigen.

 

Für Julia war das alles zu viel. Sie war es gewesen, die den Urlaub geplant und gebucht hatte. Sie wollte, dass alles perfekt werden würde und nun das. Das Zimmer war eine Katastrophe: Im Bett hatte sie ein Haar gefunden und im Badezimmer waren in der linken Ecke der Badewanne eindeutig Spuren von Spak zu erkennen. Wie sollte sie denn hier entspannen können? Das müsste Lars doch sehen, aber er sah es scheinbar nicht. Nichtsdestotrotz wäre es in ihren Augen seine Aufgabe, heldenhaft zur Reiseleitung zu stürmen und sich über die unzumutbaren Zustände zu beschweren. Im Fernsehen hatte sie gesehen, wie Reisende auf diese Weise ein kostenloses Upgrade ihrer Unterkunft bekamen und das würde ihr natürlich schon gefallen. Vor allem aber könnte sie Lena dann erzählen, wie Lars sich für sie eingesetzt hat und das er doch nicht so ein Ignorant war, wie ihre beste Freundin immer behauptete. Nach diesem Urlaub würde Lars der Mann sein, mit dem sie zusammenziehen könne. Alle ihre Freundinnen würden sie bewundern, wie sie es geschafft hätte, einen Mann umzukrempeln und zu einem braven Hausmann zu machen. Aber momentan saß Lars einfach nur da und starrte Löcher in die Luft.  

Das Problem war, dass Julias penibel geplanter Tagesablauf langsam ins Wanken geriet und sie so zu Gunsten ihrer Planung erst einmal die grauenhaften Zustände im Zimmer beiseite schieben musste.

Laut Plan müssten sie jetzt schon durch die Gassen schlendern und verliebt ein Eis schlecken, stattdessen saßen sie hier und hatten noch nicht einmal ausgepackt. Da Lena bestens über den geplanten Ablauf informiert war und heute Abend den ersten Bericht erwartete, musste es jetzt weitergehen und so zerrte Julia, noch glühend vor Zorn, ihre neuen Sandalen und das rote Kleid aus dem Koffer und zog sich um. Ohne etwas zu sagen ging sie zur Tür und Lars folgte ihr auf den Fuß.

Nach dem schier endlosen Gezeter ging es endlich los und er konnte sich ein Bild von den Feiermöglichkeiten machen. Gefühlte sechshundert Souvenir-Shops später sprach sie endlich ein Promoter an und lud sie zur Schaumparty in einer Disco gleich um die Ecke ein. Lars atmete auf und sagte freudig zu. Julias Reaktion ließ nicht lange auf sich warten und es folgte ein langer Monolog, in dem sie etwas von "Urlaubsplanung" und "Du hast das doch auch alles gewollt" und "nur wir zwei" kreischte. Wutentbrannt rannte Julia ins Hotel zurück und Lars, von einem leichten Hungergefühl geplagt, folgte ihr, in der Hoffnung das Buffet stürmen zu können. Schweigend hatte Julia sich gewaschen und abermals umgezogen und schweigend ging es dann in den Speisesaal. Die Plätze zu ihrer Zimmernummer lagen an einem Tisch, an dem das Pärchen aus dem Bus mit versteinerten Mienen im Essen herumstocherte. Julia und Lars bedienten sich am Buffet und setzten sich dazu. Schnell kamen sie mit dem Paar am Tisch ins Gespräch und schon nach wenigen Minuten wurde deutlich, dass es Maria und Philipp ebenso erging wie Julia und Lars. Während Julia und Maria sich nach dem Essen zu einem gemeinsamen Boutiquen­Bummel verabredeten, sahen Philipp und Lars sich schweigend an. Als Philipp jedoch den Schaumparty-Flyer zog, um die Zimmernummer auf die Rückseite zu schreiben, war auch die gemeinsame Urlaubsplanung der Männer geklärt.

 

In den kommenden Tagen verlebte Julia einen wunderbaren Urlaub nach ihrem Geschmack und auch Lars hatte eine Menge Spaß. Julia hatte es geschafft, alle Punkte ihres Plans abzuarbeiten und Lars hatte es geschafft, an keinem Tag nüchtern ins Bett zu gehen.

Während Julia sonnengebräunt und entspannt versuchte, ihre neuen Kleider in den Koffer zu quetschen, stopfte Lars verkatert und blass seine Habseligkeiten in seine Reisetasche.

Sie hatten nicht einen Tag miteinander verbracht. Nachdem Lars in der ersten Nacht betrunken über seine Tasche gestolpert war und schnarchend in einen komatösen Schlaf fiel, aus dem er sich auch um zehn Uhr morgens nicht wecken ließ, war Julia zu Maria ins Zimmer gezogen und Philipp nahm das Bett, in dem Julia hätte schlafen sollen.

Im Bus saß Julia neben Maria und selbst im Flugzeug waren die Sitzplätze nach Geschlechtern getrennt.

Zurück am Ostkreuz wurde dann klar, dass beide einen wundervollen Urlaub hatten, allerdings nicht miteinander und so wurde es ein wortloser Abschied. Ein Abschied für immer.

Morgen zum nächsten Morgen

 

Birgit Wilms
Von einem Morgen zum nächsten Morgen

 

Ein Streicheln in seinem Gesicht ließ ihn erwachen. Ganz sanft und fein berührte es seine Haut. War es seine Mum, die ihn weckte, damit er rechtzeitig zur Schule kam? Er hatte es damals so sehr gehasst, doch was würde er heute dafür geben, wenn ihre kleinen weichen Hände ihn nur einmal noch so streicheln würden. Chris nahm sich die Zeitung aus dem Gesicht, welche nach oben geweht war.

Langsam erhob er seinen von der Kälte steif gewordenen Körper von der Bank. Vorsichtig reckte und streckte er sich und sah sich dabei um. Noch lag alles still und leer, nur vereinzelt kamen die ersten Menschen auf den Ringbahnsteig am Ostkreuz. Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg, es war die Ruhe vor dem Sturm. Nur ein paar Minuten noch, dann konnte man es hören, das Getrampel tausender Füße auf der großen Eisentreppe. Bei geschlossenen Augen hörte es sich wie Pferdegalopp auf der Trabrennbahn an. Je nach Jahreszeit konnte man ein anderes Bild mit dem Geräusch assoziieren. So hätte man es im Winter auch für das Herunterprasseln von riesigen Schneebällen halten können.

Chris strich sich die Kleidung glatt und fuhr sich durchs verwuschelte Haar, er mochte es nicht, wenn man es ihm sofort ansah, dass er obdachlos war. Deswegen suchte er auch jeden Tag einen Waschraum auf und ging regelmäßig in die Kleiderkammer, um sich frische Kleidung zu holen. Nur die Notunterkünfte hasste er, er konnte den Geruch von alten Männern, Alkohol und Blut, welcher sich dort vermischte, nicht ertragen. So kam es, dass er meistens unter freiem Himmel schlief, solange es das Wetter erlaubte und das Aufsichtspersonal am Ostkreuz mitspielte. Die meisten kannten ihn aber schon und wussten, dass er keinen Ärger machte und jeden Morgen rechtzeitig verschwand, bevor der Berufsverkehr begann.

Riesige Schwärme von Menschen flossen aus den Bahnen hinaus, die Treppe hinauf und in die nächste Bahn wieder hinein. Ein Gewusel, wie in einem Ameisenhaufen. Auf den ersten Blick schien es ein heilloses Durcheinander zu sein, aber mit genügend Abstand, ließ sich die Ordnung darin erkennen.

 

Chris wurde langsam unruhig, gleich musste sie kommen, es war doch schon kurz vor 07.00 Uhr. Wo blieb sie heute nur? Sie war so wunderschön und irgendwie erinnerte sie ihn auch an seine Mum. Sie hatte dieselben schönen blonden langen Haare, welche sanft über ihre schmalen Schultern fielen. Ihre schlanke und zierliche Figur mit der immer sehr sorgfältig ausgewählten Kleidung war ihm ebenfalls vertraut. Doch am meisten liebte er ihren Lippenstift, der sah nicht nur schön aus, sondern er schmeckte auch noch gut. Denn nachdem sie ihre Morgenzigarette eilig geraucht hatte und sie meistens wegen der einfahrenden Bahn nur halbaufgeraucht wegwarf, sammelte er den Rest ein. Mit jedem Zug von diesem Zigarettenrest, der nach ihren Lippen und diesem süßroten Lippenstift schmeckte, träumte er sich in ein Leben mit ihr hinein.

Er sah sich mit ihr am Frühstückstisch sitzen, liebevoll strich sie ihm durchs Haar und streichelte seine Wange. Sie aßen und redeten, lasen die Zeitung und lachten viel. Ja, es war sicher schön mit ihr zu lachen. Schade, dass er ihr Lachen noch nie gehört hatte. Aber aus diesem lieblichen Mund konnte es nur wunderschön klingen, da war er sich ganz sicher.

Wie sehr er diesen Moment am Morgen liebte, Zug für Zug genoss er ihre Zigarette. Er war ihr so nah und er fühlte die Wärme und Geborgenheit, die er immer in den Armen seiner Mum gespürte hatte. Jeden Morgen stand er nur ihretwegen wieder auf. Sie war es, die ihn glücklich sein ließ. Dieser eine kleine Moment am Morgen, wenn er sie aus der Ferne kommen sah, dann ihren Anblick in sich einsog und zuletzt ihren Duft.

Davon lebte er, von einem Morgen zum nächsten Morgen. Ganz schlimm war es am Wochenende, da blieb er oft länger liegen, bis das Personal ihn dann letztlich hochscheuchte. Was hatte dieser Samstag für einen Sinn, wenn er sie nicht sehen würde. Sie war so lieblich und hatte so einen warmen Ausdruck in ihren Augen. Sie sah ihn nie, nahm ihn nicht einmal wahr. Aber er, er fühlte sich ihr nah und nur das zählte. Sie gab ihm die Kraft, sich nicht gänzlich aufzugeben, sie war sein ganzes Glück. Für sie wollte er sich nicht gehen lassen, für sie wollte er am nächsten Morgen wieder erwachen. Auf diesen Augenblick wartete er gern 24 Stunden seines Lebens, nur um ihn einmal noch wieder erleben zu dürfen.

Wo war sie nur, sie hätte längst da sein müssen? Wolken zogen übers Ostkreuz und mit ihnen kam ein kalter Wind auf, der ihn in seinen leichten Sommersachen frösteln lies.

Es ist wohl an der Zeit, sich wärmere Kleidung zu besorgen, da der Sommer nicht wirklich sommerlich war in diesem Jahr, dachte Chris gerade, als ein jäher Schrei ihn aufschrecken ließ. Was war das, was ist passiert? Zuerst dachte er, dass es wieder die Frau wäre, die hier öfter mal quer übers Ostkreuz schreit am Morgen. In Berlin stört sich daran niemand, hier ist man es irgendwie gewohnt, dass psychisch kranke Menschen durch die Stadt irren. Sie werden ignoriert und gehören irgendwie dazu in dieses bunte Bild von extremen Unterschieden, Unruhe und Vielfalt.

Aber nein, sie ist es nicht, weiter vorne tut sich was. Die Menschen scheinen aufgescheucht, andere sind starr vor Schrecken. Er ist zu weit weg, er sieht nichts. Er ahnt nur, dass es nichts Gutes sein kann. Plötzlich prasselt Regen auf ihn herab, der Himmel ist düster und er flüchtet sich in ein Wartehäuschen.

Zwei Frauen unterhielten sich aufgeregt miteinander, da kam auch schon die Durchsage: "Wegen eines Personenunfalls ist der Zugverkehr auf dem Gleis 3 für unbestimmte Zeit unterbrochen. Wir bitten um Ihr Verständnis."

Personenunfall, was ist denn da nur passiert, fragte Chris sich und eine unbestimmte Angst stieg in ihm hoch. "Sie sackte plötzlich in sich zusammen und fiel vorne über. Es ging alles so schnell, ich konnte es gar nicht fassen." Die Stimme der Frau neben ihm überschlug sich und Tränen liefen ihr übers Gesicht. "Die Bahn fuhr ein und sie fiel direkt davor, der Lokführer hatte gar keine Chance." Nun versagte ihr die Stimme und die andere Frau nahm sie tröstend in den Arm. Chris war verwirrt, was redete sie denn da? Er wunderte sich, dass es ihm immer übler wurde und so sehr er auch versuchte den Gedanken zu verdrängen, er ließ sich nicht mehr abwehren. In seinem Hirn hämmerte es ununterbrochen: "Sie war es", wie ein Plattensprung, immer wieder: "sie war es, sie war es." Chris setzte sich langsam auf die Bank im Wartehäuschen. Kann es wirklich sein, dass sie es war. Sie war nicht gekommen, sollte sie nur 30 Meter von ihm entfernt vor die S-Bahn gefallen sein? Chris konnte und wollte nicht glauben, was sein Gehirn da zusammenbraute. Die Kraft verließ ihn und er sank immer mehr in sich zusammen. Gefühlte Stunden später, die Menschen hatten längst die Seite des Bahnsteigs verlassen, da der Zugverkehr noch immer unterbrochen war, kam er wieder zu sich. Hatte er nur geträumt, bitte lieber Gott, lass es nicht wahr sein. Chris trank sonst nie Alkohol, da er sich vor dem Totalabsturz schützen wollte, aber heute konnte er nicht anders, als sich zu betäuben. Morgen, morgen ist ein neuer Tag und alles wird wieder gut, so dachte er, als die Träume ihn am Abend übermannten und er mit viel Bier im Blut ganz sanft einschlief.

Lautes Stimmengewirr lies Chris erwachen, er hatte verschlafen, der Bahnsteig war schon überflutet mit dem morgendlichen Meer an Menschen. Hatte er sie nun verpasst, war sie heute da oder ist sie wieder nicht gekommen? Kaum das Chris die Augen aufgeschlagen hatte, schaltete sich sein Gedankenkarussell wieder ein. Er lief zum Papierkorb und schlug die Zeitung auf, welche die Frühaufsteher bereits ausgelesen hatten. Da stand es schwarz auf weiß: "Frau nach Schwächeanfall von S-Bahn überfahren". Das gestrige ungute Gefühl wurde nun langsam zur Gewissheit in ihm, eine unendliche Traurigkeit machte sich in ihm breit. Sollte er sie wirklich verloren haben? Wenn es wirklich wahr wäre, was würde er von nun an tun? Worauf sollte er sich die restlichen Tage seines Lebens freuen? Erst verlor er seine Mutter viel zu früh, er hätte sie noch so sehr gebraucht, und nun auch noch sie. Was macht das Leben für einen Sinn, wenn er immer wieder alles verliert, was ihm irgendwie lieb und teuer ist? Alles zieht nur an ihm vorüber, ähnlich einer Zugdurchfahrt, die Menschen kommen an, verweilen kurz und dann verlassen sie ihn wieder. Das war ein seltsames Spiel, dieses Leben. Er hatte nun die Wahl, sollte er weiterhin am Rande sitzen und zuschauen oder sollte er wieder mitspielen? Er wusste es nicht, er war verunsichert, was machte es für einen Unterschied?

Plötzlich sah er ganz in der Nähe eine blonde zierliche Frau mitten in der Menschenmenge. Er reckte sich und lief so schnell er konnte in ihre Richtung. Als er näher kam, bemerkte er, dass sie es nicht war. Ein kurzer Hoffnungsschimmer verflog so schnell, wie er gekommen war.

Doch was machte ihr Tod für einen Sinn, wenn er weiter hier saß und nichts tat? Er spürte ganz deutlich, dass er es wollte, er wollte leben. Ja, er wollte wieder atmen, wieder gehen, wieder fühlen, wieder dazugehören. Chris überlegte nicht lange, er suchte alte Freunde auf und schon eine Woche später hatte er eine Stelle in einer Kneipe gefunden. Das war natürlich noch kein Durchbruch, aber er konnte davon leben und sein kleines eigenes Zimmer konnte er davon auch bezahlen. Außerdem gehörte er wieder dazu, auch wenn er sich noch nicht wirklich so fühlte, aber er lernte viele neue Menschen kennen und kam mit Menschen aus der ganzen Welt in Kontakt. Ab und an jagte er noch blonden zierlichen Frauen hinterher, immer noch in der Hoffnung, sie würde es sein. Doch so langsam ließ der Drang, wie blind loszurennen, wenn er blondes langes Haar sah, nach.

Die Vergangenheit verblasste allmählich, wie das Bild auf einem sehr alten Foto. Die täglichen Eindrücke nahmen ihn so sehr gefangen und in Besitz, dass es schien, als hätte es ein "Davor" nie gegeben, als wäre es nie anders gewesen.

Er atmete, er fühlte sich lebendig und das Beste daran war, er war glücklich bei all dem, was er nun tat.

Nur eines Morgens als sein Weg ihn wegen eines Termins übers Ostkreuz führte, kamen die alten Bilder in ihm wieder hoch. Doch sie erschienen ihm seltsam fremd, er konnte es nicht mehr glauben, dass er es war.

In Gedanken versunken setzte er sich in die gerade eingefahrene Bahn. Er hob den Blick und es verschlug ihm den Atem, blondes langes Haar fiel sanft über ihre schmalen Schultern. Ihre Blicke trafen die seinen und es war als öffnete sich ein ganzes Universum vor ihm.

Fisch sucht Fahrrad

 

Manuela Schulz
Fisch sucht Fahrrad

 

Sein Name ist Palowski. Zacharias Palowski. Mit einem "Z" wie "zögern", "zaudern", "zweifeln". Er hätte lieber Friedrich als Vornamen gehabt. Mit einem "F" wie "fröhlich", "frech", "forsch".

Palowski steht in der Nähe des Eingangs, innerlich bereit zur Flucht. Den Aufkleber mit der Nummer hat er auf die Brusttasche seines Oberhemds geklebt und hat den Reißverschluss seiner Windjacke zur Hälfe zugezogen. Man sieht die Nummer nicht. Alle haben Getränke in der Hand, Palowski nicht. Er zögert noch, Cola oder Bier. Bier macht mutig und cool. Das klingt verlockend. Er geht zur Bar und bestellt ein Bier. Der Barmann stellt ihm eine Flasche hin. Palowski mag kein Bier aus der Flasche, doch jetzt hat er etwas, an dem er sich festhalten kann.

Eine Gruppe Frauen schnattert vorbei. Jede ein Gesamtkunstwerk, Kleidung, Make-up, Schmuck, starres Lächeln, Wimpern klimpern. Sie verstecken ihre Nummernschildchen nicht. Rot leuchtet die Schrift neben ihren Dekolletees. Geübte Blicke scannen das Material. Palowski liegt unterhalb ihrer Wahrnehmungsschwelle. Sie hasten weiter, die Zukunft zu zweit im Visier.

Die anderen Männer umkreisen die Beute. Hungrige Blicke ziehen bauchfreie T-Shirts noch höher, streifen geschickt Jeans von den Hüften. Welche Frucht ist reif, willig gepflückt zu werden?

Palowski geht zur Pinnwand. Unter seiner Nummer hängt keine Nachricht.

Die nächste Gruppe Frauen zieht an ihm vorbei. Eine schaut er sich besonders lange an. Gesträhnte, blonde Locken kringeln sich den Rücken hinunter, über eine Bluse, deren Ausschnitt die Sicht auf volle Brüste freigibt. Das sind ihm die Liebsten. Sie dürfen nicht so mager sein. Diese Frau ist ziemlich klein geraten, sie trägt glitzernde Sandaletten mit hohen Absätzen. Palowski nähert sich der Gruppe. Die Frauen haben sich um einen Stehtisch an der Bar gestellt und trinken Cocktails. Der Alkohol lässt die Gesichter glühen. Sie gehen abwechselnd tanzen. Das sorgt für noch mehr Hitze.

Der Abend schreitet voran. Palowski steht immer noch am Nebentisch und beobachtet die Frau. Er nennt sie in Gedanken Astrid. So hieß sein erstes Abenteuer. Er malt sich aus, wie der Abend weitergehen wird, was er und Astrid tun werden. Ihm wird warm und in seiner Hose wird es eng. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn.

Astrid schaut auf ihre Armbanduhr und kramt aus ihrer Handtasche eine Garderobenmarke hervor.

Zeit zu gehen. Palowski stellt das unberührte Bier auf einen Tisch.

Draußen verbirgt er sich im Schatten einer Mauer und wartet. Er hat Geduld. Es ist kalt und nass. Er weiß, dass Astrid erst noch an der Garderobe die Schuhe wechseln muss. Das machen fast alle bei diesem Wetter. Da kommt sie, die Handtasche unter die Achsel geklemmt, in der anderen Hand die Plastiktüte mit den Sandaletten. Sie trägt jetzt Turnschuhe, das macht es schwerer, da sind sie schneller. Astrid schaut sich suchend um, kein Taxi in Sicht. Sie schimpft leise vor sich hin und läuft los in Richtung Ostkreuz. Der Regen wird stärker, Astrid spannt einen Schirm auf. Das ist günstig, der versperrt ihr die Sicht. Die vorbeifahrenden Autos übertönen seine Schritte, die auf dem nassen Bürgersteig kaum zu hören sind. Sie überquert die Stralauer Allee und nimmt den Weg quer durch die kleinen, menschenleeren Straßen zum Bahnhof Ostkreuz – besser kann es nicht laufen. Palowski tastet in seiner Jackentasche. Ja, die Flasche ist immer noch da, wo er sie vorhin hineingesteckt hat, zusammen mit der Stoffwindel. Astrid schaut auf die Uhr und verlangsamt ihren Schritt. Ihre S-Bahn kommt noch nicht so bald. Sie nähern sich einem Supermarkt mit Parkplatz, der perfekte Ort. Palowski versichert sich, dass die Kordel griffbereit in der anderen Jackentasche ist, und lässt sich ein Stück zurückfallen. Seine Hände zittern, als er die Flasche und die Stoffwindel aus der Tasche zieht. Das Chloroform sticht in der Nase. Er steckt alles zurück in die Tasche und beschleunigt seinen Schritt. Er hält die Windel fest umklammert. Dann hat er Astrid eingeholt, er läuft direkt hinter ihr. Er zieht die Windel aus der Tasche. Er fängt an zu keuchen, das Spiel beginnt. Astrid spürt, dass jemand hinter ihr ist und dreht sich um. Palowski drückt ihr die Windel auf Mund und Nase. Sie versucht sich zu wehren, doch er ist stärker und größer. Aus ihren aufgerissenen Augen schwindet das Bewusstsein. Palowski fängt sie auf und zieht sie auf den Parkplatz, tiefer in die Dunkelheit.

Tod fährt schwarz

 

Michael Guske
Der Tod fährt schwarz

 

Ich zähle schon gar nicht mehr, wie oft ich mich an den Schreibtisch gesetzt habe, um niederzuschreiben, was vor einiger Zeit geschehen ist. Doch jedes Mal, wenn ich damit anfangen wollte, wenn ich an diesen Tag, an diese langen Minuten gedacht habe, wurde mir das Irreale, ja, das Gespenstische des Geschehens bewusst und immer stärker wurde in mir das Verlangen zu glauben, es habe überhaupt nicht stattgefunden. Doch tief in mir steckt die Gewissheit, dass alles wahr ist, jedes Wort. Nur weil der Verstand sich weigert, Dinge, die außerhalb unserer Wahrnehmung existieren, zu akzeptieren, bedeutet es noch lange nicht, dass es sie nicht gibt.

 

Es war sehr warm an diesem Tag. Der Sommer, der dann doch nicht mehr kommen sollte, hatte noch gar nicht angefangen, aber die Hitze machte die Luft schon schwer und stickig. Mir macht das nichts aus. Ich liebe die Wärme, auch in der Stadt. Der Samt des Abends entschädigt für die Glut des Tages. Es ist kurz vor 18.00 Uhr. In wenigen Minuten wird meine Schicht beendet sein. Nur noch diese eine Station, von Treptow bis zum Ostkreuz, dann werde ich nach Hause fahren, mir ein Buch nehmen und mich noch bis zum Einbruch der Dunkelheit zum Lesen in den Park setzen. Soweit der Plan.

 

Ich fahre jeden Tag mit der S-Bahn, beruflich, acht lange Stunden. Ich bin Fahrkartenkontrolleur. Schon seit über zwanzig Jahren. Nach spätestens 5 Semestern sollte es wieder zu Ende sein und bis dahin sowieso nur nebenbei laufen, um das Studium zu finanzieren. Doch es ließ mich nicht mehr los. Nach drei Semestern war Schluss – mit der Studiererei. Die letzten Wochen davor habe ich mich schon nicht mehr im Hörsaal blicken lassen. Denn ich verdiente Geld. Zu dieser Zeit wurde man noch nach Leistung bezahlt. Wer viele Schwarzfahrer erwischte, bekam auch viel Geld. Und ich war gut. Schon nach wenigen Wochen war ich in der Lage, die Fahrgäste mit von denen ohne Fahrschein zu unterscheiden, auf den ersten Blick. Ich stieg in den Waggon ein, sah mich kurz um und hatte sofort ein potenzielles Opfer ausgemacht. Ich ging darauf zu, zeigte meinen Ausweis und erkannte an der erschreckten Reaktion, dass ich mit meiner Einschätzung wieder richtig gelegen hatte. Wenn der Fahrgast, der bis zu diesem Moment ja eher ein uneingeladener Gast war, das fällige Bußgeld gleich bar bezahlte, hatte ich gute Chancen, bis zur nächsten Station noch einen zweiten und vielleicht sogar noch einen dritten Fahrgeldpreller zu erwischen. Wenn ich am Ende der Schicht das eingenommene Bargeld und die Einzahlungsformulare abrechnete, betrug meine Provision ein Mehrfaches dessen, was meine Mitstudenten als Aushilfskellner und Fahrradkuriere verdienten. Ich wurde ein Jäger. Meine Waffen waren ein kleiner Ausweis und ein Quittungsblock. Ich betrat die Bahn wie ein Revolverheld den Saloon, sagte die Zauberformel auf: "Die Fahrausweise zur Kontrolle, bitte", und genoss es, das Zusammenzucken der Menschen und das fahrige Suchen in Rucksack oder Handtasche nach dem Fahrschein zu sehen. Ich registrierte jede Bewegung, das Senken des Blickes, das plötzliche In-den-Schlaf-fallen, das verstohlene Schieben eines Körpers in Richtung der hintersten Tür, um am nächsten Bahnhof sofort hinausschlüpfen zu können.

Im Laufe all der Jahre habe ich viele Ausreden gehört, warum man keinen Fahrschein vorweisen konnte. "Verloren", "Automat kaputt", "Kein Kleingeld", "Meine Freundin ist letzte Station ausgestiegen – zusammen mit meiner Fahrkarte" und ... und ... und. Der angeblich noch nicht sechsjährige Sohn liest ein dickes Harry-Potter-Buch, der vorgebliche Schwerbeschädigte trägt Malerkleidung mit deutlichen Gebrauchsspuren. Auch der Trick mit der Fahrkarte, die man vergessen hat zu entwerten, hilft nicht, wenn dieses Ticket seit der letzten Fahrpreiserhöhung schon lange nicht mehr gültig ist. Ein junges Mädchen bot mir sogar an, ich könnte sie mal anfassen, wenn ich ihr das Bußgeld erlasse. Nach kurzem Nachdenken entschied ich mich dagegen. Es nutzt alles nicht. Ich bin der Jäger und bringe das Wild zur Strecke.

 

Doch sollte die Ausrede zwar als solche erkennbar, aber neu und originell sein, lasse ich die Opfer auch mal laufen. Eine Frau mit unübersehbaren Gewichtsproblemen erklärte mir, sie sei hochschwanger und fahre zur Entbindung ins Krankenhaus. Zur Bekräftigung hielt sie sich den Bauch, verzog das Gesicht und stöhnte, als wenn Wehen ihren Körper durchliefen. Ein alter Mann hielt mir heftig gestikulierend einen Vortrag in einer Sprache, die ich noch nie vernommen habe. Touristen ohne Fahrschein werden bei Kontrollen oft begnadigt. Beim Aussteigen stieß er mit einer älteren Dame zusammen und entschuldigte sich höflich — in akzentfreiem Deutsch.

Doch an diesem Tag sollte ich einen neuen Trick kennenlernen. Dass es kein Trick war, wurde mir erst später klar.

 

Das Geräusch der einfahrenden S-Bahn riss mich aus meinen Gedanken an den nahenden Feierabend. Ich warf mir den Rucksack mit der Wasserflasche und dem Quittungsautomaten über die Schulter, nickte meiner Kollegin noch kurz zu und stellte mich mit den anderen Fahrgästen vor die nächste Tür, die sich mit leisem Zischen öffnete. Ich wartete geduldig, bis alle eingestiegen sind, und hörte kurz darauf das Schließen der Tür in meinem Rücken.

Nach wenigen Augenblicken drang brüchiger Gesang an meine Ohren:

"So so you think you can tell / heaven from hell blue skies from pain…"

Pink Floyd, die ersten Zeilen von "Wish you were here".

Wir kannten den Jungen. Er fuhr den ganzen Tag mit der Ringbahn im Kreis, spielte auf der Gitarre mehr recht als schlecht den immergleichen Floyd-Song und verdiente sich damit ein paar Euro. Wir wussten natürlich, dass er schwarz fuhr, aber wir ließen ihn gewähren.

Im selben Moment fuhr die Bahn an. Die Fahrzeit bis zum Ostkreuz beträgt weniger als eine Minute, nicht viel Zeit für eine gründliche Kontrolle, doch einen Fang wollte ich heute noch machen. Meine Kollegin kündigte mit lauter Stimme die Fahrkartenkontrolle an, während ich mit schnellem Blick die Fahrgäste musterte. Sie wirkten meist müde, von der Arbeit, von der Hitze, von der Stadt. Sie wollten nur noch nach Hause.

Mir fiel ein junges Mädchen ins Auge. Sie hatte einen leuchtend roten Rucksack mit einem fröhlichen Smileysticker darauf auf ihrem Schoß. Doch das lachende Gesicht auf dem Rucksack wollte überhaupt nicht zu ihrem traurigen Blick aus ihren verweinten Augen passen. Da sah ich aber auch schon den Fahrschein in ihrer Hand und wandte meinen Blick von ihr ab.

Als ich mich in Bewegung setzte und den Gang zwischen den Sitzreihen betrat, fiel mir im hinteren Teil des Wagens ein schwarz gekleideter Mann auf. Im Gegensatz zu seinen Mitfahrern, die leicht genervt in ihre Taschen griffen und ihre Tickets rauszogen, reagierte er überhaupt nicht. "Das ist er", dachte ich, "mein letzter Schwarzfahrer für heute." Ich warf nur schnelle Blicke nach rechts und links, ohne Monatsmarken und Zeitstempel genauer in Augenschein zu nehmen. Unter meinen Füßen spürte ich ein leichtes Vibrieren. Die Bahn überquerte gerade die Elsenbrücke und würde in wenigen Augenblicken den Bahnhof Ostkreuz erreichen.

"Did they get you to trade your heroes for ghosts hot ashes for trees hot air full of cool breeze."

Der Junge sang unverdrossen weiter. Er wusste, dass er nichts von uns zu befürchten hatte.

Zielstrebig ging ich auf den Mann zu. Er sah nicht wie ein typischer Schwarzfahrer, wenn es das überhaupt gibt, aus. Er war sogar elegant gekleidet. Ein breitkrempiger Hut verdeckte sein Gesicht. Trotz der Hitze trug er einen langen Ledermantel, darunter ein seidig schimmerndes Hemd und eine elegante Hose, alles in Schwarz.

"Die Fahrkarte, bitte." Ich hielt meinen Ausweis hoch. Langsam hob er den Kopf und schaute mich an. Kein Erschrecken, kein verlegenes Lächeln, keine Reaktion. Zwei graue Augen in einem glatten alterslosen Gesicht, ein feiner Schnurrbart über der Oberlippe.

"Wie bitte?" Seine Stimme war leise und ruhig.

"Ihre Fahrkarte, bitte!" Ich wedelte mit meinem Ausweis vor seinen Augen herum.

"Ich habe keine Fahrkarte." Seine Stimme klang etwas erstaunt, so, als wäre ein Ticket das Letzte, was er in einer S-Bahn bei sich hätte.

Ich triumphierte innerlich. Wieder habe ich es vorher gewusst. Mein letzter Schwarzfahrer für heute.

"Dann steigen Sie bitte mit mir an der nächsten Station aus!" Meine Stimme konnte die Freude über diesen kleinen letzten Erfolg kaum verbergen.

"Welche Station ist das?" "Ostkreuz", entgegnete ich auf seine Frage.

"Oh, das trifft sich gut. Ich habe in Ostkreuz einen Termin." Seine Stimme war immer noch ruhig und entspannt.

'Na, der hat aber ein dickes Fell', dachte ich. 'Die 40 Euro machen ihm wohl überhaupt nichts aus.' Gut, mir sollte es recht sein. Schnell abkassieren, die Quittung ausdrucken, alles abrechnen und dann ist endlich Schluss für heute.

In diesem Moment fuhren wir in den Bahnhof ein. Die Türen öffneten sich und ich bedeutete dem Mann, vor mir auszusteigen. Ich blieb dicht hinter ihm, damit ich ihn notfalls festhalten konnte, falls er versuchen würde, plötzlich wegzurennen. Zusammen mit dem Musiker, der ein paar Münzen in die Tasche steckte, und dem traurigen Mädchen stiegen wir aus.

Meine Kollegin kam allein aus der nächsten Tür, rief mir zu, dass sie jetzt Feierabend machen wird, winkte mir einen kurzen Gruß zu und verschwand in der Menge.

Ich schob den Mann etwas abseits des Trubels in den Schatten.

"Das macht dann 40 €."

"Ich habe kein Geld." Der Mann schaute sich auf dem Ringbahnsteig um, als wolle er sich orientieren.

Ich war enttäuscht. Das verzögert alles ein wenig. "Dann benötige ich Ihren Personalausweis oder Ihren Führerschein."

"Ich habe keinen Personalausweis und auch keinen Führerschein."

Immer noch schaute er sich, während er die Worte emotionslos aussprach, auf dem Bahnsteig um. In diesem Moment blieb sein Blick am Treppenabgang zum Bahnsteig der Stadtbahn nach Erkner haften. Er schien gefunden zu haben, wonach er suchte, denn seine Augen wandten sich mir zu. "Hören Sie bitte", sagte er, "ich habe weder eine Fahrkarte, noch Geld, ich habe keinen Ausweis und auch keinen Führerschein. In wenigen Minuten", sein Blick schweifte kurz zur Bahnhofsuhr, "habe ich hier etwas zu erledigen. Halten Sie mich bitte nicht auf." Seine Stimme blieb leise, wurde aber schärfer.

"So geht das nicht. Wenn Sie sich nicht ausweisen können, muss ich die Bundespolizei rufen, um Ihre Personalien feststellen zu lassen." Ich wurde ärgerlich. Der Feierabend drohte, in weite Ferne zu rücken. In einem ersten Impuls wollte ich ihn laufen lassen, verbunden mit einer mündlichen Verwarnung. Aber ich gab nicht nach. "Sie haben die Bahn ohne Fahrschein benutzt. Dafür ist ein Bußgeld in Höhe von 40 € fällig. Also geben Sie mir bitte etwas, womit Sie Ihre Identität beweisen können!"

"Meine Identität?" Der Mann zog das Wort förmlich durch seine Zähne, als könne er es nicht fassen. "Junger Mann, Sie wollen meine Identität", wieder betonte er jeden Buchstaben, "nicht wissen. Noch nicht." Die letzte Bemerkung wurde von einem drohenden Unterton getragen, der in mir ein ungutes Gefühl erzeugte. Trotz der Wärme zog ich meine Schultern zusammen. Irgendwas an diesem Mann war eigenartig, etwas war anders. Aber ich hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken.

"So nicht, Freundchen", versuchte ich die Initiative wieder zu übernehmen. "Wenn Sie mir nicht sofort Ihre Daten geben, können Sie Ihren Termin vergessen. Dann kümmert sich die Polizei um Sie."

Jetzt veränderte sich sein bisher bewegungsloses Gesicht. Es zeigte plötzlich ein leichtes Lächeln, welches aber nicht die Augen erreichte. Es war kein schönes Lächeln.

"Termine pflege ich immer einzuhalten. Ich bin immer pünktlich zu meinen Verabredungen. Allerdings bin ich für euch meistens immer zu früh." Sein Lächeln wurde hämisch und selbstgefällig, als wäre er sehr stolz auf sich.

Ich wurde etwas unruhig. Was soll ich jetzt machen? Normalerweise würde ich auf dem Handy eine eingespeicherte Nummer wählen und wenig später käme die Polizei, die sich um alles Weitere kümmern würde. Aber irgendwas stimmte mit dem Burschen nicht. Er stand seelenruhig im Halbschatten und schaute mich an. Trotz seiner der Hitze unangemessenen Kleidung zeigte sich auf seinem Gesicht kein einziger Schweißtropfen, während ich sehnsüchtig an die Wasserflasche in meinen Rucksack dachte. Er schien so davon überzeugt zu sein, schadlos aus der Situation herauszukommen, dass er sich nicht mal die Mühe machte, mir irgendeine Geschichte zu erzählen. Seine rätselhaften Reden lösten ein zunehmendes Unbehagen bei mir aus. Irgendwas stimmte mit dem Mann nicht.

"Wer sind Sie?", fragte ich laut. Eine ältere Frau, die, wenige Meter von uns entfernt auf ihre Bahn wartete, schaute erschrocken zu uns hinüber.

"Willst du das wirklich wissen?" Ich nickte, ohne dagegen zu protestieren, dass er plötzlich die Anrede gewechselt hat. "Ich bin der Tod!"

Es war diese eisige Ruhe, mit der er sprach, die mich daran hinderte, lauthals loszulachen.

"Wie bitte?"

"Du wolltest es wissen, jetzt weißt du es."

Langsam gewann ich meine Fassung wieder. "Was soll das? Wollen Sie mich für dumm verkaufen? Das ist doch absoluter Unsinn!"

"Ach ja?" Seine grauen Augen starrten mich jetzt unverwandt an. Seine Stimme war immer noch ruhig, aber man spürte den Zorn, der sie leicht vibrieren ließ. "Was soll daran Unsinn sein? Nur weil du noch jung bist, weil du jeden Morgen die Augen auf machst, weil du dich immer wieder neu verliebst, denkst du, das geht ewig so? Nein, mein Freund, das Einzige, was ewig ist auf dieser und auf jeder anderen Welt, bin ich!"

So unwirklich mir die ganze Situation erschien, versuchte ich doch, sachlich zu bleiben. "Natürlich ist das Unsinn. Überall auf der Welt sterben in diesem Augenblick Menschen. Warum sollte der Tod gerade hier sein, auf diesem Bahnsteig? Das ist doch unlogisch!"

"So, so. Unlogisch." Er fasste sich mit beiden Händen, lang und wohlgepflegt, an die Aufschläge seines langen Mantels. "Dein Verständnis von Logik spielt keine Rolle. Wer sagt dir, dass ich nur hier bin? In diesem Moment bin ich gleichzeitig bei einer alten Frau in einem Schweizer Hospiz. Ich bin gerade bei einem Kind in Somalia, bei einem Junkie in Kolumbien, in einem chinesischen Kohleschacht, in einer amerikanischen Todeszelle. Ich bin in diesem Moment auf einer Entbindungsstation in Südvietnam, denn manchmal bin ich sogar schneller als das Leben. Ich bin überall auf dieser Welt, denn ich habe viel zu tun."

'Der Mann ist vollkommen irre', dachte ich. 'Jetzt noch den Rückzug vorbereiten und dann nichts wie weg.' Ein letzter Versuch noch. "Sie sehen aus wie jeder andere Mensch. Sie reden, laufen, atmen…" Ich brach ab, denn schlagartig wurde mir klar, was anders war an diesem eleganten, schwarzgekleideten Mann unbestimmten Alters, der selbst in dieser Hitze einen langen Mantel und einen Hut mit breiter Krempe trug. Er atmete nicht! Deswegen klang seine Stimme so ruhig und gleichförmig. Er hat die ganze Zeit keinen einzigen Atemzug getan. Ich bekam Angst.

Er bemerkte sofort, dass ich mich verändert hatte. Er kam näher, damit ich sein Gesicht, welches teilweise vom Schatten der Hutkrempe bedeckt war, ganz sehen konnte. "Was denkst du, wie sieht der Tod denn aus? Oh ja, ich kenne Eure Bilder. Eure Figuren. In den Galerien, auf Marktplätzen und Friedhöfen, in Kirchen und Kathedralen. Ihr habt den Tod in Stein gehauen und auf die Leinwand gezeichnet, mit Stundenglas und Sense, mit schwarzem Umhang und Totenschädel unter der Kapuze. Ihr wolltet eurer Angst Herr werden, aber es nützt euch nichts. Am Ende stehe immer ich."

Mit diesen Worten war er ganz dicht an mich heran getreten und zwang mich mit seinem Blick, ihn anzustarren. Plötzlich ging eine Veränderung in seinem Gesicht vor. Der dünne Oberlippenbart und seine Augenbrauen verschwanden. Seine Nase schrumpfte zusammen und verschwand schließlich im Schädel, die Lippen wichen zurück, zogen sich unter die Haut zurück und gaben seine Zähne frei. Die grauen Pupillen in den Augen wurden milchig, die Augenlider wurden in die Höhlen gezogen. Schließlich waren die Augäpfel wie zwei durchsichtige Glaskugeln, bevor sie sich auflösten. Als Letztes verwandelte sich die Gesichtshaut in dürres Pergament, dann ging sie in einer feinen Staubwolke auf. Schließlich blickte mich ein grinsender Totenschädel an, bedeckt von einem breitkrempigen Hut.

Ich war völlig unfähig zu schreien, zu denken, wegzulaufen. Ich starrte unverwandt auf die leeren Höhlen, wo eben noch die Augen gewesen waren, auf die hohlen Wangenknochen, wo eben noch Haut war, auf diesen fürchterlichen Kiefer, wo eben noch ein Mund war, der mit mir sprach. Ich war völlig erstarrt.

Dann hob der Mann eine Hand, zog sich den Hut tiefer, drehte sich um und verschwand in Richtung der Treppe, die er vorhin fixiert hat. Ich konnte ihm nur mit starrem Blick folgen, denn ich war unfähig, auch nur die kleinste Bewegung zu tun. Sein Gesicht muss sich wieder zurück verwandelt haben, denn die Menschen an seiner Seite nahmen keine Notiz von ihm. Am Beginn der Treppe schwenkte er seinen Hut in meine Richtung, aber das kann ich mir auch eingebildet haben. Schließlich verschwand er im Gedränge.

Es hat einige Minuten gedauert, bis ich wieder einigermaßen zu mir kam. Meine Gedanken rasten im Kopf umher. Ich bemühte mich, zu fassen, was eben passiert ist, aber es ging nicht. War das wirklich wahr? Ich wusste es nicht. In diesem Moment ging mir seine Stimme durch den Kopf. "Ich habe in Ostkreuz einen Termin." Da wurde mir klar, welcher Art sein Termin war. Ich riss mich aus meiner Erstarrung los und rannte auf die Treppe zu, auf der er vorhin verschwunden war. Von oben sah ich die S-Bahn nach Erkner in den Bahnhof einfahren. Ich rannte, so schnell ich konnte, stolperte, hielt mich fest, rappelte mich auf, lief weiter und kam auf dem Bahnsteig an. Da hörte ich einen grässlichen Schrei, dem mehrere folgten. Der Zug kam nach einer Vollbremsung in der Mitte des Bahnsteiges zum Stehen. Menschen liefen aufgeregt hin und her, die an der Bahnsteigkante standen, wandten sich mit Entsetzen in den Augen ab und liefen weg. Der Fahrer stieg aus seiner Kabine, blass und schwankend. Ein Blick auf die Vorderfront der Bahn machte mir klar, was eben passiert ist. Ich war zu spät gekommen, doch hätte ich es überhaupt verhindern können? Ich spürte, wie jemand ganz dicht an mir vorbei lief. Er legte mir kurz die Hand auf die Schulter. "Auf Wiedersehen, mein Freund." Ich drehte mich nicht nach ihm um.

 

Ganz hinten am Bahnsteig sah ich einen leuchtend roten Rucksack mit einem fröhlichen Smiley darauf. Das Mädchen war nicht mehr da.